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Die indische Verschwörung

Roman

©2016 285 Seiten

Zusammenfassung

Dunkle Geheimnisse in nebligen Gassen: „Die indische Verschwörung“ von Michael Peinkofer jetzt als eBook bei jumpbooks.

London, 1855: Kenny Jones muss täglich um sein Überleben kämpfen. Bei Ebbe durchwühlt er den dreckigen Schlamm der Themse nach verwertbaren Gegenständen. Die Arbeit ist mühsam und nicht sehr einträglich – bis Kenny vollkommen unerwartet einen berühmten, angeblich verfluchten Edelstein findet. Doch bevor der Junge seinen Geldgeber vor dem Fluch warnen kann, hat dieser den Stein schon verkauft. So beginnt eine abenteuerliche Reise auf der Suche nach dem Diamanten, quer durch London und bis tief unter die Stadt – wo Kenny in düsteren Tempelanlagen einer gefährlichen Sekte auf die Spur kommt …

Jetzt als eBook kaufen und genießen: „Die indische Verschwörung“ von Michael Peinkofer. Wer liest, hat mehr vom Leben: jumpbooks – der eBook-Verlag für junge Leser.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Über dieses Buch:

London, 1855: Kenny Jones muss täglich um sein Überleben kämpfen. Bei Ebbe durchwühlt er den dreckigen Schlamm der Themse nach verwertbaren Gegenständen. Die Arbeit ist mühsam und nicht sehr einträglich – bis Kenny vollkommen unerwartet einen berühmten, angeblich verfluchten Edelstein findet. Doch bevor der Junge seinen Geldgeber vor dem Fluch warnen kann, hat dieser den Stein schon verkauft. So beginnt eine abenteuerliche Reise auf der Suche nach dem Diamanten, quer durch London und bis tief unter die Stadt – wo Kenny in düsteren Tempelanlagen einer gefährlichen Sekte auf die Spur kommt …

Über den Autor:

Michael Peinkofer, 1969 geboren, studierte Germanistik, Geschichte und Kommunikationswissenschaft und veröffentlichte schon in dieser Zeit erste Werke. Heute gehört der Journalist und Übersetzer zu den erfolgreichsten Fantasyautoren Deutschlands. Michael Peinkofer schreibt neben seinen Bestsellern für erwachsene Leser erfolgreiche und spannende Jugendbücher.

Der Autor im Internet: www.michael-peinkofer.de

Bei jumpbooks erscheint außerdem die Jugendbuchserie TEAM X-TREME, die folgende Bände umfasst:

Mission Zero: Der Alpha-Kreis

Mission 1: Alles oder nichts

Mission 2: Die Bestie aus der Tiefe

Mission 3: Projekt Tantalus

Mission 4: Das Borodin-Gambit

Mission 5: Sumpf des Schreckens

Mission 6: Codename Nautilus

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eBook-Neuausgabe April 2016

Copyright © der Originalausgabe 2006 by Verlag Carl Ueberreuter, Wien und Michael Peinkofer

Copyright © Neuausgabe 2015 dotbooks GmbH, München

Copyright © 2016 jumpbooks. jumpbooks ist ein Imprint der dotbooks GmbH, München.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Tanja Winkler, Weichs

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN 978-3-96053-082-4

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Michael Peinkofer

Die indische Verschwörung

Roman

jumpbooks

Die Hauptfiguren

Kenny Jones
ist dreizehn Jahre alt und ein »Schmutzfink« – so werden die Straßenjungen genannt, die bei Ebbe an den schlammigen Uferbänken der Themse nach Wertgegenständen suchen und sich auf diese Weise ihren Lebensunterhalt verdienen. Als Kenny eines Morgens eine besondere Entdeckung macht, beginnt für ihn das Abenteuer seines Lebens ...

Sepoy
ist fünfzehn Jahre alt und gehört der indischen Glaubensgemeinschaft der Sikhs an, hat jedoch eine britische Ausbildung genossen. Als Diener von Colonel Kensington ist er diesem treu ergeben und scheut keine Gefahr, wenn es um das Leben seines Herrn geht.

Alice Kensington
ist Colonel Kensingtons sechzehnjährige Tochter. Trotz ihrer Jugend zeichnet sie sich durch Selbstbewusstsein und Unerschrockenheit aus. Während ihr Vater im fernen Indien weilt, hütet sie den Familiensitz in London, unterstützt von ihrer Dienerschaft.

Colonel Clifford Kensington
ist Oberst der königlich-britischen Kolonialarmee. In dieser Eigenschaft war er in den 1830er-Jahren als junger Captain an der Zerschlagung der blutrünstigen Thug-Sekte beteiligt. Knapp zwanzig Jahre später rächt sich dies ...

Inspector Desmond Lasalle
arbeitet für Scotland Yard und ist mit der Aufklärung der geheimnisvollen Mordserie betraut, die London in Atem hält. Lasalle ist ein typischer Vertreter der imperialistischen Zeit, konservativ und intolerant in seinen Ansichten und der Meinung, dass der aufgeklärte Mensch die heilige Pflicht habe, den Wilden dieser Welt die Zivilisation zu bringen.

Joseph Moody,
genannt »Moody Joe«, ist das alte Oberhaupt der »Schmutzfinken«. Dafür, dass Kenny und die anderen Jungen alles abliefern, was sie im Schlamm finden, lässt er sie in seiner schäbigen Hütte übernachten und gewährt ihnen freie Kost (die oft genug nur aus Wasser und Brot besteht). Seine Gier wird ihm zum Verhängnis ...

Charles Dickens
ist bis heute einer der meistgelesenen Autoren der Weltliteratur. In seinen Werken, von Oliver Twist bis hin zur berühmten Erzählung vom Geizhals Ebenezer Scrooge, der den Geistern der Weihnacht begegnet, hat er sich zum Fürsprecher der Armen und Rechtlosen gemacht.

Nächtliche Flucht

Es war im Herbst des Jahres 1856.

Die Nächte waren kalt und klamm; gelber Nebel hing in den Straßen Londons und gesellte sich zu dem Rauch, der aus unzähligen schmalen und breiten, niedrigen und hohen, geraden und schiefen, gemauerten und genieteten Schornsteinen drang. Wie ein riesiges schwarzes Ungeheuer ballte sich das Gemisch aus Dunst und Rauch über der Stadt. Es machte die Nacht noch finsterer und schien die Spitzen der Türme zu verschlingen, die sich aus dem Häusermeer erhoben. Nicht einmal vor der großen Kuppel der Kathedrale von St. Paul machte es Halt.

Im Westen, jenseits der verwinkelten Gassen der Stadtteile Holborn und Clerkenwell, war auch die Fassade des Britischen Museums hinter einer Nebelwand verschwunden, gegen die die Gaslaternen am Montague Place nichts ausrichten konnten. Matt verlor sich ihr Schein in den graugelben Schwaden. Das Britische Museum war das größte seiner Art. Unzählige Gegenstände waren hier ausgestellt, die aus den verschiedensten Ländern und Epochen stammten: ägyptische Mumien und griechische Inschriften, römische Münzen und chinesische Vasen; dazu Standbilder aus Assyrien, Schwerter aus Japan, hölzerne Schnitzereien aus Afrika und goldene Götzenbilder aus Mexiko – Überreste uralter, versunkener Kulturen, die die Zeit überdauert hatten. Auch eine asiatische Abteilung gab es; Wandteppiche reihten sich hier an steinerne Figuren und Tempelschätze aus purem Gold, die ihren Weg hierher aus dem fernen Indien gefunden hatten.

Bei Tag waren die Gänge der Ausstellungshallen bevölkert von wissbegierigen Menschen. Bei Nacht jedoch lagen sie still und verlassen da, und das wenige Licht, das durch die hohen Fenster hereindrang, ließ die Statuen fremdartiger Götter und Dämonen unheimliche Schatten werfen. Hier ragte ein Standbild Shivas auf, des Hindu-Gottes, der seinen Dreizack abwehrend erhoben hielt, dort starrte die steinerne Fratze des Schlangendämons Kaliya aus der Finsternis.

Und plötzlich wurden die Schatten der Nacht lebendig. Eine von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidete Gestalt, die Pluderhosen trug und eine weit geschnittene Tunika, kam barfüßig den Gang hinunter. Der Turban auf ihrem Kopf war so gewickelt, dass der Stoff auch das Gesicht bedeckte; nur ein dunkles Augenpaar, das wachsam um sich blickte, war zu sehen. Die Gestalt bewegte sich ebenso lautlos wie behände. Im Laufschritt huschte sie durch eine Reihe von Ausstellungsräumen zur Treppe.

Der Eindringling hatte gefunden, wonach er gesucht hatte. Den in Stoff gewickelten Gegenstand an sein heftig pochendes Herz pressend, setzte er die Stufen hinab. Bislang war alles glatt gegangen. Ungesehen in das Museum einzudringen und den Stein aus der indischen Abteilung zu stehlen war einfacher gewesen, als er erwartet hatte. Nun kam es darauf an, ebenso unbemerkt wieder zu verschwinden – was bei den vielen Wachen, die zu nächtlicher Stunde im Museum patrouillierten, alles andere als einfach war.

Atemlos erreichte der Dieb die Große Halle, in deren gläsernem Kuppeldach sich die Öffnung befand, durch die er eingestiegen war. Ein mit Knoten versehenes Seil hing von dort oben herab, freilich nicht bis zum Boden, wo es allzu auffällig gewesen wäre. Es baumelte etwa fünf Yards* über den Steinfliesen, was bedeutete, dass man es nur über den Balkon erreichen konnte, der vom ersten Stock aus in die Halle blickte. Vorsichtig pirschte sich der Dieb an die Balustrade heran und schaute über die Brüstung. Entsetzt schnappte er nach Luft, als er sah, dass er Gesellschaft hatte. Zwei Männer, die die grünen Uniformen der Museumswärter trugen und Laternen bei sich hatten, standen dort unten und unterhielten sich mit gedämpften Stimmen.

Der Dieb atmete auf, als er begriff, dass sie das Seil noch nicht bemerkt hatten und also auch nichts von seiner Anwesenheit ahnten – aber wenn er jetzt über die Balustrade kletterte, riskierte er, von ihnen entdeckt und gefasst zu werden. Was sollte er tun? Viel Zeit hatte er nicht, denn seine Tat würde nicht lange unbemerkt bleiben. Und dann würde es im Museum nicht nur von uniformierten Wächtern, sondern auch von Polizisten wimmeln ... Durch den Sehschlitz des Turbans irrten die dunklen Augen gehetzt umher. Während der Dieb noch überlegte, was er tun sollte, waren unten in der Halle weitere Stimmen zu vernehmen.

»Da sind Sie ja endlich, Quince«, sagte jemand streng. »Haben Sie Ihre Runde beendet?«

»Ja, Sir«, entgegnete der Angesprochene kleinlaut.

»Hat ja verdammt lange gedauert.«

»Entschuldigen Sie, Sir.«

»Gab es besondere Vorkommnisse?«

»Nein, Sir. In der indischen Abteilung dachte ich für einen Moment, ich hätte etwas gehört, aber ich habe mich wohl geirrt.«

»Na schön.« Die strenge Stimme räusperte sich geräuschvoll. »Dann nehmen wir uns jetzt die erste Etage vor. Und ich wäre Ihnen dankbar, Quince, wenn Sie sich diesmal weniger Zeit lassen würden.«

»Natürlich, Sir.«

Der Dieb zuckte in seinem Versteck zusammen – nun wusste er, dass er verschwinden musste, denn in wenigen Augenblicken würden die Wächter auf der Balustrade auftauchen. Schon konnte er hören, wie sich ihre Schritte über die Treppe näherten, und er verlor keine Zeit mehr. Mit katzenhafter Gewandtheit sprang er auf die Brüstung, visierte das Ende des Seiles an, das vor ihm in luftiger Höhe hing – und sprang.

Einen Moment lang schwebte er in banger Ungewissheit, wenn er daneben griff und in die Tiefe stürzte, würde er sich sämtliche Knochen brechen. Dann hatten seine Hände bereits das Tau umfasst und die Sohlen seiner nackten Füße schlossen sich um den untersten Knoten. Sich an das Seil klammernd wie ein Affe an eine Liane kletterte der Dieb nach oben, während die Wächter die erste Etage erreichten. Hell und hart hallten ihre Schritte unter der Kuppel wider. Der Dieb blickte sehnsüchtig am Seil empor – die Öffnung in der großen Glaskuppel, über der sich drohend der schwarze Nachthimmel wölbte, schien ihm unerreichbar fern. Mit zusammengebissenen Zähnen arbeitete er sich weiter voran. Die Wächter durften ihn nicht erwischen, sonst war alles vorbei ...

