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Tom und die Kreuzfahrer

Roman

©2016 159 Seiten

Zusammenfassung

Eine spannende Zeitreise – für Leser ab 10 Jahren: „Tom und die Kreuzfahrer“ von Cornelia Lotter jetzt als eBook bei jumpbooks.

Der 13-jährige Tom besucht mit seiner Mutter die berühmte Barbarossahöhle in Thüringen. Mit einem Mal wird er durch einen Spalt ins Jahr 1189 katapultiert – und zwar mitten hinein in den Kreuzzug von Kaiser Barbarossa. Schnell findet er Freunde unter den Kreuzrittern. Nur eines kann er ihnen nicht verraten: dass dem Kaiser der sichere Tod droht – das weiß Tom, da er im Geschichtsunterricht aufgepasst hat. Doch Tom setzt alles daran, Barbarossa vor diesem Schicksal zu bewahren.

Jetzt als eBook kaufen und genießen: „Tom und die Kreuzfahrer“ von Cornelia Lotter. Wer liest, hat mehr vom Leben: jumpbooks – der eBook-Verlag für junge Leser.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Über dieses Buch:

Der 13-jährige Tom besucht mit seiner Mutter die berühmte Barbarossahöhle in Thüringen. Mit einem Mal wird er durch einen Spalt ins Jahr 1189 katapultiert – und zwar mitten hinein in den Kreuzzug von Kaiser Barbarossa. Schnell findet er Freunde unter den Kreuzrittern. Nur eines kann er ihnen nicht verraten: dass dem Kaiser der sichere Tod droht – das weiß Tom, da er im Geschichtsunterricht aufgepasst hat. Doch Tom setzt alles daran, Barbarossa vor diesem Schicksal zu bewahren.

Über die Autorin:

Cornelia Lotter, geboren 1959 in Weimar, ist eine Tübinger Autorin, die in vielen Genres und unter verschiedenen Pseudonymen veröffentlicht. Sie ist Mitglied im VS und im Syndikat.

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eBook-Neuausgabe April 2016

Copyright © der Originalausgabe 2015 dotbooks GmbH, München

Copyright © 2016 jumpbooks. jumpbooks ist ein Imprint der dotbooks GmbH.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung und Titelbildabbildung: © Tanja Winkler, Weichs

E-Book-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN 978-3-96053-063-3

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Cornelia Lotter

Tom und die Kreuzfahrer

Roman

jumpbooks

Prolog

Ein Stück königsblaues Gewand schwebte an seinen Augen vorbei, und er griff danach. Doch schon war es im strudelnden Wasser wieder verschwunden und mit ihm der Kaiser, der seinen Warnungen kein Gehör geschenkt hatte. Verzweifelt ruderte er in dem eiskalten Wasser mit den Armen, kämpfte gegen die unberechenbare Strömung an, die ihn mal hier- und mal dorthin riss. Seine Lungen schmerzten, und alles in ihm schrie danach, aufzutauchen und sie wieder mit Luft zu füllen. Luft! Doch er hatte eine Mission. Er musste den Kaiser retten, auch wenn er nicht glauben konnte, dass es möglich war, die Geschichte umzuschreiben. Er schwamm unter Aufbietung seiner letzten Kräfte in die Richtung, in der er den Kaiser vermutete. Die Augen hatte er weit aufgerissen, obwohl selbst das schon eine übermenschliche Anstrengung war. Sein Körper fühlte sich an wie Blei, und er sank immer wieder auf den Grund des Flusses, von dem er sich, so gut es ging, wieder abstieß. Wie lange würden seine Kräfte noch ausreichen? Wann würde er der Versuchung, Luft zu holen, nicht mehr widerstehen können? Ein letzter Gedanke an seine Mutter, bevor er endgültig dem Drängen des eiskalten Wassers nachgab und einfach aufhörte, gegen die Strömung anzukämpfen. Ihr Gesicht, das plötzlich ganz deutlich vor seinem inneren Auge erschien, verlieh ihm die nötigen Kraftreserven, um sich ein letztes Mal vom steinigen Grund des Flusses abzudrücken und nach oben zu schwimmen, dorthin, von wo ein schwaches Licht zu sehen war. Nach oben ins Leben.

1. Kapitel

Die Lappen, die von der Decke in der Gerberei baumelten, sahen ja ganz cool aus – wirklich wie Lederstücke, die da zum Trocknen aufgehängt waren –, doch musste ihn seine Mutter unbedingt hierherschleppen? Immer, wenn sie irgendwohin in Urlaub fuhren, waren Kult(to)uren angesagt. Und auf Höhlen schien Toms Mutter besonders abzufahren. Schon bei ihnen zu Hause, in unmittelbarer Nachbarschaft, auf der Schwäbischen Alb, gab es Höhlen, die mit ihren Namen bestenfalls bei Kindern vorfreudige Schauer auslösen konnten: Bärenhöhle oder Nebelhöhle. Und tatsächlich hatte ihn seine Mutter bereits als Kleinkind dort mit hingeschleift. Von Nebel natürlich keine Spur. Und was an einen Bären erinnern sollte, wusste Tom längst nicht mehr. Auch die Marienglashöhle in Friedrichroda im Thüringer Wald, die Feengrotten in Saalfeld und eine weitere irgendwo in Bayern, bei der man nur auf einer Riesenrutsche hinunterkam und seine Mutter Schiss gehabt hatte – waren ihm nicht erspart geblieben. Und nun die Barbarossahöhle, weil seine Mutter meinte, er müsse unbedingt den Ort sehen, an dem sie mit seinem Vater vor mehr als dreißig Jahren gewesen war. Kurz nachdem sie ihn kennengelernt hatte. Den Staatsfeind aus dem Westen. In der Nähe war seine Mutter geboren und aufgewachsen; in Bad Frankenhausen, der Stadt am Fuße des Kyffhäusergebirges,  hatte sie ihren ersten Kuss bekommen. Mit vierzehn! Vorhin, als sie durch den Ort gefahren waren, hatte sie ihm die Eisdiele gezeigt, in der sie auch damals schon Eis gekauft hatte. Und oben auf dem Schlachtberg, wo heute das Elefantenklo stand, hatte sie vor Ewigkeiten Nachtwanderungen mit Ferienlagergruppen mitgemacht. Inklusive mit Betttüchern verhüllter Gespenster. Tom hatte sie, wie immer, von ihren Mädchengeschichten erzählen lassen und ab und zu durch ein »Hm« bestätigt, dass er noch da war. In Wirklichkeit war er mit seinen Gedanken ganz woanders gewesen.

Natürlich hatten sie sich auch das Kolossalgemälde im Inneren des Elefantenklos ansehen müssen, in dem auf Hunderten von Quadratmetern die Zeit des Großen Deutschen Bauernkrieges dargestellt wurde. Nicht schlecht, das musste er zugeben. Nur, dass ihn diese Zeit nicht besonders interessierte. Mit Mistgabeln und Stöcken gegen Gewehre und Kanonen, das war wirklich hirnverbrannt! Und als ob das noch nicht genug Kultur und Bildung wäre, fuhren sie auch noch auf die Burg oben auf dem Kyffhäusergebirge. Den alten Barbarossa müsse er unbedingt sehen, hatte seine Mutter gemeint. Tom fand den Turm aus rötlichem Stein, zu dessen Füßen die imposante überlebensgroße Gestalt mit wallendem Bart und langem Mantel saß, so als würde sich die Figur gleich erheben, beeindruckender als den Rotbart aus der Sage. Das war doch was für Kinder! Er war lieber die vielen Stufen hinaufgestiegen – seine Mutter hatte wegen ihrer Rückenschmerzen so lange unten auf einer Bank gesessen, und das war ihm sehr recht gewesen – und hatte sich die weite hügelige Landschaft angeschaut, die so tief unter ihm lag, als sei er dem Himmel näher als der Erde. Schon krass, hatte Tom gedacht und tief Luft geholt. Vergessen war auf einmal der ganze Stress mit seiner kulturgeilen Mutter. Der Wind dort oben pfiff kalt und rauschte laut um seine Ohren, so dass er sie schon nach wenigen Minuten kaum noch gespürt hatte.

