Lade Inhalt...

4D - Tatort Hofgarten

Der Kinderkrimi

©2016 136 Seiten

Zusammenfassung

»Sollen wir der Polizei melden, was wir herausgefunden haben?«, fragte Pia. Charlotte zog die Augenbraue hoch. »Nein, das sind doch noch gar keine richtigen Hinweise. Bevor wir die Polizei einschalten, müssen wir ein bisschen mehr herausfinden.«

Was ist das Schönste auf der Welt? Richtig gute Freunde zu haben! Genau das sind Pia, Charlotte und Ben. Obwohl sie inzwischen auf verschiedene Schulen gehen, versuchen sie, jede freie Minute miteinander zu verbringen. Da gibt es nur ein Problem: den Schatten! So nennen die drei Levin, der in Bens Klasse geht. Levin ist irgendwie seltsam … und er nervt gewaltig. Doch dann werden die vier Zeugen eines Überfalls – und beschließen, den Dieb gemeinsam zu finden. Und wer weiß, vielleicht stellt sich „der Schatten“ dabei ja doch als ganz nett heraus?

Echte Freundschaft und jede Menge knifflige Ermittlungen: ein Lesespaß für junge und junggebliebene Leser!

Jetzt als eBook: „4D - Tatort Hofgarten“ von Heide John. Wer liest, hat mehr vom Leben: jumpbooks – der eBook-Verlag für junge Leser.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Über dieses Buch:

Was ist das Schönste auf der Welt? Richtig gute Freunde zu haben! Genau das sind Pia, Charlotte und Ben. Obwohl sie inzwischen auf verschiedene Schulen gehen, versuchen sie, jede freie Minute miteinander zu verbringen. Da gibt es nur ein Problem: den Schatten! So nennen die drei Levin, der in Bens Klasse geht. Levin ist irgendwie seltsam … und er nervt gewaltig. Doch dann werden die vier Zeugen eines Überfalls – und beschließen, den Dieb gemeinsam zu finden. Und wer weiß, vielleicht stellt sich „der Schatten“ dabei ja doch als ganz nett heraus?

Echte Freundschaft und jede Menge knifflige Ermittlungen: ein Lesespaß für junge und junggebliebene Leser!

Über die Autorin:

Heide John wurde in Köln geboren und lebt inzwischen auch wieder in der Rheinmetropole. Seit Beendigung des Studiums der Germanistik und der Politikwissenschaften arbeitet sie als Lektorin, freie Journalistin und schreibt Bücher für Kinder und Erwachsene.

Bei jumpbooks veröffentlichte Heide John bereits den zweiten Teil der Kinderkrimis rund um die 4D: Tatort Düsseldorf.

Die Autorin im Internet: http://www.facebook.com/heide.john.5

***

eBook-Neuausgabe April 2016

Copyright © der Originalausgabe 2007 Droste Verlag GmbH, Düsseldorf

Copyright © der Neuausgabe 2013 dotbooks GmbH, München

Copyright © 2016 jumpbooks. jumpbooks ist ein Imprint der dotbooks GmbH.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nicola Bernhart Feines Grafikdesign, München

Titelbildabbildung: © denis_pc – Fotolia.com.E-Book-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN 978-3-96053-059-6

***

Damit der Lesespaß sofort weitergeht, empfehlen wir dir gern weitere Bücher aus unserem Programm. Schick einfach eine eMail mit dem Stichwort 4D – Tatort Hofgarten an: lesetipp@jumpbooks.de

Gerne informieren wir dich über unsere aktuellen Neuerscheinungen – melde dich einfach für unseren Newsletter an: http://www.jumpbooks.de/newsletter.html

Besuch’ uns im Internet:

www.jumpbooks.de

www.facebook.com/jumpbooks

https://twitter.com/jumpbooksverlag

http://youtube.de/jumpbooks

Heide John

4D: Tatort Hofgarten

Der Kinderkrimi

jumpbooks

Kapitel 1:
Drei Freunde

»Hallo, Ben, hier ist Charlotte …«

Ben, der im Wohnzimmer vor seinem Matheheft saß, stand auf, ging in den Flur und blickte auf die leere Ladestation. Wie so oft lag das Telefon leider nicht dort, wo es hingehörte.

Charlottes Stimme wurde energischer: »Hey, geh ran! Wir wissen, dass du da bist.«

Würde ich ja gern, dachte Ben und rannte hektisch durch die Dreizimmerwohnung, die er mit seinem Vater in Düsseldorf-Pempelfort bewohnte. Ben lebte gerne in diesem Stadtteil, weil er so zentral lag. Wenn man sich in Richtung Westen bewegte, war man sofort am Rhein, wo man wunderbar Rad fahren oder skaten konnte, und wenn man sich von dort aus weiter nach Süden wandte, war man schnell in der Altstadt. Am schönsten fand Ben die Nähe zum Hofgarten, dem ältesten Volksgarten Deutschlands. Es war toll, in einer Großstadt zu leben, die in ihrem Herzen so etwas wie eine grüne Insel besaß.

»Nun mach schon, Ben«, sprach Charlotte weiter. »Guck im Kühlschrank nach!«

Ben schüttelte unwillkürlich den Kopf. Im Kühlschrank lag das Telefon bestimmt nicht, aber wo konnte es bloß sein? Harald Schumacher, Bens Vater, achtete zwar sehr darauf, dass die Wohnung sauber und aufgeräumt war, aber Telefone und Schlüssel bezeichnete er mit schöner Regelmäßigkeit als seine natürlichen Feinde.

»Die verstecken sich vor mir«, witzelte er, wenn nach dem fünften Klingelton der Anrufbeantworter ansprang, er sich aber absolut nicht daran erinnern konnte, wo er das Mobilteil hingelegt hatte: Lag es im Wohnzimmer auf dem Schrank? Im Schlafzimmer auf dem Bett? Auf der Ablage im Bad? Sogar im Kleiderschrank hatte Ben es schon aufgespürt.

Mist, schoss es dem zwölfjährigen Jungen durch den Kopf. Kann er das blöde Ding nicht einmal an seinen Platz zurücklegen!

Aber Charlotte ließ ihrem besten Kumpel keine Zeit zum Nachdenken. Sie sprach bereits weiter: »Wenn du euer Telefon heute noch findest, kannst du ja zurückrufen. Wir sind bei Pia.«

Charlotte hatte kaum ihr »Tschüssi« durch die Leitung gerufen, als Ben das Mobilteil entdeckte. Eigentlich hätte er es auf Anhieb finden müssen: Es lag in dem kleinen Korb auf der Flurablage – und damit nur einen halben Meter von der Telefonanlage entfernt.