Er schaute nicht hinab, als tief unter ihm der Lichtschein der Laternen über dem Balkon auftauchte. Die Wächter waren jetzt dort, wo er sich eben noch versteckt hatte. Hätte er nicht die Flucht ergriffen, befände er sich jetzt schon in ihrer Gewalt. Er konnte hören, wie sich die Männer in der Tiefe unterhielten, verstand allerdings nicht, was sie sagten. Das Licht ihrer Laternen flackerte durch die Eingangshalle, glitt über Standbilder und Gemälde – und richtete sich im nächsten Moment auch auf ihn. Der Dieb verharrte in der Bewegung, verhielt sich völlig still, während er am Seil träge hin und her baumelte. Kurz sah es so aus, als hätte der Lichtschein ihn tatsächlich nur versehentlich gestreift. Plötzlich jedoch – er wollte bereits aufatmen – kehrte das Licht zurück, erfasste ihn und riss ihn aus der schützenden Dunkelheit.

»Was zum ...?«, hörte er den Wächter namens Quince von unten rufen – während er seine Reglosigkeit aufgab und unter Aufbietung all seiner verbliebenen Kräfte das restliche Seil hinaufkletterte.

»S-Sir!«, brüllte der Museumswächter mit heiserer Stimme. »Dort oben hängt jemand!«

»Was?«

Die übrigen Wächter stürzten zur Balustrade und sahen zur Kuppel – nur um den Dieb zu gewahren, der gerade das Einstiegsloch erreichte.

»Ein Eindringling!«, rief der Hauptmann der Wachmannschaft wenig geistreich und griff nach seiner Trillerpfeife. Den schrillen Ton vernahm der Dieb nur noch gedämpft, denn in diesem Augenblick schlüpfte er nach draußen und die feuchte Nachtluft hieß ihn willkommen. Er verzichtete darauf, das Seil einzuholen und das Dachfenster, dessen Schloss er geschickt aufgebrochen hatte, wieder zu schließen. Nun war er ohnehin entdeckt und es kam auf jede Sekunde an.

Das schwarze Tuch vor dem Gesicht und die Beute an die schmale Brust gepresst, fuhr er herum und begann zu laufen, über das Dach des Museumsgebäudes, das nach beiden Seiten steil abfiel. Aus den Straßenklüften jenseits des Daches drangen weitere Pfiffe wie ein unheimliches Echo. Das bedeutete, dass der Alarmruf des Wachmanns gehört worden war und die Polizisten, die in den Straßen auf Patrouille waren, jetzt aus allen Himmelsrichtungen zusammenströmten. Innerhalb von Minuten würde es auf der Straße von Constables* wimmeln.

Der Dieb beschleunigte seine Schritte. Leichtfüßig setzte er über das metallene Dach hinweg, dessen Beschläge unter seinen Tritten kaum knarrten. In seiner schwarzen Kleidung verschmolz er nahezu mit der Nacht, und der Rauch und der Nebel taten ein Übriges, um ihn neugierigen Blicken zu entziehen. Hektisches Gebrüll drang jetzt aus den umgebenden Straßen – die ersten Polizisten waren am Schauplatz eingetroffen und wurden von den Wächtern über die Geschehnisse informiert.

»Aufs Dach! Aufs Dach!«, rief jemand. »Dort hinauf ist er!«

»Wir brauchen Licht! Mehr Licht ...!«

Der Dieb lachte verwegen – bis die Uniformierten dazu kamen, ihm zu folgen, würde einige Zeit vergehen. Für einen Augenblick überlegte er, auf dem Dach des Museums zu bleiben und sich im Gewirr der Kamine zu verstecken, die sich wie ein dichter Wald aus dem Gebirge der Firste und Giebel erhoben. Gut möglich, dass er sich so die Nacht über verbergen konnte – spätestens bei Tagesanbruch würde man ihn jedoch aufspüren und dann wäre alles vergeblich gewesen. Er verwarf den Gedanken rasch wieder und konzentrierte sich auf seine Flucht.

Das Regenrohr, über das er das Gebäude erklommen hatte, befand sich auf der Vorderseite, beim Haupteingang. Von dort kam jedoch das lauteste Stimmengewirr. Wenn er der Polizei nicht geradewegs in die Arme laufen wollte, musste er also irgendwie auf der anderen Seite hinuntergelangen ... Abrupt änderte er die Laufrichtung und überquerte den First des Hauptflügels. Dass er nur einen Fehltritt zu tun brauchte, um über das schräg abfallende Dach in die Tiefe zu stürzen, daran versuchte der Dieb erst gar nicht zu denken. Als hätten sie nie etwas anderes getan, tänzelten seine nackten Füße über das eiskalte Blech, das an vielen Stellen schlüpfrig war von Nässe und Ruß.

Endlich hatte er die andere Seite des riesigen Gebäudes erreicht und spähte verstohlen in die Tiefe. Sein heftig pochendes Herz machte einen Freudensprung, als er auf der Straße weder einen Polizisten noch einen Wachmann entdecken konnte. Kurzerhand folgte er der Dachrinne zum nächsten Ablaufrohr und mit demselben katzenhaften Geschick, mit dem er auf das Dach geklettert war, glitt er nun am Rohr hinab. Die Dunkelheit umgab ihn wie ein schützender Mantel und er hoffte, dass seine schwarze Kleidung ihn auch weiterhin vor Entdeckung bewahren würde. Doch diese Hoffnung war trügerisch. Zwar erreichte der Dieb ungesehen den Bürgersteig – als er sich jedoch davonmachen wollte, hörte er plötzlich einen gellenden Schrei.

»Dort! Da läuft er!«

Er wusste nicht, woher der Ruf kam, und er hatte auch keine Zeit, darüber nachzudenken. Stattdessen nahm er die Beine in die Hand und lief, so schnell er konnte, während von beiden Seiten der Straße heller Laternenschein nach ihm tastete und hektische Stiefeltritte zu vernehmen waren.

»Da drüben!«, schrie jemand. »Das ist er!«

»Bleib stehen, Kerl!«

Trotz seiner Erschöpfung musste der Dieb grinsen. Dachten diese Dummköpfe wirklich, er würde stehen bleiben und sich ergeben, nachdem er schon so weit gekommen war? Niemals ... Mit fliegenden Schritten überquerte er die Straße und schlug sich in eine der angrenzenden Gassen. Die Stiefeltritte und das aufgebrachte Geschrei der Uniformierten folgten ihm, während er zwischen den dunklen Backsteinfassaden hindurchhastete, die zu beiden Seiten der Gasse aufragten. Unrat übersäte den Weg, hier und dort lungerten zusammengesunkene, in Lumpen gekleidete Gestalten in dunklen Nischen; aber sie waren zu beschäftigt mit ihrem eigenen Schicksal, als dass sie sich um ihn oder seine Verfolger gekümmert hätten.

Mit zu schmalen Schlitzen verengten Augen suchte sich der Dieb seinen Weg durch das Halbdunkel. Straßenbeleuchtung gab es hier nicht, nur der fahle Mond, der hinter Dunst und Wolken lag, spendete ein wenig Licht. Und die Laternen der Verfolger, die flackernde Schatten auf die schmutzigen Wände warfen.

»Dort ist er! Ich sehe ihn!«, gellte es durch die Gasse.

Im nächsten Moment gab es einen peitschenden Knall.

Einem jähen Drang gehorchend warf sich der Dieb zu Boden und merkte, wie etwas heiß und scharf über ihn hinwegsengte, um mit einem hässlichen Geräusch in die Backsteinwand zu schlagen – eine Pistolenkugel, die ihn nur um Haaresbreite verfehlt hatte! Er stieß eine Verwünschung aus, während er sich auf die Beine raffte und weiterrannte. Soweit er wusste, waren die Beamten der Stadtpolizei grundsätzlich unbewaffnet. Der Schütze war also ein rachsüchtiger Wachmann aus dem Museum, der keine Gnade kennen würde.

Dem Dieb wurde klar, dass aus seinem nächtlichen Abenteuer eine Flucht auf Leben und Tod geworden war. So schnell er konnte, rannte er durch die verwinkelten Gassen, die sich bald vor ihm teilten, dann wieder auf schmale Straßen mündeten, um sich auf der gegenüberliegenden Seite erneut fortzusetzen. Ein festes Ziel hatte er nicht, genau genommen wusste er nicht einmal, wo er sich befand. Er wollte nur die Verfolger loswerden, die sich als ausgesprochen zäh und hartnäckig erwiesen.

Kopflos hastete er durch das Häusergewirr von Holborn. Sein Glück war, dass sich viele der Constables, die aus benachbarten Stadtvierteln herbeigerufen worden waren, in den dunklen Gassen ebenso wenig auskannten wie er selbst. Mit jeder Straße, die er überquerte, und mit jeder Gasse, die sich teilte, verringerte sich die Zahl der Verfolger, sodass ihr empörtes Geschrei und der wütende Tritt ihrer Stiefel schließlich immer leiser wurden. Auch der Laternenschein fiel zurück und nach einer Weile verlangsamte der Dieb seine Schritte.

Keuchend blieb er stehen und lauschte. Als er von seinen Verfolgern nichts mehr hörte, glaubte er aufatmen zu können – aber einmal mehr freute er sich zu früh. Unvermittelt tauchte eine große, drohende Gestalt vor ihm auf, die nach Gin stank und deren Gesicht er in der Dunkelheit nicht erkennen konnte.

»Na, mein Junge?«, lallte eine vom Alkohol heisere Stimme, während eine grobe Pranke ihn packte. »Wohin soll’s denn gehen?«

Für einen Augenblick war der Dieb starr vor Schreck. Dann versuchte er dem Griff des Betrunkenen zu entkommen – vergeblich. Unnachgiebig hielt der dunkle Riese ihn fest, während aus der Ferne wieder die Schritte der Verfolger ertönten, die jetzt rasch aufholten.

Der Unbekannte lachte dröhnend. »Wirst du wohl hier bleiben, du verdammter Bengel? Hat ganz den Anschein, als wären die Wiesel* hinter dir her. Vielleicht ist ja ‘ne hübsche Belohnung für mich drin, wenn ich dich ihnen übergebe ...«

Verzweifelt wand sich der Dieb in der Umklammerung des Mannes. Jetzt konnte er auch die Stimmen seiner Verfolger wieder hören und vom Ende der Gasse kam flackernder Laternenschein. Jeden Moment würden die Constables hier sein ...

»Nein!«, rief der junge Dieb entschlossen – und mit aller Kraft, die er noch aufbringen konnte, trat er seinem unheimlichen Häscher gegen das Schienbein.

Der Betrunkene stieß eine wüste Verwünschung aus und ließ los. Jammernd ging er nieder, während der Dieb die Gelegenheit beim Schopf ergriff und davonrannte. Die derben Flüche des Betrunkenen verfolgten ihn bis ans Ende der Gasse. Ohne sich umzusehen stürzte er hinaus auf die Straße – und hätte um ein Haar ein grausames Ende unter den Rädern eines Fuhrwerks gefunden. Die Pferde scheuten und bäumten sich auf, als er unmittelbar vor ihnen vorbeihuschte. Der Kutscher ballte zornig die Fäuste. Atemlos und mit wild pochendem Herzen erreichte der Dieb die andere Straßenseite, die ungleich belebter war als die Gassen, die hinter ihm lagen. Zahlreiche Gaststätten und Pubs gab es hier, aus denen warmer Lichtschein und schräger Gesang drangen. Betrunkene grölten und Gläser klirrten und trotz der späten Stunde waren die Bürgersteige noch von Passanten bevölkert. Der Dieb nutzte die Gelegenheit, um in der Masse der Menschen unterzutauchen. Spätestens hier, sagte er sich, würden seine Verfolger ihn verlieren.

Abermals irrte er sich.

Zwar war es nur noch eine kleine Gruppe von Verfolgern, die an seinen Fersen hing. Aber ihr Anführer war der Hauptmann der Museumswache, der gute Gründe hatte, den Dieb einzufangen. Die Stelle im Museum war gut bezahlt und sicherte seiner Familie ein ordentliches Auskommen – mit dem es allerdings vorbei sein würde, wenn er einen Einbrecher entkommen ließ.

Seinen alten Armeerevolver im Anschlag war der Wachmann dem Dieb durch die Gassen von Holborn gefolgt und folgte ihm jetzt durch die belebten Straßen von Covent Garden. Mehrmals drohte er ihn in der Menschenmenge zu verlieren, aber er boxte sich rücksichtslos einen Weg durch die Passanten, die ihn laut beschimpften. Und je länger die Jagd dauerte, desto mehr war der Wächter überzeugt den Dieb zu fassen – denn dieser war dabei, in eine Sackgasse zu laufen.

Der Dieb ahnte davon freilich nichts. Auf der Flucht vor seinen Verfolgern rannte er immer weiter, überquerte belebte Plätze und Straßen, vorbei an Menschen, die ihn mit verständnislosen und empörten Blicken bedachten. Die kalte Luft brannte in seinen Lungen. Seine Beine taten weh, er war völlig erschöpft, aber er lief immer weiter – bis eine große dunkle Fläche, über der milchig weißer Nebel lag, seiner Flucht ein jähes Ende setzte.

