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Leon und die Teufelsschmiede - Band 3

©2016 193 Seiten

Zusammenfassung

Und dann schaute Leon in das Antlitz des Teufels. Die reinste Fratze. Das geschwärzte Gesicht eines Berserkers wie aus den alten Kriegen der Slawenzeit. Da war einer auferstanden. Ein Wahnsinniger. Leon erkannte eine rasende Wut, wie er sie noch nie erblickt hatte.

Stralsund im Jahr 1334. Entsetzt sieht Leon, wie jemand hammerschwingend durch die Straßen der Stadt rast: Es ist Ghotan aus der Teufelsschmiede. Gerade noch gelingt es Leon, den Wahnsinnigen zu stoppen. Er kehrt ins Kloster zurück und berichtet von dem Vorfall. Bruder Gernod ist sehr besorgt um Ghotan. Doch warum? Hat Ghotans Amoklauf etwas damit zu tun, dass sein Stiefvater zehn Jahre zuvor in seiner eigenen Werkstatt erschlagen worden ist? Ganz in der Nähe findet Leon ein Messer, eine äußerst kunstvolle Schmiedearbeit. Bald wird deutlich: Dieses geheimnisvolle Messer ist der Schlüssel zu allen Rätseln.

Ein fesselnder Krimi, der das Mittelalter lebendig werden lässt.

Jetzt als eBook: „Leon und die Teufelsschmiede“ von Eva Maaser. Wer liest, hat mehr vom Leben: jumpbooks – der eBook-Verlag für junge Leser.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Über dieses Buch:

Stralsund im Jahr 1334. Entsetzt sieht Leon, wie jemand hammerschwingend durch die Straßen der Stadt rast: Es ist Ghotan aus der Teufelsschmiede. Gerade noch gelingt es Leon, den Wahnsinnigen zu stoppen. Er kehrt ins Kloster zurück und berichtet von dem Vorfall. Bruder Gernod ist sehr besorgt um Ghotan. Doch warum? Hat Ghotans Amoklauf etwas damit zu tun, dass sein Stiefvater zehn Jahre zuvor in seiner eigenen Werkstatt erschlagen worden ist? Ganz in der Nähe findet Leon ein Messer, eine äußerst kunstvolle Schmiedearbeit. Bald wird deutlich: Dieses geheimnisvolle Messer ist der Schlüssel zu allen Rätseln.

Ein fesselnder Krimi, der das Mittelalter lebendig werden lässt.

Über die Autorin:

Eva Maaser, geboren 1948 in Reken (Westfalen), studierte Germanistik, Pädagogik, Theologie und Kunstgeschichte in Münster. Sie hat mehrere erfolgreiche Kinderbücher, historische Romane und Krimis veröffentlicht.

Ebenfalls bei jumpbooks erschienen Eva Maasers Kinderbücher

Kim und die Seefahrt ins Ungewisse
Kim und die Verschwörung am Königshof

Kim und das Rätsel der fünften Tulpe
Leon und der falsche Abt
Leon und die Geisel
Leon und der Schatz der Ranen

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eBook-Neuausgabe April 2016

Copyright © der Originalausgabe 2008 SchneiderBuch verlegt durch EGMONT Verlagsgesellschaften mbH, Gertrudenstraße 30–36, 50667 Köln

Copyright © der Neuausgabe 2013 dotbooks GmbH, München

Copyright © 2016 jumpbooks. jumpbooks ist ein Imprint der dotbooks GmbH.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nicola Bernhart Feines Grafikdesign, München

Titelbildabbildung: akg-images, Porträtbild: akg-images/J.C. Rößler

E-Book-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN 978-3-96053-066-4

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Eva Maaser

Leon und die Teufelsschmiede

Band 3

jumpbooks

1

Heute Abend, dachte Leon, heute Abend sehe ich Anna. Sie kommt zu unserem geheimen Treffpunkt auf der Stadtmauer. Sie hat’s mir versprochen, und wir haben mindestens zwei Stunden Zeit füreinander. Nur wir beide! Und diesmal bring ich ein Geschenk für sie mit.

Vorsichtig klopfte er auf die Tasche in seinem Kittel. Es war kein besonders kostbares Geschenk – vom materiellen Wert her gesehen. Einen Moment grübelte er, ob es überhaupt gut genug für sie sein würde. In den letzten Tagen hatte er jede freie Stunde auf dieses Geschenk verwandt und dabei an Anna, die wunderschöne Tochter des Vogts von Stralsund, gedacht. Sie war dreizehn, auf den Tag genau so alt wie er.

Die Vorfreude auf den Abend machte Leon kribbelig. Während er sich scheinbar voll auf seine Arbeit konzentrierte, hätte er am liebsten laut gejubelt und wäre übermütig über die Beete gesprungen. Aber natürlich würde er gewissenhaft diese Arbeit beenden. Für Bruder Willibrods neuen Rosenstrauch würde er das schönste und perfekteste Loch ausheben.

Mit Schwung warf Leon eine Ladung Erde in den bereitgestellten Eimer. Willibrod wollte, dass er die alte Erde gegen frische, mit Kompost angereicherte austauschte. Unten im Loch stieß er auf schweren, zähen Lehm. Widerliches Zeug. Das Ausschachten wurde immer mühsamer. Aber Willibrod hatte ein wenigstens drei Ellen tiefes Loch verlangt, beinahe eine Unmöglichkeit mit dem altersschwachen Spaten. Wenn sich Leon nicht ranhielt, dauerte die Buddelei bis spät abends. Und dann würde nichts aus dem Treffen mit Anna.

Leon stellte sich ihr rosiges Gesicht und ihr hinreißendes Lächeln vor. Irgendwann einmal würde er sie küssen. Wirklich? War das nicht ein sündhafter Gedanke? Und ob er Anna küssen würde! Er rammte den Spaten etwas kräftiger in die Erde. Ein heftiger Ruck fuhr durch seine Arme. Unerwartet war er auf Widerstand gestoßen. Und da hatte etwas hässlich geknirscht. Unten im Loch musste ein Stein liegen. Eine ganz und gar ungute Vorahnung beschlich Leon, während er den Spaten herauszog.

Ungläubig starrte er ihn an.

»Kaputt!«, schimpfte eine hohe Stimme.

Langsam hob Leon den Kopf und entdeckte Bruder Arnulf. Wann hatte der Cellerar, der Klosterverwalter, den Garten betreten? Und wie lange stand er schon beobachtend da?

»Du hast den Spaten kaputt gemacht, du ungeschickter Bengel, ich hab’s genau gesehen, du achtest nicht das Eigentum, das dir anvertraut worden ist«, fuhr Arnulf beißend fort, und sein Blick fügte noch allerhand hinzu. Zum Beispiel, dass Leon im Kloster nur geduldet wurde, dass er der Sohn eines Säufers war und schon deshalb nur eine Laus und eigentlich untragbar für die fromme Gemeinschaft der Mönche.

Der Sohn von Swinefoot, dem Schweinehirten des Klosters, der vor vier Jahren im Suff in einem der Teiche vor der Stadt ertrunken war. Leon war seitdem Waise und lediglich dank Gernods und Willibrods Fürsprache Klosterzögling.

Wenn Willibrod den Spaten sah, dann ... Leon mochte den Satz nicht zu Ende denken, beunruhigt schaute er nach dem Bruder Gärtner aus.

Der sammelte nicht weit entfernt Fingerhutblüten in einen Korb und wandte Leon den Rücken zu. Jetzt aber richtete er sich ächzend auf, drehte sich halb um und spähte herüber. Es hatte gar keinen Zweck, den Spaten vor ihm zu verbergen oder so zu tun, als wäre nichts geschehen. Ein, zwei Augenblicke verharrte der Gärtner, dann stellte er den Korb ab, raffte seine Kutte und stürzte herbei. Trotz seiner mehr als fünfzig Jahre setzte er mit einem Sprung über das Beet, in das der Rosenbusch gepflanzt werden sollte, und trat schnaufend neben Leon.

»Der Spaten«, sagte er und wies anklagend mit einem dicken Finger auf das Werkzeug.

Leon hielt den Spaten immer noch hoch. Deutlich konnte man sehen, was passiert war. Das Eisenblech, mit dem das Blatt beschlagen war, zeigte in der Mitte einen großen Riss. Und nicht nur das. Das Eisen hatte sich regelrecht aufgerollt, und auch das Holz darunter war gespalten. Der Spaten war vollkommen nutzlos geworden.

»Jetzt ist der auch noch hin. Das war unser letzter mit Eisen beschlagener Spaten, ist dir das klar?«, fragte Willibrod aufgebracht und stemmte die Hände in die Hüften.

»Das erfordert eine angemessen harte Strafe«, erklärte Arnulf. Er hatte die hassenswerte Fähigkeit, immer gerade dann aufzutauchen, wenn man es am wenigsten gebrauchen konnte. Sein Gesicht lief vor Erregung rot an, dabei war es vorher schon nicht gerade blass gewesen. Sicher hatte der Cellerar einen ganzen Humpen unverdünntes Bier zum Frühstück genossen.

Schweinebacke, dachte Leon erbittert. »Ich werde das Loch mit den Händen zu Ende graben«, sagte er heiser.