Pias Nummer wusste Ben natürlich auswendig. Hastig tippte er die sechs Zahlen ein.

Schon nach dem zweiten Klingeln nahm Pia den Hörer ab. »Das ging ja schnell«, verkündete sie.

»Mensch, Pia, dass du dich nicht mit Namen meldest, ist ja mutig«, antwortete Ben mit leiser Bewunderung in der Stimme. »Was hättest du gemacht, wenn jemand für deine Eltern in der Leitung gewesen wäre?«

»Ich habe geahnt, dass du es bist. Und wenn nicht, wäre das auch kein Beinbruch gewesen.«

Bens Lippen verzogen sich automatisch zu einem kleinen Lächeln, denn mit diesem Satz hatte Pia Klerk den Nagel auf den Kopf getroffen. Seine fast zwölfjährige Freundin konnte sich aus jeder schwierigen Situation herausreden. Darüber hinaus hatte Pia ein unglaubliches Talent dafür, selbst aus ernsten Momenten etwas Komisches zu machen.

Ben wollte gerade etwas sagen, da sprach Pia schon weiter. »Wir wollen gleich in den Hofgarten. Kommst du mit?«

Ben zögerte. »Ich weiß nicht. Ich habe gerade angefangen, Mathe zu üben. Wir schreiben morgen eine Arbeit. Und ehrlich gesagt, habe ich keinen blassen Schimmer, wie man Gleichungen von Geraden bestimmen kann.«

»Bring dein Mathebuch doch einfach mit. Unser Einstein kann dir unter Garantie helfen!«

Ben hörte, wie Charlotte im Hintergrund stöhnte. Ihre gemeinsame Freundin Charlotte Boysen war eine hervorragende Schülerin. Sie schrieb eine Eins nach der anderen, ohne sich großartig anstrengen zu müssen. Und Mathematik gehörte zu Charlottes absoluten Lieblingsfächern: In den meisten Fällen brauchte sie nicht länger als ein paar Minuten, um zu wissen, wie eine Aufgabe gelöst werden musste. Seit ein paar Monaten hatte sie stets ein Sudoku-Heft in der Tasche, und in jeder freien Minute beschäftigte sie sich damit, die leeren Kästchen mit den richtigen Zahlen zu füllen. Trotzdem hasste Charlotte es wie die Pest, wenn Pia oder Ben sie Einstein nannten. Außerdem hatte sie den beiden schon hundert Mal erklärt, dass der berühmte Schweizer kein Mathematiker, sondern Physiker gewesen war. Aber das schien Pia und Ben vollkommen egal zu sein.

»Hey, der Mann war ein Genie«, grinste Pia, wenn Charlotte sich über den Vergleich beschwerte. »Ist doch egal, in welchem Fach.«

Aber das war nichts anderes als eine kleine, bedeutungslose Frotzelei unter Freunden. Eine Rolle spielte nur, dass Charlotte keine Streberin war und sich überhaupt nichts darauf einbildete, eine sehr gute Schülerin zu sein.

»Ich bin schon schlau auf die Welt gekommen«, sagte sie manchmal, wenn sie ihre Hausaufgaben mal wieder in Nullkommanichts erledigt hatte, während Pia und Ben immer noch über der zweiten Aufgabe brüteten.

Vor etwas mehr als elf Jahren hatten sich die Mütter der drei Freunde in einer Krabbelgruppe kennengelernt. Die Frauen fanden sich auf Anhieb sympathisch, und seit dieser Zeit unternahmen sie vieles gemeinsam mit ihren Babys. Zwei Jahre später hatten Hanna Boysen, Bea Klerk und Sandra Schumacher ihre Kinder im selben Kindergarten angemeldet. Und Pia, Charlotte und Ben waren schon als Dreijährige ein gut eingespieltes Team gewesen. Anschließend gingen sie vier Jahre lang in dieselbe Grundschulklasse – und es war keine Frage gewesen, dass sie danach gemeinsam das Leibniz-Gymnasium besuchen würden. Die Schule lag in Pempelfort inmitten schöner alter Häuser und damit in dem Viertel, in dem die Boysens und die Schumachers wohnten. Bea und Peter Klerk hatten vor ein paar Jahren ein kleines Einfamilienhaus in Golzheim gekauft, aber Golzheim lag zum Glück direkt neben Pempelfort. Und deshalb konnten alle drei ihre neue Schule mit dem Fahrrad oder sogar zu Fuß erreichen.

In der Grundschule und in den ersten Monaten ihrer Gymnasialzeit war Ben Schumacher noch ein passabler Schüler gewesen. Bei Weitem nicht so gut wie Charlotte, aber ähnlich gut wie Pia.

Dann hatten sich Bens Eltern getrennt. Der damals zehnjährige Ben war zu dieser Zeit so traurig und verstört gewesen, dass er sich nicht auf den Unterricht konzentrieren konnte. Meistens hatte er einfach nur auf seinem Platz gesessen und Löcher in die Luft gestarrt. Als seine Noten – trotz Charlottes Hilfe – schlechter und schlechter wurden, waren seine Eltern zu einem Gespräch in die Schule bestellt worden. Und die Lehrer hatten den Schumachers vorgeschlagen, Ben auf eine Realschule zu schicken.

Zunächst hatte Ben sich strikt geweigert. Er wollte nicht weg von dem Gymnasium, wo er alle kannte, sich sicher fühlte und wo er tagtäglich mit seinen beiden besten Freunden zusammen sein konnte. Leider waren Bens Wünsche nicht ausschlaggebend …

Im Winter vor zwei Jahren war Bens Mutter Sandra ausgezogen. Ben hatte sich entschlossen, bei seinem Vater wohnen zu bleiben. Er liebte seine Mutter, und es fiel ihm in den ersten Monaten sehr, sehr schwer, sie nicht mehr jeden Tag sehen zu können. Aber Ben hatte schon früh einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit gehabt: Seine Mutter hatte einen neuen Freund und zog mit ihm in eine gemeinsame Wohnung. Sein Vater war jetzt wieder Single. Deshalb fand Ben es wichtig und fair, dass wenigstens er bei ihm blieb. Inzwischen hatte Sandra Schumacher ihren Freund Michael geheiratet und ein Kind bekommen: Bens vierzehn Monate alten Halbbruder Samuel.

Harald Schumacher arbeitete als Grafikdesigner in einer großen Werbeagentur und konnte sich die Arbeit hin und wieder mit nach Hause nehmen. Ben musste also nicht allzu häufig alleine sein. In den ersten Monaten ihrer Männerwirtschaft war das sehr wichtig für ihn gewesen. Mittlerweile kam er bestens alleine zurecht – und er war längst Weltmeister im Öffnen von Dosensuppen.