Die Stimme der Höhlen-Touri-Tante drang wie von fern in sein Bewusstsein: » …im Kyffhäusergebiet seit dem Mittelalter Kupferschieferbergbau …«

Das, was von der Burg noch übrig war, riss ihn sowieso nicht vom Hocker. Da hatte er schon ganz andere Burgen gesehen; zum Beispiel letztes Jahr im Elsass, wo er eine ätzende Woche mit seiner Mutter und deren ägyptischem Freund Mohammed verbringen musste. Das einzig Interessante auf dieser Burg hier war der Brunnen. Und der Film, der auf einem Großbildschirm gezeigt wurde. Die waren mit einer Kamera in den Brunnenschacht eingefahren, und so hatten sie etwas über den Bau des Burgbrunnens erfahren. Hundertsechsundsiebzig Meter, der tiefste Brunnen, der je im Mittelalter und auch danach in den Fels getrieben worden war. Diese erstaunliche Leistung hatte Tom imponiert. Die Bewohner brauchten keine Angst zu haben, dass ihnen während einer Belagerung das Wasser ausging. Und aufgrund ihrer Lage war die Burg fast uneinnehmbar.

Wieder redete die Touri-Tante weiter: »Die Entfernung zwischen der Karfreitagshalle und der Hexenküche, den beiden entferntesten Punkten der Höhle, beträgt rund 400 Meter.«

Jetzt konnte es seine Mutter nicht lassen, der armen Frau, die sich gerade an ihnen vorbeidrücken wollte, zu erzählen, dass 1980, als sie zusammen mit seinem Vater in der Höhle gewesen war, ein junger Mann in einen See gesprungen sei, nachdem der Reiseleiter gesagt hatte, dass die Wassertiefe mehr als vier Meter betrage, und wer es nicht glaube, könne es ja testen. Ob sie auch damals schon Führungen gemacht habe, wollte Toms Mutter wissen. Sie verneinte. Aber von dem Vorfall habe sie gehört. Jetzt mischte sich ein anderer Besucher ein. Ob es stimme, dass vor einigen Jahren einmal ein Kind in der Höhle spurlos verschwunden und nie wieder aufgetaucht sei. Tom wurde hellhörig. Schien es ihm nur so, oder war die Stimme der Frau plötzlich weniger sicher als bei all den auswendig gelernten Sätzen, die sie bei jeder Führung wortwörtlich herunterleierte?

»Das ist eine Legende. Aber eine, die sich genauso hartnäckig hält wie die, dass Barbarossa gar nicht im Fluss Saleph ertrunken ist, sondern in einem unterirdischen Schloss schläft, solange die Raben noch um den Berg fliegen. Und hier sehen Sie den dazu gehörenden Tisch und den Sessel.« Die Führerin hatte sich wieder in der Gewalt und elegant den Bogen geschlagen, um ihre Führung wie geplant fortsetzen zu können. Vor ihnen war, durch eingebaute Lampen erhellt, ein steinerner Tisch aufgebaut, hinter dem ein ebensolcher Sessel stand. Kleine Kinder drängelten sich um diesen Thron des sagenumwobenen Kaisers, um auch einmal darauf zu sitzen. Tom steckte sich demonstrativ seine Kopfhörer rein. Solange seine Mutter abgelenkt war und es nicht mitbekam, konnte er ja wenigstens seinen Ohren ein besseres Programm bieten: Linkin Park, seine absolute Lieblingsband. Die Lippen der Touri-Tante bewegten sich schon wieder; Tom war froh, dass er nicht verstand, was sie sagte. Die Gruppe von Menschen, die diffus beleuchtete Höhle, die Spiegelungen der bizarren Gebilde, alles war irgendwie abgefahren. Besonders zu diesem Song: From the Inside. Man müsste mal allein hier unten sein, dachte Tom, und die Musik aus einer guten Verstärkeranlage ganz laut aufdrehen. Der Schall würde  aus den Gängen und Nischen als Echo zurückgeworfen  und die Musik verzerrt werden. Die herabhängenden Lappen würden zum Schwingen gebracht, vielleicht abbrechen und in die Seen klatschen. Ja, das wäre cool. Seine Träumereien wurden jäh beendet, als der Song vorbei war und die Stimme der Touri-Tante wieder sein Ohr erreichte. »…bis heute sind zwar keine weiteren nennenswerten Hohlräume gefunden worden, allerdings ist ihre Existenz keineswegs ausgeschlossen.« Seine Mutter schaute ihn vorwurfsvoll und eine Spur ärgerlich an, und er wusste, wenn er es nicht ganz mit ihr verderben wollte, sollte er seinen MP3-Player schleunigst abschalten und wieder in seiner Tasche verschwinden lassen. Wenn seine Mutter richtig sauer war, konnte sie echt ungemütlich werden. Seit ihre Hormone wegen dieser krassen Wechseljahre verrücktspielten, war sie noch unberechenbarer, was ihre Launen anbetraf. Mütter mit Hormonstörungen müsste man wegsperren, dachte Tom wieder einmal. Als ob Mütter auch ohne Hormonstörungen manchmal nicht schon ätzend genug wären!

Tom hatte sich ans Ende der Gruppe zurückfallen lassen. Ihm gingen die Kinder auf den Keks, die ihre Eltern ständig nervten. Hunger, Durst, ›Warum leben im Wasser keine Fische? Warum hat der Kaiser einen roten Bart gehabt? Warum ist er ertrunken? …‹ Er wünschte sich, dass seine Mutter in ihm endlich nicht mehr als das Kind sehen würde. Immer noch wollte sie ihn abends nicht allein lassen, wenn sie mal ins Kino ging, und organisierte einen Aufpasser für ihn, den sie dann auch noch Babysitter nannte, ohne zu merken, wie aggro ihn diese Bezeichnung machte.

Es dauerte einige Sekunden, bis Tom peilte, dass es dunkel war. Völlig dunkel. Er hörte Ausrufe des Erstaunens und Erschreckens.  Das Weinen von Kindern, die plötzlich Angst bekamen. Das war sicher irgendein Effekt, und gleich würde ein neonfarbener See oder eine kitschige Höhlenbeleuchtung kommen. Doch nichts dergleichen geschah. Die Stimme der Touri-Tante bat alle, stehen zu bleiben, es handele sich um einen Kurzschluss, den sie gleich beheben würde. Dann sah er den huschenden Lichtkegel ihrer Taschenlampe sich entfernen, und ein kalter Windzug ließ ihn frösteln.

Es war ein spontaner Entschluss, den er später nicht mehr erklären konnte. Als würde ihn eine starke Kraft in eine Richtung ziehen. Weg von der Gruppe. Beim Vorübergehen hatte er den Spalt im Felsen schon entdeckt. Jetzt ertastete er mühelos im Dunkeln die Öffnung. Und bevor er noch die Tragweite oder einen Grund für diesen Schritt erkennen konnte, quetschte er sich schon zwischen den kalten Felsplatten hindurch, die sich zu einem schmalen Gang formten. Als er das Licht sah, atmete er innerlich auf. Wahrscheinlich stieß dieser Gang auf einen Hauptgang, und da vorn würde er die Gruppe wiedertreffen. Vielleicht könnte er seinen Auftritt besonders inszenieren. Er könnte ein paar Kinder von hinten angehen, wie er es schon oft mit seiner Mutter getan hatte. Die war immer furchtbar schreckhaft.

Der Gang wurde langsam breiter, so dass er sich nicht mehr hindurchquetschen musste, sondern normal gehen konnte. Er machte seinen Laserpointer an, den er zum Glück eingesteckt hatte. Jetzt konnte er auch leises Stimmengemurmel vernehmen. Und ein Geruch zog in seine Nase: Rauch, Gebratenes und noch etwas Widerliches, ein Gestank, der ihn an sein erstes Ferienlager erinnerte, als er einmal sehr früh aufs Klo gemusst hatte und wieder zurück in den Schlafsaal gestolpert war, in dem zwanzig Jungs auf Feldbetten schnarchten. Als er die Tür geöffnet hatte, schlug ihm ein Gemisch aus Schweißfüßen, ungewaschener Kleidung und nächtlichen Ausdünstungen entgegen.