»Das geschähe dir recht«, grummelte Willibrod. »Wie oft hab ich dir gesagt, du sollst vorsichtig sein?« Wenn es um sein geheiligtes Werkzeug ging, verstand er keinen Spaß.

»Er ist ein Taugenichts, das hab ich oft genug gesagt«, mischte sich Arnulf wieder ein und blähte sich förmlich auf dabei. »Ein durch und durch liederlicher, arbeitsscheuer Bursche!«

Leons ungutes Gefühl von vorhin wandelte sich in schieres Entsetzen. Arnulf, wurde ihm gerade klar, würde nicht so bald Ruhe geben. Gleich würde er behaupten, dass er den Spaten absichtlich zerbrochen hatte, um nicht weitergraben zu müssen. Etwas kaputt zu machen, ob absichtlich oder nicht, war eine Schandtat, die dem alten Knauserer besonders gegen den Strich ging. Der Cellerar verwaltete die Klosterfinanzen. Jeden Pfennig, den er rausrücken musste, um etwas zu ersetzen, betrachtete er als persönlichen Verlust. Was er wohl als Strafe verhängen würde? Am liebsten bestrafte Arnulf mit langem Arrest bei Wasser und hartem, trockenem Brot.

Kein Treffen mit Anna! Die Erkenntnis traf Leon wie ein Keulenschlag. Wie eine dunkle Wolke senkte sich Verzweiflung auf ihn herab.

Zwei Mönche, die einige Tage auf der Krankenstation verbracht hatten, ergingen sich im Garten, wie es ihnen der Apotheker und Arzt Bruder Gernod zur Genesung verordnet hatte, und schauten neugierig herüber.

»Es war Absicht, ich hab’s genau beobachtet!«, endete Arnulf im Brustton der Überzeugung.

Na, also, dachte Leon finster, ich wusste doch, was kommt.

»Was du nicht sagst!«, entgegnete Willibrod sarkastisch. »Ich weiß nur, dass altes, schadhaftes Werkzeug irgendwann ganz hinüber ist. Es erstaunt mich, dass das alte Ding überhaupt so lange gehalten hat. Wir brauchen neue Spaten, und das nicht erst seit heute. Am besten gleich einen oder zwei mit einem Blatt ganz aus Eisen. Die halten eine Ewigkeit.«

Überrascht schielte Leon zu Willibrod und fragte sich, wo das fällige Donnerwetter blieb. Aber im Moment sah es eher danach aus, als wollte ihn der Gärtner gegen den Cellerar in Schutz nehmen. Eine warme Welle der Dankbarkeit stieg in Leon auf.

Falls das möglich war, lief Arnulf noch ein wenig dunkler an. Er kniff die Äuglein zu schmalen Schlitzen zusammen, sein kleiner Mund bebte vor Entrüstung und seine mächtigen Hängebacken auch. Die Ähnlichkeit mit einem Schwein wurde geradezu überwältigend.

»Neue Spaten?«, kreischte Arnulf.

»Aus Eisen.« Willibrod nickte bekräftigend und streckte plötzlich den Kopf vor. Er fixierte Arnulf mit einem scharfen Blick. »Du willst doch, dass der Garten wie der der Jungfrau Maria aussieht: lieblich, anmutig, zu frommer Betrachtung einladend und – duftend

»Duftend?«, echote Arnulf verblüfft und schaute sich um. Es war Frühsommer, und der Garten quoll über vor blühenden Gewächsen. Ein geradezu betäubender Kräuterduft durchzog ihn.

»Ich denke, ein nach Rosen duftender Garten wird deinen Gästen gefallen«, erklärte Willibrod unerschütterlich. »Der Duft fördert die Versenkung ins Gebet.«

Die beiden promenierenden Mönche senkten die Köpfe, als wären sie persönlich ermahnt worden, Rosenkranz betend über die Wege zu wandeln, statt nur die laue Luft zu genießen.

»Und Rosen sind als Sinnbild der Mutter Gottes die edelste Zier eines Klostergartens«, fuhr Willibrod mit erhobener Stimme fort. »Du hast selbst gesagt, wir Brüder müssten uns stets darüber im Klaren sein, das unser Konvent einer der bedeutendsten an der Ostsee ist. Das verpflichtet.«

Zufällig wusste Leon genau, wie herzlich gleichgültig Willibrod allem gegenüber stand, was mit Ehre, Ansehen und dergleichen zu tun hatte. Für den Bruder Gärtner waren ganz andere Dinge wichtig.

»Es sind nicht meine Gäste.« Sichtbar war Arnulf ins Grübeln geraten.

Leon hatte gehört, dass in höchstens drei Wochen einige Würdenträger der Kirche zu einer Konferenz im Kloster erwartet wurden. Es ging um die Vorbereitung für ein Konzil in Rom. Von dem ganzen theologischen Kram verstand Leon nichts. Er war sich längst noch nicht sicher, ob er als Mönch ins Kloster eintreten wollte, wie es sich sein Lehrer Gernod wünschte. Ein paar Jahre hatte er noch Zeit bis zur Entscheidung, er war ja erst dreizehn. Und da war auch noch Anna. Aber Anna musste er sich über kurz oder lang sowieso aus dem Kopf schlagen. Und für heute garantiert. Bleischwer drückte ihm diese Gewissheit auf den Magen.

»Soll ich den alten hölzernen Spaten aus dem Schuppen holen, von dem du gesagt hast, er taugt nur noch zum Mistverteilen? Ich könnte ihn mit einem Messer ein bisschen schärfen«, bot er Willibrod an.

»Was?«, fragte Willibrod irritiert. »Ja, nein!« Der Gärtner deutete auf den Spaten, den Leon unauffällig abgelegt hatte. »Bring ihn zu Reynekes Schmiede.«

Leon zuckte zusammen. »Zur Teufelsschmiede?«

Arnulf straffte sich. »Was soll das jetzt?«

»Der Junge wird den Spaten zum Schmied bringen«, sagte Willibrod und warf Leon einen verärgerten Blick zu.

»Das habe ich gehört«, schnappte Arnulf, »aber du nanntest Reynekes Schmiede. Seine Werkstatt hat einen üblen Ruf.« Ein listiger Ausdruck stahl sich in seine Augen. »Du hast doch gerade selbst auf die herausragende Bedeutung unserer Abtei hingewiesen. Eine so übel beleumundete Werkstatt kommt für unsere Aufträge nicht in Frage. Nicht, solange wir noch wissen, was wir uns schuldig sind.« Er blähte wieder die Backen auf.

»Na, na! Du willst doch sicher nicht zugeben, dass du auf schlechte Nachrede etwas gibst? Das wäre unchristlich!«, entgegnete Willibrod unbeeindruckt und wandte sich an Leon. »Irgendwie wird sich der Spaten richten lassen. Der Schmied soll dickeres Blech nehmen als letztes Mal. Am besten, das sagte ich schon, wäre ein Blatt ganz aus Eisen.«

Arnulf holte tief Luft. »Zu teuer!«

»Dacht ich mir. Also nur neues Blech. Die Arbeit wird der Schmied umsonst machen, aber das Eisen muss bezahlt werden. Ein dickeres Blech lohnt allemal. Und er soll es gleich machen. Sonst geht mir die Rose ein, sie muss raus da.« Willibrod deutete auf den Strauch, der in einem Kübel steckte. Der Wind bewegte zart die Blätter, aber es sah aus, als ob die Rose darum flehte, endlich ordentlich eingepflanzt zu werden.

»Also gut, neues starkes Eisenblech, dass etwas aushält.« Ein giftiger Blick flog zu Leon herüber. »Aber auf keinen Fall ein ganzes Blatt aus Eisen, das können wir uns nicht leisten«, knurrte Arnulf. Der Cellerar steckte die Hände tiefer in die Ärmel seiner Kutte und wandte sich zum Gehen.

Willibrod, ging Leon auf, hatte erreicht, was er wollte: Sie durften sich den Spaten neu und besser beschlagen lassen, und Arnulf dachte nicht mehr daran, sich eine Strafe für ihn zu überlegen.

»Soll ich wirklich zu Reyneke?«, murmelte er zögernd, sobald der Verwalter außer Hörweite war.

»Reynekes Schmiede ist die einzige, die nichts für die Arbeit nimmt, nicht von uns«, erklärte Willibrod. »Und jetzt mach, dass du wegkommst, oder ich lass dich wirklich das Loch mit den Händen ausgraben.«

Leon nahm den Spaten und schwang ihn sich auf die Schulter.

»Wir sind aber noch nicht fertig miteinander. Glaub das ja nicht! Ein zerbrochener Spaten ist ein zerbrochener Spaten«, fügte Willibrod grimmig hinzu.

Gerade hatte sich in Leon ein Fünkchen Hoffnung geregt, das nun verpuffte. Es hatte keinen Zweck mehr, von diesem Tag etwas anderes als Enttäuschungen zu erwarten. Ein schwarzer Tag. Bedrückt schlurfte er zu der kleinen Pforte, die direkt aus dem Garten in eine Gasse hinter der Klostermauer führte.

