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Der schwarze Skarabäus

Roman

©2016 281 Seiten

Zusammenfassung

Machthunger und Heldenmut – erleben Sie den Fantasyroman „Der schwarze Skarabäus“ von Helga Glaesener jetzt als eBook bei jumpbooks.

Um das Überleben seiner Volkes zu sichern, muss Albenprinz Gelwyn ein großes Opfer bringen: Für die nächsten zehn Jahre wird er als Sklave in der Menschenburg Mahoonagh dienen. Doch dort wird er in die dunklen Machenschaften von Lord Sraggs und dem Hexer DaDerga verwickelt. Diese versuchen, eine uralte Magie heraufzubeschwören, um so die Macht über das ganze Land an sich zu reißen. Gelwyn versucht verzweifelt, die finsteren Pläne zu vereiteln. Damit ihm das gelingt, benötigt er die Hilfe eines Freundes – doch dieser ist ein Mensch, den er eigentlich hassen müsste …

Jetzt als eBook kaufen und genießen: ‚Der schwarze Skarabäus‘ von Helga Glaesener. Wer liest, hat mehr vom Leben: jumpbooks – der eBook-Verlag für junge Leser.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Über dieses Buch:

Um das Überleben seiner Volkes zu sichern, muss Albenprinz Gelwyn ein großes Opfer bringen: Für die nächsten zehn Jahre wird er als Sklave in der Menschenburg Mahoonagh dienen. Doch dort wird er in die dunklen Machenschaften von Lord Sraggs und dem Hexer DaDerga verwickelt. Diese versuchen, eine uralte Magie heraufzubeschwören, um so die Macht über das ganze Land an sich zu reißen. Gelwyn versucht verzweifelt, die finsteren Pläne zu vereiteln. Damit ihm das gelingt, benötigt er die Hilfe eines Freundes – doch dieser ist ein Mensch, den er eigentlich hassen müsste …

Über die Autorin:

Helga Glaesener, 1955 in eine Großfamilie hineingeboren, studierte Mathematik in Hannover. Mit ihrem Roman Die Safranhändlerin landete sie 1996 einen Bestsellererfolg. Seitdem hat sie zahlreiche historische Romane sowie mehrere Fantasy- und Kriminalromane veröffentlicht. Heute lebt sie in Niedersachsen und unterrichtet Kreatives Schreiben, wenn sie nicht gerade an einem neuen Werk arbeitet.

Die Website der Autorin: www.helga-glaesener.de

Die Autorin auf Facebook: https://www.facebook.com/pages/Helga-Glaesener/645685195451435

Ebenfalls bei jumpbooks erscheint die Fantasy-Trilogie THANNHÄUSER mit den Einzelbänden DER INDISCHE BAUM, DER STEIN DES LUZIFER und DER FALSCHE SCHWUR.

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eBook-Neuausgabe April 2016

Copyright © der Originalausgabe 2000 by Econ Ullstein List Verlag GmbH & Co. KG, München

Copyright © der Neuausgabe 2014 dotbooks GmbH, München

Copyright © 2016 jumpbooks. jumpbooks ist ein Imprint der dotbooks GmbH, München.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/soosh

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN 978-3-96053-053-4

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Helga Glaesener

Der schwarze Skarabäus

Roman

jumpbooks

Der Abschied

Gelwyn stand in einer Ecke seines Schlafgemachs, und in seinen Gefühlen herrschte das gleiche Durcheinander wie in dem Haufen von Hemden, Hosen, Socken und Wäsche, den er auf seinem Bett aufgetürmt hatte.

Er mußte fort.

Gewußt hatte er das schon lange, natürlich. Sein Vater, König Aldwin, hatte Wert darauf gelegt, ihn so früh wie möglich auf seine »Aufgabe« vorzubereiten. Aber nun war es auf einmal, als hätte man ihn an einen Abgrund gestellt und wollte ihn über den Rand stoßen.

Und überhaupt: Aufgabe!

Er haßte diesen Ausdruck, der alles so verniedlichte. In Wahrheit würde er ein Gefangener sein. Eine Geisel des schrecklichen Menschenkönigs Ezzon. Und sein einziger Lebenszweck würde darin bestehen, ein Mittel zur Erpressung seines eigenen Volkes zu sein!

Gelwyn langte nach dem Reisesack, den eine der Frauen ihm zurechtgelegt hatte, riß die Bänder auseinander und begann wütend, den Haufen auf seinem Bett hineinzustopfen.

Großartig hatten die Menschen sich das ausgedacht, wirklich großartig!

Erst hatten sie sein Volk überfallen – einfach so, niemand hatte sie auch nur mit einem Pieps herausgefordert! –, und dann hatten sie ihren Opfern das, was sie voller Hohn »Friedensmaßnahmen« nannten, diktiert. Zum Ausgleich für den Schaden, den die Menschen erlitten hatten – welchen Schaden, bitteschön? Man war ja gar nicht in ihrem Land gewesen –, mußten die Alben alljährlich zum Sonnenwendfest Seide, Schafe und Silbererz nach Mahoonagh liefern. Und um den »Frieden« zu wahren, hatten sie Geiseln zu stellen. Mitglieder der ardfynnischen Königsfamilie, die für jeweils zehn Jahre in Mahoonagh zu leben hatten. Nicht gerade im Kerker – sie bekamen zu essen und Kleidung und alles, was sonst zum Leben nötig war –, aber doch als Gefangene. Seit sechzig Jahren ging das nun schon so.

Gelwyn stopfte erbittert ein Paar Socken zwischen die Hosen. Es war ungerecht! Und ob er wollte oder nicht, er mußte immer wieder daran denken, warum sein Vater oder sein Großvater es nie gewagt hatten, sich gegen den Menschenkönig aufzulehnen. Natürlich kannte er die Gründe, die sie nannten: Die Menschen hatten bessere Waffen, sie waren stärker, und es gab so entsetzlich viele von ihnen.

Aber hatte Ardfynnan nicht seine Magier?

Gelwyn wußte, daß es so war, obwohl es selbst im Haus des Königs beharrlich beschwiegen wurde.

Die Alben waren ein Volk von Magiern, seit man denken konnte. In ihren Händen wohnte die Fähigkeit zu heilen oder Dinge zu bewegen oder beispielsweise auch, den Wuchs der Pflanzen zu beschleunigen, was Gelwyns Vater jedes Frühjahr heimlich und mit schlechtem Gewissen in seinem kleinen Gewächshaus tat. Die Menschen hatten den Alben die Anwendung von Magie verboten. Und König Aldwin und vor ihm sein Vater hatten bestimmt, daß es nötig sei, sich an diese Anordnung zu halten. So kam es, daß es aussah, als wäre alle Magie aus Ardfynnan verschwunden. Aber Gelwyn war überzeugt, daß es noch immer Männer gab, die die Geheimnisse der Magie kannten. Und warum konnte man dann nicht versuchen …

Doch es war sinnlos, darüber zu grübeln. Gelwyns Vater hatte sich entschieden, und er war der Herr der Alben. Und damit war alles erledigt.

Der Junge lauschte.

Obwohl er das Fenster, das auf den Innenhof hinausging, geschlossen hatte, drang das Gegröle der fremden Menschensoldaten bis in sein Zimmer. Er hörte jemanden etwas rufen und gleich darauf das helle Kreischen einer Frauenstimme und kniff erbittert die Lippen zusammen.

Sie waren vulgär, roh und gemein. Und egal, was sein Vater, der König, sagte: Er würde sich bei ihnen nicht wohlfühlen. Er würde sich auch nicht einleben, und er würde sie nicht – ganz sicher nicht! – irgendwann einmal gern haben. Er würde – weil sein Vater es wünschte und weil es gut für Ardfynnan war – höflich und gehorsam sein, und ansonsten würde er sich über jeden Tag freuen, der ihn seiner Heimreise näherbrachte. Lieber Himmel, zehn Jahre! Er würde erwachsen sein, wenn er nach Ardfynnan zurückkäme! Fünfundzwanzig Jahre alt!

Gelwyn schob energisch das letzte Paar Socken zwischen die Hemden und verbot sich das Rechnen und Zählen. Er angelte nach dem Strick, mit dem er den Sack zubinden wollte, zog ein Kissen beiseite, und da fiel ihm das Messerchen entgegen, das sein Vater ihm kurz zuvor hochgebracht hatte.

König Aldwin hatte nicht viel Geschick im Schenken – in der Regel bedachte er die Leute an ihren Ehrentagen mit Blumenzwiebeln oder Samen von den Pflanzen, die er in seinem Garten gezogen hatte. Und einmal hatte er seinem Sohn eine gläserne Teekanne geschenkt. Aber dieses Messerchen war das Seltsamste, was Gelwyn je von ihm bekommen hatte. Genaugenommen war es ein Witz. Eben noch hatte der König ihn ermahnt, sich keinesfalls zu etwas hinreißen zu lassen, und im nächsten Augenblick schob er ihm ein Messer in die Hand. Sekundenlang überlegte Gelwyn, ob sein Vater ihm damit vielleicht etwas hatte sagen wollen, was auszusprechen zu gefährlich oder ungehörig gewesen wäre. Er mußte über seine eigene Vermutung lächeln. Nein. Aldwin war ein guter König und Vater, und Gelwyn liebte ihn zärtlich, aber zu denken, daß er sich zu etwas so Ungeheuerlichem wie einem Ränkespiel versteigen könnte, war einfach lächerlich.

Der Junge zog das Messerchen aus der Lederhülle und betrachtete den mit Ornamenten verzierten Griff und die schwarz glänzende Klinge. Vorsichtig fuhr er mit dem Finger über die Schneide. Die Waffe war scharf, obwohl sie sehr alt zu sein schien. Und während er sich darüber wunderte, stellte er fest, daß er sie nicht mochte. Es war wie ein Unbehagen – nicht stark genug, das Ding aus der Hand zu legen, aber doch ausreichend, es in respektvollem Abstand zu halten. Nachdenklich musterte Gelwyn das Messer. Es sah aus, als wäre es aus einem sehr harten Stein – Obsidian vielleicht – gebrochen und dann geschliffen worden. Das war eine eigenartige Weise, ein Messer herzustellen. Wo mochte sein Vater es herhaben?

Der junge rümpfte die Nase. Er schob die Waffe in die Lederhülle zurück und verstaute sie zwischen seinem Unterzeug. Das Messer war ein Geschenk seines Vater und damit eine Erinnerung an Ardfynnan. Möglicherweise würde er damit einmal die Briefe öffnen, die er von zu Hause bekam – falls sie ihm erlaubten, Briefe zu bekommen.

Und damit basta.

Die Geiselübergabe fand zur Mittagszeit statt, und zwar im Audienzsaal des Königshauses von Ardfynnan. Jedenfalls nannte man den Raum so, obwohl Gelwyn, als er jetzt dort stand und wartete, die Bezeichnung reichlich hochtrabend vorkam. Es war merkwürdig: Er hatte noch keinen Schritt aus dem Haus seines Vaters getan, und schon ertappte er sich dabei, seine Heimat mit den Augen eines Fremden zu betrachten. Und seine distanzierte Haltung sagte ihm, daß dieses Zimmer weder ein Saal war, noch die pompöse Bezeichnung »Audienz« verdient hatte. Nicht daß es dort schäbig ausgesehen hätte. Aber die Alben hatten mit dem ihnen eigenen Bedürfnis nach Gemütlichkeit die Decke mit Holz verkleidet, den weißen Marmor der Wände durch Tapisserien bedeckt und in die Fenster bunte Glasscheiben eingesetzt, die das strahlende Außenlicht in milchige Wärme verwandelten. Zwischen den Fenstern standen mit Hyazinthen bepflanzte Blumenkübel, und um die Türen rankte Zimmerefeu. Auch der mit geblümtem Samt bezogene Thron, der etwas erhöht am Ende des Raumes stand, diente mit seiner hohen Lehne und den gefütterten Armstützen eher der Bequemlichkeit als der Repräsentation.

Gelwyn konnte sich nicht erinnern, daß ihn diese Intimität je gestört hätte, aber jetzt, während er darauf wartete, daß die Menschen ihn abholten, hätte er sich doch etwas Imposanteres im Rücken gewünscht. Etwas, das ihm das Gefühl gegeben hätte, mehr zu sein als nur der unwichtige Sohn eines machtlosen Königs.

Er seufzte.

Lord Sraggs, der Führer der Delegation, ließ sie warten. Vielleicht war es Gleichgültigkeit, aber Gelwyn nahm an, daß es zu dem Ritual der Demütigung gehörte, das man ihnen mit dem Vertrag aufgezwungen hatte. Die Menschen hatten tatsächlich jedes Detail der Geiselübergabe festgelegt. Wer von den Edlen Ardfynnans bei der Prozedur dabeizusein hatte, von wo aus und bis wohin die Geisel dem Gesandten des Menschenkönigs entgegenzugehen hatte, daß ihr die Hände gebunden sein müßten und so weiter. Es war lächerlich, und Gelwyn hätte auch darüber gelacht, wenn … nun ja, wenn es ihn nicht gerade selbst betroffen hätte.