Der Gang war jetzt schon mehr als einen Meter breit, und es fehlten nur noch wenige Schritte, die ihn von der Höhle trennten. Er hatte  eine Fackel gesehen, die in einem eisernen Halter an der Wand steckte, aber sonst regte sich nichts. Doch sie waren da. Das Gemurmel wurde lauter, aber auch jetzt konnte er noch nichts verstehen. Ihm war, als redeten sie in einer anderen Sprache. Vorsichtig lugte er hinaus in den Hohlraum, der sich an den Gang anschloss. Im Kreis um ein kleines Feuer, dessen Ruß die Höhlendecke darüber schwarz gefärbt hatte, hockten drei Männer und drei Frauen. Im Hintergrund, vom Widerschein der zuckenden Flammen abwechselnd beleuchtet und wieder ins Dunkel getaucht, war ein Paar mehr zu erahnen als zu sehen, das gerade in einer Umarmung versunken war und eindeutige Bewegungen machte. Die Kleidung der Menschen, die gierig an Fleischstücken kauten, verwies auf eine längst vergangene Zeit. ›Da haben sie ja ein schönes Schauspiel für die Besucher der Führung inszeniert‹, dachte Tom. Mittelalter zum Anfassen, Reality-Show; sogar die Gesichter waren authentisch geschwärzt und die Klamotten sahen aus, als hätten sie schon lange in keiner Waschmaschine mehr rotiert. Nur das Pärchen dort hinten, das immer noch nicht genug von seinen erotischen Turnübungen hatte, schien irgendwie nicht in den Rahmen eines belehrenden bewegten Bildes zu passen. Im Museum für Ur- und Frühgeschichte in Weimar war beispielsweise auch der Versuch unternommen worden, Menschen aus unterschiedlichen Epochen in ihrer natürlichen Lebensumgebung darzustellen. Aber ein vögelndes Paar? Fehlanzeige! Natürlich musste auch das sicher zu allen Zeiten ein wichtiger Teil des Lebens gewesen sein. Vermutlich hatte dieser Teil sogar mangels Alternativen mehr Zeit in Anspruch genommen als heutzutage. Doch deshalb ein Paar beim Sex zu zeigen würde sicher keiner Museumspädagogin in den Sinn kommen. Dieses Paar und die Sprache, die eindeutig kein Deutsch war, ließen Tom stutzen und an seiner Version vom zusätzlichen Raum in der Höhle zweifeln. War er eingeschlafen, vielleicht von einem unbekannten ausströmenden Gas in eine Art Halluzination versetzt worden, spielte sich das, was er zu sehen glaubte, nur in seiner Phantasie ab? ›Du hast zu viel Phantasie!‹, wie oft hatte seine Mutter diesen Satz zu ihm gesagt! Schon als Grundschüler hatte er seitenlange Aufsätze geschrieben, die selbst seine Lehrerin überforderten, so dass sie dazu überging, den Umfang der Aufsätze zu beschränken. Nur, weil sie zu faul war, mehr als nötig zu korrigieren! ›Das hast du von mir‹, sagte Ma immer, ›Ich habe schon als Neunjährige Geschichten geschrieben, die später dann während des Unterrichts von meinen Klassenkameraden unter den Bänken gelesen wurden.‹ Auf alles wusste Ma eine Antwort. Irgendwie hatte er immer alles entweder von seinem verstorbenen Vater oder eben von seiner Ma. Von seinem Vater hatte er, dass ihm Geld so wichtig war oder dass bestimmte Dinge immer exakt ausgeführt werden mussten: Die Rollläden mussten immer bis zu einem bestimmten Punkt heruntergelassen, die Tür nur bis zu einem genau bemessenen Spalt angelehnt werden, die Bratkartoffeln mussten den perfekten Bräunungsgrad erreicht haben. Von seiner Ma hatte er seine Phantasie, die guten Leistungen in Deutsch, seine Wortgewandtheit, seine Kreativität.

Tom war unschlüssig. Wie sollte er mit dieser Situation umgehen, wenn er nicht einmal genau wusste, ob sie real war? Er dachte an Matrix, den Film mit Keanu Reeves, dessen drei Teile er so oft gesehen hatte, dass er ganze Dialoge auswendig kannte, an die zwei Computerspiele, bei denen er selbst das höchste Level geschafft hatte, an die Frage, die ihn seitdem beschäftigte: Was war real? Lebten sie alle vielleicht nur in einer von anderen geschaffenen und gesteuerten Scheinrealität? Wenn die Ameise ein Gehirn hätte, würde sie dann glauben, dass es außer ihrem für sie erfassbaren und sichtbaren winzigen Bereich noch Lebenswelten gab, in denen sie nur ein kleines Insekt war, das man zertreten konnte, ohne es zu merken? Wieso gehen wir davon aus, dass es außerhalb von uns keine intelligente Macht gibt, für die wir ebenfalls so etwas wie Ameisen sind?

Am besten war wohl, so zu tun, als sei alles normal, und an der Gruppe vorbeizumarschieren, den Gang weiterzugehen, der ja irgendwo enden musste, hinausführen musste, und wenn er Glück hatte, stand er dann im Wald und konnte zurück zum Höhleneingang laufen, wo seine Mutter sicher schon ganz aufgelöst nach ihm suchen würde.

Vielleicht waren die Leute irgendwelche Outlaws, Verbrecher, die sich versteckten, Obdachlose, Menschen, die nach Regeln und Vorstellungen lebten, die er nicht kannte. Seine Mutter hatte ihm einmal von den Hippies erzählt, die ebenfalls überall auf der Welt, wo es schön war, ihre freie Liebe lebten und sich Blumen ins Haar flochten und Gitarre spielten. Ja, das musste es wohl sein. Eins davon traf sicher zu. Nur musste er vorsichtig sein, wenn sie wirklich Grund hatten, sich zu verstecken. Dann war er ein möglicher Verräter und damit in Gefahr. Langsam, ganz langsam, trat er in den Hohlraum und tastete sich mit dem Rücken an der Wand entlang, wobei er die Gruppe im Auge behielt. Zunächst schien alles gutzugehen. Niemand schien ihn zu bemerken. Sie nagten alle heißhungrig an den Knochen. Doch da trat er auf etwas, das einen knackenden Laut von sich gab, und alle sahen auf und drehten sich zu ihm um. Er war auf einen Knochenhaufen getreten. Es war, als hätte jemand das Vorführgerät in einem Kino angehalten. Das Bild erstarrte, die Menschen verharrten in ihrer Bewegung, die sie gerade noch ausführen wollten. Wie im Märchen von Dornröschen, als durch den Stich der Spindel das ganze Schloss in tiefen Schlaf fiel. Das hatte ihn als Kind sehr beschäftigt, besonders der Koch, der dem Küchenjungen gerade eine Ohrfeige geben wollte. Tom entschloss sich dazu, nicht zu sprechen, sondern ganz langsam weiterzugehen. Vielleicht hielten die ihn ja für einen Geist, wer wusste schon, woran sie glaubten und wovor sie Angst hatten. Tom erinnerte sich an Tiere, die vor Menschen meist mehr Angst hatten als die Menschen vor ihnen. Er musste es darauf ankommen lassen. Tatsächlich schienen die Gestalten vor Angst erstarrt zu sein, und niemand erhob sich, um ihn zu bedrohen. Jetzt war er durch die Höhle hindurch und befand sich wieder in einem Gang, an dessen Ende er jedoch ein kleines Licht sah, was ihm ein wenig Hoffnung gab. Um nicht wieder in irgendetwas hineinzutreten, leuchtete er mit seinem Laserpointer den Boden ab. Eine gute Idee, denn er war von Knochen unterschiedlicher Größe und stinkenden Haufen übersät. Einmal schreckte er einen Schwarm Fledermäuse auf, die ihn wild flatternd umschwirrten. Zunehmend kam er sich vor, als sei er Hauptdarsteller in einem Film. ›Tom Rotter und die Höhle der Verdammten. Na toll. Ein bisschen Abenteuer war ja mal ganz nett, aber gleich so eine Riesendosis …‹

Das Licht am Ende des Ganges wurde immer größer. Gleich musste er am Ausgang angelangt sein. Dann würde er einen Wegweiser suchen und am Höhleneingang auf die Gruppe warten. Ma machte sich ganz bestimmt schon irre Sorgen um ihn. Und das Rumgezicke konnte er sich auch schon gut vorstellen. Sein Bedarf an Abenteuer war jedenfalls für eine ganze Weile gedeckt.