2

Am liebsten hätte er einen Umweg genommen, denn die Teufelsschmiede aufzusuchen, behagte ihm überhaupt nicht. Der Gedanke daran jagte ihm einen regelrechten Schauder über die Haut, es war wie ein Reflex. Es lag an den Gerüchten, die seit zehn oder mehr Jahren über Reynekes Schmiede in Umlauf waren. Der alte Reyneke war tot. Jetzt führten seine Stiefsöhne Reymar und Ghotan die Werkstatt, zwei wortkarge Gesellen, die niemandem in die Augen sehen mochten.

Da gab es ein Rätsel um den Tod des alten Schmieds. Kurz sann Leon darüber nach. Ein ungelöstes Rätsel. Er bog in die Mönchstraße ein, überquerte den Neuen Markt und folgte der Frankenstraße in Richtung Hafen. Es hatte ja doch keinen Zweck, den Besuch in Reynekes Schmiede aufzuschieben, dachte er verdrossen.

Die Frankenstraße gehörte zu den sechs nahezu parallel verlaufenden Straßen, die direkt zu einem der Seetore am Strelasund führten und damit in den Hafen. Und das hieß von morgens bis abends Betrieb in diesen Gassen. Auch jetzt rumpelten Fuhrwerke mit He

ringsfässern über das Pflaster, Karren mit Warenballen wurden zu den Marktplätzen oder den Handelshäusern geschoben, Träger schleppten Säcke auf dem Rücken. Jede Menge Leute drängte sich aneinander vorbei. Schwierig durchzukommen. Eine Frau kippte vor ihrer Haustür einen Eimer Schmutzwasser aus. Die stinkende Brühe wäre Leon auf die Sandalen geschwappt, wenn er nicht rechtzeitig ausgewichen wäre.

»Verzeihung!« Die Frau lachte breit.

»Nichts passiert.« Leon grinste versöhnlich und trabte weiter.

Ein Stück voraus schrie jemand, nein, mehrere Leute schrien, und eine hektische Bewegung entstand. Was war da los?

Leon erspähte einen hochgereckten Arm in der Menge. Ein Arm, der weit ausholend etwas schwang. Immer mehr Menschen drängten sich hastig gegen die Hauswände oder versuchten zu fliehen. Endlich erkannte Leon als Zentrum des Aufruhrs einen Mann, der brüllend und fuchtelnd durch die Straße rannte. Ein Klotz von einem Mann.

Ein älterer Bürger wurde von seinem wirbelnden Arm gestreift und ging in die Knie. Schreckgeweitete Münder, anschwellender Lärm. Und dann schaute Leon in das Antlitz des Teufels.

Die reinste Fratze. Das geschwärzte Gesicht eines Berserkers wie aus den alten Kriegen der Slawenzeit. Da war einer auferstanden. Ein Wahnsinniger.  Leon erkannte eine rasende Wut, wie er sie noch nie erblickt hatte.

In dem Moment, in dem ihm aufging, wer der Mann war, entdeckte er Anna. Sie hielt ihren kleinen Bruder Heyno an der Hand und versuchte, ihn mit sich zu ziehen. Raus aus der Gefahr, weg von Ghotan aus der Teufelsschmiede, zu der Leon gerade unterwegs war. Leon nahm alles auf einmal wahr. Das verzerrte Gesicht des Schmieds, seine wie irre funkelnden Augen, sein schreckliches Gebrüll, das wie ein Kriegsruf gellte, den schweren Hammer, den er schwang – und Anna. Heyno war vor Schreck stehen geblieben. Warum rührte er sich nicht mehr? Begriff er die Gefahr nicht? Ghotan hatte die beiden fast erreicht. In einer letzten Anstrengung, ihren Bruder zu beschützen, schob Anna ihn hinter sich. Duckte sich, hob abwehrend einen Arm.

Leon stockte der Atem. Er merkte, dass er auf einmal den Spaten nicht mehr über der Schulter trug, sondern in der Hand hielt. In beiden Händen, die ihn nun mit voller Kraft herumschwangen und ihn losließen.

Sein Spaten beschrieb eine Drehung.

Traf mit dem Hammer zusammen.

Eisen schlug auf Eisen.

Der Spaten flog weiter.

Schrie Anna? Ihr Schrei ging in dem des Schmieds und Leons eigenem unter. Und mindestens ein Dutzend der Umstehenden schrie auch. Das Geschrei gellte Leon schmerzhaft in den Ohren, während der Schmied zusammenbrach. Leon konnte es nicht gleich begreifen, aber er hatte den Wahnsinnigen gestoppt. Der Spaten hatte den Schmied erwischt. Blut sprudelte über dessen aufgerissene Wange. Taumelig bewegte sich Leon einen Schritt auf ihn zu, aber da wurde er beiseitegestoßen. Zwei bewaffnete Stadtknechte, zwei von der Stadt bezahlte Ordnungshüter, stürzten sich auf Ghotan und hieben auf ihn ein. Schaudernd wandte sich Leon ab.

Was war mit Anna?

Sie kniete vor ihrem Bruder und hielt ihn umfangen. Heyno wimmerte, sie drückte ihn an sich und redete beschwichtigend auf ihn ein.

»Anna?« Leon beugte sich zu ihr hinunter. »Ist dir auch nichts passiert?«

Anna hob den Kopf. Ihr Gesicht war schneeweiß und ganz schmal vor Anspannung.

»Nein, nichts«, flüsterte sie. »Uns geht es gut«, fügte sie etwas lauter hinzu. »Nicht wahr, Heyno? Dir ist nichts geschehen, und dir wird auch nichts geschehen, du bist doch bei mir. Du brauchst keine Angst zu haben.« Ein bisschen ungelenk stand sie auf. Dabei hielt sie die eine Schulter seltsam schief. Sie griff sich an den linken Arm, und in ihrem Gesicht zuckte es.

Leon vergegenwärtigte sich, wie der Spaten mit dem Hammer zusammengeprallt war und danach den Schmied getroffen hatte. Und der Hammer? Auf den hatte er nicht mehr geachtet.

»Du hast doch was!«, sagte er heiser vor Sorge.

»Nein«, wehrte Anna ab. »Ich bring Heyno nach Hause, wir waren sowieso auf dem Weg dorthin.« Sie drehte Heyno so, dass er den Schmied nicht mehr sehen konnte.

Der Mann stand nicht wieder auf.

Einer der Stadtknechte schrie ihn barsch an und trat ihn in die Seite, aber es war nichts zu machen. Die Leute schüttelten die Köpfe, hielten aber vorsichtshalber Abstand. Der Schreck machte allmählich der Sensationslust platz. Auch andere hatten jetzt den Schmied erkannt. Den Teufelsschmied. Geradezu genüsslich nannte ihn ein dicker Kaufmann so. Schließlich winkte der andere Stadtknecht einen Karren heran, der leer in Richtung Hafen unterwegs war. Der Schmied wurde unsanft darauf verfrachtet. Ein Fall für den Scharfrichter, dachte Leon mitleidlos. Geschah dem Kerl recht, wenn er beim Henker landete.

Heyno hatte sich wieder umgewandt. »Ist der Mann tot?«, wisperte er, die Augen weit aufgerissen. Der Kleine zitterte.

»Sieht fast so aus«, antwortete Leon unbedacht.

»Nein«, widersprach Anna rasch und funkelte Leon an. »Er ist nicht tot, und sie bringen ihn jetzt ins Hospital.«

Anna sorgte sich um ihren kleinen Bruder. Sie wollte, dass er so rasch wie möglich das schreckliche Erlebnis vergaß, wurde Leon klar. Erst vor ein paar Wochen war Heyno entführt worden, und sie hatten ihn unter Lebensgefahr aus den Händen von ein paar Schurken befreit. Seitdem litt der Kleine immer wieder unter Albträumen, hatte ihm Anna anvertraut. Jetzt hatte der Knirps einen Grund mehr schlecht zu träumen. Und sicher fühlte sich Anna dafür verantwortlich, dass er auf der Straße in eine Gefahr geraten war, für die sie nicht das Geringste konnte.

»Er sollte zu Hause bleiben, aber er hat so lange gequengelt, bis ich ihn mitgenommen habe«, sagte sie gedämpft. »Hätte ich ihn doch bloß daheim gelassen.«

»Ich trag ihn für dich«, sagte Leon und machte Anstalten, das Kind hochzuheben.

»Nein«, wandte Heyno mit einem Anflug seiner früheren Forschheit ein, »ich kann allein gehen.« Er griff aber nach Annas Hand.

»Ich begleite euch«, bot Leon an. »Ich komme mit bis zur Vogtei.«

»Nicht nötig, lass nur«, sagte Anna ruhig. »Wir sehen uns heute Abend«, setzte sie mit so gedämpfter Stimme hinzu, dass nur er sie verstehen konnte. Heyno zog jetzt an ihrer Hand.

»Bestimmt?«, fragte Leon ungläubig.

»Es ist abgemacht, hast du das vergessen?« Die Geschwister entfernten sich bereits.

Leon legte die Hand auf die Brust, spürte einen Knubbel und einen leichten Schmerz. Hatte er einen Schlag erhalten? Er konnte sich nicht erinnern. In der Kitteltasche vorn steckte das Geschenk. Er hoffte nur, dass es unbeschädigt geblieben war. Sich zu vergewissern hatte er nicht die Kraft, zu sehr saß ihm noch der Schreck in allen Gliedern. Er sah Anna hinterher. Sie hielt sich eindeutig schief. Und da wusste er, was er zu tun hatte.