Die Themse.

Wie ein Phantom war der breite Fluss, der London in weiten Schlangenlinien teilte, aus der Dunkelheit aufgetaucht und schnitt dem Dieb den Weg ab. Abrupt blieb er stehen, überlegte fieberhaft, was er tun sollte – als er bereits Gesellschaft erhielt.

»Da bist du ja! Bleib stehen, Kerl, oder ich erschieße dich wie einen räudigen Hund ...«

Der Dieb wirbelte herum – nur um den Museumswärter zu erblicken, der auf ihn zugelaufen kam, den geladenen Revolver in der Hand. Das Gesicht des Mannes war feuerrot und seine Augen aufgerissen, seine Backen blähten sich wie die einer bisswütigen Dogge. Der Dieb zweifelte nicht, dass der Mann ihn lieber erschießen würde als ihn laufen zu lassen. Nur zwei Möglichkeiten blieben ihm. Entweder er ergab sich oder ... In einem jähen Entschluss warf er die Arme über den Kopf und sprang vom Ufer ab, hinein in die dunklen Fluten des Flusses. Der Wachmann schrie erbost – und fast im selben Moment krachte der Schuss.

Der Dieb spürte, wie ihn etwas in die linke Schulter biss. Dann tauchte er kopfüber in das eisig kalte Wasser. Dunkelheit und Stille umfingen ihn. Mit kräftigen Schwimmzügen wollte er sich außer Reichweite des Revolvers seines schießwütigen Verfolgers oben an der Kaimauer begeben – aber sein linker Arm gehorchte ihm nicht mehr. Zu der Kälte, die von allen Seiten an ihm nagte, gesellte sich brennender Schmerz. Dem Dieb wurde bewusst, dass der Biss, den er gespürt hatte, eine Kugel gewesen war. Er war getroffen ... Sein Vorrat an Luft wurde knapp und er wollte zurück an die Oberfläche, aber auch das gelang ihm nicht. Die Strömung erfasste ihn und trug ihn davon, zog ihn hinab in die dunkle Tiefe.

Schmerz und Erschöpfung übermannten ihn, und während der Dieb langsam das Bewusstsein verlor, wurde ihm klar, dass seine Mission gescheitert war.

Das Monster aus dem Schlamm

Mudlarks* wurden sie genannt, Schmutzfinken – und genau das waren sie auch. Denn wer seinen Lebensunterhalt damit verdiente, im Flussbett der Themse nach Kohlestücken, Eisenbeschlägen, Kupfernägeln und manchmal auch Knochen zu graben, der sah nach getaner Arbeit nicht nur ziemlich schmutzig aus, sondern verbreitete auch einen erbärmlichen Gestank.

Kenny Jones gehörte zu den Schmutzfinken, solange er zurückdenken konnte. Dass man bei der Arbeit schmutzig wurde und nach Fisch und Fäulnis stank, störte ihn nicht weiter. Schlimmer als der Geruch war die Kälte, die einen in die Sohlen biss, an den Waden emporkroch und dafür sorgte, dass die Füße blau anliefen. Und bei jedem Schritt bestand die Gefahr, in einen rostigen Nagel oder eine Glasscherbe zu treten, denn nicht ein einziger Mudlark besaß Stiefel, die er bei seiner Arbeit tragen konnte.

Fand man tatsächlich einmal etwas, das sich bei einem Händler verkaufen ließ, musste man auf der Hut sein, nicht von anderen Schmutzfinken überfallen und um seine Habe erleichtert zu werden. Die meisten Mudlarks waren deshalb in Banden organisiert – so wie Kenny und seine Gefährten, die alle in Moody Joes Diensten standen. Es war harte Arbeit, die die Jungen für den alten Joe verrichteten, dafür gewährte er ihnen Unterschlupf, beschützte sie und gab ihnen zu essen. Und obwohl Joe sie mitunter schlug und zu Zornesausbrüchen neigte, war es immer noch besser, bei ihm zu leben als in einem der zahlreichen Waisenhäuser der Stadt. Zweimal war Kenny dort gewesen und zweimal war er wieder ausgerissen, denn verglichen mit den strengen Aufsehern im Waisenhaus war der alte Moody Joe ein durch und durch gütiger Mensch.

Kenny unterschied sich in nichts von den anderen Kindern, die an diesem unfreundlichen Morgen am Fluss unterwegs waren. Er trug zerschlissene, mit unzähligen Flicken ausgebesserte Hosen, deren Beine er hochgekrempelt hatte; dazu ein Hemd und eine Jacke, die nicht weniger grau und geflickt waren, und auf dem Kopf eine wollene Mütze, die sein flachsblondes Haar bedeckte, jedoch nicht über die Ohren reichte. Unzählige solcher zerlumpten Gestalten, von denen die meisten zwischen sechs und vierzehn Jahre alt waren und wie Kenny keine Eltern mehr hatten, stapften bei Ebbe im Themseschlamm umher – aber es war Kenny Jones, der an diesem Tag einen Fund machte, der sein ganzes Leben verändern sollte.

Es begann damit, dass Kenny im Morast auf etwas stieß – und das im wörtlichen Sinn. Denn als er mit einem schmatzenden Geräusch den Fuß hob, um den nächsten vorsichtigen Schritt zu tun, da trat er auf etwas Hartes. Erschrocken fuhr er zurück, weil er fürchtete, sich an einer Glasscherbe oder einer scharfen Kante geschnitten zu haben. Aber es war keine Scherbe, auf die er im Schlamm getreten war, sondern ein etwa faustgroßer Gegenstand, der in ein schmutziges Tuch gewickelt war. Worauf, fragte sich Kenny, war er da gestoßen? Langsam, um nicht den Neid anderer Mudlarks auf sich zu ziehen, bückte er sich und befreite den Gegenstand vom braunen Schlick. Was genau es war, konnte Kenny noch immer nicht feststellen. Beherzt griff er danach – und erkannte mit Entsetzen, dass eine menschliche Hand das Ding umklammert hielt!

Mit einem Schrei prallte Kenny zurück und fiel auf den Allerwertesten, sodass es nach allen Seiten spritzte. Gleichzeitig schien der Schlamm vor ihm lebendig zu werden und eine grässliche Gestalt erhob sich daraus, an der stinkender Schlick heruntertroff. Sie hatte Arme und Beine – und plötzlich öffnete sich im formlosen Gesicht auch noch ein dunkles Augenpaar, das feindselig auf ihn herabstarrte.

Kennys Nackenhaare sträubten sich. Erst jetzt wurde ihm klar, dass er den Gegenstand noch immer festhielt, ebenso wie die Schlammkreatur, und da weder er noch sie losließ, setzte ein heftiges Ringen ein. Natürlich hätte Kenny am liebsten die Flucht ergriffen, aber er hatte den ganzen Morgen über noch nichts gefunden und die Aussicht, dem alten Moody Joe mit leeren Händen unter die Augen zu treten, ängstigte ihn noch mehr als der Kampf gegen das Monster aus der Themse – zumal sich dieses schon bald als ziemlich menschlich entpuppte.

Je mehr von der dunklen Brühe nämlich an ihm herablief, desto deutlicher wurde, dass Kenny es nicht mit einer Schreckgestalt, sondern mit einem Jungen aus Fleisch und Blut zu tun hatte, der in etwa so alt sein mochte wie er, ihn jedoch um einen knappen Kopf überragte. Das Haar des Jungen war dunkel, ebenso wie seine Haut und seine Kleidung.

»Lass schon los!«, forderte Kenny ihn auf und zerrte mit aller Kraft an dem Gegenstand, von dem er noch nicht einmal wusste, was es war. »Ich hab das Ding zuerst gesehen!«

»Lügner!«, kam es mit unverkennbar indischem Akzent zurück. »Es gehört mir, du elender Dieb ...!«

Kenny wollte widersprechen, aber er kam nicht dazu. Der indische Junge packte ihn am Kragen seiner Jacke und riss ihn nach vorn, und ehe Kenny sichs versah, flog er durch die Luft und landete rücklings im Schlamm. Wieder spritzte es schmatzend nach allen Seiten und Kenny kam sich vor wie ein Schwein in der Suhle. Wutschnaubend und wild entschlossen, sich den fetten Fund nicht entgehen zu lassen, raffte er sich auf die Beine und stürmte erneut auf seinen Gegner ein, der ihn jedoch mit geballten Fäusten empfing und wieder zu Boden schickte.

Kenny wurde klar, dass sein Gegner ihm überlegen war. Wenn er sich die Beute sichern wollte, brauchte er Hilfe – auch wenn das bedeutete, die Belohnung teilen zu müssen, die Moody Joe für den Schatz aus der Themse vielleicht springen lassen würde. Noch im Schlamm liegend, steckte Kenny Daumen und Zeigefinger in den Mund und gab einen gellenden Pfiff von sich, der weit über die Uferbank hallte. Schon wenige Augenblicke später tauchten gedrungene Gestalten aus dem Nebel auf – Jungen, die nicht weniger schäbig und abgerissen gekleidet waren als Kenny und angriffslustig die Zähne fletschten.

Der Inder begriff, dass er in der Falle war. Er unternahm einen halbherzigen Fluchtversuch, aber Trevor und Doyle, zwei Brüder aus Kennys Bande, bekamen ihn zu fassen. Indem er erneut die Fäuste sprechen ließ, gelang es dem Inder zwar, sich dem Griff der beiden zu entwinden, aber im nächsten Moment war ein halbes Dutzend weiterer Mudlarks heran. In einer wüsten Keilerei wurde der fremde Junge niedergerungen. Als er sich weiter erbittert zur Wehr setzten wollte, flog von irgendwo ein Stück Treibholz heran und traf ihn am Hinterkopf. Bewusstlos sackte er zusammen. Der Gegenstand, den er so erbittert verteidigt hatte, fiel ihm aus der Hand. Kenny hob das Ding auf und wickelte es aus, umringt von seinen Kameraden, die ihn mit neugierigen Blicken bedachten.

Was unter den schlammgetränkten Lappen zum Vorschein kam, verschlug den Jungen glatt die Sprache. Es war ein ovaler Stein, glatt geschliffen und aus einem halbdurchsichtigen grünen Material, das geheimnisvoll im Morgenlicht glitzerte.

»Ehrlich, Jungs«, flüsterte Kenny staunend. »Habt ihr eine Ahnung, was das ist?«

»Was soll es schon sein?«, antwortete Doyle. »Ein Stück Flaschenglas ist es, das eine Weile auf dem Grund des Flusses gelegen hat, das sieht doch jeder!«

»Blödsinn«, widersprach Trevor seinem jüngeren Bruder. »Flaschenglas wird trüb, wenn es vom Sand abgeschmirgelt wird – das hier ist ganz klar.«

»Dann hat es eben noch nicht so furchtbar lang auf dem Grund gelegen«, riet Doyle. »Oder es ist irgendwas anderes.«

»Schon«, räumte Trevor ein, »aber was?«

»Ist doch egal, was es ist«, wandte Kenny ein. »Hauptsache, der alte Joe bekommt einen guten Preis dafür und wir mal wieder einen Brocken Fleisch zu essen.«

»Oder ein paar Bratwürste«, fügte Jerry, mit gerade mal acht Jahren das jüngste Mitglied der Bande, hinzu. Allgemeines Nicken und beifälliges Gemurmel, auch Trevor und Doyle stimmten zu.

»Also schön.« Kenny nickte. »Dann schlage ich vor, wir kehren jetzt zum Versteck zurück und bringen diesen Stein oder was auch immer zu Moody Joe.«

»Jetzt schon?«, fragte ein anderer Junge.

»Warum nicht? Wenn wir mit einem solch außergewöhnlichen Fund zurückkommen, hat Joe sicher nichts dagegen. Außerdem bin ich für meinen Geschmack schon genug im Dreck herumgestiegen. Ist verdammt kalt heut Morgen. Die Füße tun mir weh.«

»Mir auch.«

»Und mir erst ...«

Wieder wurde beifällig gemurmelt. Niemand hatte etwas dagegen, früher nach Hause zu gehen. Vielleicht war das Ding, das Kenny gefunden hatte, ja wirklich einiges wert – und vielleicht würden sie ja tatsächlich von den fetten Bratwürsten abbekommen, mit denen Moody Joe sonst nur seinen eigenen Wanst zu stopfen pflegte ...

»Und was ist mit dem da?«, fragte Doyle und deutete auf die Gestalt, die noch immer reglos im Schlamm lag.

Kenny hatte den jungen Inder schon fast vergessen. Seine Beute in der einen Hand, beugte er sich zu dem Jungen hinab und rüttelte ihn mit der anderen am Arm, um ihn zu wecken. Der Inder blieb jedoch ohne Bewusstsein, und als Kenny seine Hand betrachtete, stellte er zu seinem Entsetzen fest, dass sie blutig war. Erschrocken wichen die Jungen zurück. Blut war niemals ein gutes Zeichen, stets bedeutete es Ärger – entweder mit der Polizei oder mit Moody Joe ...