Als er vor die Höhle trat, musste er sich die Hand vor die Augen halten, so blendete ihn das ungewohnte Licht. Die Sonne stand zwar tief am Himmel, doch waren seine Augen wegen einer Hornhautverkrümmung ohnehin sehr lichtempfindlich, weshalb er im Sommer kaum ohne seine Sonnenbrille hinausging. Doch die hatte seine Ma zusammen mit seinem Smartphone in ihrem Rucksack. Er hatte nur seine normale Brille auf, die ihn seit seinem dritten Lebensjahr begleitete und an die er sich längst gewöhnt hatte. Ohne sie sah er ungefähr so viel wie ein Dachs. Und weil er mit ihr Harry Potter so ähnlich sah und sich sein Nachname auch noch auf dessen reimte, musste er ständig entsprechende Vergleiche über sich ergehen lassen.

Als sich seine Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten und Tom sie in die Ferne richten konnte, erstarrte er.

2. Kapitel

Unterhalb des Felsens, aus dem er gerade gekommen war, weitete sich eine große Ebene. Die vorherrschende Farbe war ein weißliches Grau. In der Ferne sah er Tausende von Menschen, Zelte, Pferde und Wagen. Über allen flatterten Wimpel und Fahnen, weißer Rauch stieg aus Hunderten von Kochstellen in den wolkenlosen Himmel. Zuerst dachte Tom an einen Monumentalfilm, der hier, am Fuße des Kyffhäusergebirges, gedreht wurde. Doch seit wann brauchte man für die Massenszenen so viele Statisten? Das wurde doch mittlerweile viel billiger am Computer gebastelt. Im Bonus-Material zu Herr der Ringe – Die Rückkehr des Königs hatte er gesehen, wie durch ein paar Klicks ein paar Dutzend Menschen Tausende wurden. Irgendetwas stimmte hier nicht, das spürte er. Und auch mit der Landschaft war etwas nicht in Ordnung. Wo waren die grünen Wälder, wo die Hügel des Mittelgebirgsvorlandes? Hier waren nur dürre Flechten und Sträucher zu sehen, und in der Ferne erhob sich ein Bergkegel, der aussah, als hätte er früher Lava gespuckt.

Gleich würde er mehr wissen, denn es kam ein mittelalterlich gekleideter Junge in seinem Alter auf ihn zu. Wenn das hier ein Film war, dann hatten die Masken- und Kostümbildner wirklich tief in ihre Trickkiste gegriffen. Der Jugendliche trug einen knielangen Kittel aus grobem Leinenstoff und war barfuß. Die Kleidung war fleckig und verströmte einen strengen Geruch, der immer intensiver wurde, je mehr sich der Fremde näherte. Vielleicht ging der Geruch aber auch von ihm selbst aus, denn sein Gesicht schien ebenso wie seine Hände und Haare schon länger kein Wasser, geschweige denn Seife gesehen zu haben. Bei den Haaren musste es sich um eine Perücke handeln; niemals hatte er jemanden mit so verfilztem, ungepflegtem Haar von unbestimmter Farbe gesehen. Dagegen wirkten die Dreads mancher Ökos wie eine schicke Abendfrisur. Für den Jungen schien jedoch der Anblick von Tom noch viel erschreckender zu sein. Er starrte ihn an wie ein Gespenst und brachte aus dem geöffneten Mund keinen Ton heraus. Tom beschloss, ihn einfach zu fragen. »Hi, Alter, was geht?«, eröffnete er das Gespräch. Nichts. Die stumme Vogelscheuche blieb stumm und bewegungslos. »Echt cool euer Set hier«, fügte er hinzu und zeigte mit seinem Arm über das Tal, für den Fall, dass der Typ taub war. »Was für einen Film dreht ihr denn hier?«, schob er noch eine Frage nach. Irgendwann musste er ja mal antworten. Das Einzige, was er erreichte, war, dass der Unbekannte einen Schritt näher trat und jetzt so nah vor ihm stand, dass er seinen umwerfend schlechten Atem riechen konnte. Tom wedelte sich vor der Nase herum und meinte: »Zähneputzen wär wohl auch mal wieder angesagt!« Jetzt schob sich langsam die rechte Hand des Jungen vor, eine Hand, deren Fingernägel so lang und dreckig waren, dass Tom sich fragte, ob es wirklich nötig war, bei einem historischen Film so ins Detail zu gehen. Erstens sah man als Zuschauer ganz bestimmt nicht auf die Finger, und außerdem musste es ein ganz schöner Aufwand sein, wenn die Maskenbildner bei jedem Darsteller derart detailversessen zu Werke gingen. Doch er konnte seine Gedanken nicht weiterspinnen, denn die Hand war bereits an seinem Kopf angekommen. Genauer gesagt: an seiner Brille. Unwillig schlug Tom danach; das konnte er nicht ab. Mit diesen Drecksklauen auch noch seine Brille zu befummeln. Der Junge wich erschrocken zurück. In seinen Augen blitzte kurz so etwas wie Furcht auf. So kam er nicht weiter. »Ist das da drin deine Familie?«, fragte Tom deshalb, und sein Kopf machte eine leichte Bewegung in Richtung Höhle. Der Junge nickte eifrig. Anscheinend war er doch nicht taub. »Haben die hier nicht irgendwo eine Kantine, wo ihr essen könnt? Müsst ihr das Fleisch dort drin echt über dem offenen Feuer braten?« Wieder nickte der Junge. In seinen Augen stand jetzt die Gier; er musste sehr hungrig sein. Mit seiner rechten Hand machte er hektische Bewegungen Richtung Mund, und in einem seltsam klingenden Tonfall stieß er hervor: »Hunger, essen, kommst du mit?« Oh nein, bloß das nicht! Nicht noch einmal in dieses dunkle, übelriechende Loch. Tom schüttelte den Kopf. »Weißt du, wo der andere Eingang zur Höhle ist, oder kennst du jemanden, der mir den Weg dorthin zeigen kann?« Nicken. »Dort«, sagte der Junge, und seine Hand wies den Hang hinunter, wo sich ein Planwagen befand. »Dort ist Roland, der Medikus. Der kann immer helfen.« Was soll ich mit einem Arzt, dachte Tom bloß, haben die hier denn keinen Regisseur? Doch er wusste, dass es sinnlos war, den Fremden danach zu fragen, er musste zu den weniger hellen Mitgliedern der Crew gehören.

Neben dem Wagen brannte ein Feuer, über dem auf einem Dreifuß ein schwarzer Kessel hing. Die Gerüche, die mit dem Dampf daraus aufstiegen, waren nicht gerade dazu angetan, Appetit zu wecken. ›Wer weiß‹, dachte Tom, ›vielleicht kochen die hier drin ihre alten Socken.‹ Am Feuer saß ein Mädchen, das Tom vorerst nur von hinten sah. Die Haare waren von einer blauen Haube bedeckt, unter der ein dicker Zopf hinunter bis zur Mitte des Rückens fiel. Der erste Farbtupfer in diesem grauen Einerlei. Er ging um das Feuer herum, so dass er der kleinen Köchin – oder Wäscherin – ins Gesicht sehen konnte. Und erschrak: Dieses Gesicht kam ihm bekannt vor. Sehr bekannt. Fast wurde er rot. Obwohl auch das Gesicht dieses Mädchens etwas Seife vertragen konnte, hatte sie Ähnlichkeit mit Larissa. Nur, dass unter der Haube keine blonden, sondern braune Haare hervorlugten. Und länger waren sie auch. Noch erschrockener war jedoch das Mädchen bei Toms Anblick. Es konnte also nicht der Traum seiner schlaflosen Nächte sein, der da vor ihm stand, denn Larissa hätte jetzt einen frechen Spruch losgelassen und sich nicht wie ein hypnotisiertes Kaninchen aufgeführt. Tom versuchte sein charmantestes Lächeln aufzusetzen. Das Lächeln, das er in der Schule nur für ganz besondere Gelegenheiten und nur bei ganz wenigen Mädchen zum Einsatz brachte. »Hallo, du brauchst keine Angst zu haben. Ich will bloß den Arzt sprechen, Roland heißt er, habe ich gehört.« Das Mädchen schien sich etwas zu entspannen. Jedoch kam immer noch kein Laut über ihre Lippen, auch wenn die Angst in ihren Augen jetzt einer gewissen Neugier zu weichen schien. Mit ihrem ausgestreckten Arm zeigte sie zum Planwagen. Tom deutete eine Verbeugung an, etwas, was er noch nie getan hatte, was ihm hier aber irgendwie angebracht erschien, und entfernte sich, ohne sie aus den Augen zu lassen. Das heißt, er ging rückwärts. Und fiel fast hin, als er mit dem Fuß am Rad des Wagens hängenblieb. Jetzt glitt der Anflug eines Lächelns über das bekannt-unbekannte Gesicht des Mädchens. Schadenfreude war anscheinend überall die schönste Freude. Und das beim ersten Kennenlernen, na toll. Aber immerhin, sie hatte eine positive Gefühlsregung gezeigt. Er lächelte zurück. Ihr Gesicht wurde ein bisschen rot, und sie senkte schnell den Kopf, als sei sie bei etwas Unanständigem ertappt worden. ›Meine Fresse, warum musste das immer alles so kompliziert sein mit den Mädchen?‹