Er streckte die Finger, um sich zu entspannen. Die Fesseln taten nicht weh. Aldwin, der sie ihm selbst hatte anlegen müssen, hatte sie gerade so straff gebunden, daß sie ihm nicht über das Handgelenk rutschten. Aber es war unbequem, und außerdem: Jeder, der hier mit ihm wartete, blickte so nachdrücklich nicht auf seine Hände, daß es auch schon wieder peinlich war.

Endlich schien sich etwas zu tun. Das Gelächter im Hof verstummte, eine klotzige, tiefe Stimme rief etwas. Gelwyn blinzelte, als die Tür aufgerissen wurde. In dem hellen Mittagslicht, das von draußen hereinfiel, konnte er nichts als einen Schatten erkennen, der bis an den Sturz des Türrahmens reichte. Lord Sraggs mußte ein Riese sein.

Der Mann verharrte einen Moment in der Tür, als wolle er sich einen Überblick verschaffen, oder auch – wer konnte das wissen? –, weil er den Augenblick genoß. Als er ins Zimmer trat, sah Gelwyn, daß er eine vollkommen schwarze Uniform trug. Zwei Messer im Gürtel und ein breites Schwert, das ihm blank an der Hüfte baumelte, verstärkten den Eindruck von Düsternis. Sein Gesicht konnte Gelwyn nicht erkennen, da es im Schatten der Tür lag, aber er war überzeugt, daß es so finster sein würde wie die ganze Gestalt.

Mit dem Lord drängte eine Handvoll Soldaten herein, vielleicht seine Leibwache oder irgendwelche Offiziere, und der letzte von ihnen knallte die Tür ins Schloß.

Sie hielten es nicht für nötig, ihre Gespräche zu unterbrechen oder auch nur die Stimmen zu senken. Der Lord hob den Arm, beiläufig, als winke er einen Diener heran, und gab damit das Zeichen, die Geisel zu ihm zu schicken, und demonstrierte gleichzeitig, wie lästig und nichtswürdig das fremde Volk ihm war.

Gelwyn spürte, wie sein Vater ihn an der Schulter berührte. Er lächelte flüchtig. So schwierig war es nun auch wieder nicht. Einmal quer durch den Saal, sich anhören, was die Menschen zu sagen hätten – und damit war das Unangenehmste vorüber.

Er ging langsam und achtete sorgfältig darauf, den Kopf hoch zu tragen. Das zumindest meinte er sich und seinem Volk zu schulden. Viel zu schnell nach Gelwyns Gefühl war der Gang durch den Raum geschafft. Unsicher blieb der Junge stehen. Er blickte auf den eisenbeschlagenen Waffengürtel des Lords, auf die mit schwarzem Leder bezogenen Uniformknöpfe, atmete einmal tief durch und hob die Augen zu seinem Gesicht. – Und dann wäre es fast mit seiner Fassung vorbei gewesen. Ihn traf ein Blick von … solcher Verachtung und Abneigung, ja, von einem solch persönlichen Haß, daß er blinzelte, weil er es nicht glauben konnte.

Der Lord war ernst gewesen. Aber nun, da er Gelwyns Aufmerksamkeit hatte, begann er zu grinsen. Abfällig spuckte er auf den Boden, gerade eben an Gelwyns Schulter vorbei, packte den Jungen beim Arm und drehte ihn herum, so daß seine Leute ihn anschauen konnten.

»Nicht zu fassen. Ist ja das reinste Sabberchen diesmal, ein richtiges Windelscheißerchen!« Sein Lachen klang wie das Schaben einer Brunnenkette, und als er den Jungen schüttelte, geschah es mit einer gehörigen Portion Roheit.

Gelwyn biß die Zähne zusammen. Als er klein gewesen war, hatte seine Amme ihm einmal ein Märchen erzählt. Daß sich Kindern, die wütend werden, garstige schwarze Teufelchen ins Herz schleichen, Kobolde, die ihnen Bosheiten ins Ohr flüstern und sie damit zu fürchterlichen Untaten verleiten. Nun begann Gelwyn sich zu fragen, ob diese Geschichte womöglich einen wahren Kern enthielt. Denn in seinem Herzen begann sich tatsächlich etwas zu regen, und es kam ihm fremd und schwarz und böse vor.

Der Lord ließ keine weiteren Grübeleien zu.

Er packte den Jungen an den gefesselten Händen, riß sie hoch und hielt sie in Richtung seiner Soldaten.

»Verpackt und verschnürt ist er schon. Ihr könnt ihn also aufs Pferd laden!« Lachend stieß er Gelwyn von sich.

Aber noch war es nicht vorbei. Die Soldaten schienen zu finden, daß sie mit ihrem Teil Spaß zu kurz gekommen waren. Einer von ihnen, ein dürrer, schnurrbärtiger Kerl mit einem vereiterten Auge, begann mit seinen Fingern in Gelwyns Gesicht herumzutatschen. »Sieht ja aus wie’n Mädchen, das«, höhnte er. Seine Sprache war undeutlich, und er stank aus dem Mund, als hätte er etwas mit den Zähnen. Vielleicht war er auch betrunken. Seine Kumpane lachten, und einer von ihnen machte eine Bemerkung, die Gelwyn nicht verstand.

Der Junge versuchte, von den Männern fortzukommen. Dabei stolperte er gegen jemanden, der hinter ihm stand. Der Kerl lachte, gab ihm eine Ohrfeige und dann einen Stoß, der ihn weitertaumeln und direkt in Lord Sraggs’ Arme zurücksinken ließ. Gelwyn ratschte sich das Handgelenk. Das war merkwürdig, denn er hatte nur den Arm des Lords berührt, und Sraggs war ein fleischiger, muskelbepackter Mann. Aber selbst wenn er so dürr wie sein stinkender Begleiter gewesen wäre, hätte man sich an seinen Knochen doch nicht gleich die Haut aufreißen dürfen.

Gelwyn starrte auf die Stelle, an der er sich verletzt hatte, und ihn überkroch eine Gänsehaut. Dort, wo eigentlich eine Hand hätte sein sollen, ragte nichts als ein lederner Klumpen aus dem Ärmel, fest und hart wie ein ausgestopfter Puppenkopf. Das steife Leder der Uniform schlenkerte darüber, als wäre es über einen Stock gestülpt.

Der Junge war so mit dem Anblick beschäftigt, daß ihm gar nicht auffiel, wie das Gegröle der Soldaten abflaute. Erst als es völlig verstummte, wurde er aufmerksam und blickte hoch. Jeder, Mensch wie Alb, schien plötzlich auf den Lederklumpen zu schauen, auf die künstliche Hand des Lords. Natürlich, Gelwyns Starren war wie ein leuchtender Richtungsweiser gewesen. Der junge fühlte, wie Sraggs’ Finger – die der gesunden Hand – sich in seine Schulter bohrten.

Lieber Himmel, was kann ich dafür, daß deine Hand nicht in Ordnung ist? fuhr es ihm durch den Kopf, während sich seine Muskeln verkrampften. Er begriff, daß der amputierte Arm für den Lord mehr als eine lästige Behinderung war. Und nun hatte er ihn und alle anderen an diesen Makel erinnert, und Sraggs schien durchaus nicht geneigt, solchen Frevel zu übergehen.

Die Hand des Lords löste sich, fuhr in Gelwyns Nackenhaar und riß das Gesicht des Jungen in die Höhe. Gelwyn blickte in ein Paar … Nein, Augen waren das nicht.

Eiskristalle.

Es kam ihm vor, als durchbohrten ihn zwei Eiskristalle. Nur daß es im Zentrum des Eises loderte und kochte von kaum beherrschter Wut. Gelwyn schluckte. Seine Blicke irrten von den Augen fort zu der fleischigen Nase des Lords und zu dem Grübchen, das das feiste Kinn teilte. Und dann zu den Haaren oder dorthin, wo die Haare hätten sein sollen, denn der Lord besaß nur noch wenige dünne Strähnen über einer Glatze. All diese Einzelheiten prägten sich Gelwyn ein, als hätte man sie mit einem glühenden Eisen in sein Gehirn gebrannt.

Er starrte auf den Mund, der sich jetzt spaltbreit öffnete, und stellte mit derselben überflüssigen Gründlichkeit fest, daß der Lord seine Zähne schwarz bemalt hatte. Mit angehaltenem Atem wartete er auf die Gemeinheit, die die schrecklichen Zähne über ihn ausspeien würden. Er duckte sich ein wenig und hob die Hände …

Aber da geschah etwas.

Es war so flüchtig und auch so unverständlich, daß der Junge es überhaupt nicht begriff. Lord Sraggs’ Blick fiel auf seine gefesselten Handgelenke. Er blieb darauf haften – und einen Moment lang, so kurz, daß es wahrscheinlich niemandem außer Gelwyn auffiel, versteifte sich der Körper des Menschen. Es war, als wäre er in einen plötzlichen Krampf gefallen. Der Mund mit den schwarzen Zähnen stand halb offen, die Gesichtsmuskeln erstarrten – nur die Augen verengten sich, bis sie zu dunklen Schlitzen wurden, so daß es aussah, als hätten die Augenbrauen Zwillinge bekommen. Das alles dauerte nur zwei, drei Sekunden, dann brach der Bann.

Der Mann ließ Gelwyn los und brüllte einen Befehl.

Sein Arm und sein Zorn und alles, was eben noch wichtig gewesen war, schien plötzlich vergessen. Mit heftigen Gebärden drängte er seine Männer, sich zu eilen, und als es ihm nicht schnell genug ging, bekam einer von ihnen seine Faust zu spüren.

Es war verrückt.

Was sollte das? Warum diese plötzliche Hetze? Gelwyn hatte keine Zeit, darüber nachzugrübeln. Sraggs’ Männer – der Schnurrbärtige und noch ein anderer – rissen ihn zur Tür, stießen ihn in den Hof zu den Pferden und beförderten ihn unsanft auf den Rücken eines knochigen Gauls. All das, und auch ihr Fortreiten, geschah so schnell, daß ihm nicht einmal Zeit für ein Wort des Abschieds an seinen Vater blieb.

Feindschaft

Gelwyn fühlte sich hundeelend. Sie hatten »vergessen«, ihm die Handfesseln zu lösen, aber das war es nicht, was ihn bedrückte. Es war auch nicht das halsbrecherische Tempo, mit dem sie die staubigen Waldwege entlangstürmten, und auch nicht die Hitze oder sein ausgedörrter Hals. Nein, Gelwyn Ardfynnan hatte Angst.

Er wußte nicht, was schiefgegangen war, aber er fühlte, daß etwas nicht stimmte. Dieser überhastete Aufbruch, die Eile, mit der sie die Straßen hinunterhetzten – was ergab das für einen Sinn? Sraggs hatte nicht einmal gewartet, bis Stork, der alte Reitknecht, der Gelwyn nach den Regeln des Vertrags begleiten durfte, sein Pferd aus dem Stall geholt hatte. Wäre Stork nicht ein so guter Reiter – womöglich hätte er die Menschen und seinen Herrn erst am Abend oder gar in Mahoonagh eingeholt.

Und wenn gerade das die Absicht des Lords gewesen war, der Grund für diese blödsinnige Hetze? Wenn es ihm nur darum gegangen war, sich mit einer kleinen Bosheit an Gelwyn Ardfynnan zu rächen? Nein, das allein konnte es nicht sein. Gelwyn spürte es. Irgend etwas … Sonderbares war im Audienzsaal geschehen.

Der Junge merkte, wie Stork sich zu ihm umdrehte, und lächelte verkrampft. Eigentlich war es überflüssig, sich den Kopf zu zerbrechen. Andern konnte er sowieso nichts. Seufzend entschloß er sich, den Lord und die Menschen und überhaupt alles, was mit seiner ungemütlichen Lage zusammenhing, aus seinen Gedanken zu verbannen.

Sie ritten bis tief in die Nacht hinein.

Gelwyn hatte sich eingebildet, gute Augen zu haben, aber als sie sich den Steinigen Kuppen näherten, die das Vorgebirge von Cloonee bildeten, konnte er den Weg nicht mehr von den Abhängen und Klippen trennen, und er mußte sich völlig auf sein Pferd verlassen, um nicht auszugleiten. Er war heilfroh, als der unermüdliche Lord endlich das Nachtlager ausrief.

Mit steifen Gliedern rutschte der junge aus dem Sattel, und da er sein Tier nicht versorgen konnte – sie hatten ihm noch immer nicht die Fesseln gelöst und schienen es auch nicht vorzuhaben –, zog er sich zu einem schwarzen Felsen zurück, wo er sich ins Gras sinken ließ.

Er war hundemüde. Seine Arme schmerzten von der unnatürlichen Haltung, sein Nacken war steif, und eigentlich wünschte er nichts mehr, als in Ruhe gelassen zu werden. Undeutlich erkannte er einen Teich, in dessen schwarzem Wasser sich das Mondlicht spiegelte. Die Männer begannen, die Pferde zu tränken. Sie sprachen nur noch wenig. Einige sammelten Holz für ein Feuer, und einige schlugen ein Zelt auf.