»Das versteh ich nicht«, wandte einer der Mudlarks mit piepsender Stimme ein. »So viel hab ich ihm gar nicht verpasst.«

»Er blutet nicht am Kopf, Mouse«, stellte Kenny fest, »sondern an der Schulter. Er war schon vorher verletzt – das erklärt, warum er hier im Schlamm lag.«

»Dann lasst uns rasch verschwinden«, schlug Trevor vor. »Wenn die Wiesel hier auftauchen, ist es Essig mit unserer Beute. Die nehmen uns das Ding wieder weg und wir gehen leer aus.«

»Wahrscheinlich«, stimmte Kenny zu. »Aber wir können ihn auch nicht einfach hier liegen lassen.«

»Wieso nicht? Schließlich hat er versucht dir das Ding wegzunehmen.«

»Er hatte es in der Hand, als ich ihn fand«, erklärte Kenny. »Eigentlich gehört es ihm.«

»Von wegen«, widersprach Trevor. »Es hat ihm vielleicht mal gehört, aber jetzt gehört es uns. Was im Flussbett liegt, gehört der Allgemeinheit. So ist das Gesetz.«

»Aber vielleicht könnte er uns sagen, was es mit diesem Stein auf sich hat«, gab Kenny zu bedenken.

»Und? Das kann Joe sicher auch.«

»Außerdem werden die Wiesel Fragen stellen, wenn sie ihn finden – und über kurz oder lang werden diese Fragen sie zu uns führen«, fuhr Kenny fort – und darauf wusste auch Trevor nichts mehr zu erwidern. Bis über die Knöchel im kalten Schlamm stehend, steckten die Jungen die Köpfe zusammen und berieten sich. Schon kurz darauf stand das Ergebnis fest.

»Also schön«, erklärte sich Trevor gönnerhaft einverstanden, »nehmen wir den Kerl eben mit. Aber du wirst dem alten Joe erklären, dass er jetzt noch ein hungriges Maul zu stopfen hat, verstanden?«

»Keine Sorge, Trev«, erwiderte Kenny, während er den geheimnisvollen Stein wieder in die schmutzigen Tücher schlug und ihn unter seiner Jacke verschwinden ließ. »Nur keine Sorge ...«

Moody Joe

Sein eigentlicher Name war Moody. Joseph Moody. Aber Kenny, Trevor, Doyle, Mouse und all die anderen Jungen, die in den Diensten des verschrobenen Alten standen, kannten ihn nur als »Moody Joe«. Niemand wusste, woher Joe kam oder was er genau getrieben hatte, ehe ein launiges Schicksal ihn in die Londoner Docklands verschlagen hatte. Er hüllte sich über seine Vergangenheit in Schweigen und stellte im Gegenzug auch keine Fragen. Den meisten seiner Schützlinge war das nur recht, denn nicht wenige von ihnen waren aus Waisenhäusern geflüchtet und hatten das raue Leben auf der Straße dem tristen Dasein in den städtischen Work Houses, Arbeitshäusern, vorgezogen. Denn diese Einrichtungen waren wenig mehr als Gefängnisse, in denen jene, die ohnehin schon nichts hatten, für ihre Armut auch noch bestraft wurden, indem sie von früh bis spät schwer arbeiten mussten und als Bezahlung dafür nur eine karge Mahlzeit bekamen. Andere Jungen hatten sich mit kleinen Diebstählen durchs Leben geschlagen, ehe sie zum alten Joe gestoßen waren; wieder andere hatten in den Bergwerken gearbeitet, bis sie zu groß geworden waren um in die Stollen zu kriechen.

So war es auch bei Kenny gewesen. Seine Eltern hatte er nie kennen gelernt. Er war in einem Waisenhaus aufgewachsen, unter der strengen Aufsicht einer Frau namens Lovely, bei der es sich in Wirklichkeit aber um das hassenswerteste Wesen handelte, dem Kenny je begegnet war. Die Kinder zu quälen und ihnen immer neue Arbeiten aufzubürden, um sie dann mit dünner Suppe und Stockschlägen zu belohnen, hatte Mrs Lovely als ihre höchste Pflicht betrachtet, sodass Kenny sich danach gesehnt hatte, Reißaus zu nehmen und möglichst weit fortzulaufen.

Beim ersten Versuch – da war er sechs Jahre alt gewesen – war er nicht weit genug gelaufen. Die Schergen des Waisenhauses fingen ihn wieder ein und brachten ihn zu Mrs Lovely zurück, die ihm mit wütenden Hieben auf das nackte Hinterteil beibrachte, was sie von Ausflügen in die Freiheit hielt. Kenny ließ sich davon nicht einschüchtern. Nur kurze Zeit später unternahm er einen zweiten Versuch, Mrs Lovelys strenger Obhut zu entkommen, und diesmal hatte er mehr Glück. Bei Nacht und Nebel kletterte er aus einem Fenster des Waisenhauses nach draußen und rannte, so weit er konnte. Am Flussufer, wohin er sich in seiner Not flüchtete, begegnete er den Mudlarks, die ihn mitnahmen zu Moody Joe. Das war vor sieben Jahren gewesen.

Seither lebte Kenny in Joes Schlupfwinkel in den Londoner Docks, zusammen mit den anderen Jungen, die der alte Gauner für sich arbeiten ließ. Die Docks, die sich östlich der Stadt zu beiden Seiten der Themse erstreckten, bildeten den größten Hafen Londons, in dem Schiffe aus fernen Ländern anlegten und die verschiedensten Waren nach England brachten: Tee und Gewürze aus Indien, Zucker und Kaffee aus der Karibik, Reis aus China, Schafsfelle aus Australien und Tabak aus Amerika, dazu Stoffballen, Hölzer, Weinfässer und noch vieles mehr, das in den riesigen Lagerhäusern auf den Docks verstaut wurde. Im hinteren Bereich der Hafenanlagen von Limehouse und Poplar, wo die Lagerhallen weniger groß und prächtig waren, wo es nach Fisch und Fäulnis stank und Unrat die schmalen Gassen übersäte, dort lag Moody Joes Versteck.

Wer nicht genau wusste, wo es sich befand, der hätte es vermutlich nie gefunden; man musste den Weg, der durch die Ruinen einer alten Lagerhalle und über morsche Landestege und mit brackigem Wasser gefüllte Hafenbecken führte, schon sehr genau kennen, um zu dem maroden alten Clipper* zu gelangen, der vergessen vor sich hin dümpelte. Für Kenny und die anderen Mitglieder der Bande war das kein Problem – sie kannten die Docks wie die Taschen ihrer zerschlissenen Jacken und fanden sich auch in finsterster Nacht noch problemlos zurecht.

Dass der alte Joe seinen Schlupfwinkel auf einem Schiff hatte, gefiel den Jungen natürlich, und sie genossen es, nachts in den Hängematten zu liegen und sich vorzustellen, dass ein Windstoß kam und den Clipper aufs Meer hinaustrug, entfernten Ländern und aufregenden Abenteuern entgegen. Aber statt des Knarrens der Taue und des Plätscherns der Wellen gegen den Schiffsrumpf bekamen sie nur Moody Joes heiseres Geschrei zu hören, mit dem der Gauner die Jungen zu wecken pflegte. Bisweilen schien es, als würde Moody Joe seine jungen Schützlinge tatsächlich mögen, aber dann tat er wieder etwas, das diesen Eindruck Lügen strafte. Nie wusste man, woran man bei ihm war – entsprechend vorsichtig war Kenny, als seine Gefährten und er an diesem Vormittag das Deck des Clippers erklommen.

»Joe? Joe, bist du da?«

Keine Antwort.

»Joe?«, rief Kenny noch einmal in Richtung der Kapitänskajüte, die Joe zu seinem Domizil erkoren hatte. »Bist du da?«

»Ja doch«, schnarrte es unfreundlich zurück. »Was soll das Geschrei in aller Herrgottsfrühe? Ihr verdammten Bengels wisst genau, dass ich morgens gern länger schla...«

Das letzte Wort blieb Moody Joe im Hals stecken, als er den mottenzerfressenen Vorhang der Kajüte beiseite schlug und aufs Deck trat. Die dunkel geränderten Augen im bleichen Gesicht des Alten weiteten sich, und sein spitzer Kinnbart begann zu beben, wie er es immer tat, wenn Joe sich über etwas schrecklich aufregte.

»Was – ist – das?«, fragte der Anführer der Mudlarks, auf den bewusstlosen und völlig verdreckten Jungen deutend, den Trevor und Doyle gerade auf den Planken abluden.

»Den haben wir im Schlamm gefunden«, erklärte Kenny kurzerhand.

»Und?«, fragte Joe lauernd und reckte angriffslustig seinen fast kahlen Schädel vor. »Glaubst du vielleicht, ich kann ihn beim Schrotthändler verkaufen? Oder beim Kohlenmann?«

»Das nicht«, räumte Kenny ein, während er genau wie die anderen Jungen ein paar Schritte zurückwich – wenn Moody Joe die Fassung verlor, wurde es gefährlich. »Aber der Junge ist verwundet ...«

»Und?«, wiederholte Joe, dessen wässrige Augen sich zu schmalen Schlitzen verengten. »Sieht dieser Ort für dich wie ein Hospital aus? Oder bin ich neuerdings ein Doktor?«

»N-nein«, stammelte Kenny. »Aber als Fred sich den rostigen Nagel eingetreten hatte, hast du’s wieder hinbekommen. Also dachte ich ...«

»Du sollst nicht denken, sondern tun, was ich dir sage!«, brüllte Moody Joe so laut, dass einige der Jungen schutzsuchend in Deckung gingen. Die hagere Gestalt des Alten bebte unter seinem uralten, unzählige Male ausgebesserten Mantel, die knochigen Hände zitterten vor Zorn. »Und ich kann mich nicht erinnern, dir gesagt zu haben, dass du einen hergelaufenen Inder anschleppen sollst, oder?«

»N-nein«, stotterte Kenny abermals.

»Ich werde dir also beibringen müssen, besser auf meine Worte zu achten, Kenny Jones – und wenn ich jedes davon einzeln in deinen verdammten Dickschädel prügeln muss!«

Schon hob der Alte den Stock, auf den er sich stützte, um seine Drohung in die Tat umzusetzen, als Kenny die in Lumpen gewickelte Beute unter seiner Jacke hervorzog.

»Das hier hatte der Junge bei sich«, erklärte er rasch.

»Was ist das?«, wollte Joe wissen, den Stock noch immer erhoben.

»Ein Stein«, erwiderte Kenny schnell, während er das Fundstück mit vor Kälte und Furcht klammen Händen auspackte. »Ein grüner Stein. Vielleicht wird Iron Jack dir einen guten Preis dafür zahlen ...«

»Ein grüner Stein? Potztausend, was habt ihr mir jetzt wieder angeschleppt? Seid ihr elenden Bengels denn zu gar nichts nütze? Kennt ihr nicht den Unterschied zwischen einem wertlosen Stück Flaschenglas und ...?« Mit einem energischen Griff hatte er Kenny das Ding aus der Hand gerissen – und stutzte, als er es nun genauer betrachtete.

»Sieh an«, sagte er nur, ein gieriges Funkeln in den Augen.

»Was ist es?«, fragte Mouse mit piepsender Stimme.

»Ist es wirklich wertvoll?«, wollte Kenny wissen.

»Blödsinn«, maulte der Alte unwirsch. »Seit wann gibt es in diesem verdammten Fluss etwas Wertvolles zu finden? Ihr buddelt doch alle schon lange genug im Schlamm um zu wissen, dass dort keine Schätze vergraben liegen, oder?«

»Schon«, gab Kenny ein wenig enttäuscht zu. »Wir dachten nur ...«

»Ich sagte es dir schon, Kenny Jones – ich bezahle euch fürs Arbeiten und nicht fürs Denken. Das Ding ist ein gefärbter Glasstein und keinen halben Shilling wert, aber ich werde trotzdem versuchen, dem alten Jack ein paar Kröten dafür abzuschwatzen.«

»Und – der Junge?«

Erst jetzt schien Moody Joe gewillt, sich den Verwundeten anzusehen. Kennys Fund an sich pressend wie einen wertvollen Schatz – und das, obwohl er angeblich gar nichts wert war –, beugte er sich zu dem Bewusstlosen hinab und untersuchte ihn.

»Du sagst, er hatte den Stein bei sich?«, erkundigte er sich argwöhnisch.

»Ja«, bestätigte Kenny. »Der Junge lag bewusstlos im Schlamm und hielt ihn fest. Eigentlich gehört er damit ihm, oder?«

»Papperlapapp«, fuhr Joe ihm über den Mund. »Was auf dem Grund der Themse liegt, gehört den Mudlarks, das ist schon immer so gewesen. Am besten wir werfen den Knaben einfach über Bord, dann haben wir unsere Ruhe.«

»Das kannst du doch nicht machen, Joe«, ereiferte sich Doyle.