Zum Eingang des Wagens führte eine alte Holztreppe hinauf, und Tom rief, um den Arzt nicht zu überraschen, laut »Hallo«. Keine Antwort. Es klapperte und raschelte nur, und ab und zu drang ein Murmeln aus dem Inneren. Tom stieg langsam die wackligen Stufen hinauf, wobei er seine Füße genau im Blick behielt. Noch einen Grund für Gelächter wollte er nicht abgeben. Und auch keinen neuen Fall für den Arzt. Falls es denn ein richtiger Arzt war und nicht bloß ein Schauspieler, woran Tom jedoch allmählich zu zweifeln begann. Zu perfekt war das alles hier aufgemacht. Als wäre er wirklich einfach so in der Vergangenheit gelandet. Denn darum schien es sich zu handeln; die Kleidung, die Wagen, das Heer, das er aus der Ferne gesehen hatte, kannte er aus seinen PC-Spielen. Age of Empires oder Crusader. Und waren da nicht auf einigen Fahnen Kreuze gewesen? Er wusste zwar noch nicht, wie das alles möglich sein konnte, doch darum würde er sich zu gegebener Zeit kümmern. Eins nach dem anderen.

***

Als sich seine Augen an das Halbdunkel im Wagen gewöhnt hatten, sah er einen Mann, der sich über einen Tisch beugte, auf dem verschiedene farbige Gläser und Flaschen standen. Er war gerade dabei, in einem Mörser einige Zutaten mit dem Stößel zu zerdrücken. An den Seitenplanen des Wagens waren unterschiedlich große Taschen angenäht, aus denen ebenfalls Büchsen, Lederbeutel und Köcher sowie Gefäße aus Ton und Holz herausschauten. Getrocknete Kräuter hingen in Büscheln von den Holzstreben, über die die Plane gespannt war. Hier überwog der Geruch nach etwas Scharfem und nach Gewürzen, die er nicht kannte. Dafür hatte er sich nie interessiert, auch wenn es seiner Mutter bei ihren Spaziergängen immer wichtig  gewesen war, ihm schon von klein auf etwas über die Pflanzenwelt ihrer engeren und weiteren Umgebung beizubringen. Mit besonderem Schwerpunkt auf der heilenden Wirkung vieler unscheinbarer Gewächse. Spitzwegerich kannte er und wusste, dass er gut bei Verletzungen wirkte; Schafgarbe konnte man ebenfalls wie Spitzwegerich als Tee trinken, und wenn er erkältet war, flößte ihm die Mutter immer literweise selbstgebraute Tees ein. Aus den Blüten des Löwenzahns machte sie einen hellgoldenen dünnflüssigen Honig, den sie dann in die Tees rührte. Wenn er noch eine Weile nachdenken würde, fielen ihm sicher noch mehr Kräuter und ihre Wirkungen ein. Doch den Geruch, der ihn hier erwartete, konnte er nicht zuordnen. Der Alte in seinem langen fleckigen Überwurf schien jedoch gerade einen Zaubertrank zu brauen, so wie Miraculix aus seinen Misteln. Die gab es bei Tom zu Hause auch haufenweise, in den höchsten Zweigen der Pappeln entlang Mas Lieblingsspazierweg, der ihn nur interessierte, wenn der Bach, der am Fuße der Pappelallee floss, zugefroren war und er testen konnte, ob das Eis schon trug. Pech, wenn der Schein trog und er in der eiskalten Brühe landete.

Tom musste ein Geräusch gemacht haben, denn der Arzt oder Quacksalber drehte sich ruckartig um und starrte ihn an. Was hatte er bloß an sich, dass alle, denen er bis jetzt an diesem merkwürdigen Ort begegnet war, ihn beglotzten, als sei er ein Alien? Tom beschloss, die Initiative zu ergreifen und auf stundenlanges wortloses Starren zu verzichten. »Guten Tag, mein Name ist Tom Rotter, und ich habe gehört, Sie sind Arzt. Vielleicht können Sie mir weiterhelfen. Ich habe mich irgendwie verlaufen und suche den Eingang zu der Höhle da oben.« Er beschloss, dem Mann mit der Pelzkappe auf den unordentlichen Haaren Zeit zu geben, diese Informationen zu verdauen. Dieser nahm eine Funzel, die auf dem Tisch stand, und forderte ihn auf, näher zu kommen. Dann hielt er ihm den rußenden Docht so nah ans Gesicht, dass Tom fürchtete, einen Hustenanfall zu bekommen. Gerade noch rechtzeitig fuhr sein Gegenüber mit der Funzel nach unten über seinen Kapuzenpulli und seine Jeans, um zum Schluss genauestens seine Nikes zu inspizieren. Als die Besichtigung abgeschlossen war, stellte der Arzt die Lampe zurück auf den Tisch und wies mit der Hand auf eine Truhe, die an der Längsseite des Wagens stand und mit Schriftrollen belegt war, die Tom kurzerhand zur Seite schob. Für das gebeugte Stehen in dem viel zu niedrigen Wagen war es reichlich unbequem. Der etwas kleinere Arzt nahm ihm gegenüber auf einer ähnlichen Truhe Platz. »Darf ich fragen, woher du kommst, Fremder?«, eröffnete er das Gespräch, als hätte nicht Tom gerade eben eine Frage gestellt. Was sollte er darauf antworten? Aus dem Felsen? Der Barbarossahöhle? Der Zukunft? Er entschied sich für eine sehr allgemein gehaltene Antwort. »Aus einem Land, sehr weit von hier.« Wie wahr. Lichtjahre entfernt. Na, das nun nicht gerade, immerhin war er offensichtlich wenigstens noch auf der Erde. Aber Jahrhunderte lagen ganz sicher zwischen seinem gestrigen Tag und dem heutigen. Falls sich dieser Spuk tatsächlich als das entpuppen würde, was er immer stärker vermutete: ein Riss in der Zeit. Hatte er ja oft genug im Fernsehen gesehen. Doch dass es das tatsächlich gab, hatte er bisher nicht für möglich gehalten. »Wieso willst du in die Höhle?«, setzte sein Gegenüber das Gespräch fort. Um gleich hinzuzufügen: »Dort hausen nur die Tafuren, die Letzten der Menschen, die Aasgeier der Schlachtfelder.« Aha. Wie konnte er, ohne sich verdächtig zu machen, herausfinden, wo und in welcher Zeit genau er sich befand? »Deine Kleidung ist fremdartig, und obwohl du sagst, du kämst von weit her, spricht der gute Zustand deiner Gewänder eine andere Sprache. Du kannst froh sein, dass du nicht an einen Wachsoldaten geraten bist. Der hätte dich sicher als Spion der Seldschuken oder gar Saladin verhaftet.« Tom schluckte. Saladin? Jetzt wusste er, in welcher Zeit er sich befand. Aber er brauchte Gewissheit. »Dann ist das große Heer dort hinten der Zug der Kreuzfahrer?« Der Arzt schaute ihn merkwürdig an. »Es ist der Zug der Peregrini Christi, der Pilger Christi in die Heilige Stadt. Und die hohen Herren tragen das Kreuz. Unter Führung unseres Kaisers Friedrich. Ich dachte, du wolltest dich uns anschließen?« Tom horchte auf. Der Kaiser? Es gab nur einen Kaiser, der auf Kreuzzug gegangen war: Kaiser Barbarossa. Der, den er vor einigen Stunden in Stein gemeißelt vier Meter hoch vor seinem eigenen Denkmal sitzen gesehen hatte. Das war doch irre! Wann wachte er aus diesem Traum auf? Hatten die in der Höhle ein Gas ausprobiert, das Halluzinationen auslöste? Sollte das die Führung der Zukunft sein? Echter als Cyberspace, Hologramme und 3-D-Projektionen? Tom antwortete ausweichend. »Nein, ich habe nichts von eurem Kreuzzug gewusst. Ich habe mich wohl verirrt und muss irgendwie den Weg zurück in mein Land finden. Doch woher kommt Ihr, Roland, und wieso nehmt Ihr überhaupt an diesem Kreuzzug teil? Ist das nicht zu gefährlich für Eure Tochter? Das da draußen ist doch Eure Tochter, oder?« Der Arzt nickte. »Ja, das ist Sieglinde, mein ganzer Trost. Alles, was mir noch geblieben ist. Ihre Mutter starb vor sieben Tagen, bei einem Überfall der verfluchten Seldschuken. Hier«, und er bückte sich, um hinter der Truhe etwas hervorzuziehen, »dieser Pfeil hat sie getötet, als sie auf dem Kutschbock saß, weil ich hinten im Wagen einen Kranken  behandeln musste.« Tom nahm den Pfeil vorsichtig in die Hand. Er wog erstaunlich viel. Die Spitze bestand aus einem geschliffenen Stück Metall, das mit dünnen Sehnen an dem Holzpfeil festgebunden war. Die Spitze war scharf wie eine Rasierklinge. Hinten schlossen Federn den halbmeterlangen Pfeil ab. Die Seldschuken mit ihren Reitkünsten. Tom kannte sie aus Stronghold Crusader, sie konnten in fast jeder Stellung in vollem Galopp vom Pferd herab schießen. Selbst unter dem Pferdehals hängend schafften sie es noch, ihre Ziele tödlich zu treffen. Ihr gefürchteter Partherschuss, bei dem sie in gerader Linie nach hinten über den Schweif des Pferdes hinweg auf den nachsetzenden Feind schossen, war legendär. Hier hielt er eine ihrer wichtigsten Waffen in den Händen. Abgeschossen von einem doppelt geschwungenen Bogen. »Wieso seid Ihr dann so weit weg vom Heer, wenn sich die Seldschuken hier herumtreiben?«, wollte Tom jetzt wissen. »Beim letzten Überfall dieser verfluchten Ungläubigen brach eine Achse meines Wagens, als wir über hügeliges Gelände flohen. Die Tafuren haben mir geholfen, sie notdürftig zu reparieren, doch nun muss ich den Vorsprung des Heeres von einem Tagesmarsch wieder aufholen. Die Pferde hat man so lange in Sicherheit gebracht, um den Ungläubigen keinen Grund zu geben, uns anzugreifen, solange wir ungeschützt sind. Ich kann nur zu Gott, dem Allmächtigen, beten, uns auch die kommende Nacht zu beschützen.«