3

Die Apotheke des Dominikaner-Klosters lag in einem Winkel des Kräutergartens direkt an der Mauer. Hier, in dem kleinen, etwas abseits gelegenen Steingebäude, unterwies Bruder Gernod Leon seit vier Jahren in Latein und weihte ihn nach und nach in die Geheimnisse der Pflanzenheilkunde ein. Immer in der Hoffnung, dass er zu gegebener Zeit in seine Fußstapfen treten würde. Meistens erfüllte ihn diese Erwartung mit Stolz, manchmal aber auch mit Zweifeln und Unbehagen. Heute war er nur dankbar dafür, dass er mit seinen Anliegen jederzeit bei Gernod hereinplatzen durfte.

Eilig strebte er auf das Gebäude zu.

Willibrod, bemerkte er, war dabei, mit der uralten Spatenkrücke, die nur noch zum Mistverteilen taugte, das Loch für den Rosenstrauch fertigzugraben. Eine Hundsarbeit. Ihr entsprach die Gewittermiene, die Leon davon abhielt, den Gärtner anzusprechen. Aber ohnehin duldete sein Anliegen keinen Aufschub. Rasch schlüpfte er in die Apotheke.

»Du kommst zu früh, ich unterrichte dich erst heute Nachmittag«, nuschelte Bruder Gernod. Mit einem Wink gab er Leon zu verstehen, dass er gleich wieder verschwinden sollte.

Auf dem Tisch lag ein Pergamentbogen ausgebreitet, auf dem der Apotheker wahrscheinlich gerade das Rezept für eine seine Kräutermixturen festhielt. Gernods Rezepte waren nicht nur in Stralsund gefragt. Bis nach Schweden und Russland schickte er sie samt der Kräutermischungen, wenn Anfragen aus fremden Klöstern eintrafen.

»Du musst mir zuhören! Es geht um Anna. Sie ist verletzt«, platzte Leon heraus und erzählte ohne Rücksicht auf die Beschäftigung des Gelehrten die ganze Geschichte von Ghotans Wahnsinn. »Du musst sofort nach Anna sehen«, drängte er am Ende. »Vielleicht ist ihr Arm gebrochen oder die Schulter.«

Gernod hatte ruhig zugehört, jetzt runzelte er die Stirn. »Hast du verstanden, was Ghotan gebrüllt hat?«

»Was?«, fragte Leon verblüfft.

»Hast du verstanden, was Ghotan gebrüllt hat, als er seinen Hammer schwang? Wenigstens ein Wort? Versuch dich zu erinnern«, forderte Gernod geduldig. Genau wie Willibrod war der Apotheker in den vier Jahren, die Leon im Kloster verbracht hatte, zu seinem väterlichen Freund und Beschützer geworden.

»Wen kümmert’s, was er gebrüllt hat. Das ist doch gleichgültig. Ghotan ist verrückt geworden. Aber Anna braucht deine Hilfe. Gernod, du musst sofort ...« Leon verstummte, als die Tür zur Apotheke geöffnet wurde. Willibrod stapfte herein.

»Hab ich doch richtig gesehen. Du bist zurück. Wieso kommst du nicht gleich zu mir?«, brummte er. »Hast du den Spaten weggebracht? Und was hat der Schmied gesagt? Wann ist er fertig?«

»Vergiss den Spaten und setz dich«, sagte Gernod. »Es gibt etwas Ernsteres als ein zerbrochenes Werkzeug.« Und dann wiederholte er für Willibrod von Leons Bericht über das Ereignis auf der Frankenstraße, was ihm wichtig erschien.

Nun wurde auch Willibrod nachdenklich. »Sieht Ghotan nicht ähnlich, sich so aufzuführen.«

Leon hätte gern widersprochen. Er hatte den Schmied schon immer finster, geradezu unheimlich gefunden. Wenn er sich einen Schläger und Knochenbrecher hätte vorstellen sollen, wäre ihm als einzigartig passendes Modell sofort der Teufelsschmied eingefallen.

»Das ist es ja. Ich habe Leon gefragt, ob er etwas von dem, was Ghotan herausbrüllte, verstanden hat«, erläuterte Gernod.

Beide Mönche sahen Leon auffordernd an.

»Ich ... ich«, stotterte Leon, »muss erst darüber nachdenken.«

»Tu das.« Gernod nickte ihm zu.

»Und Anna?«, flehte Leon. »Was ist mit Anna?«

»Alles zu gegebener Zeit. Sie hat auf ihren eigenen Beinen nach Hause gehen können, nicht wahr?«

»Mit einem gebrochenen Arm kann man noch laufen«, stieß Leon empört hervor, »das weiß sogar ich.«

Willibrod hatte sich einen Stuhl herangezogen, sich aber noch nicht gesetzt. »Noch einmal, Leon: Was hat Ghotan gesagt? Erinnere dich. Du musst ihn gehört haben«, sagte er beschwörend.

Leon wollte wieder aufbegehren, so unsinnig kam ihm die Forderung vor. Was hatten die beiden bloß? Etwas, das er nicht begreifen konnte, beunruhigte sie. Nur widerwillig schob er die Sorge um Anna beiseite. Je rascher die Sache mit Ghotan durchgekaut war, desto eher kamen die Mönche auf das zurück, was ihm das Wichtigste war.

Angestrengt rief er sich das Ereignis ins Gedächtnis. Vergegenwärtigte sich das Gebrüll. Lauschte dem Klang einer grollenden, kreischenden Stimme. Einer fast nicht mehr menschlichen Stimme. Einer entsetzlichen Stimme. Und langsam, ganz langsam schälte sich ein Wort heraus.

»Geschmeiß, ich  glaube er hat Geschmeiß geschrien. Er war ja kaum zu verstehen. Begreift ihr das? Er hat Geschmeiß gebrüllt. Irre, wenn ihr mich fragt. Geschmeiß – das sind Fliegen, oder nicht?« Auf dem Misthaufen in einer Stallhofecke kreisten in der Sommersonne Wolken von Fliegen, grün schimmernde, fette Schmeißfliegen. Ekelhaft.

Gernod nickte, beide Mönche schauten ihn gelassen an, als hätten sie alle Zeit der Welt. Ihre Mienen zeigten nichts anderes als die in langen Jahren der Klosterdisziplin erlernte nie endende Geduld. Er dagegen hätte vor Angespanntheit aus der Haut fahren können.

»Weiter«, forderte Willibrod nachsichtig, aber unerbittlich.

Leon merkte, wie ihm der Schweiß ausbrach. Erinnere dich, forderte er sich selbst auf. Versenk dich in die Erinnerung. Vergiss alles andere. Da war doch noch was. Lass dich darauf ein, tiefer, konzentrierter. Schwindlig wurde ihm. Ein so verflixtes Nachgraben in seinem Gedächtnis und dazu unter Beobachtung war er nicht gewohnt. Das ging ja gar nicht. Das konnte nie was werden. Der Schweiß rann ihm in die Augen, kitzelte an der Schläfe. Unwillig wischte er ihn weg. Und dann hörte er etwas. Klarer als bei dem schrecklichen Ereignis selbst. Jetzt wurde die Stimme Ghotans auf einmal verständlich.

 »Er hat Blutsauger geschrien und dass er sie alle erschlagen wollte.«

Niemand sagte etwas. Gernod hatte den Kopf schief geneigt, als lauschte auch er Ghotan, als würde er dessen furchtbare Verzweiflung hören, die Leon jetzt erst wahrnahm.

»Was kann er gemeint haben?«, fragte Leon unsicher.

»Etwas Gefährliches«, sagte Gernod besonnen. »Das hast du gut gemacht. Auf deine Ohren und Augen können wir uns immer verlassen.« Schwerfällig stand er auf und langte nach dem Pergament. »Man hört und sieht oft mehr, als einem gleich bewusst ist. Nun kann ich mir ungefähr vorstellen, in welchem Zustand Ghotan war. Nicht mehr richtig bei sich. Er hat nicht gemerkt, was er getan hat«, fügte er mehr zu sich selbst als zu den anderen hinzu.

Gernod war etwa zehn Jahre älter und nicht so kräftig wie der Bruder Gärtner. Für seine profunden medizinischen Kenntnisse und seine Heilkunst war er berühmt. Aber er machte sich wenig aus dieser Berühmtheit.

»Ich muss zur Vogtei«, erklärte er und rollte das Blatt zusammen, »Witzlaf sprechen. Er sollte wissen, was sich ereignet hat.«

»Ich begleite dich, ich darf dich doch begleiten?«, erkundigte sich Leon erleichtert. »Du wirst dir Annas Arm anschauen, ja?«

»Natürlich wird er das«, meinte Willibrod beschwichtigend. »Was hast du mit dem Spaten gemacht?«, fuhr er überraschend fort.

»Mit dem Spaten?« Leon hatte nicht einen Moment mehr daran gedacht.

»Auf der Straße liegengelassen, denke ich. Suche ihn und bring ihn in die Schmiede«, wies ihn Willibrod an.