Gelwyn fuhr zusammen, als jemand seine Schulter berührte. »Ihr müßt etwas essen, mein lieber Herr«, hörte er Storks sanfte Albenstimme.

Stork. Er hatte ihn völlig vergessen und schämte sich ein bißchen dafür, denn abgesehen davon, daß er ein müder Junge war, war er auch noch der Sohn eines Königs, und Stork gehörte zu seinem Volk, und deshalb war er für Stork verantwortlich. Jedenfalls sah er das so, und er nahm an, daß sein Vater diese Auffassung teilte.

Aber im Augenblick war es Stork, der für ihn sorgte.

»Ich habe Pastete und Brot und ein paar Apfel in meinem Sack, und etwas davon werdet Ihr jetzt essen, mein Prinz, sonst fallt Ihr nämlich morgen vom Pferd. Lieber Himmel, sie reiten wie die Teufel, die sie auch sind!« Das letzte flüsterte Stork vorsichtshalber, und er ließ sich neben seinem Herrn im Gras nieder und rutschte dichter an ihn heran, als er es sonst wohl für schicklich gehalten hätte.

Gelwyn hatte keinen Hunger, er war viel zu müde und aufgewühlt. Aber er wollte den alten Mann auch nicht enttäuschen, und so begann er lustlos an dem Apfel zu kauen, den Stork ihm in die Hände legte.

Sraggs’ Männer waren mit dem Zelt fertig. Nun begannen sie, Feuersteine aneinanderzuschlagen, um ein Lagerfeuer zu entzünden. Die Flammen züngelten und vertrieben die Dunkelheit, und auch wenn die Wärme nicht bis zu Gelwyns Felsen reichte, war er doch froh darüber. Er ließ die Apfelkippe aus den Fingern fallen und schloß die Augen.

Die Stimmen der Soldaten wurden leiser. Merkwürdig, wie kantig ihre Sprache klingt, dachte Gelwyn schläfrig. Als hätten sie Kiesel im Rachen, die beim Sprechen aneinanderschabten. Er versuchte sich vorzustellen, wie es wäre, mit einem Mund voller Kiesel zu sprechen.

»Herr!« Stork berührte ihn am Arm. »Ich denke, Ihr solltet versuchen, ihnen aus dem Weg zu gehen.«

»Was?« Gelwyn war schon fast am Schlafen.

»Es … sind merkwürdige Leute. Mir ist nicht wohl, wenn ich sie beobachte. Ich … was soll ich sagen … Sie lieben Euch nicht, mein Herr.«

Gelwyn brummelte etwas. Vermutlich wäre er jetzt endgültig eingenickt, wenn Stork ihn nicht plötzlich gekniffen hätte. »Sie kommen, Herr. Zu uns herüber.«

Von einer Sekunde zur anderen war Gelwyn wieder hellwach. Mit zusammengekniffenen Augen schaute er zum Feuer. Tatsächlich. Da hatten sich vier oder fünf Gestalten zusammengetan und kamen zum Felsen. Einer von ihnen, der größte, der sie alle um einen Kopf überragte, war zweifellos Lord Sraggs.

Der Junge spürte, wie sein Herz zu rasen begann. Sein Mut verflog. Plötzlich mußte er wieder daran denken, wie der Lord ihn angesehen hatte – in jenen merkwürdigen Sekunden vor ihrem überstürzten Aufbruch. Und auf einmal hatte er auch einen Namen für das, was in den kalten Augen gebrannt hatte: Haß.

Mühsam erhob er sich auf die Füße.

Der Lord brachte drei Männer mit sich. Gelwyn hatte sie nicht unter den Soldaten gesehen, und sie trugen auch keine Uniform. Sie mußten hier am Felsen zu ihnen gestoßen sein. Um ihre Körper flatterten schwarze Kutten, und ihre Gesichter waren von Kapuzen bedeckt, als wäre selbst das fahle Mondlicht zu grell für das, was der Stoff verbarg. Sie waren unheimlich. Wenn Gelwyn nicht den Fels hinter sich gehabt hätte, wäre er zweifellos vor ihnen zurückgewichen.

Die Kapuzenmänner kamen heran und drängten sich um ihn, wobei es sie nicht störte, daß sie den armen Stork zu Boden stießen. Dann machten sie Platz für ihren Herrn. Sraggs’ kahler Schädel glänzte wie ein beleuchteter Kürbis zwischen den schwarzen Kapuzen, aber es sah überhaupt nicht komisch aus. Und auch was er tat, war nicht komisch.

Er packte mit seiner gesunden Hand Gelwyns Fesseln und hob sie hoch. Dabei sagte er kein einziges Wort, als wären sie über diesen Bereich der Höflichkeit schon hinaus. Einer der schwarzen Männer hob seine Fackel in den Kreis. Sraggs verdrehte Gelwyns Handgelenke, so daß die oberen Knöchel in den Lichtkreis tauchten. Gesprochen wurde noch immer nicht. Der Lord beugte sich vor, und seine schwarzen Begleiter reckten stumm ihre Hälse. Sie starrten Gelwyns Hände an, als wären sie eine Monstrosität.

Die Stille war peinlich, und der Geruch, der von den schwarzen Kutten ausströmte, abstoßend. Und überhaupt, was sollte das alles? Flüssiges Wachs tropfte auf Gelwyns Haut. Sein verdrehter Arm begann ihn zu schmerzen, und schließlich sagte er in einem Versuch zu witzeln:

»Bei uns nennt man es Hanf. Es wird auf Äckern geern…«

Er kam nicht weiter. Sraggs’ Kopf schoß in die Höhe, und im nächsten Moment, ohne irgendeine Warnung oder Begründung, ließ er Gelwyns Hände fahren, und sein eisenbesetzter Handschuh schoß dem Jungen direkt auf den Mund.

Gelwyn schrie nicht, aber er taumelte zurück.

Blut schoß ihm übers Kinn und füllte seinen Rachen, und er war vor Schmerz und Überraschung wie benebelt. Bäume, Pferde, Männer, der runde, kalte Mond – alles schien sich in einem Funkenkreis zu drehen. Irgendwo in diesem Durcheinander sah er Stork, wie er die Fäuste ballte. Er hörte Sraggs auflachen und sah seine schwarzen Zähne grinsen. Der Anblick der Zähne, das Raubtiermaul, das sich so offensichtlich freute, gab ihm eine gräßliche Befürchtung ein. Verzweifelt gab er seinem Taumeln einen Dreh und brachte sich zwischen den Alben und den Menschenlord.

»Komm, Stork«, murmelte er, Blut im Mund und auf den Lippen, während er den Alten zur Seite drängte. »Kümmere dich nicht. Laß sie. Es ist nicht wichtig. Geh schon …«

Stork berührte ihn am Arm, zitternd vor Empörung, fest entschlossen, nicht zu weichen, aber zumindest ließ er die Fäuste sinken. Und das rettete ihm wahrscheinlich das Leben. Der Lord schnaubte verärgert, seine Blicke schweiften zu den Soldaten. Er schwankte und wog ab. Schließlich zuckte er die Achseln. »Gib deine Hände, Bengel!«

Gelwyn trat auf den Einarmigen zu. Steif wie ein Stock wartete er, während Lord Sraggs mit seinem Messer die Hanfstricke durchtrennte. Das Blut brannte in seinen Adern, aber er war zu aufgeregt, um darauf zu achten. Ihm fielen mindestens ein Dutzend Gemeinheiten ein, die der Lord ihm antun konnte. Vorsichtig, das Messer nicht aus den Augen lassend, fuhr er sich mit dem Handrücken über den Mund. Aber die Waffe verschwand in Sraggs’ Gürtel. Der Lord bellte etwas in die Dunkelheit, was Gelwyn vor lauter Herzklopfen nicht verstand, dann warteten sie. Einer der Soldaten, die beim Feuer gesessen hatten, war aufgesprungen und rannte zum Ufer des Teiches, wo ihre Pferde grasten. Augenblicke später kam er zu seinem Herrn. In seiner schmutzigen Klaue lagen dünne, tropfnasse Lederstreifen.

»Mistkerl«, entfuhr es Gelwyn. Er konnte nichts dafür, es rutschte ihm einfach heraus. Da stand ein Mann, doppelt so stark wie er, und wollte ihm auf gemeinste Weise Schmerzen zufügen. Einfach so, für nichts. Mit brennenden Augen sah er zu, wie Sraggs ihm das Leder um die Gelenke wickelte. Es wurde ein solides Band daraus, das vom Daumen bis über das skarabäusförmige Feuermal auf seinem Handgelenk reichte und so stramm saß, daß es keinerlei Bewegung mehr erlaubte. Der Lord schnürte einen kräftigen Knoten und sah auf.

»Vielleicht«, sagte er mit einem Hohnglitzern, »tut dein wackerer Knecht uns beiden ja einen Gefallen und versucht, das hier zu lösen?«

Gelwyn schwieg. Aber in seinem Herzen ging es böse zu. Die schwarzen Teufelchen tanzten einen Reigen aus Haß und Zorn, der ihm selber angst machte. Er war froh, als der Lord mit seinen Männern endlich ging.

»Gelwyn, o mein Herr!« Storks Augen schwammen in Tränen. »Sie … hätten Euch einen Stärkeren mitgeben sollen als mich. Ich bin ein alter Mann. Und der Mensch, dieser Lord – er haßt Euch. Mit all seiner Seele. Was sollen wir nur tun?«

Nichts, dachte Gelwyn bitter. Wir können überhaupt nichts tun.

Die Audienz

Der Weg nach Mahoonagh führte durch das halbe Clooneegebirge, und zwar durch seinen scheußlichsten Teil, wenn man denen glauben wollte, die sich auskannten. Aber es war der schnellste Weg und außerdem der sicherste, da er durch Militärstationen bewacht wurde, und deshalb hatte Lord Sraggs ihn gewählt.

Gelwyn wußte das nicht, aber wenn er es gewußt hätte, wäre es ihm gleich gewesen. Er war wirr vor Schmerzen und so müde, daß er auf dem Pferderücken schwankte und die Männer vor sich doppelt sah. Sie hätten auf den Mond reiten können, ohne daß er protestiert oder es überhaupt gemerkt hätte.

Ihr Ritt führte über kahle, steinige Serpentinen, die so schmal waren, daß es eine Bergziege schwindlig gemacht hätte, über unwegsame Pässe und durch baumlose Gerölltäler, und wenn er einen seiner klaren Augenblicke hatte, dachte er, wie schrecklich dieses Land war und daß es vielleicht gar nicht so schlimm wäre, wenn er vom Pferd stürzen und sich den Hals brechen würde.

Aber irgendwann tauchte hinter einer Schlucht die Stadt Mahoonagh auf, und als sein stumpfer Verstand es begriff, regte sich wieder ein Funke Lebensglut. Bei der Mittagsrast schnitt ihm der Lord die Lederriemen aus dem entzündeten Fleisch, das sicherste Zeichen, daß sie sich dem Ziel ihrer Reise näherten. Zwei Stunden später erklommen sie ein grasbewachsenes Plateau.

Die Menschenstadt lag vor ihnen.

Gelwyn blieb fast die Luft weg, als er das Ungetüm aus Mauern und Dächern erblickte, und einen Moment lang vergaß er sogar seine Schmerzen. Er hatte gewußt, daß Ezzons Stadt größer als Ardfynnan war, aber dies hier war – gigantisch. Steinmauern so hoch, daß man sich den Hals verrenken mußte, um ihre Zinnen zu betrachten. Tore, als wären sie für Riesen gebaut. Die Männer, die auf den Wehrgängen jenseits der Mauer Wache schoben, sahen winzig wie Puppen aus. Ein einzelner Stein in der Mauer war so hoch wie der Junge selbst – inklusive Pferd. Mit einem Mal begriff Gelwyn – gründlicher als durch jedes gesprochene Wort –, warum sein Volk Geiseln zu den Menschen sandte und warum sein Vater ihn um Wohlverhalten gebeten hatte: Nichts und niemand auf der Welt war der Macht von Mahoonagh gewachsen.

Diese Erkenntnis hätte ihn erschlagen, wenn er nicht so erschöpft gewesen wäre. Jetzt nahm er sie einfach als Tatsache hin, so wie die Schmerzen und sein ungeduldiges Pferd und alles andere, was ihn plagte.

Soldaten strömten aus dem Haupttor und liefen ihnen entgegen. Natürlich brüllten und kreischten sie. Es schien die den Menschen angeborene Form der Unterhaltung zu sein. Scherzworte flogen hin und her, und auf einmal fand Gelwyn sich von Männern umgeben. Sie nahmen ihn zwischen sich und führten ihn durch das Tunnelgewölbe des Stadttores.

Sekundenlang hörte man nur das Trappeln der Pferdehufe.