»Nein? Hast du dir seine Wunde mal angesehen, Klugscheißer? Das ist eine Schusswunde und die Kugel steckt noch drin. Wer immer dieser Junge ist, er hatte Schwierigkeiten am Hals, und damit will ich nichts zu tun haben.«

»Trotzdem hat Doyle Recht«, pflichtete Kenny seinem Kameraden bei. »Wir können ihn nicht einfach über Bord werfen. Wir sind Mudlarks und keine Mörder!«

Moody starrte ihn an und schien kurz vor einem weiteren Wutausbruch zu stehen. Ein Blick auf den Stein in seiner Hand besänftigte ihn jedoch.

»Also schön«, knurrte er, »aber dass mir das nicht zur Gewohnheit wird, verstanden? Bringt ihn in meine Kajüte und legt ihn auf den Tisch. Aber macht mir keine Sauerei auf dem Boden, verstanden?«

»Verstanden«, erklärten die Mudlarks wie aus einem Munde, und gemeinsam packten sie an, um den rätselhaften Fremden in die Kapitänskajüte zu tragen. Der Atem des Jungen war schwach geworden, die Brust unter seinem durchnässten Gewand hob sich kaum noch.

Kenny hoffte inständig, dass es Joe gelingen würde, die Wunde zu versorgen und den Jungen wieder gesund zu machen – denn auf eine Art, die er nicht näher beschreiben konnte, fühlte er, dass sein Schicksal mit dem des jungen Inders verbunden war.

Böses Erwachen

Kaum etwas war über Moody Joes Vergangenheit bekannt; aber es hieß, dass er vor langer Zeit Soldat gewesen sei und im Krieg von 1815 gegen die Franzosen gekämpft habe. Ob das stimmte, wusste Kenny nicht zu sagen – er hatte es nie gewagt, den Alten danach zu fragen. Aber es wäre eine gute Erklärung dafür gewesen, dass Moody Joe genau zu wissen schien, wie man eine Schussverletzung versorgte; wie man die Kugel mit einer Zange entfernte und die Wunde anschließend ausbrannte, damit sie sich nicht entzündete.

Der Geruch von verbranntem Fleisch erfüllte die Kajüte, als Joe mit einem glühenden Draht in der Schulter des Jungen stocherte. Schlagartig wurde Kenny speiübel und er stürzte nach draußen. Mehrmals würgte er, aber sein Magen war nicht voll genug. Mit hochrotem Kopf kehrte er in die Kajüte zurück – zimperlich zu sein galt unter den Mudlarks als Schande. Aber wie Kenny feststellte, hatten auch die Gesichter der anderen Jungen eine ungesunde Farbe angenommen. Nur Moody Joe war guter Laune. Immer wieder blickte er verstohlen zu der hölzernen Truhe, in die er den grünen Stein gelegt hatte, und mit jedem Blick schien seine Laune noch besser zu werden.

»So«, meinte er schließlich und wischte sich die blutigen Hände an einem schmutzigen Lappen ab. »Das war’s. Ich hab getan, was ich konnte – die nächsten Stunden werden entscheiden, ob er durchkommt oder nicht.«

Kenny nickte. Er war daran gewöhnt, dass junge Menschen starben. Beim harten Überlebenskampf, der in den Straßen und Gassen herrschte, war der Tod ein ständiger Begleiter.

»Kann ich irgendwas für ihn tun?«, fragte Kenny dennoch.

»Nein. Er muss allein sehen, wie er zurechtkommt.«

»Verstehe ...«

»Von mir aus«, fügte Joe rasch hinzu, als würde Kennys Mitgefühl ihn an etwas erinnern, das er längst vergessen hatte, »kannst du auch bleiben und ihm ‘nen nassen Lappen aufs Gesicht legen. Er hat schon jetzt ziemliches Fieber, und es wird noch schlimmer, bevor es besser wird.« Kenny nickte dankbar, und während die anderen Jungen die Kapitänskajüte verließen, angelte sich Kenny einen Stuhl, um sich neben den Patienten zu setzen, den Moody Joe entgegen seinen sonstigen Gewohnheiten in seine eigene Koje hatte legen lassen.

»Was mache ich hier eigentlich?«, hörte er den Alten dabei leise vor sich hin maulen. »Lese einen angeschossenen indischen Bengel von der Straße auf, flicke ihn wieder zusammen und lasse ihn sogar noch in meinem Bett schlafen. Ich sag’s dir immer wieder, Moody Joe – du bist zu gutmütig. Irgendwann werden sie es dir übel danken, das steht fest ...«

Kenny dachte sich nichts dabei. Der alte Joe pflegte des Öfteren Selbstgespräche zu führen, vor allem dann, wenn er guter Laune war. Weiter vor sich hin murmelnd öffnete er die Truhe und entnahm ihr den Stein. »Falls jemand nach mir fragt – ich bin in der Stadt«, schärfte er Kenny ein. »Und falls jemand nach dem Stein fragt ... du hast ihn niemals gesehen, verstanden?«

»Verstanden.« Kenny nickte.

Der alte Joe grunzte entschlossen und wandte sich zum Gehen. Auf der Schwelle der Kajüte rief Kenny ihn jedoch noch einmal zurück.

»Joe!«

»Was denn noch?« Unwirsch drehte sich der Alte um.

»Danke«, sagte Kenny leise.

Der Alte verharrte. Seine sonst so strengen Gesichtszüge entkrampften sich ein wenig. Ein mildes Lächeln spielte um seine Mundwinkel und er schien etwas erwidern zu wollen. Schon im nächsten Augenblick überlegte er es sich jedoch anders und verließ ohne ein weiteres Wort die Kajüte. Helles Tageslicht fiel ins Innere der Kammer, als der Vorhang zurückgeschlagen wurde. Dann herrschte wieder dämmriges Halbdunkel, und zum ersten Mal hatte Kenny Gelegenheit, den fremden Jungen näher in Augenschein zu nehmen.

Dass er ihn zunächst für ein Monstrum aus dem Schlamm gehalten hatte, kam ihm jetzt ziemlich dumm vor. Wie der Junge so dalag, reglos und mit geschlossenen Augen, hatte er nichts Bedrohliches mehr an sich. Joe hatte ihm die verschmutzten Kleider ausgezogen und ihn gewaschen, so gut es möglich gewesen war. Die Wunde hatte er mit einem halbwegs sauberen Tuch verbunden. Eine schäbige Wolldecke sollte verhindern, dass der Junge fror, aber er schien dennoch zu frösteln. Krämpfe schüttelten seine hagere, ausgezehrte Gestalt – das Fieber, von dem Moody Joe gesprochen hatte, begann sich bereits bemerkbar zu machen. Kenny beschloss am Krankenlager zu wachen. Zum einen plagte ihn sein schlechtes Gewissen, weil er dem Jungen den grünen Stein einfach weggenommen hatte. Zum anderen versprach er sich davon Antworten. Wie war der Stein in den Besitz des Jungen gelangt? Weshalb hatte er bewusstlos im Schlamm der Themse gelegen? Und woher stammte die Schusswunde in seiner Schulter?

Kennys Neugier war ungleich größer als seine Gier nach einem Anteil an der Beute. Zwar war ihm klar, dass Moody Joe gelogen hatte, als er behauptete, der Fund sei nichts wert, aber Kenny gab nichts auf Geld und Gold. Was er zum Leben brauchte, das hatte er. Viel mehr interessierte er sich für Abenteuer und Geheimnisse, und er war sicher, dass der fremde Junge ihm manches würde erzählen können, wenn er erwachte.

Noch nie zuvor in seinem Leben hatte Kenny einen Inder aus solcher Nähe gesehen. So anders, wie stets behauptet wurde, schienen sie gar nicht zu sein. Abgesehen davon, dass seine Haut dunkler war als die Kennys und er tiefschwarzes Haar besaß, war an diesem Jungen nichts, was auffallend gewesen wäre – bis auf die Tätowierung, die er auf der Innenseite seines rechten Handgelenks trug.

Kenny kannte Tätowierungen von den Seeleuten und Hafenarbeitern, die in den Docks verkehrten – raubeinige Gesellen, die gerne Rum tranken und denen man am besten nicht in die Quere kam. Aber eine Tätowierung wie diese hatte er noch nie zuvor gesehen. Sie zeigte ein seltsames, verschnörkeltes Zeichen, das entfernt an eine Hand erinnerte. Kenny fragte sich, was es bedeuten mochte, und während er am Krankenlager saß und wachte, reimte er sich die wildesten Geschichten zusammen. Dabei wusch er dem Patienten immer wieder das Gesicht und kühlte seine Stirn, wie der alte Joe es ihm aufgetragen hatte – viel schien es allerdings nicht zu helfen, denn gegen Mittag verschlechterte sich der Zustand des Jungen.

Trotz der Kälte, die in der Kajüte herrschte, standen ihm Schweißperlen auf der Stirn. Er stöhnte leise und warf sich hin und her, und Kenny wusste, dass der Kampf gegen das Fieber begonnen hatte. Er konnte nichts tun als zuzusehen, wie der junge Inder in einem Augenblick unter sengender Hitze zu vergehen schien, um im nächsten Moment wieder so erbärmlich zu frieren, dass es ihn am ganzen Leib schüttelte. Einmal wurde es so schlimm, dass Kenny die Kajüte verließ um Hilfe zu holen. Aber die anderen Jungen der Bande hatten den Clipper verlassen und trieben sich irgendwo auf den Docks herum. Zurückkehren würden sie so schnell nicht, denn bald setzte wieder die Ebbe ein und dann mussten die Mudlarks ihrer Arbeit nachgehen.

Kenny sah ein, dass er auf sich gestellt war, und in seiner Hilflosigkeit fing er an, beruhigend auf den Jungen einzureden, ihm alles Mögliche zu erzählen – von Dingen, die er auf dem Grund des Flusses gefunden hatte, und von Reisen in exotische Länder, die er unternehmen wollte, wenn er erst alt genug dazu war. Moody Joe wurde nicht müde zu berichten, dass viele der Jungen, die einst für ihn gearbeitet hatten, später zur See gefahren waren, und genau das wollte auch Kenny eines Tages tun. Wohin die Reise ging, war ihm ziemlich egal, nur möglichst weit fort von den tristen Gassen Londons, in denen er sein ganzes bisheriges Leben verbracht hatte.

Wie lange er so dasaß und redete, wusste Kenny später nicht mehr zu sagen, aber irgendwann schien sich der Zustand des Verwundeten tatsächlich ein wenig zu bessern. Die Dämmerung brach herein, und je weiter die Sonne dem Horizont entgegensank, desto mehr ließ auch das Fieber nach. Und schließlich – die Nacht war inzwischen hereingebrochen und Kenny hatte eine Talgkerze entzündet, die die Kajüte mit flackerndem Licht erfüllte – kam der fremde Junge für einen Augenblick zu sich.

Es war kein zaghaftes Erwachen.

So jäh, dass Kenny zusammenfuhr, riss der junge Inder die fiebrig glänzenden Augen auf. Gehetzt schaute er sich um, sah die fremde Umgebung und wollte aufspringen, aber seine Kräfte reichten dazu nicht aus. Stattdessen packte er den Kragen von Kennys Jacke und klammerte sich daran. Der Blick seiner dunklen Augen schien dabei geradewegs durch Kenny hindurchzugehen.

»Der grüne Stein«, stieß der Fremde heiser hervor. »Wo ist er?«

»N-nicht hier«, entgegnete Kenny stammelnd. Noch immer war er reglos vor Schreck.

»Wo ist er?«, zischte der Inder erneut. Seine Hände krallten sich in die Jacke, als wollten sie sie nie wieder loslassen. »Wo ist der Stein? Ich muss es wissen ...«

»I-ich habe ihn nicht mehr. M-Moody Joe hat ihn.«

»Wer ist das?«

»U-unser Boss. Ihm gehört dieser Kahn. Die anderen Jungs und ich arbeiten für ihn. Er wollte zu Iron Jack um das Ding zu verscherbeln ...«

»Dann musst du ihn warnen!«, rief der fremde Junge mit einer Stimme, die Kenny Angst machte. »Der Stein darf nicht in falsche Hände geraten, hörst du? Tod und Verderben lauern auf den, der ihn bei sich trägt! Tod und Verderben ...!«

Noch während er sprach, wurde der Blick des Jungen wieder glasig. Sein Griff erschlaffte und er verlor erneut das Bewusstsein und sank auf das Lager zurück.

Kenny war wie erstarrt.