Im Sommer nach der Trennung seiner Eltern hatte Ben dann die Schule gewechselt. In der Realschule besserten sich seine Leistungen schon nach wenigen Wochen. Auf seinem ersten Halbjahreszeugnis standen viele Zweien, ein paar Dreien und eine einzige Vier. Natürlich in Mathematik. Mathe war einfach nicht sein Ding.

Pias Stimme riss Ben aus seinen Gedanken. »Hey, Ben, hast du meine Frage verstanden, oder bist du mit dem Hörer in der Hand eingeschlafen?«

Ben räusperte sich. »Nee, ich habe nachgedacht.«

Pia fragte ihn nicht, worüber, dazu würde auch später noch genug Zeit sein. Jetzt war es wichtiger, sich zu verabreden. »Und was ist nun? Kommst du mit?«

»Klar«, erwiderte Ben und versuchte, sich nicht daran zu erinnern, dass er seinem Vater versprochen hatte, am Nachmittag zu Hause zu bleiben, um für die Mathearbeit zu üben.

»Wir holen dich ab. In einer Viertelstunde sind wir vor deiner Haustür.«

»Und nimm dein Mathebuch mit«, ertönte Charlottes Stimme aus dem Hintergrund.

Ben legte den Hörer auf die Ladestation und ging zurück ins Wohnzimmer. Er nahm sein Buch von dem großen Kieferntisch, an dem er seine Hausaufgaben viel lieber machte als an seinem eigenen Schreibtisch, kramte sein Heft aus der Schultasche und den Übungszettel, den sein Mathelehrer Claas Weber heute Morgen verteilt hatte.

Anschließend holte er den grauen Eastpak-Rucksack aus seinem Zimmer und steckte die Sachen hinein. Auch eine Flasche Mineralwasser und eine große Tüte Tortilla-Chips fanden ihren Platz.

Es war zwar erst Mitte Mai, aber das Thermometer zeigte fast 23 Grad Celsius. Es war warm genug, um die blaue Jacke an der Garderobe hängen zu lassen.

Ben stand schon im Flur, als ihm einfiel, dass sein Vater dienstags meistens früh von der Arbeit kam. Es war besser, ihm einen Zettel zu schreiben.

»Lieber Harald«, notierte er, weil er es momentan komisch fand, seinen Vater Papa zu nennen. Zum Glück war Harald Schumacher tolerant genug, um damit kein Problem zu haben. »Charlotte hilft mir beim Matheüben. Spätestens um sechs bin ich wieder da.«

Ben überlegte eine Sekunde lang, ob er »dein Ben« unter die beiden Sätze schreiben sollte, entschied sich dann aber dafür, dass ein schlichtes »Ben« genügte.

Mit einem lauten Knall fiel die Wohnungstüre hinter ihm ins Schloss. Im selben Augenblick stürzte Frau Schlösser auf ihn zu. Sie bewohnte die gegenüberliegende Wohnung und fand immer einen Grund zum Meckern. »Kannst du die Tür nicht leise zumachen, Bengel!«, schimpfte sie. »Noch ist Mittagszeit!«

»Nächstes Mal, Frau Schlösser, versprochen«, antwortete Ben lässig und rannte so schnell die Treppe hinunter, dass er das restliche Gezeter der ewig nörgelnden Nachbarin nicht mehr hören konnte.

Ben hatte gerade sein Fahrrad aus dem Keller geholt, als die beiden Mädchen eintrafen.

Pia hatte ihre rötlich blonden Haare zu zwei Zöpfen geflochten und strahlte ihn an. »Hi, Ben, alles klar bei dir?«

Charlotte schob sich an Pia vorbei. Wie immer legte sie Ben kurz die Hand auf den Arm. »Hallo, Ben, schön, dich zu sehen!«

Die kleine Berührung, mit der Charlotte ihn seit der Grundschule begrüßte, war einer der Gründe gewesen, weshalb sie früher häufig verspottet worden waren.

»Schau dir das an, die streichelt ihn wieder«, hatten ihre Mitschüler gelästert.

Ben war das peinlich gewesen und er hatte es seiner Freundin auch oft genug gesagt. Aber die selbstbewusste Charlotte hatte ihn stets nur mit ihren blitzblauen Augen, die einen interessanten Kontrast zu ihren dunklen Haaren bildeten, angeschaut und abgewunken. »Ruhe bewahren, Ben, und immer an die Gesetze denken. Das erste lautet: Kümmere dich nicht um Lästereien. Das zweite: Die sind bloß neidisch.«

So leicht nahm Ben das nicht. Die Meinung anderer war ihm wichtig, und er hasste es, verspottet zu werden. Ben Schumacher stand eben nicht gerne im Mittelpunkt – weder im positiven noch im negativen Sinne. Er hatte sich schon tausend Mal gewünscht, so selbstbewusst und schlau zu sein wie Charlotte oder so wie Pia, die jeder mochte, weil sie nicht nur frech und wortgewandt war, sondern auch hilfsbereit und fast immer gut gelaunt.

Aber das Wünschen allein half leider nicht.

Inzwischen mochte er Charlottes Form der Begrüßung. Die kleine Berührung war eine Auszeichnung, weil Charlotte nur ihn und Pia auf diese Weise begrüßte.

»Ich mag euch«, hieß das. »Ihr seid meine Freunde.«

Erwidert hätte Ben ihre liebevolle Geste trotzdem nicht, dazu war er viel zu schüchtern.

»Hi, ihr zwei«, sagte er stattdessen und gab sich Mühe, seine Stimme cool klingen zu lassen. »Können wir abdüsen?«

»Logo«, erwiderte Pia lächelnd.

Wie immer radelten sie dicht hintereinander. Sie fuhren über die Jacobistraße am Schloss Jägerhof vorbei, dem fast dreihundert Jahre alten rosa gestrichenen Gebäude, in dem sich heute das Goethe-Museum befindet. Sie bogen rechts ab – und schon waren sie im Hofgarten, der bereits im Jahre 1769 angelegt worden war. Die mit schönen alten Linden gesäumte Jägerhofallee führt direkt zu einem kleinen, fast rechteckigen Weiher. In dessen Mitte thront der wasserspeiende »Gröne Jong«, wie ihn die Düsseldorfer liebevoll nennen. Der »grüne Junge« stellt Triton, den griechischen Gott des Meeres, dar. Hier sitzt er auf einem Felsen, und es sieht so aus, als würde er vor einem mächtigen Wasserstrahl zurückweichen, den ein aus der Tiefe auftauchendes Nilpferd ausstößt.