Dann verließen sie den Schatten – und im nächsten Moment brandete Geschrei auf, ein Geheul und Gejohle, das Gelwyn erschrocken den Kopf hochreißen und in seinem Sattel erstarren ließ.

Er hatte gewußt, daß sie erwartet wurden. Immer wenn sie einen Wachturm passiert hatten, waren Tauben in den Himmel gestoßen. Aber das hier? Was sollte dieses Höllenspektakel? Ganz Mahoonagh schien sich auf die Straßen gestürzt zu haben, entschlossen, die Stadt in ein Irrenhaus zu verwandeln. Vor den Fachwerkhäusern und in den Schlüpfen dazwischen drängten sich Menschen, so dicht, daß nicht einmal ein Apfel hätte zu Boden fallen können. Kleine halbnackte Jungen ritten auf den Schultern der Erwachsenen und brüllten und drohten mit den Fäusten. Aus den Fenstern hingen Weiber, die einander Bemerkungen zukreischten. Betrunkene grölten, jemand übergab sich direkt neben Gelwyn in den Rinnstein.

Plötzlich tauchte ein Schatten hinter dem Jungen auf. Lord Sraggs beugte sich zu ihm, schrie etwas, das in dem allgemeinen Getöse unterging, und stieß ihm die Faust in den Rücken. Benommen ließ der Albenprinz sein Pferd wieder antraben.

An das, was folgte, konnte er sich später nur noch bruchstückhaft erinnern, aber es kam ihm vor wie ein Alptraum. Zerlumpte Menschen drängten sich um sein Pferd, sie rissen an seinen Kleidern, schnappten nach seinen Beinen und brüllten seinen Namen, und einige warfen mit faulem Gemüse. Er mußte sich in die Mähne seines Pferdes klammern, um nicht hinabgezogen zu werden.

Wenn er nicht so müde gewesen wäre – inzwischen war er dankbar, daß er es war, denn die Müdigkeit hüllte ihn wie in einen unsichtbaren Mantel –, dann hätte er wahrscheinlich nach ihnen getreten oder sonst etwas Fürchterliches getan, was ihn und sein Volk um Kopf und Kragen gebracht hätte.

Irgendwann wurde ihm klar, daß nicht alle Rufe unfreundlich gemeint sein konnten. Eine Frau streckte ihm einen Säugling entgegen – er sah in verklebte, eitrige Augen –, und eine andere wies mit erbärmlichem Gegreine auf einen blaugrün geschwollenen Handstumpf. Seine Vorgänger, ging ihm auf, schienen es für richtig befunden zu haben, sich in Mahoonagh nützlich zu machen. Aber Heilung war Magie und somit verboten. Und selbst wenn sie nicht verboten gewesen wäre, hätte Gelwyn nichts mit der kreischenden Meute zu tun haben wollen. Ihm war schlecht vor Abneigung und Müdigkeit, und alles, was er sich wünschte, war, endlich von ihnen erlöst zu werden.

Als sie auf eine gewölbte Brücke kamen, drehte er sich im Sattel um. Von Stork war nichts zu sehen. Aber Sraggs ließ ihm auch keine Zeit zum Suchen. Seine Reitgerte sauste Gelwyns Pferd auf die Hinterkuppe, daß es mit einem Satz vorwärtssprang.

Die Brücke mußte eine Art Grenze darstellen, denn dahinter wurde es ruhiger, und gleich darauf passierten sie ein Eichentor und ritten in einen gepflasterten Hof ein. Die Burg von Mahoonagh, König Ezzons Wohnsitz. Menschen in eleganten, bunten Kleidern standen beieinander und schwatzen. Männer strömten aus den Türen, und alle füllten die Luft mit einem Stimmengesumm wie ein Wespenschwarm. Jemand trat zu Gelwyns Pferd, und hilfreiche Hände – tatsächlich, ausnahmsweise wollte ihm einmal niemand wehtun – griffen unter seine Arme und hoben ihn aus dem Sattel. Dann war da plötzlich ein rundlicher Mann mit einem Pfannkuchengesicht und kurzen, strohgelben Haaren, der auf ihn einredete und sich, als der Junge nicht reagierte, bei ihm unterhakte. Gemeinsam durchschritten sie endlose Gänge und Höfe und Steintreppen. Schließlich erreichten sie ein Turmzimmerchen, und dort ließ der Pfannkuchen Gelwyn los.

Der Junge sah sich um.

Es war ein rundes, winziges Zimmerchen, die Wände und den Boden hatte man mit Webteppichen bedeckt. Wollene Häkeldecken lagen auf den beiden Betten, die an den Wänden standen. Auf einem Hocker dampfte in einer Schüssel heißes Wasser, daneben stapelten sich Handtücher und saubere Kleider.

»Wollt Ihr etwas essen, Herr?«

Gelwyn schüttelte den Kopf. Sein Magen fühlte sich an wie ausgewrungen. Sehnsüchtig schielte er nach dem Bett. Der Pfannkuchenmann murmelte etwas – was konnte Gelwyn nicht verstehen, er war zu müde, um sich auf die Menschensprache zu konzentrieren –, dann klopfte der Fremde ihm auf die Schulter und ließ ihn endlich allein. Gelwyn streifte die schmutzigen Sandalen ab, legte sich bäuchlings auf eines der Betten, zog sich eine Decke über den Kopf, und ohne noch etwas zu tun oder zu denken, schlief er ein.

Es war Nacht, als man ihn weckte.

Der Pfannkuchenmann war zurückgekehrt. Er hielt eine Öllampe über Gelwyns Gesicht, die er an einen Haken hängte, als er merkte, daß der Junge erwacht war, und zog ihn zum Sitzen hoch. Unter einem Schwall von Worten drängte er ihm Tücher und Seife auf und schob ihn zu der Waschschüssel.

»Wo ist Stork?« murmelte Gelwyn, während er sich, noch immer nicht ganz munter, das Hemd über den Kopf streifte.

»Ihr hattet einen Begleiter?« Der Mann schüttete aus einer Zinnkanne kochendes Wasser in die Schüssel. »Vermutlich haben sie ihn im Dienstbotentrakt untergebracht. Keine Sorge, junger Herr, er wird bald wieder bei Euch sein. Darf ich Euch helfen? Nein? Auch gut. Wenn Ihr Euch nur beeilen könntet – unser Gebieter wartet nicht gern.«

»König Ezzon will mich sehen?«

»O ja. Und wenn Ihr Euch nicht sputet, mein lieber junger Herr, dann werdet Ihr feststellen, daß Warten nicht zu seinen Lieblingsbeschäftigungen gehört.« Der Mann kramte in Gelwyns Sack und zog eines der weißen Hemden und eine wollene Hose heraus. »Unser Herr ist gut und gerecht«, fuhr er im Plauderton fort, »aber wenn man ihn reizt, kann das übel ausgehen.« Er glättete mit seinen Händen notdürftig, was Gelwyn so gleichgültig zusammengestopft hatte, und reichte es an den Jungen weiter. »Glücklicherweise hat Euer Volk ja ein sanftes und verträgliches Temperament – Vorsicht, hier am Ärmel sind noch ein paar Knöpfe. Sprecht respektvoll mit ihm und verbeugt Euch oft und artig, dann kann nichts schiefgehen. Eure Haare …«

Im Schein der Öllampe betrachtete Gelwyn sich in einem Spiegel. Seine schwarzen Haare hingen kraus und wirr um sein Gesicht. Er fuhr mit dem Finger über die Lippen. Lord Sraggs’ Liebesgruß war noch deutlich sichtbar. Erbittert langte er nach der Bürste, die der Mensch ihm reichte, und zog sie mit ruppigen Bewegungen durch das Haar. Sein Vater und die Geisel, die vor ihm hier gelebt hatte, und auch dieser Pfannkuchendiener hatten gesagt, König Ezzon sei gerecht. Nun, vielleicht, wer konnte das wissen, würde der Herr von Mahoonagh sich dafür interessieren, wie seine Geisel zu dieser Verzierung gekommen war.

König Ezzon würde sich nicht interessieren.

Das wußte Gelwyn schon, noch ehe er den düsteren Steinsaal, der dem König als Empfangsraum diente, zur Hälfte durchschritten hatte. Es war dunkel, aber Fackeln und ein deckenhoher Kamin erleuchteten den hinteren Teil des Raumes. Und man hätte blind sein müssen, um zu übersehen, daß der Herrscher von Mahoonagh sich in übelster Laune befand. Sein hageres Gesicht war verkniffen, die Fäuste um die Lehnen des schwarzeisernen Throns gekrallt. Vor ihm kauerte ein Mann, der aus der Nase blutete. Und wenn das nicht gereicht hätte, um Gelwyn die rauhe Tonart dieser Audienz begreiflich zu machen, dann brauchte er nur in das Gesicht Lords Sraggs’ zu blicken, um zu verstehen. Sein alter Feind wartete neben dem König und blickte ihm mit unverhohlenem Triumph entgegen.

Gelwyn lächelte spröde.

Wenigstens die artigen Verbeugungen würde er sich also sparen können: Die Katze war bereits ins Wasser gefallen. Auf krankhafte Art bereitete ihm das sogar Vergnügen. Sie hatten König Aldwins Sohn als Geisel verlangt? Bitte, er war gekommen. Und mehr hatten sie von ihm nicht zu erwarten. Er war der Prinz eines unterworfenen Landes, aber doch immer noch ein Prinz.

Mit steifen Schultern durchschritt er die Menge der raunenden Menschen – irgendwie erinnerte alles ein bißchen an Ardfynnan –, bis er wenige Schritt vor dem Thron stehenblieb. Er hob das Kinn, blickte geradewegs in das erzürnte Gesicht des Menschenkönigs und wartete.

»Ihr seid also Gelwyn Ardfynnan?« Die Worte kamen leise und ausdruckslos, aber für Gelwyns feines Ohr klangen sie wie Wolfsgeknurr.

»Ja.« Er nickte und zwang sich, deutlich zu sprechen und den Blick keinen Fingerbreit zu senken. Aber auch wirklich nicht ums kleinste bißchen.

Das Getuschel in seinem Rücken verstummte, und Gelwyn sah, wie die Lippen des Menschenkönigs schmal wurden und sein Blick auf unangenehme Art persönlich. Der eiserne Mann beugte sich vor und musterte den Jungen. »Und, mein lieber Prinz«, fragte er mit trügerischer Sanftheit, »hat man Euch in Eurer Kinderstube, der Ihr ja kaum entwachsen zu sein scheint, nicht beigebracht, vor Eurem Herrscher zu knien?«

Gelwyn schoß das Blut ins Gesicht. Er spürte, wie seine Glieder steif wurden und wie etwas in jenem Eckchen, das seine Gefühle beherbergte, aus den Fugen geriet. »Doch, König Ezzon«, erwiderte er. »Das hat man.«

Er war nicht dumm. Er wußte, was es bedeutete, daß er nun stehenblieb, mit starrem Nacken, trotzig und widerborstig, dem König zum Hohn. Er wußte, daß es kindisch war und gefährlich und nicht im geringsten das, was man in Ardfynnan von ihm erwartete. Tatsächlich hatte er das Gefühl, daß sie ihn dort schütteln würden, wenn sie von seinem Verhalten wüßten.

Aber er konnte nicht anders.

Die Menschen hatten ihn verletzt. Sie hatten ihn bis ins Herz gedemütigt. Sie hatten es fertiggebracht, daß er sich fühlte wie ein geprügelter Hund. Und wenn sie nun Gräben auftun wollten und Feindschaften begründen – dann war es ihm nur recht. Und deshalb hielt er dem eisigen Blick stand, ohne sich weiter zu äußern oder zu rühren.

Das Schweigen stand im Raum und dehnte sich auf fürchterliche Länge. Schließlich war es Sraggs, der es mit einem Hüsteln brach. »Wie ich schon sagte, mein König, ein arrogantes, kleines…«

Eine herrische Gebärde brachte den Lord zum Schweigen. Ezzon stand auf. Wenige lange Schritte brachten ihn die Stufen hinab zu dem Albenprinzen, und er packte ihn ums Kinn.

»Hör zu, Bürschchen …« Seine Worte kamen mit kalter Präzision und waren bis in den letzten Winkel des Saales zu verstehen. »Du hast Mut, und das schätze ich. Aber dein Mut hat einen Bruder mit Namen Stolz. Und der kommt mir übel hoch. Wenn du Wert darauf legst, Albenprinz, hier zehn ungeschorene Jahre zu verbringen – dann sieh zu, daß du Demut lernst und Gehorsam und die Bescheidenheit, die dir gebührt.« Die Hand schloß sich fester. »Du wirst einmal im Monat vor mir erscheinen, damit ich mich von deiner Unversehrtheit überzeugen kann. In der übrigen Zeit möchte ich von dir nichts zu sehen und vor allen Dingen nichts zu hören bekommen. Hast du das verstanden?«

Gelwyn versuchte zu nicken und sagte: »Ja.«

Er begriff, daß es glimpflich abgegangen war – warum auch immer. Die Spannung fiel von ihm ab, und plötzlich begannen seine Knie und die Hände zu zittern. Er war froh, als der König von ihm abließ und sich wieder zum Thron wandte.