»Warum sucht Ihr nachts nicht in der Höhle Schutz, bei den anderen. Den Eingang kann man leicht bewachen. Leichter als einen Wagen auf einer Ebene«, erkundigte sich Tom. Doch der Arzt schüttelte den Kopf. Mit der rechten Hand wies er über all die Gefäße und Truhen im Wagen. »Das alles hier im Stich lassen? Mein ganzes Leben? Die einzige Möglichkeit, Kranken zu helfen, ihre Schmerzen zu lindern?« Wieder schüttelte er den Kopf. »Du wolltest wissen, wieso ich an diesem Zug zur Rettung Jerusalems aus den Händen der Ungläubigen teilnehme? Die ihre Säuglinge über unseren Taufbecken beschneiden und mit dem Blut unsere Kirchen entweihen?« Tom nickte. »Wir kommen aus Mainz. Dort fand am Mittfasten-Sonntag letzten Jahres ein Reichstag statt. Schon viele Male hatte der Papst dazu aufgerufen, das Kreuz zu nehmen. Sicher weißt auch du, dass im Jahre des Herrn 1187, nachdem die Christen in der Schlacht von Hattin geschlagen worden waren und Saladin 230 unserer besten Templer von seinen Mullahs hat umbringen lassen, er Jerusalem erobert hat. Papst Urban III. starb in Ferrara, wenige Tage nachdem die Nachricht vom Verlust des Kreuzes ihn erreicht hatte, vor Kummer darüber. Sein Nachfolger Gregor VIII. rief alle guten Christen auf, sich zu sammeln, um das Heilige Grab wieder in christliche Hände zu überführen. Doch im Dezember starb auch er. Jetzt hat Clemens III. alles nur Mögliche darangesetzt, die Edlen an ihre heilige Pflicht zu gemahnen. Doch Kaiser Friedrich zögerte lange. Vielleicht zu lange. Erst auf dem Reichstag in Mainz, der Curia Christi, wo man den kaiserlichen Thron unbesetzt ließ, weil von dort aus Christus den Tag leiten sollte, nahm endlich Barbarossa das Kreuz. Und es wurde ein Zug der Könige und Kaiser. Nicht, wie bei den ersten beiden Kreuzzügen, wo unehrenhaftes Gesindel, Verbrecher und zwielichtige Gestalten sich dem Zug angeschlossen hatten und raubend und mordend eine Spur des Blutes durch die Länder zogen. Für Friedrich war es ja sein zweiter Zug ins Heilige Land. Bereits als junger Mann hatte er seinen Onkel Konrad III. begleitet. Damals freilich, vor etwa 40 Jahren, waren die Unseren vom Pech verfolgt und der Unfähigkeit und Zerstrittenheit vieler Fürsten ausgesetzt. Deshalb stellte Kaiser Friedrich dieses Mal hohe Anforderungen an alle, die mitziehen wollten. Jeder musste im Waffenhandwerk wohlgeübt sein und den Aufwand des Zuges für zwei Jahre bestreiten können. Nun, wie du wohl siehst, trifft beides nicht auf mich zu. Aber als Medikus habe ich auf einem Kreuzzug ein besseres Auskommen als in einer Stadt. Außerdem kann ich nur hier meine Buße tun und einen guten Platz im Himmel bekommen. Dort im Heiligen Land, wo sich schon im Leben Jesu Himmel und Erde berührten, wollen wir neu anfangen. In einem der Hospitäler der Johanniter. Dort werden schon seit vielen Jahren Kranke geheilt, Arme beschenkt und Pilger versorgt. Und dabei wird nicht nach einem Taufschein gefragt. Die Armen, die die früheren Wallfahrten begleitet hatten und nicht mit den Adligen zurücksegeln konnten, mussten auch dort verpflegt werden. Wer sollte sich sonst um sie kümmern? Dort will ich Dienst tun, um meines Seelenfriedens willen.« Der Arzt hatte seinen langen Vortrag beendet, und als hätte sie nur darauf gewartet, steckte nun die Tochter den Kopf zum Wagen hinein und teilte mit, dass das Essen fertig sei. Essen. Tom spürte ein leichtes Grummeln in der Magengegend. Doch wenn es sich bei dem Essen um das handeln sollte, was da in diesem schwarzen Topf vor sich hin gebrodelt und nicht gerade appetitanregenden Geruch verbreitet hatte, würde er sich wohl noch ein wenig im Fasten üben. Er wusste, dass ein Mensch notfalls 30 Tage ohne Nahrung auskommen konnte. Roland erhob sich und forderte Tom mit einer Handbewegung auf, ihm nach draußen zu folgen.