Die weiße Parkbank oberhalb des Springbrunnens war bei gutem Wetter ihr absoluter Lieblingsplatz. Aber nicht nur den Freunden gefiel die Bank. Auch Senioren, Mütter mit Kindern und Leute, die ihre Mittagspause hier verbrachten, schätzten es, an diesem schönen Platz zu sitzen und von hier aus die sprudelnde Fontäne, die Schwäne und die vielen Enten zu beobachten. Deshalb war es auch nicht weiter verwunderlich, dass ihr Lieblingsplatz an diesem schönen Frühlingstag bereits besetzt war.

»Mist«, stöhnte Pia. »Sollen wir zur Goldenen Brücke fahren?«

Auch diese Brücke gehörte zu ihren Favoriten. Weil sie sich in der Sichtachse von Schloss Jägerhof und der Jägerhofallee befindet, hat man von dort aus einen besonders schönen Blick. Die drei störte es nicht weiter, dass es dort keine Bank gab. Man konnte sich ans Geländer lehnen und von dem leicht erhöhten Standpunkt aus auf den See und über große Teile des Gartens schauen.

»Lasst uns erst mal hierbleiben, vielleicht wird die Bank ja gleich wieder frei«, schlug Ben vor.

Die beiden älteren Hundebesitzerinnen, die sich auf der Parkbank niedergelassen hatten, machten zwar nicht den Eindruck, als würden sie ihr lauschiges Plätzchen in der nächsten halben Stunde verlassen wollen. Aber den Versuch war es trotzdem wert.

Pia, Charlotte und Ben ließen ihre Räder in der Nähe des Wegs stehen, gingen hinunter ans Ufer und beobachteten eine Zeit lang schweigend die Schwäne und die Enten, die auf ein bisschen Futter hofften.

Plötzlich pfiff Charlotte leise durch die Zähne. »Guckt nicht hoch«, flüsterte sie dann. »Der Schatten steht auf der anderen Seite.«

Kapitel 2:
»Der schon wieder«

»Das glaube ich einfach nicht«, schnaubte Ben, und trotz Charlottes Warnung konnte er es nicht lassen: Sein Blick glitt unwillkürlich zum anderen Ufer.

Darauf schien Levin Assmann nur gewartet zu haben. Er hob beide Arme in die Luft und winkte so heftig, als würde er SOS-Signale aussenden.

»Super gemacht, Ben«, stöhnte Charlotte. »Kannst du nicht einmal tun, was man dir sagt!«

»Das war so 'ne Art Reflex«, versuchte Ben sich zu entschuldigen. »Mein Kopf hat sich selbstständig gemacht und …«

Charlotte ließ ihn nicht ausreden. »Mir ist schleierhaft, wie der uns immer aufstöbert.«

Die anderen beiden nickten. Es war wirklich seltsam. Seit es wärmer geworden war und die drei sich wieder häufiger draußen verabredeten, tauchte Levin meistens irgendwo auf. Ganz egal, ob sie sich nun im Hofgarten trafen oder am Rhein, ob sie durch Pempelfort oder die Altstadt streunten.

Bislang hatte Levin sich ihnen noch nie genähert. Er war einfach da! Wenn sie ihn entdeckten, grüßte er, aber er wahrte stets einen gewissen Abstand.

***

Der immer wachsamen Charlotte war zuerst aufgefallen, dass sie von Levin verfolgt wurden. Anfang April waren sie gemeinsam zur Königsallee geradelt, die von den meisten Leuten kurz »Kö« genannt wird. Diese Prachtstraße ist vor allem wegen der edlen Geschäfte weltberühmt. Bei gutem Wetter saßen sie manchmal auf den Stufen vor dem Neptunbrunnen und blickten auf den Stadtgraben mit seinen wunderschönen Brücken und den hohen Kastanien an beiden Uferseiten. Da es im April noch ziemlich kalt gewesen war, hatten sie sich relativ lange in der CD-Abteilung eines Kaufhauses aufgehalten. Levin hatte ganz in ihrer Nähe gestanden. Ben hatte ihn auch gesehen und ihm kurz zugenickt. Anschließend waren die drei in ein Sportgeschäft gegangen, weil Pia sich zu ihrem zwölften Geburtstag einen neuen Tischtennisschläger von ihren Eltern wünschte. Da war es gut, beizeiten zu wissen, welches Modell infrage kam.

Und auch dort war Levin aufgetaucht.

»Habt ihr den großen Jungen mit der komischen Hose gesehen?«, hatte Charlotte damals gefragt. »Ich glaube, der verfolgt uns.«

Ben hatte ihr keine Antwort gegeben. Als Charlotte Levin dann aber auch noch dort entdeckte, wo sie ihre Fahrräder abgestellt hatten, berichtete Ben, dass Levin ein Klassenkamerad war.

»Das ist also der Typ, der neben dir sitzt?«, hatte Charlotte wie aus der Pistole geschossen gefragt, und Ben hatte genickt.

Bens neue Klassenlehrerin, Frau Schulten, hatte Ben im letzten Jahr auf den einzig freien Platz in der 6b der Realschule »In der Lohe« gesetzt. Neben Levin Assmann.

Ben hatte sofort gewusst, dass keiner der anderen neben dem Jungen mit dem altmodischen Seitenscheitel und den Pickeln auf der Stirn sitzen wollte. Und von der ersten Pause an hatte Levin, der älter wirkte als seine Klassenkameraden, wie eine Klette an Ben gehangen. In den ersten Tagen hatte Ben sich darüber gefreut, dass sich jemand um ihn kümmerte und ihm alles zeigte: die anderen Klassenzimmer, die Turnhalle, den Hof. Es tat gut, nicht alleine herumstehen zu müssen, denn genau davor hatte Ben in den Sommerferien vor dem Schulwechsel eine Mordsangst gehabt. Schließlich kannten sich alle seit dem fünften Schuljahr – und ein Neuer war immer ein Fremdkörper, der sich seinen Platz in der Klassengemeinschaft mühsam erobern musste.

Im Grunde fand Ben seinen Tischnachbarn gar nicht so unsympathisch. Levin war ihm lediglich zu aufdringlich. Bens allergrößtes Problem bestand darin, dass er wegen Levin zunächst keinen Kontakt zu den anderen Jungs aus seiner Klasse gefunden hatte. Wenn ein Neuer sich mit einem Außenseiter anfreundete, bestand die Gefahr, dass er selber einer wurde. Deshalb hielt er ihn ein wenig auf Abstand: Er sprach mit ihm, aber nicht zu viel und nicht zu oft.