Aber da war noch etwas. »Ich … vermisse meinen Begleiter, Stork.«

Ezzon reagierte nicht. Es war wieder Sraggs, der für den König antwortete. »Unser Herrscher«, erklärte der Lord mit einer Stimme, die vor Gehässigkeit vibrierte, »hat es in seiner Weisheit für richtig befunden, Euren Knecht heimzusenden, Prinz Gelwyn – nachdem ich ihm berichtet habe, welch bedauerlichen Einfluß dieser aufsässige Mann auf ein empfängliches Jungengemüt hat …«

Das also war es gewesen. Daher Sraggs’ Lächeln, daher König Ezzons Zorn.

Gelwyn merkte, wie ihm nun doch das Wasser in die Augen stieg. Es war nicht gerecht. Es war einfach nicht gerecht. Er hatte überhaupt nichts Böses getan. Aber er wußte, daß König Ezzon seine Anordnung nicht zurücknehmen würde. Er konnte es gar nicht, nach dem, was eben geschehen war. Sraggs hatte seine Pläne mit der Raffinesse einer Spinne gewoben, und Gelwyn war ihm bereitwillig ins Netz gefolgt. Und nichts auf der Welt würde daran noch etwas ändern. Gewaltsam drängte er die Tränen zurück.

»Mein Herr, würdet Ihr mir erlauben … kann ich mich von Stork verabschieden?«

Ezzons Miene war gleichgültig. »Der Mann ist bereits fort«, erklärte er knapp. Und damit schien das Gespräch beendet. Gelwyn fühlte ein Ziehen am Jackenärmel – das Pfannkuchengesicht – und drehte sich mechanisch herum. Da sprach der König aber doch noch einmal.

»Ich habe deinen Custos ausgesucht«, sagte er. »Es wird, deinem Stand entsprechend, mein Neffe Morton von Blexhill sein.«

Gelwyn hatte nicht die geringste Ahnung, was ein Custos war. Es interessierte ihn auch nicht. Stork war fort, und damit war es genug für heute. Er verbeugte sich und stapfte mit schweren Schritten aus dem Raum.

Morton

»Ich habe es gewußt!«

Etwas Schweres knallte zu Boden, und Gelwyn schreckte aus seinem Traum. Es war ein unangenehmer Traum gewesen –über aufgerissene Münder, in denen schwarze Zähne steckten –, und eigentlich war er gar nicht traurig, daraus erlöst zu werden. Er war total verschwitzt und merkte, daß seine Finger um die Zipfel seines Kissen gekrallt und seine Augen feucht waren und daß er atmete wie ein Schnelläufer. Dann wurde ihm klar, daß jemand etwas gesagt hatte.

Verwirrt versuchte er sich im Halbdunkel seines Zimmers zu orientieren.

Ein fremder Junge – eigentlich schon fast ein Mann, älter jedenfalls als Gelwyn – marschierte durch den Raum. Er riß die hölzernen Fensterläden auf, knallte sie gegen die Steinmauer und hängte sich über den Sims. Der Junge war groß, bestimmt einen Kopf größer als Gelwyn, und die nackten Arme, die aus seinem ärmellosen Hemd hervorschauten, so muskulös, daß Gelwyn überzeugt war, der Fremde könnte ihm mit einem Griff das Handgelenk brechen.

Aber fürs erste schien er nichts dergleichen im Sinn zu haben. Er drehte sich um, betrachtete Gelwyn – nicht gerade mit Begeisterung, aber auch nicht mit Zorn –, kreuzte die beängstigenden Arme über der Brust und knurrte mit einem Blick durchs Zimmer:

»Jedenfalls haben sie uns das dreckigste Loch gegeben, das sie finden konnten. Und so klein, daß du dich beim Husten in der eigenen Spucke duschst! Hast du gesehen, ob es hier Ratten gibt?«

Gelwyn starrte ihn an. Es war noch früh, draußen ging gerade die Sonne auf. Er war in Mahoonagh und hatte vor dem König gestanden, erinnerte er sich. Und man hatte ihm gesagt, daß Stork nach Ardfynnan zurückgeschickt worden war.

Er ließ sich auf die Kissen zurücksinken.

Allein.

Er war vollkommen allein in dieser entsetzlichen Stadt. Allein, für die nächsten zehn Jahre. Der Gedanke war so trostlos, daß er sich am liebsten wieder die Decke über die Ohren gezogen hätte.

»He, Mann, hast du die Sprache verloren? Ob es Ratten gibt, hab’ ich gefragt. Interessiert dich wohl gar nicht, was?« Der Junge gab dem Bett, das auf der anderen Seite des Zimmers stand, einen Tritt. »Jedenfalls schlafe ich nicht auf diesem Strohhaufen hier!«

»Das«, sagte Gelwyn leise, »ist die erste gute Nachricht, seit ich angekommen bin. Laß dich bitte nicht aufhalten auf der Suche nach etwas Besserem.«

»Ein Witzbold, was?« Der Junge kratzte sich die flachsfarbenen Locken, stieß die Waschschüssel vom Hocker und ließ sich darauf nieder. Er rekelte seine langen Glieder. »Kannst du wenigstens fechten? Und reiten?«

Gelwyn antwortete nicht. Ein vager – und böser – Verdacht beschlich ihn.

»Du wirst dich doch hoffentlich nicht in den Siechenhäusern herumtreiben wollen, wie der Alte, der vor dir da war?« fuhr der Fremde fort zu fragen. »Wenn du das vorhast …«

»Wer bist du?«

»Wer ich bin, Mann?« Der Junge starrte ihn an, erhob sich und machte eine spöttische Verbeugung. »Mit Verlaub: Morton Blexhill, Neffe König Ezzons, und für die nächsten zehn Jahre mit dem Vorrecht ausgestattet, Eurer fürstlichen Hoheit aus dem allerfürstlichsten Königshaus Ardfynnan der allerallerfürstlichsten Alben …«

Vielleicht war der Spott nicht bös gemeint, aber er traf einen empfindlichen Nerv. »Verschwinde!« fauchte Gelwyn.

»O bitte!« Der ersten Verneigung folgte eine zweite. »Sofort, mein Herr, wie der Blitz, wenn es nur irgendwie möglich wäre …«

»Ich sage, du sollst …«

»Mann! Hast du es denn immer noch nicht kapiert? Ich bin Morton. Ich bin dein Custos!«

Gelwyn starrte den Jungen an, und wahrscheinlich machte er dabei ein reichlich dummes Gesicht, denn der andere verdrehte die Augen und stöhnte. »Sie haben es dir nicht gesagt! Stimmt’s? Ich verwette meinen Hals darauf. Haben sie dir überhaupt etwas erklärt?«

Die Antwort mußte ausbleiben, und Morton ließ sich auf das Bett fallen. »Ich bin«, erklärte er mit Grabesstimme, aus der echte Verzweiflung klang, »für die nächsten zehn Jahre dein Wächter, mein Prinz. Dein Schatten. Und du tätest gut daran, mich zu lieben. Denn in diesen zehn Jahren wirst du nicht eine Sekunde mehr ohne mich sein. Ich werde mit dir essen, ich werde mit dir trinken, mit dir schlafen und mit dir pinkeln gehen. Zehn verdammte lange Jahre werde ich dir in den Hacken stehen und achtgeben, daß du dich in deinem verfluchten Waschnapf nicht ersäufst und dir beim Nasebohren nicht den …«

Gelwyn sprang vom Bett auf, langte nach seiner Jacke, die irgend jemand gewaschen und vom Blut gereinigt hatte, und öffnete die Tür. Seine Vorstellung von der Lage seines Zimmers war vage, aber erst einmal konnte er sowieso nur die gewundene Steintreppe hinab.

»Wo willst du hin? He!«

Er hörte nicht zu, sondern hastete die Stufen hinab. Sein Zimmer mußte in der Spitze eines der Türme liegen. Durch die kleinen Fensterschlitze konnte er auf die Dächer der Stadt blicken.

»Na, komm schon …« Morton hatte lange Beine und war bald hinter ihm. »Was soll denn dieser Blödsinn? Wir haben noch nicht einmal gefrühstückt. Und … au, verfl…!« Der Junge hatte eine Steinstrebe übersehen und sich den Schädel gerammt. »Schön! Du willst spazierengehen, also gehen wir spazieren. Wer bin ich denn schon, außer ein armes Schwein, das jeder nach Belieben treten darf. Kümmere dich gar nicht um mich …«

Der Treppenschacht endete an einer Holztür, die auf einen Innenhof führte. Ein Ziehbrunnen stand in der Mitte, und in einem Eckchen war ein Kräutergarten mit Thymian, Lorbeer, Petersilie und Zwiebeln angelegt. Gelwyn konnte sich an nichts erinnern.

»Gibt es Pferde?« fragte er.

»Was denkst denn du? Einen ganzen Stall voll.« Morton wurde listig. »Aber nicht vor dem Essen. Hinterher zeige ich dir, was du willst, aber erst will ich …«

Gelwyn umrundete ein Türmchen und fand eine Außentreppe, die in einen tiefer gelegenen Hof führte.

»Du bist verrückt. Hier gibt’s nur zweimal am Tag was in den Hals. Vielleicht macht dir das nichts aus, aber ich bin … O Mist, verdammter!« Morton folgte ihm die Stufen hinab. »Wenn wir hier weitergehen, landen wir beim Gesinde. Was hast du vor? Kessel schrubben? So hör doch endlich mal zu …«

Gelwyns lästiger Begleiter hatte recht. Der Hof, in den sie gelangten, war schmutzig, und aus der einzigen geöffneten Türe roch es, als würde Seife gekocht.

»Junge, das bringt uns doch beiden nichts.« Morton hielt ihn am Arm fest und versuchte es vernünftig. »Ich mach’ dir einen Vorschlag. Ich zeige dir die Ställe, aber vorher holen wir uns noch Kümmelbrot, Fleisch und etwas zu trinken.«

Gelwyn zögerte.

»Meinetwegen können wir dann den ganzen Tag reiten. So lange, bis dir der Hintern in Flammen steht.«

»Ich kann reiten, wohin ich will?«

»Ja doch. Jedenfalls solange du abends pünktlich in die Burg zurückkehrst.«

Gelwyn nickte. »In Ordnung.«

Mit einem Aufatmen machte der Flachshaarige sich auf den Rückweg.

Das Nachgeben hatte sich gelohnt.

Es standen tatsächlich Dutzende von Pferden in König Ezzons Stall. Gute Pferde sogar, unter denen sie nahezu unbeschränkt auswählen durften. Gelwyn nahm sich einen Fuchs –Sattel und Zaumzeug lehnte er ab –, schwang sich auf den Pferderücken und folgte seinem Begleiter durch die glücklicherweise fast leeren Straßen von Mahoonagh zum Südtor. Und dann, als sie die Mauern hinter sich gelassen hatten, kam die Überraschung.

Irgendwie war Gelwyn immer davon ausgegangen, daß das Umland von Mahoonagh aus nichts als Steinen und Schluchten bestand. Nun entdeckte er bezaubert, daß sich hinter den Südmauern der Stadt meilenweit hügeliges Grünland erstreckte. Nicht so eine verschwenderische Blütenpracht wie in Ardfynnan, aber doch immerhin Wiesen, über die man reiten und laufen konnte, und weiter hinten sogar kleine Wälder und ein See.

Gelwyn preßte die Knie an die Flanken seines Pferdes und stürmte den Weg hinunter. Es war wärmer als in den vergangenen Tagen und die Luft seidenweich. Seine Haare flatterten und wurden ihm aus der Stirn geblasen, und er hatte, verflixt, zum ersten Mal seit Tagen das Gefühl, wieder zu leben.

In seinem Rücken hörte er Morton fluchen. Er grinste. Sein Custos schien kein übler Reiter zu sein – gemessen an den Menschen, versteht sich –, aber gegen einen Alben hatte er keine Chance. Gelwyn ahnte, daß ihn das wurmen würde. Und gerade deshalb – und obwohl er wußte, daß es weder fair noch besonders nett war – beugte er sich über den Pferdehals, flüsterte seinem Fuchs übermütige Zauberworte in die Ohren und sorgte dafür, daß er über die Wiesen stob, bis Morton hoffnungslos zurückgeblieben war.

Sie ritten über eine Hügelkuppe, erklommen eine zweite, höhere, und noch immer stürzte das Land nicht in die Tiefe. Im Osten glänzten Weizen- und Gemüsefelder auf, ein Dorf schmiegte sich gemütlich in eine Hügelwelle. Die Sonne strahlte, und das Leben war wunderbar. Gelwyn sah einige Männer mit einem Pferdkarren über die Wiesen heranrücken. Er änderte die Richtung und hielt nun direkt auf den See zu. Mortons Geschrei war schon lange verstummt, und wenn sein Custos nicht die Bauern befragte, würde er seine Geisel bis zum Abend nicht mehr zu Gesicht bekommen. So war das eben. Pech für ihn.