Tod und Verderben lauern auf den, der den Stein bei sich trägt ... Wie ein Echo hallten die Worte in Kennys Gedanken nach. War die Warnung ernst zu nehmen? Oder handelte es sich nur um das sinnlose Gestammel eines Jungen, der im Fieber lag? Angestrengt überlegte er, was er tun sollte. Eigentlich war Moody Joe schon viel zu lange fort. Immerhin war es früher Vormittag gewesen, als der Alte das Versteck verlassen hatte, und er pflegte gewöhnlich nie länger als ein paar Stunden wegzubleiben. Wenn ihm nun etwas zugestoßen war?

Der Gedanke machte Kenny Angst. Obwohl der alte Joe ein Raubein war und ihn längst nicht immer gut behandelte, war er doch der einzige Erwachsene auf der Welt, dem Kenny halbwegs trauen konnte. Er hatte ihm ein Heim gegeben und so viel zu essen, dass er nicht verhungerte – und das war mehr, als man von den meisten anderen Erwachsenen behaupten konnte, denen Kenny in seinem Leben begegnet war.

Die anderen Jungs waren am Fluss bei der Arbeit, sie konnte er also nicht um Rat fragen. Er musste allein entscheiden – und Kenny entschloss sich aufzubrechen und Joe zu warnen. Zwar war er nicht überzeugt, dass der Alte ihm glauben würde, aber versuchen musste er es immerhin. Denn wenn der indische Junge die Wahrheit gesagt hatte – und Kenny hatte das unbestimmte Gefühl, dass es so war –, dann schwebte der Patron der Mudlarks in Lebensgefahr, solange er den grünen Glasstein bei sich trug. Kenny bedachte den Kranken mit einem prüfenden Blick. Der junge Inder hatte die Augen geschlossen, sein Atem ging jetzt ruhiger und gleichmäßiger als vorher. Wie es aussah, brauchte er im Augenblick keine Hilfe – Kennys Sorge galt jetzt Moody Joe.

Kurz darauf verließ er die Kapitänskajüte und den alten Clipper um Joe zu suchen. Den Weg zu Iron Jack, einem Schrotthändler, der am westlichen Rand der Docks einen schäbigen Kellerladen unterhielt, kannte Kenny natürlich. Dorthin ging er zuerst – aber wie überrascht war er herauszufinden, dass der alte Joe dort nie eingetroffen war.

»Nargh«, machte Jack, dessen wilder roter Bart aussah, als hätte auch er schon Rost angesetzt, »den guten Joe habe ich schon seit einer Woche nicht mehr gesehen. Hab mich bereits gefragt, ob er lieber mit anderen Geschäfte macht als mit mir.«

»Mit anderen?«, fragte Kenny neugierig.

»Yargh.« Der Schrotthändler nickte. »Weiß doch jeder, dass der alte Joe ganz gute Verbindungen hat.«

»Verbindungen?«

»Sag mal, Junge – bist du wirklich so dämlich oder tust du nur so? Euer Moody Joe ist beileibe kein Heiliger. Der kennt noch viel mehr Galgenvögel als ich und das will schon was heißen. Hatte er denn einen guten Fund gemacht?«

»Ich denke schon.« Kenny nickte.

»Dann ist er damit nach Stepney gegangen, ins Broken Leg, darauf gehe ich jede Wette ein. Dieser ausgebuffte Hund weiß genau, wo er den besten Preis herausschlagen kann. Ich frage mich nur, ob ... He, wo willst du denn hin?«

Kenny antwortete nicht mehr. Er hatte genug gehört und war bereits auf dem Weg. Er hatte also richtig vermutet. Moody Joe wusste, dass der Stein mehr wert war, als er den Jungen gegenüber behauptet hatte. Eigentlich hätte Kenny dem alten Gauner dafür böse sein müssen, aber er war es nicht; die Sorgen, die er sich um den Alten machte, überwogen seine Wut bei Weitem.

Stepney war jener Stadtteil Londons, der sich unmittelbar an die Docklands anschloss, und das Broken Leg war ein Pub, in dem sich die Lagerarbeiter und Tagelöhner trafen um das wenige Geld, das sie mit harter Arbeit verdienten, für Rum und Gin auszugeben. Kenny kannte den Weg gut; auch Moody Joe ging dort hin und wieder einen heben, und wenn er zu viel getrunken hatte, so mussten einige seiner Jungs kommen und ihn zurück zum Versteck führen. Vor allem Trevor und Doyle pflegten dann ihre Scherze mit dem betrunkenen Joe zu treiben und sich über ihn lustig zu machen.

Um nicht den ganzen Weg nach Stepney zu Fuß zurücklegen zu müssen, tat Kenny das, was alle Straßenkinder taten, wenn sie rasch von einem Ort zum anderen gelangen wollten: Er wartete, bis eine der großen Hackney-Droschken vorbeikam, die wohlhabende Bürger gegen Bezahlung durch die Stadt kutschierten – und sprang auf das Trittbrett an der Rückseite der Kutsche auf. So ging es die Hafenstraße entlang und die Butcher Row hinab, geradewegs hinein in den Nebel, der mit dem Einbruch der Dunkelheit wieder aufgezogen war. Dichte, gelb schimmernde Schwaden, die hier und dort vom fahlen Licht der Gaslaternen beleuchtet wurden, hingen zwischen den hohen Fassaden der Häuser. Aus den Pubs und Lokalen entlang der Straße drang Stimmengewirr und Klarinettengedudel, auf den Bürgersteigen drängten sich Bettler, Betrunkene und Blumenmädchen, dazu Straßenhändler, die heißen Grog, altbackene Muffins und bitteren Tabak verkauften.

An der Straße zur alten Kirche fuhr die Hackney-Kutsche geradeaus weiter. Kurzerhand sprang Kenny ab und bog in die schmale Straße ein, die zu beiden Seiten von dunklen Fassaden gesäumt wurde. Aus hohen Fenstern, die oft kein Glas mehr besaßen, blickten aschfahle, ausgezehrte Gesichter, und in den dunklen Nischen und Hauseingängen kauerten elende, hustende Gestalten, die kein Dach über dem Kopf hatten und erbärmlich froren.

Um sich vor der feuchten Kälte zu schützen, schlug Kenny den Kragen seiner Jacke hoch und steckte die Hände in die Hosentaschen. So ging er die alte Kirchstraße hinauf. Bis zum Broken Leg war es von hier aus nicht mehr weit, und Kenny hoffte inständig, dass er dort den alten Joe treffen würde. Vielleicht, sagte er sich, hatte der alte Gauner den Stein ja tatsächlich zu einem guten Preis verkaufen können und war anschließend in den Pub gegangen, um das glückliche Geschäft zu feiern. Aber Kenny brauchte nur an den gehetzten Ausdruck im Gesicht des jungen Inders zu denken um zu wissen, dass es nicht so war ...

Statt weiter der Straße zu folgen, was einen Umweg bedeutet hätte, beschloss er, lieber den direkten Weg durch die Gassen und Hinterhöfe zu nehmen. Mietbaracken, in denen oft zehn Menschen und mehr in winzig kleinen Zimmern wohnten, drängten sich dort eng aneinander und der Gestank war kaum auszuhalten, aber Kenny wollte nur möglichst rasch ans Ziel gelangen. Je näher er dem Wirtshaus kam, desto mehr beschleunigte er seine Schritte. Die Baracken ließ er hinter sich, bog in eine schmale, von glänzendem Backstein gesäumte Gasse, in der der Nebel so dicht war, dass Kenny die Hand vor Augen nicht sehen konnte.

Schwacher Lichtschein vom Ende der Gasse ließ die Nebelschwaden unheimlich leuchten. Von fern war schon das Gelächter der Betrunkenen aus dem Broken Leg zu hören, das hohl von den Hauswänden widerhallte. Kenny rannte jetzt fast, wollte möglichst rasch die Gasse hinab – als er mit dem Fuß gegen etwas stieß. Um ein Haar wäre er gestürzt, nur mit Mühe hielt er sich auf den Beinen. Im Halbdunkel erkannte er, dass etwas vor ihm auf dem Boden lag. Etwas Schweres, Massiges, das sich nicht ohne Weiteres aus dem Weg räumen ließ.

Kenny bückte sich, um das Hindernis genauer in Augenschein zu nehmen – und sog scharf den Atem ein, als er sah, dass es ein menschlicher Körper war, der da vor ihm in der Gasse lag. Ein Betrunkener? Es kam öfter vor, dass Männer, die über den Durst getrunken hatten, auf offener Straße zusammenbrachen und einfach liegen blieben, und nicht selten erfroren sie jämmerlich.

Kenny sah genauer hin – und erschrak noch einmal, als er den an unzähligen Stellen geflickten Mantel erkannte. In diesem Augenblick wurde ihm klar, dass er zu spät gekommen war ...

Mord im Nebel

»Joe?«

In der engen dunklen Gasse hörte sich Kennys Stimme einsam und verloren an. Plötzlich schien es ringsum totenstill zu sein, nur das ferne Jaulen eines Hundes war zu hören, das schaurig durch die Nacht drang. Kenny merkte, wie sich seine Nackenhaare sträubten, ein eisiger Schauer kroch seinen Rücken hinab.

»Joe?«, fragte er wieder, etwas lauter diesmal – aber der Mann vor ihm auf dem Boden zeigte immer noch keine Reaktion. In Kenny stieg ein grauenvoller Verdacht auf ...

»Joe?«

Er erwartete keine Antwort mehr; er wollte sich nur selbst sprechen hören, der Klang seiner Stimme machte ihm ein wenig Mut. Und schließlich überwand er sich dazu, über den reglosen Körper hinwegzusteigen und ins Gesicht des Mannes zu blicken.

Der Patron der Mudlarks war tot. Mit erstarrten Gliedern lag er da und atmete nicht. Sein Gesicht war zu einer bleichen Maske gefroren und sein Mund weit geöffnet, als habe er bis zum letzten Atemzug um Hilfe geschrien.

Kein Zweifel – Moody Joe war ermordet worden.

Entsetzen schnitt scharf wie ein Messer in Kennys Eingeweide. Sein Herz schlug wie von Sinnen. Von einem Augenblick zum anderen wurde ihm speiübel. Tränen traten ihm in die Augen, aber er war zu verwirrt und zu verängstigt, um Trauer über Joes Tod zu empfinden. Es war nicht das erste Mal, dass Kenny einen Leichnam sah – in den Armenvierteln der Hafengegend kam es immer wieder vor, dass Obdachlose leblos auf der Straße lagen. Aber zum ersten Mal war jemand gestorben, den Kenny gut gekannt hatte.

Am ganzen Körper zitternd atmete Kenny tief durch und überlegte, was er jetzt tun sollte. Für Moody Joe kam jede Hilfe zu spät, Kenny musste jetzt an sich und die anderen Jungs denken. Ohne einen Erwachsenen, der das, was sie im Flussbett fanden, für sie verkaufte, würde es verdammt schwer für sie werden. Es sei denn ... Der gläserne Stein fiel Kenny wieder ein. Joe hatte ihn bei sich gehabt, als er den Schlupfwinkel verlassen hatte, also trug er ihn womöglich noch bei sich. Kenny biss sich auf die Lippen. Es kostete ihn unendliche Überwindung, sich zu Joes Leichnam hinabzubücken und die Taschen seines Mantels zu durchsuchen. Schauder durchrieselten ihn dabei, und halb erwartete er, dass der Alte gleich aufspringen und ihm eine Tracht Prügel verpassen würde. Aber Joe war so tot, wie man nur sein konnte – und den Stein hatte er nicht mehr bei sich. Noch einmal schaute Kenny nach, wühlte in allen Taschen – vergeblich. Der grüne Stein war nicht mehr da!

Entweder, folgerte Kenny, war Joe vor seinem Tod noch dazu gekommen, den Fund zu verkaufen. Oder aber – und das schien Kenny weitaus wahrscheinlicher – der Alte war das Opfer von Räubern geworden ...

In diesem Moment hörte Kenny hinter sich Schritte. Alarmiert fuhr er herum und sah eine dunkle Gestalt, die durch den Nebel auf ihn zukam. Er erschrak. Daran, dass Joes Mörder noch in der Nähe sein könnten, hatte er gar nicht gedacht. Dafür reagierte er jetzt um so schneller, fuhr auf dem Absatz herum und rannte die Gasse hinab. Er kam jedoch nicht weit. Schon nach wenigen Schritten rannte er gegen ein neues Hindernis, das nicht weniger dunkel und schattenhaft war als der Unbekannte, vor dem er floh.

Kräftige Hände griffen nach ihm. »Hier geblieben, Junge«, schnauzte eine barsche Stimme. »Das könnte dir so passen, einfach abzuhauen, wie?«

Mit aller Kraft wehrte sich Kenny gegen den Griff, aber sein Gegner war ihm an Körperkraft und Größe weit überlegen. Kenny konnte nichts dagegen tun, dass er gepackt und fortgeschleppt wurde, der zweiten Gestalt am anderen Ende der Gasse entgegen.