Nach den Herbstferien hatte Ben sich in der neuen Klasse einigermaßen eingelebt. Er hatte sich sicherer gefühlt und sich in den Pausen häufiger zu den anderen Jungen auf den Schulhof gesellt. Er gehörte nicht wirklich dazu und hatte auch keine richtigen Freunde in der Klasse. Aber im Gegensatz zu Levin akzeptierten ihn seine Mitschüler.

Bis heute wusste Ben nicht genau, warum Levin in der Klasse so unbeliebt war. Lag es daran, dass er fast dreizehn Jahre alt war und reifer wirkte als die meisten anderen Jungen? Dass er bereits Pickel hatte? Daran, dass Levin keine Markensachen trug? Oder daran, dass er eine Marotte hatte? Wenn Levin etwas sagte, begann er seine Sätze oft mit einem »Äh«. Aber das war nicht das Schlimmste: Was die Schüler der 7b zum Brüllen komisch fanden, war, dass Levin meistens das letzte Wort eines Satzes wiederholte: »Ich habe ein neues PC-Spiel, PC-Spiel«, sagte er zum Beispiel – oder »Goethe war ein berühmter deutscher Dichter, Dichter.« Immer wenn ihm das passierte, tobten die anderen vor Lachen. Geschah es im Unterricht, baten die Lehrer energisch um Ruhe. Für ein paar Sekunden wurde es dann still in der Klasse. Sobald Levin jedoch den Mund zum zweiten Mal öffnete, ging das Gelächter von neuem los. Wenn Levin im Unterricht etwas gefragt wurde, wusste er oft die richtige Antwort, aber die hörte höchstens noch der Lehrer.

***

»Er trägt schon wieder diese komische graue Hose und dieses unsägliche Käppi«, sagte Charlotte plötzlich unvermittelt.

»Der hat oft komische Sachen an«, erklärte Ben. »Auch in der Schule. So weit geschnittene Hosen trägt kein Mensch mehr und diese dunkelblauen Sweatshirts sind auch nicht gerade der Hit.« Ben zögerte, bevor er weitersprach: »Die Kappe trägt er wahrscheinlich, weil er so viele Pickel auf der Stirn hat, dann sieht man sie wenigstens nicht.«

»Dafür kann er ja nun wirklich nichts«, mischte Pia sich ein. »Ich finde, er sieht ganz nett aus.«

»Ist er eigentlich auch«, erklärte Ben. »Er ist nur irgendwie aufdringlich, das nervt.«

»Glaubst du wirklich, dass die anderen ihn deshalb nicht mögen?«, fragte Pia und trat von einem Fuß auf den anderen.

Ben zuckte die Schultern. »Keine Ahnung …«

»Hey, du bist jetzt schon fast ein Jahr mit ihm in einer Klasse, da musst du das doch wissen«, sagte Pia energisch.

»Zehn Monate!«, widersprach Ben und fuhr mit trotziger Stimme fort: »Ich bin eben nicht so gut im Fragenstellen wie du. Außerdem will ich es überhaupt nicht wissen.«

Das stimmte nicht so ganz. Im Grunde hätte Ben allzu gerne herausgefunden, weshalb alle seine Mitschüler Levin schnitten. Sicher, es gab Schüler, die auf den ersten Blick netter wirkten als Levin Assmann, die cooler waren oder immer einen frechen Spruch auf den Lippen hatten. Aber eigentlich war Levin in Ordnung, keine Leuchte im Unterricht, aber auch kein schlechter Schüler. Seine Anziehsachen entsprachen zwar nicht der Mode. Aber nur weil jemand eher altmodische Kleidung und einen Seitenscheitel trug, wurde er doch noch nicht zum Außenseiter …

»Vielleicht ist er den anderen früher auch immer so auf die Pelle gerückt«, überlegte Ben laut.

»Könnte ja auch sein, dass sie es komisch finden, dass er bei seiner Großmutter wohnt«, sagte Pia.

»Wo jemand wohnt, ist ja wohl völlig egal«, widersprach Ben.

»Vielleicht sind seine Eltern gestorben«, ereiferte sich Pia. »Frag ihn doch endlich mal, Ben!«

Ben schüttelte den Kopf. »Ich …«, begann er, kam aber nicht dazu, seinen Satz zu Ende zu bringen.

»Hey, guckt mal, er schwingt sich aufs Rad«, fiel Pia ihm ins Wort. »Meint ihr, er kommt her?«

»Bestimmt nicht«, antwortete Charlotte, »das tut er doch sonst auch nicht.«

Normalerweise war Pia für Vermutungen und Vorahnungen zuständig. In diesem Fall war es Ben, der genau wusste, dass es heute anders sein würde. »Der kommt zu uns, wetten?«

Und Ben behielt recht. Wenige Minuten später war Levin bei ihnen. Das heißt nicht ganz bei ihnen, denn er kam nicht zu ihnen an den Weiher, sondern blieb oben auf dem Weg stehen.

»Hallo«, brüllte er so laut, dass die beiden Hundebesitzerinnen sich erschreckt umdrehten.

Ben hob leicht die Hand und nickte seinem Klassenkameraden zu.

»Hallo«, rief Pia, die meistens freundlich war.

Charlotte hingegen blickte nicht auf. Zu ihren Freunden gewandt, fragte sie: »Warum kommt er nicht runter?«

»Woher soll ich das wissen?«, antwortete Ben. »Das ist irgendwie typisch für ihn.«

»Sollen wir raufgehen?«, fragte Pia.

»Nee«, erklärte Ben, »ich habe jetzt nicht wirklich Lust auf den.«

»Ach komm«, sagte Pia entschlossen. »So ist es doch blöd …«

»Äh, was macht ihr, ihr?«, schrie Levin von oben.

Charlotte zog eine Grimasse. »Keine besonders intelligente Frage«, murmelte sie.

Pia zog an Charlottes Blusenärmel. »Kommt, wir gehen zu ihm, sonst meckern die beiden Frauen auf der Bank wieder über die rücksichtslose Jugend von heute.«

Charlotte ließ sich mitziehen. Ben trottete hinter den beiden Mädchen her.