»Aber der Schmied ...«, begann Leon fassungslos und schluckte. »Der Schmied ist gefangen gesetzt, das weißt du doch.«

»Ghotan hat einen Bruder, Reymar, und der dürfte in der Schmiede sein«, sagte Willibrod trocken. »Du hast nicht erzählt, dass Reymar sich am Wahnsinn seines Bruders beteiligt hat. Also kümmere dich um unseren Spaten.«

»Ja, tu das!« Gernod hatte Pergament und Schreibzeug weggelegt. Jetzt trug er einige Arzneien zusammen. Leon erkannte Kampfer und eine Ringelblumensalbe, für die er selbst die Blüten gepflückt hatte.

»Ich weiß nicht, ob Annas Arm blutet.« Bei dem Gedanken wurde ihm schlecht. Sicher konnte der Arm so verletzt worden sein, dass er blutete. Er hätte ihn sich zeigen lassen sollen.

Gernod war an einen Spint getreten und holte schmale Leinenbinden heraus. Verbandszeug. Der Apotheker schüttelte den Kopf. »Das ist für Ghotan, du hast gesagt, der Spaten hat ihm die Wange aufgerissen. Wahrscheinlich muss ich sogar die Wunde nähen.« Aus einem Kästchen fischte er eine dünne Nadel.

»Du willst dich um Ghotan kümmern? Nachdem er um ein Haar Leute erschlagen hat?«, entrüstete sich Leon.

»Die christliche Nächstenliebe fragt nicht nach Schuld«, wies ihn Gernod unbeeindruckt zurecht. »Und übrigens, wenn du nach dem Spaten suchst, schau dich auch nach dem Schmiedehammer um. Wenn du ihn findest, bring ihn zurück. Reymar wird nicht gern auf ihn verzichten.«

Leon holte tief Luft, auf einmal überkam ihn eine grenzenlose Wut. Und Anna?, wollte er brüllen. Warum verschwendet ihr tausend Gedanken an einen Verbrecher und keinen einzigen an Anna?

»Annas Arm werde ich mir natürlich auch ansehen. Bist du nun zufrieden?«

Leon nickte, er brachte keinen Ton heraus.

»Dann geh jetzt und schau dich in der Schmiede um. Versuch, Reymar zum Sprechen zu bewegen. Vielleicht kannst du von ihm erfahren, was in seinem Bruder vorgegangen ist.«

»Ja«, Willibrod zwinkerte, »versuch etwas herauszufinden. Egal, wie du es anstellst.«

Leon seufzte. »Mach ich.« Reymar mehr als zwei Worte hintereinander zu entlocken, hieß, ein Wunder zu wirken. Und ein Wunder hatte Leon noch nie zustande gebracht. Der Schmied Reymar war so gesprächig wie ein toter Hering.

»Oder besteht Gefahr für Leon?« Willibrod runzelte die Stirn. »Was meinst du, Gernod? Können wir es wagen, ihn in die Schmiede zu schicken?«

»Ich denke schon«, antwortete Gernod. »Sei ein bisschen auf der Hut, Leon. Und rede nicht über das, was du uns erzählst hast. Nichts darüber, was du aus Ghotans Gebrüll herausgehört hast. Es ist sehr beruhigend, dass es kaum zu verstehen gewesen war. Behalt sein Geschrei für dich, ja?«

Leon nickte verwundert. »Aber mit Anna darf ich darüber reden?«

»Ich glaube«, Gernod schmunzelte, »das nicht einmal wir dich davon abhalten könnten.«

4

»He! Der Spaten gehört mir!«, schrie Leon. Ein zerlumpter Junge war gerade dabei, damit abzuziehen. Bestimmt wollte er das verbogene Eisen vom Holz lösen und an einen Schmied verkaufen. Und der Rest wanderte kleingehackt ins Kochfeuer in irgendeiner Bruchbude. In Stralsund fand sich Verwendung für nahezu alles.

Zögernd schaute der Junge über die Schulter und begann zu rennen. Leon hatte keine Mühe, ihn einzuholen und festzuhalten.

»Das ist mein Spaten! Genauer gesagt, gehört er den Dominikanern«, erklärte er in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.

Der Junge war höchstens zehn und kein Gegner für Leon, das hatte dieser schon von weitem erkannt. Aus der Nähe wirkte der Junge noch abgerissener. Sicher wohnte er nicht einmal in einer Bude, einem der schäbigen Holz- oder Steinhäuschen in der Nähe der Stadtmauer, sondern höchstens in einem der Keller, den billigsten Unterkünften überhaupt.

»Er lag auf der Straße«, wandte der Junge unsicher ein. Nun, da er geschnappt war, schien er nicht daran zu denken, Leons Anspruch in Frage zu stellen.

»Danke, dass du ihn aufgehoben hast«, sagte Leon leichthin und nahm den Spaten an sich.

»Er lag einfach so da, beinahe wäre ein Karren drüber gefahren«, sagte der Junge wieder.

»Verstehe«, entgegnete Leon ernst. »Also nochmals danke. Ich muss den Spaten zum Schmied bringen. Ich hatte ihn – äh – verloren.«

Auch der kleinste Diebstahl wurde hart bestraft. Selbst bei Kindern. Anscheinend fürchtete sich das Kind inzwischen, angeklagt zu werden, das bemerkte Leon an dessen flackerndem Blick. Der Junge tat ihm leid. Gern hätte er ihm etwas zum Ausgleich gegeben, aber er hatte nichts. Weder eine kleine Kupfermünze noch ein Stück Brot. Den Hunger sah er dem schmächtigen Kerlchen mühelos an. Der Kleine bekam nicht wie er drei Mahlzeiten am Tag.

Traurig nickte der Junge. Leon ließ ihn gehen und machte sich selbst wieder auf den Weg. Fast hatte er mit dem Spaten das Seetor an der Frankenstraße erreicht, da fiel ihm der Hammer ein. Er sollte ja auch nach dem Schmiedehammer suchen. Ohne große Hoffnung lief er zurück.

Der Hammer lag wahrscheinlich noch genau dort, wo er hingefallen war. Mitten in einem riesigen, frischen Kuhfladen. Er war regelrecht darin versackt. Nur das alleräußerste Ende des Stiels ragte über den Rand hinaus. Das war bestimmt der Grund dafür, dass niemand den wertvollen Hammer hatte mitgehen lassen. Er war einfach übersehen worden.

Auch Leon hatte nicht gleich erkannt, worauf er gestoßen war. Unschlüssig hockte er sich davor und wusste nicht, was er machen sollte. Am liebsten hätte er den Hammer in der Kuhschiete liegen gelassen. Sollte ihn sich Reymar doch selbst holen. Aber vielleicht gehörte das Stückchen Holz gar nicht zum Stiel des Hammers? Auf alle Fälle war es zu kurz, um daran zu ziehen.

»Bist du nicht zu alt, um die Fliegen auf dem Kuhmist zu zählen?«, erkundigte sich jemand.

Vor Leon stand ein Mann, den er der Kleidung nach als Händler der mittleren bis unteren Kategorie einschätzte. Einer von den vornehmen großen hätte ihn niemals angesprochen, sondern nur glatt über ihn hinweggesehen.

»Ja, schon«, antwortete Leon gedehnt. »Aber tatsächlich zähle ich gar nicht die Fliegen.« Schmeißfliegen. Was hatte Ghotan mit Schmeißfliegen gemeint?, schoss ihm durch den Kopf.

»Was tust du dann?«

Die Neugier des Mannes begann Leon lästig zu werden.

»Der Goldring meiner Mutter ist mir aus der Tasche gerutscht und in die Kuhscheiße gefallen. Ich sollte den Ring beim Goldschmied richten lassen.« Treuherzig schaute Leon zu dem Mann auf. Dem klappte der Unterkiefer herunter.

»Ein Goldring?«, keuchte er. »Hier, nimm das, um ihn zu suchen.« Eilig machte der Händler ein Messer von seinem Gürtel los und hielt es Leon hin. Dankbar griff dieser zu. »Und habt ihr vielleicht noch ein Tuch? Wenigstens einen Tuchfetzen?«

»Ein Goldring, also so was!«, murmelte der Mann und klopfte seine Taschen auf der Suche nach einem Tuch ab, während Leon mit dem Messer vorsichtig nach dem Schmiedehammer tastete. Ja, kein Zweifel, der Hammer steckte im Mist, seine kantige Form war unverkennbar. Und mit dem Messer ließ er sich herausschieben. Als ein Tuch vor Leons Nase erschien, langte er zu und warf es so über den Hammerstiel, dass er ihn ergreifen konnte, ohne mit dem Kuhmist direkt in Berührung zu kommen. Er hob den Hammer auf und ließ das Messer liegen.

»Aber das ist ja gar kein Goldring!«, protestierte der Händler und schaute fassungslos auf das große Ding, von dem die Kuhschiete tropfte.

»Nein.« Leon ergriff mit der anderen Hand den Spaten und trabte eilig zum nächst gelegenen Stadtbrunnen ein paar Häuser weiter. Samt Tuch warf er den Hammer hinein und wusch beides sauber.