Mittlerweile war die Sonne fast am Horizont verschwunden, und es war empfindlich kühl geworden. Da konnte zumindest in dieser Hinsicht ein Platz am Feuer hilfreich sein. Hier bei diesem Arzt schien er jedenfalls einigermaßen sicher vor unliebsamen Überraschungen. Sieglinde schöpfte mit einer grob geschnitzten Holzkelle einen dicken braungrünen Brei in eine Tonschale. Mit einem Lächeln reichte sie ihm diese über das Feuer. Tom wusste nicht, wie er ablehnen sollte, ohne sie und ihren Vater zu kränken. Ohne das Lächeln von ihrem hübschen Gesicht zu wischen. Sicher hatten sie nicht viel, und es machte sie stolz, ihrem Gast trotzdem von dem wenigen abgeben zu können. Tom nahm die Schale und einen hölzernen Löffel entgegen. Nachdem alle ihre Portion hatten, forderte Roland ihn auf, das Gebet zu sprechen. Oje! Tom war nicht getauft worden, weil seine Mutter keine Paten gefunden hatte, die ihren hohen Ansprüchen genügten. Sie wollten nun bis zur Konfirmation warten und dann die Taufe gleich mit erledigen. Aber sie hatten regelmäßig an Gottesdiensten und kirchlichen Veranstaltungen und Festen teilgenommen; und als er noch nicht zur Schule ging, erinnerte er sich vage, hatte seine Mutter sogar die Kindergottesdienste mitgestaltet. Deshalb fiel ihm jetzt ein kurzes Tischgebet ein. Er faltete die Hände und schloss die Augen. »Komm Herr Jesu, sei du unser Gast und segne, was du uns bescheret hast. Amen.« Roland schien das, was er wohl zum ersten Mal gehört hatte, zu gefallen. Zufrieden tauchte er seinen Löffel in die Pampe, und Tom tat dasselbe. Das, was er schmeckte, erinnerte ihn an nichts, was er jemals gegessen hatte. Es war ein undefinierbarer Geschmack, und er wollte auch gar nicht wissen, was er eigentlich hier versuchte, ohne ein Würgen in sich hineinzustopfen. Stell dir vor, es wäre Kartoffelpampe und Gemüsebrei mit irgendwelchen unbekannten Kräutern, sagte er sich und wollte gerade zu einem Lob in Richtung erwartungsvoll blickender Köchin ansetzen, als ihm ihr Vater zuvorkam. »Leider müssen wir uns mit sehr wenig begnügen, seit wir byzantinisches Gebiet betreten hatten. Obwohl Barbarossa von Kaiser Isaak die Zusage bekommen hat, dass sich das Heer auf offenen Märkten versorgen kann, machte er uns das Leben schwer, wo er nur konnte. Überfälle, Irreführung oder das Versperren von Wegen bis hin zur Gefangennahme unserer Gesandtschaft in Byzanz. Das hielt uns in Philippopel fest, wo wir einige Schlachten schlagen mussten und uns im Umland das holen, was der Kaiser uns verweigerte. Erst als auch die Bulgaren und Serben sich mit uns vereinigten und wir gemeinsam gegen ihren Erzfeind ziehen wollten, erklärte sich Isaak zu einem Friedensvertrag bereit. Aber trotz aller Zusagen in diesem Vertrag tat dieser Schuft auch nach unserem Übersetzen über die Dardanellen alles, was er konnte, um unseren Marsch zu erschweren. Seit wir Sardes, Philadelphia und Hierapolis hinter uns gelassen haben und ins Innere Anatoliens gekommen sind, piesacken uns die verfluchten Seldschuken. Obwohl Barbarossa auch mit Sultan Kylydsch Arslan, dem zweiten seines Namens, ein Abkommen zum freien Durchmarsch und offenen Markt geschlossen hatte, hindern uns die Einwohner an der Versorgung mit Lebensmitteln, und ständig sind wir Überfällen ausgesetzt.«

Unauffällig schob Tom die noch halbvolle Schale zur Seite. Durst hatte er. Hoffentlich gab es wenigstens etwas Anständiges zu trinken. Als hätte Roland seine Gedanken erraten, gab er seiner Tochter ein Zeichen, und diese verschwand im Wagen. Von drinnen erklangen scheppernde Geräusche. Als sie wieder am Feuer stand, trug sie auf einem Tablett drei Zinnbecher und einen Krug. Roland erhob sich. »Ich freue mich, unserem Gast einen guten Tropfen Met anbieten zu können. Wasser haben wir in dieser Gegend leider noch nicht gefunden.« Der Arzt schenkte die Becher voll und reichte Tom einen. Der Alkoholgeruch vernebelte Tom die Sinne. ›Oje, wenn das Mam wüsste!‹, dachte er. Aber er konnte nicht kneifen, die beiden sahen ihn erwartungsvoll an und erhoben ihre Becher in seine Richtung. »Auf unseren fremden geheimnisvollen Gast«, sagte der Arzt und leerte seinen Becher in einem Zug. Tom versuchte es ebenfalls, verschluckte sich aber an dem brennenden süßen Honigwein und hustete, bis ihm Roland kräftig auf den Rücken klopfte. »So etwas Gutes gibt es bei euch nicht, stimmt’s?«, wollte er wissen, und Tom nickte, um ihm eine Freude zu machen. Roland kam jetzt ganz dicht an ihn heran und betrachtete seine Brille. »Darf ich das mal sehen?«, fragte er Tom. Ungern setzte dieser die Brille ab und legte sie in die geöffnete Hand des Arztes. »Was ist das? Welchem Zweck dient es?«, wollte dieser wissen. »Das ist eine Sehhilfe. Wir nennen sie Brille«, antwortete Tom. Der Arzt besah sich das Titangestell von allen Seiten. Besonders schien ihn das dünne Glas zu interessieren. »Aus welchem Material besteht das?«, fragte er Tom. Dieser entschied sich, nichts von Kunststoff zu sagen, da er niemals würde erklären können, was das für ein Material war und wie es hergestellt wurde. Glas, das wusste er, war schon bei den alten Ägyptern bekannt gewesen.

»Eure Handwerker können Glas so dünn ausrollen, und haben ein Rezept, um es so durchsichtig zu machen, dass man glauben könnte, man sähe durch reine Luft?« Tom nickte. Mehr zu sich selbst murmelte Roland: »Vielleicht haben sie auch einen Beryll so dünn geschnitten, dass …« Der Arzt schien zu grübeln. »Kannst du Latein?« Tom nickte. Latein war sogar sein Lieblingsfach. Roland zitierte: »Nero princeps gladiatorum pugnam spectabet smaragdo.« Tom übersetzte: »Nero betrachtete die Kämpfe der Gladiatoren durch einen Smaragd.« Zufrieden nickte der Arzt. »Das schrieb Gaius Plinius der Ältere um 50 nach Christus. Er schreibt über die Steinschneider, die sehr feine Gemmen fertigten, um durch sie die ermüdeten Augen zu schützen und die Sehkraft zu stärken. Vielleicht war das Grün des Steines ein Blendschutz gegen den hellen Sand der Arena. Eine vergrößernde Wirkung erzielte man damit noch nicht. Erst der große Mediziner Ibn al-Heitham fand vor fast zweihundert Jahren eine Möglichkeit, das Auge mit einer geschliffenen Linse zu unterstützen. Solch einen Lesestein zeigte mir ein Landsmann von ihm, ein arabischer Kollege, der mich vor einigen Jahren besuchte. Die Handwerker in eurem Land scheinen schon viel weiter zu sein als die unseren. Wo, sagtest du, liegt deine Heimat?« Tom war froh, als Sieglinde, die inzwischen das Geschirr ausgekratzt und mit einem Lumpen von undefinierbarer Farbe ausgewischt hatte, den Vater zur Eile drängte. Mittlerweile war es dunkel geworden. Längst sah man die weißen Wimpel der Kreuzfahrer, die Spitzen ihrer Zelte nicht mehr. »Da wir in unserem Wagen keinen Platz für dich haben und es außerdem unschicklich wäre, wenn du zusammen mit meiner Tochter in einem Raum schlafen würdest, wird sie dir einige Decken für die Nacht geben, und ich werde dich hinauf in die Höhle begleiten. Die Leute dort mögen gottlos sein und gegen das Verbot der Unzucht verstoßen, aber sie brauchen meine Hilfe, und wenn du unter meinem Schutz stehst, hast du von ihnen nichts zu befürchten.« Das bezweifelte Tom zwar, doch was blieb ihm anderes übrig. Sieglinde gab ihrem Vater eine Fackel, die sie zuvor im Feuer angezündet hatte. Ein beißender Geruch nach altem, ranzigem Fett trieb Tom die Tränen in die Augen. Doch irgendetwas hielt ihn davon ab, erneut zu seinem Laserpointer zu greifen. Sieglinde drückte ihm ein paar Decken in die Hand, die einen muffigen Geruch ausströmten. Tom wollte diese Teile gar nicht aus der Nähe und bei Tageslicht betrachten. Wahrscheinlich waren sie voll mit Flöhen und anderem Ungeziefer.