»Hallo«, sagte Pia zum zweiten Mal, als sie oben angekommen waren. »Du bist also Levin.«

Levins Gesicht wurde knallrot. Verlegen nestelte er am Reißverschluss seiner Windjacke. »Äh, ja«, sagte er dann zögernd. »Und wer seid ihr, ihr?«

»Ich heiße Pia«, erklärte Pia, »das ist Charlotte und der Junge mit dem grünen T-Shirt heißt Ben.«

Ben verdrehte die Augen. »Superlustig, Pia …«

Aber Levin schien den Witz ohnehin nicht verstanden zu haben. »Äh, ich weiß. Ben und ich gehen in eine Klasse, Klasse …«

»Wissen wir doch«, mischte Charlotte sich ein.

Levin schaute sie verlegen an. Er war den drei Freunden zwar tatsächlich seit einiger Zeit auf der Spur, aber bislang hatte er die beiden Mädchen nur aus der Ferne betrachten können. Jetzt sah er sie zum ersten Mal aus der Nähe, und er fand, dass beide sehr sympathisch aussahen. Die kleine mit den langen leicht rötlichen Haaren, der Stupsnase, den Frühlingssommersprossen auf der Nase und den fröhlichen Augen hieß also Pia, die etwas größere Dunkelhaarige mit den tiefblauen Augen, die Levin beinahe noch hübscher fand, war demnach Charlotte.

Eigentlich hatte Levin vor ein paar Wochen nur durch einen Zufall mit der Verfolgung der drei Freunde begonnen. Wie so oft hatte er nach der Schule in seinem Zimmer gesessen, die Wände angestarrt, sich gelangweilt und von Grund auf einsam gefühlt. Plötzlich hatte er eine Idee gehabt – und sogar den Mut gefunden, sie sofort in die Tat umzusetzen.

Das heißt, zumindest mit dem ersten Schritt hatte Levin Assmann kein Problem gehabt: Er hatte sich auf sein Fahrrad gesetzt und war zu dem Haus geradelt, in dem Ben mit seinem Vater wohnte. Der zweite Schritt war schon wesentlich schwieriger, weil Levin sich vorgenommen hatte, bei Schumachers zu klingeln und Ben zu fragen, warum er ihm aus dem Weg ging.

Daran, dass seine Mitschüler ihn nicht mochten, hatte er sich gewöhnt. Mittlerweile war ihm das egal, denn die Jungen der 7b redeten nur über Fußball und PC-Spiele, liebten dämliche Witze und sinnlose Rangeleien – während die Mädchen ohnehin unter sich blieben. Aber Ben war anders, das hatte er schon an dessen erstem Schultag gespürt. Levin wusste, dass Ben Schumacher sich für Fortuna Düsseldorf begeisterte, aber im Gegensatz zu anderen Mitschülern hatte er auch noch weitere Interessen, als über elf Männer zu reden, die einem Ball nachjagten, oder stundenlang vorm Rechner zu sitzen und irgendwelche Ballerspiele zu spielen.

Der gemeinsam verbrachte Nachmittag im letzten Herbst hatte Levin gut gefallen, und er war felsenfest davon überzeugt, dass es Ben eigentlich genauso gegangen war. Hunderte von Malen hatte er sich seitdem vorgenommen, Ben zu fragen, weshalb er sich nachmittags nicht mehr mit ihm verabreden wollte. Aber gewagt hatte er es nie.

Ob er sich an diesem Tag getraut hätte, bei Schumachers zu klingeln und Ben danach zu fragen, wusste Levin nicht, weil er gar nicht bis zur Haustüre gekommen war, sondern noch neben seinem Fahrrad auf der gegenüberliegenden Straßenseite gestanden hatte, als Ben aus der Tür kam. In Begleitung der beiden Mädchen, die sein Klassenkamerad nachmittags meistens traf, wie Levin inzwischen wusste. Die drei waren so sehr in ihr Gespräch vertieft gewesen, dass sie Levin gar nicht bemerkt hatten. Und an diesem Nachmittag war Levin ihnen das erste Mal gefolgt …

***

Ben riss Levin aus seinen Gedanken. »Wir haben noch was vor, Levin.«

Hoffentlich fragt er jetzt nicht, ob er mit uns kommen kann, dachte Ben und beschloss, Levin keine Gelegenheit zu einer weiteren Frage zu geben. »Also, tschüss dann. Wir sehen uns morgen in der Schule.«

»Ciao«, fügte Charlotte kurz angebunden hinzu, drehte sich um und ging zu ihrem Fahrrad.

Nur Pia lächelte. »Bis bald, Levin«, sagte sie freundlich.

Zögernd folgte sie Ben und Charlotte, die bereits ihre Räder aufschlossen.

Traurig schaute Levin den dreien hinterher. Mist, schoss es ihm durch den Kopf, ich hab's schon wieder vermasselt.

Ben, Charlotte und Pia gehörten zusammen, das spürte er heute nicht zum ersten Mal. Alle haben Freunde, grübelte er weiter. Alle! Außer mir.

Und wieder fragte er sich, was so verdammt falsch an ihm war.

Kapitel 3:
Wer hat etwas gesehen?

»Nett war das nicht«, sagte Pia streng, als Ben, der vorausgefahren war, an der Goldenen Brücke stoppte.

»Ich bin lieber mit euch beiden allein unterwegs«, erwiderte Ben, ohne Pia in die Augen zu schauen.

»Meine Güte, Ben. Wenn wir einen Nachmittag etwas mit jemandem unternehmen, der nicht Charlotte, Ben oder Pia heißt, bedeutet das ja noch nicht, dass er zu uns gehört!«

Ben schaute Hilfe suchend zu Charlotte. »Lotte hatte auch keine Lust auf ihn«, sagte er ausweichend.

»Ich wollte eigentlich gar nicht so unhöflich sein«, meinte Charlotte. »Ich habe mich nur irgendwie total überrollt gefühlt.«

»Hätte er vorher einen Brief schreiben sollen, in dem er höflich anfragt, ob wir Lust haben, mit ihm zu reden?«, fragte Pia spöttisch.

»Natürlich nicht«, protestierte Charlotte. »Aber da oben auf dem Weg rumzustehen, war ja auch irgendwie dämlich.«

Pia verteidigte Levin erneut. »Vielleicht ist er einfach schüchtern. Das ist doch kein Verbrechen.«

»Habe ich auch nicht behauptet«, sagte Charlotte genervt. »Ich finde ihn nur irgendwie komisch …«

»Lasst uns das Thema wechseln«, erklärte Ben. »Sonst verderben wir uns den ganzen Nachmittag mit diesem Gequatsche.«

»Und was schlägst du vor?«, fragte Pia.