Der Boden stieg an und senkte sich wieder. Aus dem blauen Fleck in der Ferne wurde eine Pfütze und bald ein träger, stiller See, an dessen Ufer sich Weidenröschen neigten und Silberpappeln rekelten. Auf der anderen Uferseite, verschwommen im Glitzern der Morgensonne, hoben sich graue Felsmassen in den Himmel.

Gelwyn legte die Hand über die Augen.

Hochnebel verbarg die Bergkuppe, aber darunter, dort, wo der weiße Dunst sich gerade auflöste, war etwas. Etwas Schwarzes, noch viel schwärzer als der Stein. Ein zerklüftetes, in Jahrhunderten verwittertes Gebäude, aus dessen Mitte wie ein rissiges Ei eine Kuppel aufragte. Ein künstliches, zerfleddertes Vogelnest. In den Rand des Vogelnestes waren Fenster eingebaut, Beobachtungslöcher, die wie schwarze Augen zu Gelwyn hinüberstarrten. Er hätte sich nicht gewundert, wenn sie gezwinkert hätten.

Angeekelt änderte er die Richtung. Er mochte den merkwürdigen Bau nicht, so wie er alles verabscheute, was mit den Menschen zusammenhing. Sie waren boshaft und grausam, und genauso kam ihm auch das Haus in den Felsen vor. Er kraulte sein Pferd am Hals und lenkte es auf ein Waldstückchen zu, das dem Vogelnest entgegengesetzt war.

Aber etwas stimmte plötzlich nicht mehr.

Es war, als hätten sich beim Anblick des Felsenbaus Wolken vor die Sonne geschoben, oder als hätte der See plötzlich sein Glitzern oder die Wiese ihre Leuchtkraft verloren. Ein Schatten hatte sich auf Gelwyn gesenkt, und mit ihm war seine Freude verlorengegangen.

Der Junge legte die Wange an den warmen Pferdehals.

»Da siehst du es: Sie machen einem alles kaputt«, flüsterte er ihm bekümmert in die Ohren. Er seufzte. »Komm mit in den Wald, meine Schöne. Wir werden dahin gehen, wo man nichts mehr von ihnen sehen kann.«

Und so machten sie es auch.

Das Wäldchen, eigentlich war es nur eine Ansammlung von Bäumen westlich des Sees, entpuppte sich als schattig, mit Moos gepolstert und so warm und still und friedlich, daß Gelwyn vom Pferd rutschte und sich rücklings zu Boden fallen ließ. Durch das Laubgewirr der Ebereschen funkelten Lichtblitze, die ihn blendeten, und er schloß die Augen. Zum ersten Mal seit Tagen war er völlig allein. Er verschränkte die Arme unter dem Kopf, rekelte sich im Moos, sog die Luft ein und freute sich an dem Kribbeln eines Käfers, der ihm über die Wade kroch.

»Siehst du«, sagte er zu dem Pferd, das ein paar Schritt weiter an einer Margerite zupfte, »überall können sie nicht sein. Auch wenn ihre Stadt so groß ist wie der steinerne Drache von Lucaville und wenn es so viele von ihnen gibt, daß man kaum Luft kriegt: Irgendwo findet sich immer ein Plätzchen, wo sie noch nicht sind. Das hat etwas mit Gerechtigkeit zu tun. Glaubst du an Gerechtigkeit?«

Der Fuchs kaute bedächtig auf den Margeritenblüten herum und äußerte sich nicht. Gelwyn seufzte behaglich. Er war müde, schließlich hatte er seit mehr als einer Woche nicht mehr richtig geschlafen. Einfach nur dazuliegen war wunderbar. Seine Gedanken begannen zu wandern, und nach einer Weile mischten sie sich mit seinen Erinnerungen zu wundersamen Träumen. Irgendwann war er eingeschlafen, und zwar so fest und endgültig, daß er sich bestimmt bis zum nächsten Morgen nicht mehr gerührt hätte, wenn … ja, wenn Morton ihn nicht gefunden hätte.

Sein Custos kam über ihn wie ein Unwetter.

Vergebens sperrte Gelwyn sich gegen das Fluchen und Schütteln, das ihn unsanft aus seinen Träumen riß. Diese Träume – besonders der letzte, der von den Sommerfesten in Ardfynnan gehandelt hatte – waren schön gewesen, und das hatte er in letzter Zeit nicht allzu oft gehabt. Er hing daran und wollte sich nicht trennen. Aber Morton zerrte an seinen Armen und riß ihn in die Höhe und zwang ihn, aufzuwachen. Und endlich begriff Gelwyn, daß etwas nicht in Ordnung war. Blinzelnd starrte er in das Gesicht des Menschenjungen.

Morton war außer sich vor Wut, so sehr, daß er sich beinahe verschluckte. Seine Augen sprühten vor Zorn. Es war, als tanzten kleine Energieblitze in der Iris, die die ganze Augenpartie zum Funkeln brachten. Gelwyn zwinkerte verstört.

»Was willst du eigentlich, he?« brüllte Morton ihn an. »Was willst du damit erreichen? Was hast du dir dabei gedacht, du verdammte, verwöhnte Rotznase?« Er schüttelte Gelwyn immer noch, und langsam begann es weh zu tun. »Mann, ich könnte dir die Seele aus dem Leib prügeln. Ich könnte dir … Weißt du, was ich könnte?«

Gelwyn wußte es nicht und wollte es auch nicht wissen. Ungeschickt versuchte er, sich loszumachen.

»O nein«, fauchte Morton ihn an. »So einfach nicht. So kommst du mir nicht davon.« Er packte ihn an den Haaren, und vielleicht war es diese Geste, die so schmerzlich an Lord Sraggs erinnerte, was Gelwyn plötzlich hellwach und ärgerlich machte.

»Laß mich los!« zischte er empört.

Morton grinste böse. Seine Mimik hatte nicht viel Ähnlichkeit mit der des Lords, aber Gelwyn meinte darin Gehässigkeit zu erkennen, und das vervielfachte seinen Zorn. Aufgebracht schlug er Mortons Hand beiseite und ballte die Fäuste. Sagen konnte er nichts, dazu war er zu wütend. Aber er war bereit, sich zu wehren, und das sollte dieser Lümmel, dieser … Muskelprotz auch wissen.

Morton nahm es zur Kenntnis. Er fackelte nicht lange und warf sich mit seinem ganzen Gewicht auf den Gegner. Es sollte sich herausstellen, daß Gelwyns Erziehung einen bedauerlichen Mangel aufzuweisen hatte: Er hatte sich in seinem ganzen Leben kein einziges Mal geschlagen. Noch nicht einmal zum Spaß. Ein Versäumnis, das sich nun bitter rächte.

Zunächst einmal bezog er Prügel. Wenn er sich die Mühe gemacht hätte, darüber nachzudenken, dann wäre ihm vielleicht aufgefallen, daß diese Prügel – gemessen an Mortons Kräften –relativ harmlos ausfielen. Aber er war viel zu aufgebracht, um über irgend etwas nachzudenken.

Mit knirschenden Zähnen, an allen Gliedern zappelnd, versuchte er, sich vor den Schlägen zu schützen, und irgendwie passierte es, daß sein Knie dabei in Mortons Magen landete. Es war mehr ein Zufall, eine reflexartige Bewegung, aber der Erfolg war verblüffend. Morton keuchte auf, flog ins Gras und faßte sich an den Bauch. Einen Moment lang hatte Gelwyn Luft. Wenn er jetzt aufgestanden und ein paar Schritte fortgegangen wäre, oder wenn er sich hingesetzt und versucht hätte, sich zu beruhigen, dann wäre damit vielleicht alles zu Ende gewesen. Aber das konnte er nicht. Seine Kräfte und seine Geschicklichkeit mochten gering sein, aber seine Wut reichte noch für ein Dutzend Schlägereien. Er warf sich auf Morton und schlug ihm die Hand ins Gesicht.

Damit hatte er seinen zweiten Fehler begangen.

Gelwyn wußte es nicht, aber dieser Schlag, den er mit der flachen Hand geführt hatte, weil niemand ihm beigebracht hatte, wieviel effektiver es ist, mit den Fäusten zu schlagen, dieser Schlag war etwas anderes gewesen als das Geprügel, mit dem sie sich bisher abgegeben hatten. Wer mit der Hand statt mit der Faust zuschlägt, zeigt, daß der andere größere Mühe nicht wert ist. Und da Gelwyn seinem Gegner kräftemäßig ganz offensichtlich unterlegen war, konnte dieses Der-Mühe-nicht-wert-Sein doch nur eines bedeuten, nicht wahr?

»Du mieses, hochnäsiges Miststück!« Morton schüttelte Gelwyn ab und sprang auf die Füße, und plötzlich sah er aus wie ein gereizter Bulle. Gelwyn duckte sich, aber das half nichts mehr. Morton warf sich mit der Kraft eines Rammbocks auf ihn und drückte ihn zu Boden, daß ihm die Luft aus den Lungen pfiff. Er stieß ihm das Knie in den Magen und preßte seine Hände ins Gras. Nun sollte es eigentlich kommen. Die Abrechnung, die dem Albenprinzen, diesem ungeliebten Anhängsel, ein für allemal den ardfynnischen Hochmut austrieb. Gelwyn las das in den wutblitzenden Augen.

Aber er konnte sich nicht mehr davor fürchten. Morton hatte nämlich auf seine Handgelenke gefaßt, direkt auf die häßlichen, breiten Streifen, wo Lord Sraggs ihm die Lederriemen ins Fleisch geschnürt hatte und wo nun Eiter und Wundsekret ihren Kampf gegen die Entzündungen aufgenommen hatten. Einer von Mortons Zeigefingern war in die Furche geraten, exakt dorthin, wo es am schlimmsten war. Und das tat so hundsgemein weh, daß Gelwyn vor Schmerzen aufheulte. Er merkte, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich und gleichzeitig die Tränen in die Augen schossen. Und er konnte nichts dagegen tun. Er biß sich auf die Lippen, daß die Haut platzte, und konnte trotzdem nicht verhindern, daß er heulte wie ein Kind. Es war einfach nicht auszuhalten.

Und da ließ Morton ihn los.

Gelwyn rollte sich von ihm weg auf den Bauch. Vielleicht war das mit seinen Händen keine große Sache – Morton war zweifellos anderes gewöhnt –, aber er hatte höllische Schmerzen. In seinem Fleisch, aber auch in seinem Stolz. Und beides tat so weh, daß er Mühe hatte, wieder zu Atem zu kommen.

»He, was … was ist denn das mit deinen Händen?«

Morton klang verlegen, und das verstärkte Gelwyns Scham. Er rappelte sich auf und machte ein paar unbeholfene Schritte. Sein Fuchs wartete neben einer Birke und beäugte ihn verwundert. Wahrscheinlich hielt er sie beide für verrückt.

»Komm«, rief Gelwyn dem Tier zu, auf ardfynnisch, weil sein Kopf so leer war, daß ihm das Menschenwort nicht einfiel. Blut floß über sein Kinn in den Kragen, und er wischte mit der Hand darüber.

Morton meldete sich wieder. »War Sraggs das gewesen?«

Gelwyn reagierte nicht. Er hatte den ersten Kampf seines Lebens hinter sich, und es war nicht besonders gut gelaufen. Wer wollte jetzt über Sraggs reden?

»Es ist deine eigene Schuld«, erklärte Morton verdrossen. »Ihr denkt immer, ihr seid was Besseres. Spielt euch auf wie die Herren der Welt. Hab’ ich doch selber gesehen, gestern abend. Wenn du dich anständig betragen hättest, hätte Sraggs dir auch nicht…«

»Laß mich in Ruhe!« Gelwyn faßte dem Fuchs in die Mähne, kraulte ihn und trat neben ihn, um auf seinen Rücken zu springen.

Aber da kam plötzlich wieder Leben in seinen Custos. Wie der Blitz stand Morton neben ihm und packte ihn am Arm. »In Ordnung«, sagte er, »ich laß dich in Ruhe. Meinetwegen kannst du dich in deinem Selbstmitleid verkriechen und darin schmoren, bis du schwarz wirst. Aber eines sage ich dir: Wenn du mir noch einmal davonläufst …« Die Worte kamen jetzt wie ein Zischen, und auf einmal sah er wieder fürchterlich wütend aus. ».dann wirst du eine Abreibung bekommen, mein Junge. Dann werde ich dich grün und blau prügeln, bis deine eigene Mutter dich nicht mehr erkennt, verstehst du? Ich werde dich windelweich schlagen, ich schwör’s dir!«

Gelwyn hatte keine Kraft mehr. »Warum?« fragte er nur.

Morton ballte die Fäuste. »Warum! Hast du das noch immer nicht begriffen? Ich bin dein Custos, Junge, dein Wächter. Du … du verstehst das wirklich nicht?«

Gelwyn schüttelte den Kopf.