»Du bist ein Lausebengel!« Wie er es sich gedacht hatte, war ihm der Händler gefolgt.

Der Mann schimpfte weiter, während er das Messer unter den Wasserstrahl hielt und die Klinge abspülte. »Man sollte dir das Fell über die Ohren ziehen. Warum hast du nicht deinen Spaten benutzt, um den Hammer herauszuholen? Warum mein Messer?«

»Du hast es mir gegeben«, antwortete Leon knapp.

»Also so was! Du bist frech! Frech und ungehobelt. Aber so sind die Jungen heute. Und dann hast du auch noch mein gutes Tuch beschmutzt. Gib es mir sofort zurück.« Der Händler wischte das Messer an der Hose trocken. Aus den Augenwinkeln sah Leon, dass er es in der Hand behielt und nicht wegsteckte. Hatte er den Mann falsch eingeschätzt? Wenn sich dieser noch mehr erregte, konnte es gefährlich werden.

»Du wolltest es mir für einen Goldring leihen, warum nicht für einen Schmiedehammer? Er ist beinahe ebenso viel wert«, sagte Leon so gleichmütig wie möglich.

Überraschenderweise lachte der Mann, steckte endlich das Messer zurück in die Scheide am Gürtel und nahm das tropfende Tuch entgegen. »Wo du recht hast, hast du recht. Und wem gehört der Hammer?«, fragte er launig. »Deiner Mutter bestimmt nicht, möchte ich wetten.«

»Er gehört in Reynekes Schmiede, ich bin auf dem Weg dorthin.«

Auf einmal erstarrte das gutmütige Gesicht des Mannes. »Arbeitest du für den Teufelsschmied?«

»Nein, ich soll ihm nur den Spaten zum Reparieren bringen. Und den Hammer hat der Schmied in der Stadt verloren, als er ...« Leon stockte.

Der Händler machte mit der Hand ein Zeichen zur Abwehr böser Geister. »Diese Schmiede ist kein Ort für dich. Für niemanden. Heute noch weniger als früher. Bring den Spaten lieber woanders hin, in eine Werkstatt, wo du auf Christenmenschen triffst.«

Also hatte sich die Geschichte vom besessenen Schmied schon herumgesprochen. Das würde Gernod und Willibrod nicht freuen. Aber es war vorauszusehen gewesen. Leon dankte dem Mann überschwänglich für seine Hilfe und trollte sich eilig in Richtung Stadttor. Leider hatte er keine Wahl. Er musste zu Reyneke. Und ein wenig, ging ihm auf, plagte ihn auf einmal die Neugier.

Vor der Stadtmauer im Hafen befanden sich die Schiffsbauplätze, und hier lag auch die Werkstatt gleich neben einer weiteren Ankerschmiede. An diesem Ende des Hafengeländes war der Uferstreifen breiter als am anderen. Ein großer Drehkran stand nicht weit von den Schmieden entfernt, und vor ihnen streckte sich ein hölzerner Landesteg wie ein überlanger Finger in den Strelasund hinaus. Zwischen die beiden Schmieden duckten sich ein paar Holzhütten. Langsam entstand hier eine richtige Vorstadt.

Leons Arm war vom Gewicht des Hammers immer länger und länger gezogen worden, es schmerzte schon richtig. Eigentlich hätte er froh sein müssen, das schwere Ding los zu werden. Trotzdem zögerte er, die Tür zur Schmiede aufzustoßen. Schon vom Stadttor aus hatte er gesehen, wie düster die Hütte ausschaute, dabei hatte er gar nichts anderes erwarten können. Er kannte die Werkstatt doch. Aber heute erschien sie ihm besonders finster. Oder lag es daran, dass sich aus dem Schornstein nur ein kränklicher Faden schwarzen Rauchs emporkräuselte? Aus der anderen Schmiede dampfte der Rauch in dicken Schwaden, und fröhliches Hämmern und Klirren schallte herüber.

Aus Reynekes drang kein Laut.

Leon wusste, dass die Familie in der Hütte nebenan hauste. Die Tür war geschlossen, dabei stand sie normalerweise offen, damit die Mutter der Schmiedebrüder ohne Verzögerung zwischen den Gebäuden hin- und herwuseln konnte. Die Witwe des alten Reyneke. Dabei fiel Leon ein, dass die Brüder gar nicht Reyneke hießen, sie waren ja nur die Stiefsöhne des Alten aus der ersten Ehe seiner Frau. Wie hießen die beiden? Es war ein etwas fremd klingender Name, der ihm gerade nicht einfallen wollte. Aber war das wichtig? Er stieß die Tür auf.

Das Innere der Schmiedehütte war von Rauch geschwärzt, die Wände gespickt mit Werkzeugen. Auf ein paar breiten, klobigen Holzbänken lagen griffbereit kleinere Hämmer, Zangen, Feilen, Winkel und Sägen. In der Mitte des Raums erhob sich die mächtige gemauerte Esse, in der das Feuer nur glimmte.

Ein Schmiedefeuer, das nur glimmte, statt hell zu lodern, war ein schlechtes Zeichen.

Reymar war da. Er saß auf einem Hocker und starrte die Wand an. Ghotans Bruder war eine jüngere und etwas weniger kraftvolle zweite Ausgabe von ihm. Als hätte Gott für den anderen nicht mehr genügend Material übrig gehabt. Die Geschäfte führte Ghotan, er besorgte das Verhandeln mit den Auftraggebern und den Einkauf der Werkstoffe, Reymar tat bloß, was der Ältere ihm auftrug. Reymar, der Schweiger. Den Leon zum Reden ermuntern sollte. Als er sich diese Aufgabe ins Gedächtnis rief, befiel ihn größte Niedergeschlagenheit. Ohne ein Wort stellte er den Spaten ab und hielt Reymar den Hammer hin.

Kurz blitzten die Augen des Schmieds auf, dann nahmen sie den gleichen stumpfen Ausdruck wie zuvor an. Reymars Augen waren so dunkel wie die Kohlenstücke, die aus der Esse gefallen waren. Auf seiner rechten Wange prangte ein tiefrotes Feuermal in der Form einer Spinne. Manche hielten so ein Mal für ein Teufelszeichen. Ein wahrhaft finsterer Kerl. Außer ihm war niemand zu sehen.

Wo steckte der Geselle?

Leon passte es herzlich wenig, dass er mit dem Schweiger allein war. Deshalb wollte er den Besuch so rasch wie möglich hinter sich bringen.

»Hier, der Hammer. Es ist doch eurer? Ich hab ihn auf der Straße gefunden«, sagte er mit möglichst unbeteiligter Stimme.

Reymar streckte eine schwielige Pranke aus.

Im gleichen Augenblick hatte Leon das Gefühl, einen entscheidenden Fehler zu begehen. Siedendheiß fiel ihm ein, wozu der Hammer noch vor kurzer Zeit gedient hatte: als furchterregende, mörderische Waffe in der Hand von Reymars Bruder. Was passierte, wenn auch den Schweiger der Wahnsinn packte?

Der Mann trug unter der Lederschürze ein Hemd, das die Arme frei ließ. Deshalb konnte Leon sehen, wie die leichteste Bewegung den Bizeps anschwellen ließ. Es war unübersehbar, welche Kraft in dem Kerl steckte. Beängstigend war, wie er den Hammer jetzt in der Hand wog, als ob er abschätzen wollte, wie er bei einem plötzlichen Angriff am besten zu handhaben war.

»Ist es eurer?«, wiederholte Leon betont laut, um die Furcht in Schach zu halten.

Reymar gab keinen Ton von sich und starrte nur den Hammer an. Vielleicht war der Kerl schwerhörig? Bisher hatte es Leon nur mit Ghotan zu tun gehabt, mit dem hier hatte er noch nie ein Wort gewechselt.

Der Schmied befingerte einmal kurz das Werkzeug. Jedes bessere Stück Eisen war durch Herkunftszeichen markiert, die die Werkstatt und manchmal auch die Stadt angaben. Anscheinend befriedigte Reymar die Prüfung, denn er nahm den Hammer nun wie ein Kind in den Arm, eine Hand lag auf dem Kopf, als müsste er ihn beschützen.

Eine Bestätigung, wem er gehörte, hätte Leon eigentlich nicht gebraucht, und sein Versuch, Reymar durch die Prüfung zum Reden zu bringen, war offenkundig gescheitert.

»Und da wäre noch der Spaten«, fuhr er tapfer fort. »Willibrod lässt fragen, ob du ihn neu beschlagen kannst. Mit dickerem Blech diesmal, damit’s länger hält. Für das Eisen bezahlen wir. Und es eilt. Wir brauchen ihn dringend zurück.«

Weder rührte sich Reymar, noch warf er einen Blick auf den Spaten, der am Amboss lehnte. Leon wusste sich keinen Rat mehr. Sollte er einfach gehen? Eine ungemütlichere Situation konnte er sich kaum vorstellen. Als Reymar die Stirn runzelte und sich sein Gesicht noch mehr verdüsterte, wallte Leons Angst, die sich gerade legen wollte, erneut auf. Nur zu deutlich erinnerte er sich an das verzerrte Gesicht des Bruders. Die Ähnlichkeit prägte sich immer stärker aus.