Roland war schon ein gutes Stück vorausgegangen, und Tom musste sich beeilen, um nachzukommen. Ein paar Mal stolperte er über größere Steine, einmal riss er sich beim Versuch, sich abzufangen, die Hand an einem stachligen Strauch auf. Das letzte Stück des Weges erhellte ihm Roland, der vor dem Höhleneingang angekommen war und ihm entgegenleuchtete. Drinnen schlugen ihnen ein abgestandener Geruch menschlicher Ausdünstungen und der beißende Rauch des immer noch brennenden Feuers entgegen. Wie sollte er in diesem Gestank jemals ein Auge schließen können? Ganz zu schweigen von den seltsamen Gestalten, die die Ankömmlinge neugierig begafften. Roland stellte Tom vor und betonte, dass er unter seinem Schutz stünde und jeder, der ihm zu nahe käme, großen Ärger mit dem Arzt bekommen würde. Dann wünschte er Tom eine gute Nacht und verschwand mit seiner Fackel im Dunkeln. Tom breitete seine Decken in der Nähe des Eingangs aus – hier kam wenigstens ein bisschen Sauerstoff hinein – und legte sich nieder. ›Wenn es hell ist, suche ich den Spalt, durch den ich hierhergekommen bin‹, nahm er sich vor. Und bevor er noch dazu kam, weitere Überlegungen anzustellen oder Angst zu haben, fiel er in einen tiefen Schlaf. ›Vielleicht ist alles nur ein besonders realistischer Traum, und ich wache gleich daraus auf‹, war sein allerletzter Gedanke.

3. Kapitel

Das Piepen seiner Uhr und eine Hand an seinem Arm rissen ihn gleichzeitig aus dem Schlaf. Bevor der nächtliche Störenfried fliehen konnte, umklammerten Toms Finger das Handgelenk des neugierigen Besuchers. Es entstand ein Gerangel, der andere keuchte und versuchte, sich zu befreien. Doch Tom trainierte seit Jahren Jiu-Jitsu und legte den Typen mit einem gekonnten Griff auf den Rücken. Er musste beim Versuch, ihm die Uhr zu stehlen, die Weckfunktion ausgelöst haben. Sein Glück. Tom tastete in seiner Hosentasche nach seinem MP3-Player; er war da. Auch sein Laserpointer befand sich noch darin. Als er den roten, gebündelten Strahl auf den Dieb richtete, stellte er fest, dass es sich um eine Diebin handelte. Ihr Gesicht war zwar ziemlich schmutzig, aber eindeutig weiblich. Tom lockerte seinen festen Griff etwas. Das war ein Fehler, wie er sogleich bemerkte. Wieselflink entwand sich das Mädchen ihm. Es war etwa in seinem Alter. Die Dunkelheit der Höhle verschluckte es, und Tom hatte keine Lust, ihm auf unbekanntes Terrain zu folgen. Stattdessen stand er auf und streckte seine steifen Glieder. Er trat vor die Höhle. Die Sonne ging gerade über den Bergen auf. Ja, wahrscheinlich glaubten diese Menschen noch daran, dass die Erde eine Scheibe war und die Sonne jeden Tag über ihren Rand kletterte, um am Abend gegenüber wieder zu verschwinden. Obwohl schon Aristoteles vor eintausendfünfhundert Jahren als Erster die Erde für eine Kugel gehalten hatte. Auf diesen Gedanken war Aristoteles, so erinnerte sich Tom an die Naturphänomen-Stunde, während einer Mondfinsternis gekommen. Es hatte mit dem Erdschatten zu tun, der sich immer rund vor den Mond schob. Und das war nur möglich, wenn es sich bei der Erde um eine Kugel handelte. Außerdem war da die Sache mit den Schiffen gewesen. Aristoteles hatte beobachtet, dass Schiffe, die sich vom Land entfernten, ganz allmählich hinter dem Horizont verschwinden. Zuerst der Rumpf, dann das Segel und schließlich die Mastspitze. Auch das sei nur möglich, wenn die Erde eine Kugel ist, erklärte er. Aber was den Wissenschaftlern damals schließlich einleuchtete, geriet Jahrhunderte später wieder in Vergessenheit. Und in einigen hundert Jahren würden auf den Scheiterhaufen der Kirche Menschen verbrennen, weil sie nicht mehr an ein Weltbild mit der Erde im Mittelpunkt des Universums glaubten – von dem im Übrigen auch Aristoteles überzeugt gewesen war. Wissen war gefährlich in diesen Zeiten. Das sollte er besser sehr gut bedenken, solange er sich in dieser längst vergangenen Epoche aufhielt. Doch könnte er sein Wissen nicht auch nutzen, um den Gang der Geschichte zu beeinflussen? Ein verlockender Gedanke. Sein Blick blieb an den Zelten, Wagen und Pferden hängen, die langsam aus dem Dunkel der Nacht auftauchten. Vereinzelt loderten die Flammen der Feuerstellen. Ein bisschen Action war ja ganz schön, aber das, was hier seit gestern abging, war doch eine Spur zu abgefahren.

Die kühle und frische Luft des Morgens tat gut nach dem stickigen Quartier der Nacht. Seiner Uhr nach war es bereits fünf. Unten beim Planwagen schienen sie noch zu schlafen. Die Wunde, die er sich beim Aufstieg gerissen hatte, juckte. Hoffentlich entzündete sie sich nicht. Er wollte ungern auf das Können von Roland angewiesen sein. Doch dass er hier Spitzwegerich finden würde, bezweifelte er. Eine Hand auf seiner Schulter ließ ihn herumfahren. Der Junge, den er als Ersten gesprochen hatte, grinste ihn mit dunkel verfärbten Zahnstümpfen an. Zahnpflege war hier wohl auch ein Fremdwort. Ebenso wie waschen. Vor ein paar Jahren hätte ihn das vielleicht noch gefreut, doch seit sich mehr Pickel auf seiner Stirn fanden als Lion Cereals in seinen Cornflakes, behandelte er sein Gesicht morgens und abends mit einer speziellen Reinigungsserie: Waschgel, Tonic, Creme und für die ganz schlimmen Stellen zusätzlich eine Spot-Creme zur gezielten Behandlung der Unreinheiten. Darüber kam dann noch ein Abdeckstift. Eine der wenigen guten Ideen seiner Mutter. Und jede Woche eine Maske aus Heilerde. Nur gut, dass seine Kumpels nichts davon wussten!

Der Junge ihm gegenüber hatte wenigstens den Vorteil, dass man die Pickel vor lauter Dreck nicht sah. »Kommst du aus Magonia?«, wollte er jetzt von Tom wissen. »Nein, wo soll das sein?«, erwiderte Tom. »Du bist also nicht aus den Wolken gefallen?« Tom schüttelte genervt den Kopf. Dieser Typ war wirklich nicht der Hellste. Aus den Wolken gefallen! Was denn für Wolken? Seit er aus der Höhle getreten war, hatte er nicht eine einzige am Himmel gesehen. Weil er auf die Fortführung dieses Frage-Antwort-Spiels keinen Bock hatte, begab er sich nach unten, wo sich mittlerweile Roland am Feuer zu schaffen machte. Über Nacht war die Glut gehalten worden, so dass er nun mit dürrem Holz die Flammen wieder auflodern ließ. Vielleicht gab’s ja etwas Heißes zu trinken. Das konnte er nach dieser frostigen Nacht echt gebrauchen.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2016
ISBN (eBook)
9783960530633
Dateigröße
1.8 MB
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (April)
Schlagworte
Kinderbuch ab 8 Jahre Mittelalter für Jungen Barbarossa 12. Jahrhundert Rittergeschichte für Mädchen Zeitreise Abenteuer Jugendbuch eBooks
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Titel: Tom und die Kreuzfahrer
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