Ben zuckte die Achseln. Da fiel ihm ein, dass er die Tortilla-Chips im Rucksack hatte. Triumphierend zog er die Packung heraus und riss sie auf. »Wie wär's mit ein paar Chips zur Stärkung?«

»Futtern ist immer gut«, grinste Pia und griff nach der Tüte. Im selben Moment rannte jemand direkt auf sie zu. Pia sprang automatisch ein Stück zur Seite. Leider zur falschen.

Der etwa siebzehnjährige Junge, der in einem mörderischen Tempo auf sie zugelaufen kam, rannte sie einfach um. Pia gelang es nicht, sich abzufangen, und sie landete unsanft auf dem eisenharten Boden der Brücke.

»Hey«, brüllte sie im Fallen, »kannst du nicht aufpassen?«

Der Typ drehte sich für den Bruchteil einer Sekunde um. »Blöde Torfkuh«, schrie er mit heiserer Stimme und raste weiter, als wäre der Teufel hinter ihm her.

Ben und Charlotte stürzten auf Pia zu. »Hast du dir wehgetan?«, fragten sie wie aus einem Mund.

Pia stöhnte zwar und hielt sich das Bein, aber sie wollte Ben und Charlotte gegenüber auch nicht wie ein Schwächling erscheinen. »Geht schon. Ich bleibe nur besser fünf Minuten hier sitzen.«

»Warum der es wohl so eilig hatte?«, überlegte Ben laut.

»Es wirkte fast so, als wäre er auf der Flucht«, behauptete Charlotte und fuhr fort: »Er hätte sich ja wenigstens bei Pia entschuldigen können.«

»Stattdessen beschimpft der Typ mich auch noch«, empörte sich Pia.

»Blöde Torfkuh«, grinste Ben. »Nicht zu fassen!«

»Echt unverschämt«, sagte Charlotte, ging in die Hocke und zog Pias Hosenbein ein Stück nach oben. »Zu sehen ist nichts«, teilte sie mit und strich kurz über Pias Unterschenkel.

Pia zeigte auf eine Stelle oberhalb des linken Knöchels. »Aber da tut es total weh.« Dann winkte sie ab. »Ach, nicht so wichtig. Schade ist es nur um die Chips«, sagte sie dann und wies bedauernd auf den Inhalt der Chipstüte, der sich bei ihrem Sturz auf der Brücke verteilt hatte.

»Die werden wir wohl wieder aufsammeln müssen«, erklärte Charlotte und begann sofort damit, die orangefarbenen Bröckchen zurück in die Tüte zu stopfen. Ben bückte sich, um ihr zu helfen.

»Was passiert eigentlich mit diesen Dingern, wenn sie nass werden?«, fragte Ben, um Pia abzulenken. »Werden sie dann zu Brei?«

»Klar, zu Chipsbrei«, witzelte Charlotte. »Wir könnten das Zeug ja auch hier liegen lassen und morgen wiederkommen. Vielleicht regnet es heute Nacht, dann …«

Charlotte kam nicht dazu, ihren Satz zu beenden.

Plötzlich stand eine fremde Frau vor ihnen. Sie wirkte atemlos und ziemlich aufgeregt. »Ist hier ein Jugendlicher mit einer beigen Hose und einer Handtasche vorbeigekommen?«

»Und wie der hier vorbeigekommen ist«, antwortete Pia prompt.

Die Frau holte tief Luft. »In welche Richtung ist er gelaufen?«, fragte sie keuchend.

Direkt hinter der Brücke gab es eine Biegung. Deshalb ließ sich diese Frage von ihrem Standpunkt nicht exakt beantworten. »In Richtung Hofgartenstraße, glaube ich«, sagte Ben. Im selben Moment fiel ihm wieder ein, dass der Jugendliche eine braune Handtasche an seine Brust gepresst hatte.

»Der ist ohnehin längst über alle Berge«, sagte Charlotte, die inzwischen fast alle Chips eingesammelt und zurück in die Tüte befördert hatte, um sie bei nächster Gelegenheit im Mülleimer entsorgen zu können.

»Unter Garantie«, ergänzte Ben. »Der ist gerannt, als hätte er Räder unter den Füßen.«

Zu Ben und Charlotte gewandt, fragte die junge Frau: »Ihr meint also, dass es sinnlos ist, noch länger hinter ihm herzulaufen?«

Charlotte, Ben und Pia nickten.

»Zu Fuß holen Sie den ganz bestimmt nicht mehr ein«, meinte Charlotte.

»Wenn ich ehrlich bin, kann ich auch nicht mehr«, erklärte die eigentlich sportlich wirkende Frau.

Ben räusperte sich. »Was ist denn eigentlich passiert? Hat der Typ etwas angestellt?«

»Ach, das könnt ihr natürlich nicht wissen«, antwortete die Frau, deren Stimme nun schon wieder etwas gelassener klang. »Passt auf, es war so: Mein Sohn Luke hat hinten auf dem kleinen Spielplatz eine Sandburg gebaut, und ich habe mich mit einer netten älteren Dame unterhalten, die zufällig neben mir auf der Bank saß. Ihre Handtasche hatte sie rechts neben sich gestellt. Und dann kam wie aus dem Nichts dieser Jugendliche, schnappte sich die Tasche und rannte damit los. Ich habe Luke zugeschrien, er solle auf dem Spielplatz bleiben, und der alten Dame gesagt, dass ich sofort zurückkomme. Dann bin ich losgerannt.«

Charlotte warf Ben einen auffordernden Blick zu. »Los, Ben«, erklärte sie. »Wir düsen ihm mit den Fahrrädern hinterher, vielleicht ist es doch noch nicht zu spät.«

»Das macht ihr auf keinen Fall«, entschied die junge Frau, die ihren ersten Schock überwunden hatte und allmählich wieder klarer denken konnte. »Das ist viel zu gefährlich.«

Sie griff in die Seitentasche ihres leichten Blousons und nestelte ein Handy heraus. »Ich rufe jetzt die Polizei an. Das hätte ich direkt tun sollen.«

Charlotte zwinkerte Ben verschwörerisch zu. »Los, Ben, komm.«

Die Frau hielt kurz inne. »Tut das bitte nicht! Wer weiß, wozu der Typ fähig ist.«

»Keine Sorge«, sagte Ben beschwichtigend. »Wir bleiben auf Abstand.«

Die Frau schüttelte energisch den Kopf, da mischte Pia sich ein. »Der ist sowieso längst weg …«

Aber Charlotte und Ben traten bereits kräftig in die Pedale. Über seine rechte Schulter hinweg rief Ben Pia zu, dass sie sich später auf dem kleinen Spielplatz treffen würden. »Und bring meinen Rucksack mit  …«, schrie er.