Er sah, wie Morton Luft holte, mehrere Male, um sich zu beruhigen. »Also gut, dann erklär ich’s dir. Es bedeutet: Wenn sie einen von uns beiden irgendwo allein erwischen, dann blühen uns Dinge, gegen die das, was du heute erlebt hast, eine zärtliche Turtelei gewesen ist. Mir genauso wie dir. Und ehe ich das zulasse …« Sein Griff wurde wieder fester, er wollte, daß Gelwyn ihn wirklich verstand. »…ehe ich das zulasse, mach’ ich dich fertig. Hast du das verstanden? Ich mach’ dich fertig, Gelwyn Ardfynnan!«

Es war Abend, und sie saßen in dem Raum, in dem sie zuvor gegessen hatten.

Das Zimmer mit der niedrigen roten Holzdecke wurde nur durch ein Kaminfeuer erleuchtet, und Gelwyn war froh darüber. Er hatte sich auf eine gemauerte Bank in eine der Fensternischen verzogen und beobachtete von dort, abgesondert und geschützt durch das Halbdunkel, das Treiben der Menschen.

Morton saß bei einigen Jungen in rotseidenen Hosen und Wämsern und spielte mit ihnen ein Würfelspiel. Sie hatten seit ihrem stürmischen Aufeinandertreffen im Wald kein Wort mehr miteinander gewechselt, und auch das war Gelwyn recht. Er wußte, daß die Jungen von ihm sprachen, denn gelegentlich lachten sie, und dann flogen spöttische Blicke zu ihm herüber. Besonders einer von ihnen, ein hochgeschossener Bengel mit Haaren so rot wie Feuer, schien sich mit Witzen hervorzutun, denn immer wenn er sprach, brandete Gelächter auf.

Gelwyn blickte durch das schmale, glaslose Fenster und stellte fest, daß er ein geradezu jämmerliches Verlangen hatte, sich davonzustehlen und sich irgendwo dort draußen in der Dunkelheit zu verkriechen. Aber das ging natürlich nicht. Morton hatte gesagt, sie müßten beieinanderbleiben, und wenn Gelwyn auch keine Angst vor ihm hatte – oder jedenfalls nicht sehr viel Angst –, mußte er doch gehorchen. Sie verließen sich in Ardfynnan auf sein Wohlverhalten. Alles andere war nebensächlich.

»Hallo, mein Junge!« Jemand, ein Erwachsener, der Mann mit dem Pfannkuchengesicht, hatte seinen dicken Leib auf die Bank geschoben, die Gelwyns gegenüberlag. »Ich habe gehört, daß Ihr ein Geschwür an den Händen habt, mein Prinz.«

Gelwyn sah, daß der Mann eine dampfende Schüssel, Stoffstreifen und ein Bündel Kräuter mitgebracht und neben sich abgestellt hatte.

»Es ist nichts«, erklärte er schnell. »Nur … nur ein Ratscher…«

»Ja, das sehe ich.« Der Mann griff nach seinen Händen und hielt sie gegen die rauchende Öllampe. »Warum habt Ihr mir nichts davon gesagt? Das muß doch … Nein, wirklich. Kommt, haltet die Hände hier ins Wasser, mein Prinz. Tiefer. Ich weiß, daß es brennt, aber das geht vorbei. Ihr müßt mir Bescheid geben, wenn Euch etwas fehlt. Es gibt doch Mittel, so etwas zu behandeln. Ja, schon gut, ich bin vorsichtig. Laßt mich ganz einfach machen …«

Der Mensch war sanft und behutsam und sein rundes Gesicht ehrlich betrübt, als er den Eiter und das Blut aus der Wunde spülte.

»Ich weiß, mein junger Herr, daß Ihr jetzt unglücklich seid und Heimweh habt. Es ist immer schwer in den ersten Tagen. Aber das wird sich geben, glaubt mir. Ein, zwei Wochen, und Ihr werdet Euch hier fühlen wie zu Hause. Und Morton Blexhill ist ein netter Kerl. Auch wenn er sich manchmal etwas grob gibt.«

Die Reinigungsprozedur war beendet, und der Dicke langte nach den Blättern.

»Warum setzt Ihr Euch nicht zu den anderen Jungen und spielt mit ihnen«, schlug er vor. »Es ist nicht gut, wenn Ihr Euch verkriecht. Und Morton …«

»Morton ist froh, wenn er mich vom Halse hat.«

Gelwyn wußte nicht, warum er das sagte. Warum er dem Mann überhaupt antwortete. Er merkte nur, daß er plötzlich einen Kloß im Hals hatte und daß seine Augen brannten und es ihn alle Kraft kostete, seinen Jammer zu verbergen.

Der Dicke brummte begütigend. »Ja, ich versteh’ schon. Nur: Für Morton ist es auch nicht leicht. Der Junge hat ja erst gestern abend erfahren, wie sich sein Leben ändert. Dabei hat er noch an dieser Sache mit seinem Bruder zu schlucken … so etwas muß man erst einmal verdauen.«

Gelwyn war froh, daß ihr Gespräch sich allgemeineren Dingen zuwandte. »Was ist denn mit seinem Bruder?«

»Hat er Euch das nicht erzählt? Na, eigentlich war nämlich Gisbert, sein Bruder, als Euer Custos vorgesehen. Obwohl ich das nie für eine gute Idee gehalten habe, denn der Mann, das muß man leider sagen, ist hochfahrend und ungeduldig und stolz und gewiß nicht die rechte Gesellschaft für ein empfindsames Kerlchen, wie Ihr es seid. Aber dann hat er diesen dümmlichen Aufstand versucht …«

»Einen Aufstand? Gegen wen?«

»Ja, was meint Ihr denn? Gegen König Ezzon natürlich. Es war von Anfang an ein jämmerliches Unternehmen – schlecht geplant und stümperhaft ausgeführt. Und es ist ein Wunder, daß Gisbert den Wachen entwischen konnte, so dummbeinig, wie er sich angestellt hat. Er ist mit seinen Männern in die Wälder geflüchtet. Aber irgendwann werden sie ihn zweifellos erwischen, und dann wird es aus mit ihm sein. König Ezzon ist kein Mann, den man straflos hintergeht. Es ist schon das reine Wunder, daß er Morton ungeschoren hat davonkommen lassen.«

»Warum? War Morton auch an dem Aufstand beteiligt?« Gelwyn fand den Gedanken faszinierend, daß jemand den Willen aufbringen könnte, gegen einen Mann wie König Ezzon aufzubegehren.

»Morton?« Der Dicke schüttelte nachsichtig den Kopf. »Natürlich nicht. Sonst wäre er ganz sicher nicht mehr am Leben.«

»Aber warum …?«

»Was ist daran so schwer zu verstehen? Wenn einer Dummheiten macht, mein verehrter Prinz, dann trifft die Vergeltung die ganze Familie. Und wenn Ihr darüber nachdenkt, werdet Ihr finden, daß das eine sehr vernünftige Regelung ist. Familienbande sind stark. Da überlegt sich jeder zweimal, was er vorhat. Tatsächlich ist es eine außerordentliche Güte König Ezzons, daß er Morton am Leben gelassen hat.«

»Aber … das ist ungerecht.«

Der Pfannkuchenmann lächelte geduldig. »Seht, mein Herr: Aufruhr ist wie eine Seuche. Wo sie einmal Fuß gefaßt hat, muß sie mit Stumpf und Stiel ausgerottet werden, sonst breitet sie sich aus. Und wenn es schlimm kommt, wird das ganze Königreich in einen Bürgerkrieg gestürzt. Da muß man schon hart vorgehen. Morton wurde allein deshalb verschont, weil er jahrelang Page des Königs gewesen ist und sich ihm immer als treu erwiesen hat. Und nun hat er eine Aufgabe zugeteilt bekommen, mit der er unserem Herrn seine Zuverlässigkeit beweisen kann, und es gibt Hoffnung, daß sich alles zum Guten wenden wird, was ich dem armen Jungen wirklich wünsche, denn er hat ein braves Herz. Sind die Bandagen zu fest?«

Gelwyn schüttelte den Kopf.

»Das beste ist, wenn Ihr mit Morton nicht darüber sprecht. Es würde ihn nur aufbringen.« Der Dicke stand auf. »Und wenn Ihr Euch das nächste Mal wehtut, dann sagt es mir bitte gleich. Ihr seid eine Geisel, aber das bedeutet nicht, daß es Euch hier schlecht gehen soll.«

»Bitte, wie ist Euer Name?«

»Burnett. Das habe ich Euch gestern schon gesagt. Ich bin Meister Burnett, der Vorsteher der Burg. Ihr findet mich, wenn Ihr mich braucht, oben bei den Torzimmern. Es ist ganz einfach, dorthin zu kommen. Ihr braucht bloß die Treppe im Haupthof zu nehmen.«

Gelwyn nickte und war erleichtert. Aber als Burnett verschwunden war und er Zeit zum Nachdenken hatte, fiel ihm auf, daß der freundliche Mann mit keinem Wort gefragt hatte, wie Gelwyn sich die auffälligen Verletzungen an den Händen zugezogen hatte.

Die Drohung

Sie ritten über das Hochland von Mahoonagh, sie lagen auf den Betten in ihrem Zimmer, oder sie saßen, wenn Morton sich durchsetzen konnte, bei den anderen Jungen im Dienstzimmer der Pagen.

Das waren die Stunden, die Gelwyn am meisten haßte.

Der Pagenraum war klein, eine kalte Zelle gegenüber von König Ezzons Gemächern, in der ein Tisch und einige Holzschemel standen und in dem es nicht die geringste Möglichkeit gab, sich abzusondern. Meist hatten vier oder fünf der Jungen gemeinsam Dienst. Einer hielt sich bei dem König auf, die anderen warteten, ob man sie brauchte. Es war eine langweilige Sache, und Gelwyn vermutete, daß er ihnen gekommen war wie ein Geschenk des Himmels. Jedenfalls legten sie ihre Würfel und Karten beiseite, sobald er mit Morton das Zimmer betrat, und widmeten sich aufs liebenswürdigste ihrem fremdländischen »Gast«. Besonders einer von ihnen, Frann, der mit den roten Haaren, konnte sich gar nicht von Gelwyn losreißen. Immer wieder brachte er die Sprache auf den unglückseligen Krieg, mit dem vor über sechzig Jahren die Unterwerfung der Alben ihren Anfang genommen hatte. Oh, Frann war witzig! Was er sagte, traf, und es war unmöglich, nicht darüber zu lachen – wenn man nicht gerade die Zielscheibe seines Spottes bildete.

Sein bevorzugtes Thema waren die mißlungenen Versuche der »Möchtegernhexer aus Ardfynnan«, wie er sich ausdrückte, ihre menschlichen Gegner mit Hilfe magischer Tricks zu überlisten. Er brachte Details, von denen Gelwyn keine Ahnung hatte. Schandbare Peinlichkeiten, wenn er die Wahrheit sagte, was der Junge aber für ausgeschlossen hielt. Dennoch konnte Gelwyn nicht umhin sich zu fragen, warum man in Ardfynnan den Krieg so beharrlich beschwieg und warum man selbst ihn, den Sohn des Königs, immer mit Floskeln abgespeist hatte, wenn er bei seinen Lehrern nach Einzelheiten geforscht hatte.

Gelwyn tat das einzige, was in dieser Situation möglich war: Er hielt sich still und hoffte, daß sie es irgendwann leid sein würden, ihn zu verspotten.

Eine ganze Woche gelang es ihm, den Pagenraum zu meiden, aber dann kam ein verregneter, kalter Tag, und Morton – im Moment sowieso ewig schlecht gelaunt – hatte ihn kurzerhand wieder mit zu seinen Freunden gezerrt. Er hatte ein neues Spiel mitgebracht, und eine Zeitlang beschäftigten sie sich damit, während Gelwyn ihnen vom Fenster aus zusah.

Irgendwann wurden ihre Stimmen leiser, und Gelwyn rechnete sich aus, daß es bald wieder losgehen würde. Er hörte, wie sein Name fiel. Verfluchter Morton! Gab es denn in Mahoonagh nichts anderes als diese Flegel, die sich als Boten des Königs aufspielten? Es war schwer, nicht bitter zu werden.

»Und als ihre Stadt gefallen ist, da hat man ihren König im Nachthemd bei seiner Lieblingshexe erwischt!« hörte er Frann kichern.

»Ja«, nahm einer seiner Freunde, ein pickliger Kerl mit Segelohren, die Anspielung auf. »Wahrscheinlich um …« Er benutzte einen Ausdruck, den Gelwyn nicht kannte.