»Ich hab ihn«, verkündete Kennys Häscher triumphierend – und jetzt, da sich der Nebel ein wenig lichtete und schwacher Laternenschein in die Gasse drang, erkannte Kenny die blaue Uniform mit den Messingknöpfen. Die beiden Männer waren Constables. Polizisten. Er war unsagbar erleichtert.

»Bitte, Sir«, flehte er, »lassen Sie mich los. Ich werde Ihnen alles sagen, was ich über Moody Joe weiß.«

»Natürlich wirst du das«, höhnte der andere Polizist. »Spätestens dann, wenn du eine Woche bei Wasser und Brot im dunklen Loch gesessen hast.« Die beiden Constables lachten schallend.

»A-aber nein, Sir«, versicherte Kenny verwirrt, »das ist nicht nötig. Ich werde alles tun, um Ihnen dabei zu helfen, Joes Mörder zu fassen ...«

»Nun hör dir das an, Waldo«, sagte der Mann spöttisch, der Kenny festhielt. »Besitzt die kleine Ratte doch tatsächlich die Frechheit, uns an der Nase herumführen zu wollen, obwohl wir sie auf frischer Tat ertappt haben.«

»Auf frischer Tat ertappt?« Kenny glaubte sich verhört zu haben. Die Constables hielten ihn für Moody Joes Mörder! »Aber Sir, Sie irren sich«, beteuerte er panisch. »Ich habe den armen Joe nicht umgebracht, Ehrenwort!«

»Ehrenwort? Seit wann besitzt eine Straßenratte wie du so was wie Ehre?«, blaffte der Polizist. »Du weißt ja nicht mal, wie Ehre geschrieben wird, oder?«

»N-nein«, gestand Kenny.

Der Polizist lachte verächtlich. »Gib dir keine Mühe, Junge – leugnen ist zwecklos. Schließlich haben wir dich dabei beobachtet, wie du die Taschen des Opfers durchwühlt hast.«

»Aber das ist ein Irrtum, Sir! Ich war nur auf der Suche nach dem wertvollen Stein, den ich im Fluss gefunden habe. Aber er ist verschwunden und ...«

»Im Fluss gefunden? Demnach bist du ein Mudlark?«

»Ja, Sir.«

Der Polizist lachte nur noch lauter. »Seit wann liegen wertvolle Steine auf dem Grund der Themse? Du solltest dich hören. Du lügst, sobald du den Mund aufmachst. Aber das wird dir bald vergehen. Der Inspector wird dir Respekt beibringen, das steht fest.«

»Der Inspector? Aber ich habe nicht ...«

»Maul halten«, befahl der andere Constable barsch, und bevor Kenny noch ein weiteres Wort zu seiner Verteidigung vorbringen konnte, wurde er bereits die Gasse hinabgezerrt. Der andere Polizist betätigte seine Trillerpfeife und in kürzester Zeit wimmelte es in der Gegend von Uniformierten.

Eine Kutsche mit vergitterten Fenstern traf ein, dort hinein wurde Kenny gesteckt. Alles Protestieren und Beteuern half nichts – schon im nächsten Moment fuhr die Kutsche los und Kenny war in ihr gefangen. Es war das erste Mal, dass er in einer Kutsche fuhr, aber unter diesen Umständen hätte er gerne darauf verzichtet. Die Fenster waren zu hoch angebracht, als dass er einen Blick hinaus hätte werfen können. Also blieb ihm nichts anderes übrig als sich auf den strohbedeckten Boden zu kauern und darauf zu warten, dass die Kutsche ihr Ziel erreichte.

Die Fahrt kam ihm endlos vor. Noch immer versuchte er zu begreifen, was eigentlich geschehen war. Der rätselhafte Stein, die Begegnung mit dem indischen Jungen, der Tod von Moody Joe – all das war schon verwirrend genug. Und nun war Kenny auch noch des Mordes an seinem Patron bezichtigt worden und er hatte nichts in der Hand, um seine Unschuld zu beweisen. Was das bedeutete, darüber wollte Kenny lieber gar nicht nachdenken ... Tränen der Verzweiflung traten ihm in die Augen und er wünschte sich von Herzen, jenen verhängnisvollen Fund nie gemacht zu haben.

Irgendwann hielt die Kutsche an. Der Hufschlag der Pferde und das Rumpeln der Räder setzten aus und gespenstische Stille trat ein. Kenny vergaß zu atmen. Er hörte, wie sich von draußen Schritte näherten. Dann wurde die Tür der Kutsche entriegelt und das bärtige, finster dreinblickende Gesicht eines Constables erschien.

»Aussteigen«, befahl er und Kenny gehorchte.

Er blinzelte, als er aus dem Dunkel des Wagens in den fahlen Schein einiger Gaslaternen trat, die einen von hohen Mauern umgebenen Hof beleuchteten. Auf der einen Seite des Hofes gab es ein großes Tor, durch das die Kutsche eingefahren war; auf der anderen Seite ragte ein aus roten Ziegelsteinen gemauertes Gebäude auf, das so hoch war, dass seine oberen Etagen sich im Nebel verloren.

Der Eingang des Gebäudes wurde von uniformierten Polizisten bewacht. Kenny wusste sofort, wo er sich befand.

Dies war das Gebäude von Scotland Yard ...

Der Yard

In den Stadtvierteln, die sich östlich des Towers entlang der Themse erstreckten, genoss Scotland Yard einen fast legendären Ruf. Der Name des Hauptquartiers der Londoner Polizei wurde mit großem Respekt ausgesprochen; selbst Ganoven pflegten ihre Stimme zu senken und sich vorsichtig umzublicken, wenn vom »Yard« die Rede war.

Kenny war nie zuvor hier gewesen, aber das große Hinterhaus am Whitehall Place war ihm in allen Einzelheiten geschildert worden und er erkannte es sofort. Was hätten Moody Joe und die Mudlarks wohl gesagt, hätten sie gewusst, dass er hier war? Dann fiel ihm wieder ein, dass der alte Joe tot war und er selbst des Mordes verdächtigt wurde – und dass er seine Freunde wohl niemals wiedersehen würde ...

Der Constable ergriff Kenny und legte ihm Fußschellen an. Kalt und schwer schlossen sich die rostigen Eisen um seine nackten Fußgelenke. Die Kette rasselte geräuschvoll, als der Polizist ihn zum Eingang bugsierte. Durch von Gaslicht beleuchtete Korridore wurde Kenny in einen Raum geführt, dessen einziges Möbelstück aus einem schäbigen Stuhl bestand. »Setzen«, wies der Constable ihn an, was er gehorsam befolgte. Das Rasseln der Fußschellen verstummte. Eine endlos scheinende Weile saß Kenny so da, bewacht von den kritischen Blicken des Polizisten. Dann waren draußen auf dem Gang plötzlich Schritte zu hören.

Die Tür platzte auf und ein Mann betrat den Raum, der einen geschniegelten Eindruck machte. Der Kragen seines Hemdes war so weiß, dass er Kenny fast blendete, sein dunkler Gehrock besaß samtene Borten. Das rabenschwarze Haar des Mannes war streng gescheitelt und pomadisiert. Auf seiner spitzen Nase, unter der sich ein Schnurrbart zwirbelte, saß eine Brille mit runden Gläsern, durch die ein stechendes Augenpaar blickte. Dies musste der Inspector sein, von dem die Rede gewesen war.

»Nun also!«, rief er ohne ein Wort des Grußes oder sich vorzustellen. Seine Stimme klang so schrill und durchdringend wie die Trillerpfeifen seiner Constables. »Haben wir dich also endlich gefasst, du elender Mörder!«

»Ich? Ein Mörder?« Kenny schüttelte den Kopf. »Bitte, Sir, glauben Sie mir, ich habe niemanden umgebracht. Ganz bestimmt nicht ...«

»Erwartest du, dass ich dir das glaube? Nachdem meine Leute dich auf frischer Tat ertappt haben? Gib dir keine Mühe, du kleine Ratte – dieses Mal haben wir dich geschnappt, und wir werden dich erst wieder freilassen, wenn du uns die Namen deiner Komplizen verraten hast.«

»Die Namen meiner Komplizen? Aber, Sir – ich war allein ...«

»Du willst sie also decken? Du willst uns weismachen, du hättest ganz allein acht Morde begangen?« Der Inspector lachte freudlos. »Nur zu, wenn es dir Freude macht. Aber vielleicht sollte ich dir sagen, dass mehrfache Mörder am Galgen zu landen pflegen, und es ist bestimmt kein Spaß, am Strick des Henkers zu baumeln, Junge ...«

»A-acht Morde?«, fragte Kenny entsetzt – schließlich wusste er nur von dem einen und nicht einmal den hatte er begangen.

Er wurde kreidebleich, was der Inspector auf seine Weise deutete. »Sieh an«, meinte er und schnalzte genüsslich mit der Zunge. »Wirklich rührend, wie du den Ahnungslosen spielst, Junge. Dabei weißt du genau, wovon ich spreche, nicht wahr? Denn du bist jedes Mal dabei gewesen. Du hast Schmiere gestanden, während deine Kumpane die Morde begangen haben, immer auf dieselbe grausame Weise.«

»A-auf dieselbe grausame Weise?«

»Gewiss. Jedes der acht Opfer wurde von hinten gepackt und erwürgt, ohne auch nur eine Chance zu haben, sich zur Wehr zu setzen. Anschließend sind deine Komplizen getürmt, während du die Aufgabe hattest, die Taschen der Opfer zu plündern. So ist es doch gewesen, nicht wahr? Gib es zu, dann hast du es hinter dir ...«

»N-nein«, widersprach Kenny stammelnd, mehr brachte er nicht heraus. Zu viel stürzte gleichzeitig auf ihn ein. Moody Joe war also erwürgt worden – das erklärte, warum er bis zuletzt um Atem gerungen hatte. Aber warum hatte man den alten Gauner umgebracht? Aus Zufall? War er nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen? Kenny glaubte nicht daran. Es musste mit dem Stein zusammenhängen. Offenbar hatte der indische Junge Recht gehabt. Das Ding brachte tatsächlich Tod und Verderben ...

»Willst du es etwa immer noch leugnen?«, bohrte der Inspector weiter. »Willst du deine Kumpane tatsächlich in Schutz nehmen? Das ist sehr dumm von dir ...«

»Es gibt keine Kumpane«, widersprach Kenny. »Ehrlich, Sir, ich habe mit diesen Morden nichts zu tun, ganz bestimmt nicht!«

»Natürlich, und deine Mutter war eine ehrbare Frau, nicht wahr?«

»Das weiß ich nicht, Sir«, erwiderte Kenny, den boshaften Tonfall des Inspectors überhörend. »Ich habe meine Mom nie kennen gelernt.«

»Ich verstehe. Und dein Vater?«

Kenny schüttelte den Kopf.

»Ein Waisenkind also. Und da glaubst du im Ernst, dass ich deinen Worten Glauben schenke? Die Straßen Londons sind voll verlauster kleiner Ratten wie dir und sie alle sind bereit, für ein paar Shillings über Leichen zu gehen.«

»Aber nein, Sir! So etwas würde ich niemals tun! Ich bin ein ehrlicher Mudlark, das schwöre ich!«

»Ein Schmutzfink und ehrlich? Dass ich nicht lache! Du kannst dir deine Lügen für den Richter aufheben, Freundchen. Dorthin wird man dich nämlich bringen, und ich schwöre dir, dass du den Rest deiner Tage in einem finsteren Loch verbringen wirst, wenn du dich weiter weigerst uns die Wahrheit zu sagen.«

»Aber Sir, ich sage schon die ganze Zeit die Wahrheit«, beteuerte Kenny verzweifelt. »Moody Joe war bereits tot, als ich ihn fand. Er hatte diesen Stein bei sich, den ich gefunden hatte, und wollte ihn verkaufen ...«

»Stein? Was für ein Stein?«

»Ein grüner Stein, der aussieht wie geschmolzenes Glas«, beschrieb Kenny seinen Fund. »Moody Joe wollte ihn zu Geld machen, aber der indische Junge sagt, dass der Stein Tod und Verderben bringt, deshalb wollte ich den alten Joe warnen.«

»Ein indischer Junge? Du gibst also zu, mit den verdammten Indern im Bunde zu stehen?«

Die Stimme des Inspectors war noch forscher geworden, sein Blick noch bohrender. Verzweiflung packte Kenny. Was immer er auch zu seiner Verteidigung vorbrachte – er schien es dadurch nur noch schlimmer zu machen ...

»Ich stehe mit niemandem im Bunde, Sir«, versicherte er. »Ich bin nur ein einfacher Mudlark und habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen.«

»Lüge, alles Lüge. Warte nur, bis du erst im Kerker sitzt. In Gesellschaft von Ratten und Kakerlaken haben schon ganz andere ihr Schweigen gebrochen. Glaub mir, mein Junge – wenn ich mit dir fertig bin, wirst du dir wünschen, du wärst nie geboren worden, so wahr ich Desmond Lasalle bin, Inspector bei Scotland Yard!«

»Aber ich lüge nicht, Sir!«, rief Kenny entsetzt. »Warum wollen Sie mir denn nicht glauben?«

Lasalle rümpfte die Nase und wollte schon wieder loswettern, als jemand an die Tür des Befragungszimmers klopfte.