Pia stöhnte laut auf. »Und wie soll ich da hinkommen, du Scherzkeks?«, murmelte sie halblaut und mehr zu sich selbst, denn Ben konnte sie längst nicht mehr verstehen.

Auch die junge Frau hatte ihr nicht zugehört. Sie schrie nämlich ziemlich laut in ihr Handy und versuchte, dem Polizeibeamten zu erklären, was wann wo geschehen war.

Pia lauschte ihr aufmerksam. Als die sympathisch wirkende Frau ihr Gespräch endlich beendet hatte, steckte sie das Handy zurück in ihre Jackentasche.

»Warum sitzt du eigentlich auf dem Boden?«, fragte sie freundlich.

»Der Typ hat mich umgerannt und mein Knöchel tut weh«, antwortete Pia und stand langsam auf.

»Ich bin Ärztin. Soll ich mir dein Bein kurz anschauen?«

Pia zog das linke Hosenbein erneut ein Stück in die Höhe und rollte ihren Strumpf herunter. Die Frau bückte sich und tastete behutsam mit dem Zeigefinger über die Stelle, die Pia ihr gezeigt hatte.

Pia schrie leise auf.

»Man sieht eine leichte Schwellung. Ich bin mir nicht sicher, ob der Knöchel verstaucht oder nur geprellt ist«, sagte die Ärztin. »Meinst du, du kannst laufen?«

»Ja, geht schon«, antwortete Pia tapfer und humpelte ein paar Schritte vorwärts.

»Das ist ein gutes Zeichen.« Die junge Frau zögerte kurz. »Also, ich muss jetzt unbedingt zurück zum Spielplatz«, sagte sie und ihre Stimme klang ein wenig besorgt. »Luke ist schon viel zu lange alleine. Und die alte Dame ist bestimmt außer sich, weil ich schon so lange weg bin. Nicht, dass sie noch glaubt, ich würde mit dem Dieb unter einer Decke stecken«, fügte sie lächelnd hinzu.

Pia hatte gehört, dass die junge Ärztin die Streife direkt zum Spielplatz bestellt hatte, und Ben hatte ihr ja eben zugerufen, dass Charlotte und er ebenfalls dorthin kommen würden.

»Ich muss auch zum Spielplatz«, sagte sie deshalb. »Aber Sie brauchen nicht auf mich zu warten, ich bin nicht so schnell. Außerdem muss ich mein Fahrrad mitnehmen.«

»Kein Problem, das Rad schiebe ich für dich«, teilte die Frau mit und zum ersten Mal lächelte sie. »Ich heiße übrigens Katja. Und du?«

»Ich bin Pia, und die beiden, die dem Dieb hinterherjagen, sind meine Freunde Charlotte und Ben.«

Katja schnappte sich das Fahrrad und Bens Rucksack. Pia humpelte neben ihr her.

Die Goldene Brücke war nicht allzu weit von dem kleinen Spielplatz entfernt. Obwohl Pia nur langsam vorwärts humpeln konnte, kamen sie wenige Minuten später dort an. Der kleine Luke kletterte auf einem Gerüst herum. Er schien seine Mutter bislang nicht vermisst zu haben.

Die ältere Dame redete aufgeregt auf einen jungen Mann ein. Als sie Katja entdeckte, atmete sie erleichtert auf. »Gut, dass Sie wieder da sind. Ich habe mir schon Sorgen gemacht. Die Polizei kommt übrigens gleich«, fuhr sie fort: »Der junge Mann hier war so freundlich, bei der Wache anzurufen.«

Na, dann werden die hier wohl im Doppelpack auftauchen, dachte Pia.

Wenig später kamen tatsächlich drei Polizisten aus unterschiedlichen Richtungen auf die gemischte Gruppe zu. Ein Mann und eine Frau fuhren mit einem Streifenwagen vor und einer kam per Rennrad. Die alte Dame und Katja erklärten abwechselnd, was geschehen war. So erfuhr Pia auch, dass in der braunen Handtasche einhundert Euro gewesen waren. Eine Menge Geld also.

Die Polizisten baten um eine Personenbeschreibung. Leider konnten weder die alte Dame noch Katja besonders viel zu diesem Thema sagen. Der Handtaschendieb hatte sie überrumpelt, und sie hatten den Mann nur kurz gesehen. Einig waren sie sich nur darüber, dass er höchstens achtzehn Jahre alt sein konnte. Vielleicht sogar noch ein bisschen jünger. Katja fügte hinzu, dass er mittelgroß war und dass seine Hose einen Riss oberhalb des Knies hatte. Aber das war schließlich nichts Besonderes, sondern entsprach der derzeitigen Mode.

Pia ergänzte, dass er ein dunkles T-Shirt trug. Mehr hatte sie in der Kürze der Zeit auch nicht bemerkt.

Der kleinere der beiden Polizisten notierte sich sämtliche Aussagen. »Sonst ist Ihnen nichts aufgefallen?«, fragte er.

Alle vier schüttelten den Kopf.

Mittlerweile stand auch der kleine Luke neben ihnen. Polizisten waren noch spannender als Klettergerüste. »Er hatte ein Käppi mit einem Bild drauf«, wisperte der Fünfjährige.

Die Polizistin mit den langen dunkelblonden Haaren lächelte Luke freundlich zu. »Ich heiße Marie Hahn«, sagte sie, »und wie heißt du?«

Der kleine Junge schien sich über ihr Interesse zu freuen. »Ich heiße Luke«, antwortete er. »Bist du eine richtige Polizistin?«

Details

Seiten
Erscheinungsform
Neuausgabe
Jahr
2016
ISBN (eBook)
9783960530596
Dateigröße
1.5 MB
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (April)
Schlagworte
Kinderbuch ab 8 Jahre Fünf Freunde Kinderkrimi TKKG für Jungen Drei Fragezeichen Freundschaft Detektive Spannung Außenseiter für Mädchen Abenteuer eBooks
Zurück

Titel: 4D - Tatort Hofgarten
book preview page numper 1
book preview page numper 2
book preview page numper 3
book preview page numper 4
book preview page numper 5
book preview page numper 6
book preview page numper 7
book preview page numper 8
book preview page numper 9
book preview page numper 10
book preview page numper 11
book preview page numper 12
book preview page numper 13
book preview page numper 14
book preview page numper 15
book preview page numper 16
book preview page numper 17
book preview page numper 18
book preview page numper 19
book preview page numper 20
book preview page numper 21
book preview page numper 22
book preview page numper 23
book preview page numper 24
book preview page numper 25
book preview page numper 26
book preview page numper 27
book preview page numper 28
book preview page numper 29
book preview page numper 30
136 Seiten