Draußen waren Schritte zu hören.

Hastig wandte sich Leon um. Wenn jetzt jemand hereinkam, wollte er rasch hinausschlüpfen. Er würde nicht warten, bis auch Reymar der Wahnsinn übermannte.

Die alte Reyneke erschien in der Tür. »Wer ist denn da?« Als sie aus der Helligkeit draußen in die düstere Werkstatt trat, blinzelte sie. Die Frau war so klein, dass es äußerst verwunderlich erschien, dass sie die Mutter dieser beiden riesigen, ungeschlachten Kerle war. Ihr erster Mann musste ein Hüne gewesen sein. Wie hatte er geheißen? War er alteingesessener Stralsunder gewesen?

Misstrauisch kam die Frau näher. »Der Klosterjunge. Was willst du hier?«

Leon erklärte es ihr und deutete auf den Spaten. Reymar war aufgestanden. Er starrte zu einem Flaschenzug empor, der von der Decke hing. Mit diesem Flaschenzug wurden schwere Teile wie die Anker in der Werkstatt hin- und herbewegt. Der Arm mit dem Hammer zuckte. Leon war wieder auf der Hut.

Die alte Reyneke beachtete ihren Sohn nicht, sondern konzentrierte sich voll und ganz auf Leon. »So so, der Spaten soll repariert werden. Und wieder umsonst, nicht wahr? Du hast nicht gesagt, dass die Klosterleute diesmal für die Arbeit bezahlen wollten, nur für das Eisen. Wovon soll ich Brot kaufen, wenn ihr nicht bezahlt, was recht ist?«

Leon hatte schon einige Male Werkzeug zur Reparatur hergebracht, und nie hatte ihm Willibrod Geld für die Arbeit mitgegeben. Immer nur für das Eisen. Zum Ausgleich behandelte Gernod die Alte bei ihren wiederkehrenden bösen Hustenanfällen. Und wenn sich einer der Schmiede verletzte – was in einer Werkstatt wie dieser leicht vorkommen konnte –, versorgte er auch die Quetsch- und Brandwunden für Gotteslohn. Erstmals erschien Leon diese selbstverständliche gegenseitige Unterstützung nicht mehr ganz angemessen. Nicht aus Sicht der Schmiede. Die ersten Anzeichen für den Niedergang waren sicher schon früher da gewesen, aber jetzt sprangen sie ihm regelrecht ins Auge. Die Werkstatt wirkte wie tot. Es sah ganz so aus, als bekäme die Schmiede nicht mehr genügend Aufträge herein. Normalerweise würde jetzt ein Geselle das Feuer schüren, ein Lehrling würde herumspringen und Werkstücke anreichen oder Eimer mit Wasser herbeischleppen, um das glühende Eisen zu kühlen. Nichts von alldem.

Auf einmal überfiel Leon ein fürchterlicher Gedanke.

Lag der Geselle vielleicht mit einem Loch im Kopf hinter der Esse und rührte sich nicht mehr? Bestimmt war Ghotan mit seinem Schmiedehammer von hier aufgebrochen, als er die Stadt in Angst und Schrecken versetzt hatte. Und vorher? Was hatte er vorher getan?

»Wo sind eure Leute?«, fragte Leon unverblümt.

Die Reyneke begann zu weinen.

Reymar stand da und streichelte den Hammer wie einen Säugling. Dann streckte er eine Hand aus und legte sie unbeholfen auf die Schulter seiner Mutter, aber diese schüttelte ihn ab.

»Warum hast du ihn nicht aufgehalten? Er ist dein Bruder, und du hast ihn nicht aufgehalten! Wenn du ihn doch bloß aufgehalten hättest, als es noch nicht zu spät war. Was soll denn jetzt aus uns werden? Ohne Ghotan? Wozu bist du dummer Klotz überhaupt nütze?« Die Frau wandte sich an Leon. »Vorhin war ein Stadtknecht da. Ghotan hat auf der Straße drei Männer erschlagen, hat er gesagt. Sie haben ihn ins Gefängnis geworfen, und dort wartet er jetzt auf den Henker. Drei Männer erschlagen! Und da fragst du noch nach dem Gesellen oder dem Lehrling? Wir sind verflucht.«

Eiskalt fuhr es Leon über den Rücken. Jetzt wusste er, was Ghotan getan hatte, bevor er wutschnaubend und hammerschwingend auf die Straße gerannt war. Er hatte den Gesellen und den Lehrling erledigt!

Und danach noch drei Männer. Er musste wirklich vom Teufel besessen sein. Anders waren diese grauenhaften Taten nicht zu erklären.

»Das ... das tut mir leid«, stotterte er und merkte, dass ihm die Stimme kaum gehorchte. Bloß raus aus dieser Teufelsschmiede! Als er versuchte, sich einen Schritt in Richtung Tür zu bewegen, merkte er, dass er Blei in den Füßen hatte.

Willibrod und Gernod hatten ihm aufgetragen, sich umzusehen und Informationen zu sammeln. Und Gernod würde sagen, dass es zwar für alles eine Erklärung gebe, aber nur Dumme mit der erstbesten zufrieden wären. Leon war sehr versucht, sich diesmal auf die Seite der Dummen zu schlagen. War der Teufel nicht Erklärung genug?

Er schluckte. »Aber warum hat Ghotan das getan? Weißt du das?«, fragte er mit Krächzstimme. Hoffentlich wusste Gernod seinen Einsatz zu schätzen.

Im Gesicht der Reyneke zuckte es, sie rang sichtlich mit sich. Immerhin etwas.

»Wir bezahlen auch für die Arbeit«, erklärte er hastig, »ich werde es Willibrod sagen, er wird schon dafür sorgen, dass auch die Arbeit bezahlt wird. Aber bitte, warum hat Ghotan der Wahnsinn gepackt?«

Vielleicht hätte er nicht vom Wahnsinn reden sollen. Das Gesicht der Alten verschloss sich abrupt.

»Geh, geh jetzt«, drängte sie, »und komm morgen Abend wieder, dann wird dein Spaten fertig sein. Ich sorg dafür. Und denk daran, Geld mitzubringen.«

Reymar, der Riesenkerl, war bei dem Geschimpfe der Alten schuldbewusst in sich zusammengesackt. Vielleicht hatten sich die Brüder gestritten. Wenn ja, warum? Als sich Leon nach ihm umblickte – er hatte auf einmal das Gefühl, es sei besser, den Mann mit dem Hammer in der Faust im Auge zu behalten –,  war dieser im Hintergrund der Werkstatt verschwunden. Leon spürte nur noch Grauen. Der Wunsch hinauszurennen wurde beinahe übermächtig. Aber äußerlich behielt er die Ruhe.

»Es muss doch einen Grund geben«, redete er auf die Alte ein. »Ghotan kann nicht aus heiterem Himmel auf die Idee gekommen sein, Leute zu erschlagen. Das sieht ihm gar nicht ähnlich. Auf mich hat er immer einen besonnenen Eindruck gemacht. Er hat doch Ehre und Anstand. Bisher wenigstens.« Er faselte etwas zusammen, das er selbst nicht glaubte, nur um die Abwehr der Alten zu durchdringen.

»Danke für deine gute Meinung. Es gibt nicht sehr viele, die so edel von meinem Sohn denken. Aber du gehst jetzt besser. Wir haben zu tun«, sagte sie steif. »Reymar! Du hast das Feuer nicht geschürt!«, keifte sie plötzlich los. »Muss ich das jetzt machen? Wo steckst du?«

Leon sah ein, dass er keine weiteren Informationen aus ihr herausbekommen würde, und verließ endlich die Schmiede. Was würden Gernod und Willibrod sagen, wenn sie erfuhren, dass Ghotan das Leben mehrerer Menschen auf dem Gewissen hatte?

Sobald er draußen stand, überkam ihn erst einmal Erleichterung. Da war er ja mit knapper Not dem Teufel von der Kohlenschaufel gesprungen. Er schüttelte sich regelrecht.

Nach ein paar Schritten auf das Stadttor zu blieb er stehen und wandte sich um. Es war unbefriedigend, ohne Erklärungen über die Hintergründe von Ghotans Verbrechen ins Kloster zurückzukehren.

Ein Prahm ankerte am Landesteg. Leon schlenderte darauf zu und bemerkte, dass Kohle ausgeladen wurde. Kohle in den üblichen hölzernen Tonnen, die die ideale Verpackung für alles Mögliche abgaben. Eben auch für Kohle, die sich durch eine feine, schwarze Staubspur verriet. Draußen im Sund lag die Kogge vor Anker, die die Kohle gebracht hatte. Wegen ihres Tiefgangs konnte sie nicht bis an den Steg heranfahren, und so musste die Ware auf den flachen Prahm umgeladen werden. Leon wartete, bis ein Karren mit Kohletonnen voll beladen war, und folgte ihm, bis er vor der Ankerschmiede neben Reynekes Werkstatt hielt. Da kam ihm eine Idee.

Mit Schwung riss er die Tür auf.

»Eure Kohle ist da!«, schrie er. Lauter fremde Gesichter kehrten sich ihm zu.