»Herein«, verlangte der Inspector unwirsch.

Die Tür ging auf und ein mit Gehrock und Zylinder bekleideter Gentleman trat ein, der Kenny auf den ersten Blick gefiel. Die Art des Mannes, sich zu bewegen, hatte etwas Beschwingtes, und aus dem bärtigen Gesicht mit dem leicht ergrauten Haar blitzte ein lustiges Augenpaar. Innerhalb der tristen Backsteinmauern wirkte dieser Mann völlig fehl am Platz.

»Sie schon wieder«, knurrte Lasalle prompt, der über den Besucher wenig erfreut zu sein schien.

»Ich schon wieder«, bestätigte der Fremde.

»Was gibt es denn noch? Sehen Sie nicht, dass Sie stören?«

»Durchaus, Inspector, und ich hätte es auch vorgezogen, nicht Zeuge dieser eigenartigen Unterhaltung zu werden. Aber im Vorbeigehen blieb mir nicht verborgen, dass Sie mit diesem jungen Gentleman« – er zwinkerte Kenny aufmunternd zu – »eine lautstarke Auseinandersetzung haben.«

»So würde ich es nicht nennen«, widersprach Lasalle, »und ›Gentleman‹ ist wohl auch kaum die richtige Bezeichnung für eine Straßenratte.«

»Was wird dem jungen Herrn denn zur Last gelegt?«

»Ich denke nicht, dass Sie das etwas angeht, Sir«, schnarrte der Inspector. »Aber wenn Sie es unbedingt wissen wollen – dieser Junge ist ein überführter Mörder.«

»Sieh an, wie interessant.« Der Gentleman bedachte Kenny mit einem prüfenden Blick. »In der Tat, er sieht auch wirklich zum Fürchten aus. Gut, dass Sie den Jungen in Ketten gelegt haben, Inspector.«

»Spotten Sie, so viel Sie wollen – meine Leute haben mit eigenen Augen gesehen, wie sich dieser junge Kerl über das Opfer beugte, das seine Kumpane und er zuvor skrupellos gemeuchelt hatten.«

»Ich verstehe. Und haben Ihre Leute auch gesehen, wie er die Tat begangen hat?«

»Das nicht. Aber er war zur fraglichen Zeit am Tatort. Außerdem gibt er zu, mit verdächtigen Personen zu verkehren. Und er scheint das Opfer sogar gekannt zu haben.«

»Ich kenne viele Menschen«, konterte der Gentleman. »Wollen Sie mich deshalb auch des Mordes verdächtigen?«

»Unsinn. Sie drehen mir das Wort im Mund herum.«

»Ganz im Gegenteil, Inspector – ich nehme Sie nur allzu wörtlich. Und ich werde das Gefühl nicht los, dieser Junge soll dafür büßen, dass Sie und Ihre Leute noch immer keine brauchbaren Ergebnisse in der Sache vorzuweisen haben.«

»Was erlauben Sie sich ...?«

»Wie viele Opfer sind es nun bereits, die alle auf dieselbe Weise starben? Fünf? Sechs?«

»Acht«, verbesserte Lasalle zähneknirschend.

»Acht also. Und Sie wollen mir im Ernst weismachen, dass dieser Junge hier für alle acht Morde verantwortlich ist?«

»Nun, ich ...«

»Dann verraten Sie mir bitte, Inspector, wie ein Kind von dieser Größe und Statur überhaupt in der Lage sein soll, eine solche Mordtat zu begehen? Um sein bemitleidenswertes Opfer zu erwürgen, hätte er eine Leiter besteigen müssen – ich nehme nicht an, dass sie eine am Tatort gefunden haben, oder?«

Lasalle antwortete nicht, aber Kenny konnte deutlich sehen, wie die Gesichtsfarbe des Inspectors von blassem Grau zu dunklem Rot wechselte. »Offen gestanden, Sir«, sagte er, seinen Zorn nur mühsam beherrschend, »habe ich kein Verständnis für Ihren eigenartigen Humor.«

»Und ich habe kein Verständnis für solche Demonstrationen polizeilicher Gewalt. Ich bezweifle, dass der gute Bobby Peel* darüber sonderlich begeistert gewesen wäre. Oder liegt auch nur ein einziger handfester Beweis gegen diesen Jungen vor?«

»Nein«, gestand Lasalle widerstrebend. »Noch nicht.«

»Dann halten Sie diesen Jungen also völlig widerrechtlich hier fest?« Der heitere Glanz war aus den Augen des fremden Gentlemans verschwunden, sein Tonfall hart und forschend geworden.

»Wie ich schon sagte – noch fehlen endgültige Beweise. Aber ich bin sicher, dass wir ...«

»In diesem Fall, Inspector, würde ich vorschlagen, dass Sie Ihres Amtes walten und den Jungen freilassen. Oder soll ich mit Chief Inspector Gordon über die Sache sprechen? Glauben Sie mir, das werde ich gerne tun ...«

Die beiden durchbohrten einander mit Blicken, die Luft schien sich um sie herum merklich abzukühlen. So erleichtert Kenny darüber war, dass jemand für ihn eintrat, so sehr sorgte er sich, der hilfsbereite Gentleman könne nun seinerseits Schwierigkeiten mit der Polizei bekommen. Aber das Gegenteil war der Fall.

»Ich glaube Ihnen aufs Wort, dass Sie das tun würden«, murmelte Lasalle so leise, als würde seine Stimme jeden Augenblick versagen – und zu Kennys maßloser Verblüffung wies er den Constable an, die Fußschellen zu entfernen.

»Geh«, sagte der Inspector zu Kenny, nachdem die Ketten klirrend zu Boden gefallen waren. »Rasch, bevor ich es mir anders überlege.«

Kenny zögerte. Nicht dass er etwas dagegen gehabt hätte, dieses Gebäude so schnell wie möglich zu verlassen. Aber diese Wendung kam so unverhofft, dass er es einfach nicht fassen konnte. War das eine Falle? Wollte man ihn auf die Probe stellen?

»Du kannst gehen, Sohn, es ist vorbei«, sagte nun auch der freundliche Gentleman und mit einem Seitenblick auf Inspector Lasalle fügte er hinzu: »Und du kannst dir auch ruhig Zeit dabei lassen. Komm nur, ich begleite dich hinaus.«

Und an Inspector Lasalle und seinem Handlanger vorbei, die beide aussahen, als hätten sie zum Tee Toast mit Wagenschmiere statt Marmelade gegessen, verließ Kenny das Befragungszimmer, zusammen mit dem freundlichen Gentleman, der ihm väterlich die Hand auf die Schulter legte, was Moody Joe in all den Jahren nie getan hatte. Durch die schmalen, dunklen Korridore ging es nach draußen, und als Kenny ins Freie trat und die kalte, feuchte Luft atmete, da begriff er erst so richtig, dass er gerettet war.

»Danke, Sir«, sagte er, und indem er alles zusammenkratzte, was ihm jemals über gute Manieren beigebracht worden war, verbeugte er sich tief vor seinem Retter.

»Keine Ursache«, erwiderte dieser mit amüsiertem Lächeln. »Du musst Inspector Lasalle entschuldigen, mein Junge. Er ist ein guter Polizist, aber bisweilen schießt er in seinem Eifer übers Ziel hinaus, wenn du verstehst, was ich meine.«

Kenny verstand durchaus – schließlich hatte er Lasalles Übereifer am eigenen Leib zu spüren bekommen.

»Was wirst du jetzt tun?«, fragte der fremde Herr.

»Ich weiß nicht, Sir. Nach Hause gehen, schätze ich.«

»Hast du denn ein Zuhause?« Der Blick des Gentlemans war forschend und Kenny schaute beschämt zu Boden. »Verzeih«, sagte der fremde Herr, »ich vergaß. Willst du mit mir kommen? Ich bin sicher, meine Haushälterin hat noch etwas von der Suppe übrig, die es zu Mittag gab.«

»Suppe?«, fragte Kenny. Allein der Gedanke an glänzende Fettaugen, die ihn aus einem gut gefüllten Teller anblickten, ließ ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen.

»Ja. Hast du keinen Hunger?«

Kenny biss sich auf die Lippen. Natürlich hatte er Hunger, großen sogar. Aber er musste zurück ins Versteck und den anderen berichten, was geschehen war. Und er musste mit dem indischen Jungen sprechen. Er wollte wissen, was es mit dem Stein auf sich hatte, dessen Besitz Moody Joe ganz offenbar das Leben gekostet hatte ...

»Nein«, behauptete Kenny deshalb und gab sich Mühe, möglichst unbeschwert zu klingen (was ihm in Anbetracht der sicher köstlichen Mahlzeit, die er sich entgehen ließ, ziemlich schwer fiel).

»Na schön«, antwortete der Gentleman. »Du bist ein freier Mann und musst tun, was du für richtig hältst. Aber für den Fall, dass du es dir anders überlegst, gebe ich dir das hier.« Er griff in die Innentasche seines Rocks und hielt Kenny ein bedrucktes Stück Papier hin.

»Was ist das?«, fragte Kenny erstaunt.

»Meine Visitenkarte«, erwiderte der Fremde. »Darauf stehen mein Name, mein Beruf und meine Adresse. Wenn du in Schwierigkeiten geraten solltest und Hilfe brauchst, zögere nicht, zu mir zu kommen. Hast du verstanden?«

Kenny nickte und nahm die Karte entgegen – ungeachtet der Tatsache, dass er gar nicht lesen konnte, was er dem Gentleman, der ihm so geholfen hatte, aber nicht sagen wollte. Ein wenig ratlos blickte er auf die Buchstaben, mit denen das Stückchen Papier beschrieben war. Dann steckte er die Karte in die Hosentasche – er wollte sie trotzdem gut hüten.

»Danke, Sir«, sagte er noch einmal. Sein Retter lächelte. Dann verabschiedete er sich, indem er an die Krempe seines Zylinders tippte, und stieg in die Kutsche, die am Straßenrand auf ihn wartete.

Kenny sah dem Gefährt nach, bis es im dichten Nebel verschwunden war. Dann machte er sich auf den Weg zurück zu den Docks. Er merkte nicht, dass er verfolgt wurde.

Ein dunkles Geheimnis

Es war spät nachts, als Kenny in das Versteck in den Londoner Docklands zurückkehrte, erschöpft und müde und mit traurigen Nachrichten im Gepäck. Auch die übrigen Jungen hatten sich inzwischen wieder auf dem alten Clipper eingefunden – die Flut war zurückgekehrt und der Fluss wieder auf seinen üblichen Pegel angestiegen, sodass die Schmutzfinken bis zur nächsten Ebbe warten mussten.

Als sie Kenny sahen, waren die Mudlarks gespannt, was er zu berichten hatte. Nachdem sowohl er als auch der alte Moody Joe spurlos verschwunden waren, hatten Trevor, Doyle und einige andere schon begonnen sich Sorgen zu machen. Nicht im Traum hätten sie sich jedoch ausgemalt, was Kenny ihnen kurz darauf eröffnete.

Die Jungen, die sich unter Deck des alten Clippers versammelt hatten und Kenny aus großen Augen anblickten, unterbrachen ihn kein einziges Mal, als er ihnen ausführlich von den Ereignissen der letzten Stunden erzählte – nicht einmal als sie vom Tod ihres Patrons erfuhren. Ihre Welt war hart und grausam und in den dunklen Gassen der Docklands war ein Menschenleben nicht viel wert.

Nachdem Kenny seinen Bericht beendet hatte, kehrte Schweigen ein. Die Jungen, die im Laderaum des alten Schiffes in ihren Hängematten kauerten oder auf alten Fässern und Kisten hockten, starrten ihn mit großen Augen an. Das Licht des Kerzenstummels, den sie angezündet hatten, warf unsteten Schein auf ihre blassen Gesichter.

Mouse war der Erste, der seine Sprache wiederfand. »Mann«, piepste er. »Ich kann einfach nicht glauben, dass der alte Joe tot sein soll.«

»Ich auch nicht«, pflichtete Doyle ihm bei. »Und du bist sicher, dass er es wirklich gewesen ist, Kenny?«

Details

Seiten
Erscheinungsform
Neuausgabe
Jahr
2016
ISBN (eBook)
9783960530824
Dateigröße
1.3 MB
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (April)
Schlagworte
Edelsteine Kinderkrimi für Jungen historischer Roman London Kinderbuch ab 10 Jahre Spannung Unterwelt für Mädchen Oliver Twist Jugendbuch 19. Jahrhundert eBooks
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Titel: Die indische Verschwörung
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