»He, Gelwyn«, wandte Frann sich nun direkt an ihn. »Du mußt eine große Familie haben. Ich mein’, wenn dein Großvater sogar bei der Eroberung seiner eigenen Stadt …«

Gelwyn kehrte ihm den Rücken, starrte durch das Fenster auf die grauen, regennassen Dächer von Mahoonagh und versuchte, nichts zu hören. Er wußte, daß König Hawllin das Weiße Gewand angelegt und sich mit den Magierinnen von Ardfynnan getroffen hatte, um den Sturm auf die Stadt mit Hilfe einer Illusion so lange aufzuhalten, bis die Frauen und Kinder sie verlassen haben würden. Er wußte auch, daß sich ihrer Magie eine andere, fremde Magie entgegengestellt hatte, von der die Magierinnen besiegt worden waren. Aber mehr hatte man ihm nie darüber erzählt, natürlich. Magie war als Thema mindestens ebenso tabu wie der Krieg. Man hatte ihr auf Druck der Menschen und als Teil des Friedensbündnisses abschwören müssen, und nun war es, als hätte es dergleichen nie gegeben. Nur im medizinischen Bereich wurde noch eine milde Form der Magie geduldet, die allerdings in den Händen weniger begnadeter Ärzte lag und nicht gelehrt wurde. Aber das war ein Kummer, der nur sein eigenes Volk betraf, und Gelwyn hätte sich eher die Zunge abgebissen, als sich mit diesen Lümmeln, mit denen das Schicksal ihn zusammengesperrt hatte, darüber zu streiten.

»Stimmt es, daß sie bei dir zu Hause mit Holzschwertern fechten, Gelwyn?« fragte der kleine Page mit den Pickeln.

»Ach was. Viel schlimmer. Die schleichen sich in ihren Nachthemden an dich heran und gießen ihren Nachttopf über dir aus!« warf ein anderer ein.

»Nein!« Frann verschluckte sich fast vor Lachen. »So etwas Verwegenes trauen sich nur ihre Magier. Ihre Könige und Prinzen ziehen es vor, zu beißen und zu kratzen. Fragt Morton. Den hätte es letzte Woche bald übel erwischt!«

Gelwyn merkte, wie ihm die Röte ins Gesicht kroch. Er stieß sich von der Fensterbank ab und ging zur Tür.

»He, Mann, wo willst du hin?« Mortons Baß übertönte das Gepruste seiner Kameraden.

»In unser Zimmer. Bleib hier oder komm mit oder tu, was du willst.«

Gelwyn wunderte sich, warum er auf diese einfache Lösung nicht schon früher gekommen war. Natürlich würde Morton ihm folgen müssen. Er hatte gar keine andere Wahl. Wenn er, Gelwyn, nicht wollte, dann konnte niemand ihn zwingen, es bei dieser Bande von Rüpeln auszuhalten.

Es sei denn, Morton würde Gewalt anwenden?

Aber Morton folgte ihm ohne Murren.

Sie wanderten gemeinsam die Treppe hinunter und eine andere wieder hinauf – diese ganze Burg schien nur aus Treppen zu bestehen – und dann über den Hof zu ihrem Wohnturm. Morton ging ein paar Schritt vor ihm, gerade genug, um Distanz anzuzeigen, und Gelwyn wußte, daß er ihn für sein Davonlaufen verachtete. Morton hätte sich wahrscheinlich auf jeden gestürzt, der es wagte, seinen König oder sein Volk zu beleidigen. Morton hätte Prügel verteilt oder Prügel eingesteckt, je nachdem, aber auf keinen Fall hätte er geschwiegen. Gelwyn gestand sich ein, daß er ihn dafür bewunderte und beneidete.

Er seufzte.

Ihm graute vor dem gemeinsamen Nachmittag mit dem schlechtgelaunten Gefährten, und er überlegte flüchtig, ob es nicht doch besser wäre, auszureiten. Da fiel das Schweigen wenigstens nicht so auf. Aber der Himmel war schwarz, und in der Ferne zuckten Blitze. Sicher würde man ihnen keine Pferde überlassen.

Während sie die letzten Treppen hinaufstiegen, versuchte er auszurechnen, wie viele solcher Tage ihm noch bevorstanden, bis er nach Hause könnte. Die Zahl, die er herausbekam, war niederschmetternd.

Morton blieb stehen. »Frann und ein paar von den anderen haben morgen frei. Sie werden zum See schwimmen gehen.« Die Frage, die hinter dem Satz stand, war nicht misszuverstehen.

»Ich … nein.«

»Warum nicht? Es ist doch nichts dabei«, brauste Morton auf. »Willst du für den Rest deines Lebens in diesem verstunkenen Turm hocken? Mann, ich geh’ hier ein. Und du – du bringst mich um mit deinem vornehmen Getue! Warum kannst du mir nicht mal ein bißchen Spaß gönnen? Ich … Oh, du bist wirklich ein blöder Hund!«

»Frag doch König Ezzon, ob du mitgehen darfst. Ich könnte den Tag ebensogut mit Burnett verbringen.« Es war ein ernst- und gutgemeinter Vorschlag, und Gelwyn war überrascht von der Feindseligkeit, die er damit hervorrief.

»Den Teufel wirst du tun!« Morton drückte ihn mit seinen breiten Schultern gegen den eisernen Treppenhandlauf. »Hör mal, Gelwyn, wenn du auch nur ein einziges Wort zu Ezzon sagst, daß ich …«

Was hab’ ich denn jetzt schon wieder getan? wollte Gelwyn aufbegehren, aber da merkte er, daß der Druck von Mortons Körper nachließ und daß der Junge über seine Schulter die Treppen hinaufblickte. Unwillkürlich tat er es ihm nach.

Es war nichts zu sehen, aber er hörte etwas. Jemand kam die Stufen hinunter. Ein Stiefelträger, dem Schritt nach zu urteilen.

»Wer kann denn …«, murmelte Morton und brach ab. Ihr Zimmer war das höchstgelegene im Turm. Wer auch immer dort hinaufgestiegen kam – er hatte sie beide gesucht. Und obwohl sie sich keines Unrechts bewußt waren, fühlten sie sich plötzlich auf unangenehme Weise ertappt.

Morton erkannte den Mann zuerst, der um die Treppenrundung bog. »Lord Sraggs …« Er schwieg verwirrt.

Gelwyn sah das feiste Gesicht sich zu einem Lächeln verziehen, und wie immer, wenn Sraggs ihn anblickte, wurde ihm der Hals eng. Er griff hinter sich nach dem Geländer und befahl sich, keine Angst zu haben. Dies war König Ezzons Haus. Und außerdem stand Morton neben ihm.

»Was wollt Ihr, Lord?« Er hoffte inbrünstig, daß man seiner Stimme das Zittern nicht anmerkte.

»Euch, mein Prinz.« Sraggs stieg noch einige weitere Stufen hinab, und die Vorstellung, daß der Mensch ihn unweigerlich berühren würde, wenn er sich an den beiden Jungen vorbeidrängte, raubte Gelwyn fast die Luft. »Das heißt, ich möchte Euch zu einem Spazierritt in die Berge einladen.«

»Nein«, platzte es aus Gelwyn heraus. Er spürte, wie Morton warnend seinen Arm faßte. »Nein«, wiederholte er trotzdem. »Wir sind in der Burg. Ich habe nichts mehr mit Euch zu schaffen.«

»Glaubt Ihr?« Sraggs musterte ihn, und sein Grübchen wanderte einige Millimeter das Kinn hinauf, als er zu lächeln begann. »Das würde den Meister auf Oolah aber bekümmern«, fuhr er mit seinem unangenehmen Grinsen fort. »Es ist nämlich DaDerga, der Euch zu sehen wünscht. Und er ist neugierig auf Euch, Prinz Gelwyn. Sehr neugierig. Tatsächlich hat DaDerga sogar befohlen, daß ich Euch zu ihm bringe.«

Himmel, was war das schon wieder? Was sollte diese Drohung? Und wer, bei allen gütigen Geistern, war dieser DaDerga?

»Nein. Ich …«

Morton drückte Gelwyns Arm. »Es tut mir leid, Lord Sraggs«, erklärte er höflich. »Aber bis nach Oolah ist es ein weiter Ritt, und unser König hat …«

»…gewiß nichts dagegen, wenn ihr ihn in meiner Gegenwart zurücklegt. Schließlich habe ich unseren jungen Gast doch schon einmal erfolgreich betreut, nicht wahr?«

Der Hohn war kaum zu ertragen. »Ich werde trotzdem nicht mit Euch gehen«, stotterte Gelwyn. »Nicht zu Eurem Herrn, den ich nicht kenne, und auch nirgendwoanders hin. Ihr … Ihr seid ein Lügner, Lord Sraggs. Ihr habt den König über mich angelogen, und das wißt Ihr auch …« Er hörte Morton neben sich erschrocken die Luft einsaugen und war sicher, daß er alles verkehrt machte, aber es war, als hätte etwas in ihm unter Druck gestanden und würde nun mit aller Macht herausplatzen. »Ich weiß überhaupt nicht, was Ihr gegen mich habt. Ich … ich habe Euch nie etwas Böses getan. Und … ich weiß überhaupt nicht …« Er merkte, daß er Unsinn redete. Was kümmerte es einen Mann wie Sraggs schon, ob Recht oder Unrecht geschehen war? »Jedenfalls werde ich nicht mit Euch gehen«, schloß er trotzig.

»Tatsächlich? Und wenn es Euch nun vom König befohlen würde?«

Sraggs erklärte seine Worte nicht. Es klang, als wenn er sich mit dem König abgesprochen hätte, oder wenigstens, als sei er sich der Unterstützung des Königs sicher. Aber wirklich gesagt hatte er das nicht. Er hatte eine Behauptung aufgestellt, das war alles. Trotzdem fühlte Gelwyn sich wie mit dem Rücken an der Wand.

»Ja, vielleicht sollte man wirklich König Ezzon um Erlaubnis fragen«, meinte Morton langsam. »Ich meine – würde es ihn nicht möglicherweise interessieren, daß … warum DaDerga sich so sehr nach dem Besuch des Prinzen sehnt?« Die Worte, ihre tapfere Drohung, klangen nach und erzeugten ein unbehagliches Schweigen.

Sraggs löste sich von der Mauer. Der bullige Mann kam zwei weitere Stufen herunter und beugte sich über Morton, als hätte er ihn erst jetzt entdeckt. »Ja, mein Prinz, ich denke, das könnte sein. Der König ist ja an so vielem interessiert. Vielleicht…« fügte er leise hinzu und leckte mit der Zunge über die schwarzen Zähne, »würde er auch gern wissen, wie es möglich ist, daß unsere kostbare Geisel unbewacht und einsam über die Scoffieldhöhen reitet – wo sie doch einen so eifrigen Custos hat?«

»Das ist …« Morton brach ab und biß sich auf die Lippen. Es war sinnlos. Sraggs hatte sie geschlagen. Von einer Sekunde zur anderen, völlig mühelos. Und sie wußten es alle drei.

»Morgen früh, eine Stunde nach Sonnenaufgang, am Nordufer des Alten Sees, meine Prinzen«, flüsterte der Lord. »Oder zwei Stunden später bei König Ezzon – ganz wie es Euch beliebt.«

Sie waren ins Turmzimmer gestiegen und hatten sich auf die Betten gelegt. Und endlich hatte Gelwyn Gelegenheit zu fragen.

»Genau weiß niemand, wer DaDerga ist«, erklärte Morton mürrisch. »Er lebt mit seinem Gesindel auf Oolah, solange man denken kann. Wenn es stimmt, was die Leute reden, ist er es gewesen, der den Krieg gegen dein Volk entschieden hat. Er ist nämlich auch ein Hexer, genau wie ihr – oder wenigstens behauptet er das von sich.«

»Aber was hat Sraggs mit ihm zu tun?«

»Er ist DaDergas Mann hier im Palast. Das ist ein offenes Geheimnis. Jeder weiß es, auch König Ezzon. Aber der König duldet es.«

»Warum?«

»Hab’ ich doch gesagt. Weil DaDerga ein Hexer ist. Kein König der Welt würde sich freiwillig mit seinen Magiern überwerfen. Weiß Ezzon, ob er sie nicht doch einmal brauchen wird?«

»Und außerdem hat er Angst, was?« fragte Gelwyn spöttisch.

Morton warf ihm einen finsteren Blick zu. »Ich will nicht, daß du so über meinen König sprichst, klar? König Ezzon ist ein guter Mann. Der beste, den wir haben.«

Gelwyn zuckte die Achseln. »Was denkst du, was dieser Mensch, DaDerga, von mir will?«

»Weiß ich doch nicht. Dich kennenlernen, wahrscheinlich. DaDerga mag es nicht, wenn hier etwas vor sich geht, von dem er nichts weiß. Ist doch auch egal. Hin mußt du auf alle Fälle. Und das hast du dir selber eingebrockt. Was mußtest du mir auch wie ein tollwütiger Köter davonreiten.«

Details

Seiten
Erscheinungsform
Neuausgabe
Jahr
2016
ISBN (eBook)
9783960530534
Dateigröße
3.3 MB
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (April)
Schlagworte
Macht Magie Freundschaft Fantasy Spannung eBooks
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Titel: Der schwarze Skarabäus
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