Den Hafen, die Lebensader der Stadt, kannte er in- und auswendig. Hier wurde das meiste von dem Geld verdient, das Stralsund reich machte. Leon war stolz darauf, zumindest vom Ansehen nahezu jeden Handwerker, Träger und Fuhrunternehmer zu kennen, der im Hafen sein Brot verdiente. Na ja, dachte er, vielleicht nicht jeden. Der Mann, der in einer fleckigen Lederschürze auf ihn zukam, war bestimmt ein Fremder.

»Was willst du hier?«, fuhr er Leon an.

»Eure Kohle«, wiederholte Leon schwach und deutete hinter sich. Der Fuhrmann, der den Pferdekarren gelenkt hatte, schob ihn beiseite.

»Eure Kohle«, sagte auch er.

»Soll das ein Witz sein? Gehört er zu dir?«, fragte der Schmied und wies auf Leon. »Brauchst du einen Vorankündiger?«

Der Fuhrmann puffte Leon gut gelaunt. »Bestimmt nicht den. Zwei Mann können mir helfen, die Tonnen abzuladen. Wohin willst du das Zeug haben?«

Niemand achtete mehr auf Leon. Er sah zu, wie sich die schwarzen Kohlebrocken aus den Tonnen ergossen und hinter der Schmiede einen ansehnlichen Hügel bildeten. Die Kohle, schätzte er, kam aus England. Die beste Kohle kam von dort. Nur mit halbem Ohr lauschte er den Gesprächsfetzen, die sich um die neue Ladung drehten. Vom Preis war nicht die Rede, aber der Name eines Stralsunder Händlers fiel, den Leon zwar wahrnahm, aber der beinahe sofort seinem Gedächtnis entglitt. Denn er überlegte, wie er mit den fremden Leuten aus der Schmiede unverfänglich reden konnte. Bei so enger Nachbarschaft musste ihnen etwas aufgefallen sein, wenn es bei Reynekes nicht mit rechten Dingen zuging. Aber wieso kannte er den neuen Schmied nicht? Und wieso hatte dieser eine anscheinend komplett neue Mannschaft in seiner Werkstatt? Woher kamen die Gesellen und Lehrlinge? Und wenn er sich nicht täuschte, waren es mehr als früher. Was ging hier vor? Die Neugier machte ihn kribbelig. Alle Vorsicht in den Wind schlagend, schlenderte er einem der Gesellen in den Weg.

»Hab dich noch nie hier gesehen«, sagte er forsch.

»Ich dich aus nicht. Und wenn du hier nichts zu tun hast, scher dich weg.«

»Höflich bist du nicht gerade«, meinte Leon leichthin, »in Stralsund grüsst man sich wenigstens. Und wenn man länger bleiben will, macht man sich miteinander bekannt.«

Der Geselle lachte geringschätzig. »Du kannst mich mal gern haben, du Floh. Wenn du einen Meister suchst, bist du bei uns an der falschen Adresse. Für Hänflinge haben wir keine Verwendung. Also, scher dich!«

Leon fühlte sich durch den groben Kerl beleidigt. Er war kein Floh, sondern dank der reichhaltigen Klosterkost auch für die Ansprüche eines Schmiedemeisters groß und kräftig genug. Gern hätte er den Mann vors Schienbein getreten, wollte sich aber nicht auf einen Streit einlassen, bei dem er voraussichtlich den Kürzeren ziehen würde. Also schluckte er die Beleidigung herunter. Vorerst.

»Es gibt ja noch andere Schmieden als eure. Mit Leuten, die wissen, was sich gehört.« Unmissverständlich deutete er auf Reynekes Bude. Würde der Geselle anbeißen und jetzt etwas äußern, was ihm, Leon, weiterhalf? Bislang hatte der Mann gesprochen, ohne sich lange zu bedenken, aber jetzt blieb er etwas zu lange stumm. Als ob er plötzlich auf der Hut war, sich das aber nicht anmerken lassen wollte, lachte er wieder – es war ein etwas künstliches Lachen.

»Nur zu, lauf hin. Sie werden dich mit offenen Armen empfangen!« Er tippte kurz an die Stirn und verschwand in der Werkstatt, gefolgt von seinem Kumpanen. Enttäuscht blieb Leon zurück. Als er sich umwandte, bemerkte er den Fuhrmann, der ihn kopfschüttelnd musterte.

»Du gehörst doch zu den Dominikanern. Warum willst du jetzt Schmied werden?« Der Mann hatte dem Wortwechsel zugehört.

»Will ich doch gar nicht«, gab Leon unumwunden zu. »Ich hab bloß aus Neugier so dahergeredet. Woher kommen diese Leute? Seit wann hat die Schmiede einen neuen Besitzer?«

Der Fuhrmann kratzte sich unter der Achsel und zuckte die Schultern. »Was weiß ich. Ich weiß nur, dass sie wie die Teufel arbeiten. Die Bude läuft wie geschmiert. Und jetzt lass mich, ich hab zu tun.« Er rollte die leeren Fässer an einen Platz zwischen den beiden Schmieden nahe am Ufer, wo sie später vom Eigentümer abgeholt werden sollten. Leon half ihm dabei.

»Kriegt Reynekes Schmiede auch Kohle?«, fragte er, als die letzte Tonne beim übrigen Haufen gelandet war.

Der Mann stutzte, besann sich und spuckte aus. »Was meinst du? Kohle ist doch Kohle, oder?«

Leon wusste nicht, worum es ging, nickte aber. »Bestimmt.«

»Sag ich auch. Als ob die gewöhnliche Schufterei nicht reichen würde. Oder das Zählen der Tonnen.«

Leon gab brummend seine Zustimmung, verstand aber immer noch nichts. »Aber was ist nun mit Reynekes Schmiede? Viel Kohle haben die ja nicht mehr.« Er deutete auf das armselige Häufchen, das in ihrem Blickfeld lag. »Die brauchen doch welche.«

»Eben. Scheiß Sortiererei. Macht einen richtig blöd, das Sortieren.«

Ratlos zuckte Leon die Schultern.

Als der Mann mit seinem Karren davonzockelte, um neue Tonnen vom Prahm zu laden, blieb er nachdenklich zurück. Vor den Karren war ein kräftiger Gaul gespannt, dessen langer Schweif hin und her wedelte. Sobald Leon davon überzeugt war, dass der Fuhrmann voll in seiner Arbeit aufging, strich er um die leeren Tonnen herum und spähte unauffällig nach dem Zeichen des Händlers, dem die Tonnen gehörten. Es war nur eine Ahnung, dass es wichtig sein könnte. Aber noch bevor er es entdecken konnte, trat einer der unbekannten Gesellen aus der Schmiede und schaute so misstrauisch zu ihm herüber, dass er es vorzog, die Sache aufzugeben.

5

Zum Mittagessen kam er gerade noch rechtzeitig. Vorher hatte er in der Apotheke nachgeschaut, aber Gernod nicht angetroffen. Ebensowenig Willibrod im Garten. Das Loch für die Rosen war immer noch nicht fertig. Deshalb machte er sich nach dem Essen an die Arbeit, da sie ihm die Gelegenheit gab, die Apotheke im Auge zu behalten.

Der alte Holzspaten taugte wirklich fast gar nichts mehr. Schließlich sprang Leon in das Loch und kratzte die Erde mit den Händen heraus, bis er fand, dass die Grube auch für den edelsten Rosenbusch tief genug sei. Seine Hose und der Kittel standen vor Dreck, und ein paar Mal hatte er sich die Haare mit den schmutzigen Händen aus dem Gesicht gewischt. Er musste aussehen wie eine Vogelscheuche, aber das war ihm gleichgültig. Hauptsache, das Loch entsprach Willibrods Wünschen. Er stand bis zum Oberschenkel darin und äugte grübelnd in die Tiefe. Neue Erde auf die Sohle einzufüllen, traute er sich nicht. Willibrod hatte sicher seine eigene Vorstellung von der idealen Mischung. Vielleicht sollte erst eine Schaufel voll Mist hinein. Kuhmist?

Vom Kuhmist kam Leon auf die Fliegen, und von da wieder auf Ghotan und die Schmiede. Fliegen hatte er in der Werkstatt nicht bemerkt. Schmeißfliegen. Waren Schmeißfliegen Blutsauger? Wahrscheinlich hatte das Pferd vor dem Kohlekarren beständig mit dem Schweif gewedelt, weil es von Bremsen belästigt worden war. Bremsen – Geschmeiß – Blutsauger. Irgendwie passte das zusammen und doch wieder nicht. Wegen ein paar blutsaugender Fliegen hatte Ghotan bestimmt nicht mordlüstern seinen Schmiedehammer geschwungen. Das Rätsel ließ sich nicht lösen. Als Leon wieder zur Apotheke spähte, stand die Tür halb offen.

Gernod war zurück. Aufatmend krabbelte Leon aus der Grube.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Neuausgabe
Jahr
2016
ISBN (eBook)
9783960530664
Dateigröße
1.4 MB
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (April)
Schlagworte
14. Jahrhundert Mittelalter Jugendbuch ab 12 Jahre historischer Roman für Jungen Kinderkrimi Freundschaft für Mädchen Stralsund Berserker Kloster eBooks
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Titel: Leon und die Teufelsschmiede - Band 3
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