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Das Haus Anubis - Band 4: Die Auserwählte

Der Roman zur TV-Serie

©2016 277 Seiten

Zusammenfassung

„Nina schlug die Augen auf. Ihr Zimmer sah auf einmal so anders aus, so merkwürdig. Sie wollte ihre unbequeme Stellung verändern, da begriff sie zu ihrem Entsetzen, dass sie mit Händen und Füßen an einen mächtigen Pfeiler gefesselt war.“

Ein finsterer Mann mit einer Rabenmaske bedroht die Bewohner des Hauses Anubis. Mit dem mysteriösen Gral und Ninas Medaillon will er das Grab der ägyptischen Prinzessin Amneris ausfindig machen. Doch um die Schätze des Grabes zu rauben, fehlt ihm noch eine wichtige Person: die Auserwählte! Der Club der Alten Weide versucht, sie vor ihm zu finden, um mit ihrer Hilfe den Fluch zu brechen, der auf Ninas Oma liegt. Die Zeit verrinnt unaufhaltsam, und der Mann mit der Rabenmaske ist den Sibunas stets einen Schritt voraus …

Jetzt als eBook: „Die Auserwählte“, die Buchreihe zur Nickelodeon-Erfolgsserie „Das Haus Anubis“. jumpbooks – der eBook-Verlag für junge Leser.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Über dieses Buch:

Ein finsterer Mann mit einer Rabenmaske bedroht die Bewohner des Hauses Anubis. Mit dem mysteriösen Gral und Ninas Medaillon will er das Grab der ägyptischen Prinzessin Amneris ausfindig machen. Doch um die Schätze des Grabes zu rauben, fehlt ihm noch eine wichtige Person: die Auserwählte! Der Club der Alten Weide versucht, sie vor ihm zu finden, um mit ihrer Hilfe den Fluch zu brechen, der auf Ninas Oma liegt. Die Zeit verrinnt unaufhaltsam, und der Mann mit der Rabenmaske ist den Sibunas stets einen Schritt voraus …

Die Buchreihe zur Nickelodeon-Erfolgsserie – jetzt als eBook!

In der Serie Das Haus Anubis erscheinen bei jumpbooks auch die folgenden eBooks:

Das Haus Anubis: Der geheime Club der Alten Weide

Das Haus Anubis: Das Geheimnis des Grabmals

Das Haus Anubis: Der geheimnisvolle Fluch

Das Haus Anubis: Das Geheimnis der Winnsbrügge-Westerlings

Das Haus Anubis: Die Träne der Isis

Das Haus Anubis: Pfad der 7 Sünden

Das Haus Anubis im Internet:

www.DasHausAnubis.de

www.DasHausAnubis-DerFilm.de

www.studio100.de

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eBook-Neuausgabe April 2016

Copyright © der Originalausgabe 2011 Studio 100 Media GmbH

Text von Claudia Weber und Peter Bondy, basierend auf den Drehbüchern zur TV-Serie Het Huis Anubis von Hans Bourlon, Gert Verhulst und Anjali Taneja

Copyright © der Neuausgabe 2012 dotbooks GmbH, München

Copyright © 2016 jumpbooks. jumpbooks ist ein Imprint der dotbooks GmbH.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nicola Bernhart Feines Grafikdesign, München

Titelbildabbildung: © 2012 Studio 100 Media GmbH E-Book-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN 978-3-96053-001-5

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DAS HAUS ANUBIS

Die Auserwählte

Das Buch zur TV-Serie

jumpbooks

1
NINA IN HÖCHSTER GEFAHR

Nina schlug die Augen auf.

Ihr Zimmer sah auf einmal so anders aus, so merkwürdig.

Ihr Schädel brummte, und sie konnte keinen klaren Gedanken fassen. Der Geruch von altem Moder und Weihrauch drang in ihre Nase.

Nur langsam erkannte sie, dass sie sich nicht im Haus Anubis befand, sondern in einem halbdunklen, hohen, unheimlichen Raum. Einem Raum, wie es ihn nur in Kirchen gab. In Burgen oder in Schlössern.

Sie wollte ihre unbequeme Stellung verändern, sich umdrehen, einen Fluchtweg suchen, da begriff sie zu ihrem Entsetzen, dass sie mit Händen und Füßen an einen mächtigen Pfeiler gefesselt war.

Sie wollte laut schreien, doch auch das ging nicht, denn irgendjemand hatte ihr mit einem breiten Klebestreifen den Mund verschlossen.

Was war das denn für ein Albtraum?

Nina kam er viel zu echt vor, obwohl sie von ganzem Herzen hoffte, jetzt, auf der Stelle, in der nächsten Sekunde daraus zu erwachen.

Nur langsam kehrten ihre Erinnerungen zurück. Sie war mit dem Club und den anderen auf einem WochenendCamping-Trip ins Hirschbachtal gewesen, den Luzy, Charlotte und Fotograf Max bei einem Wettbewerb für Schülerzeitungen gewonnen hatten. Sie war ein Stück hinter der Gruppe zurückgeblieben und an einem Abhang stehen geblieben, von wo aus man einen tollen Ausblick auf ein mächtiges, unheimliches Schloss hatte.

Dann musste sie das Gleichgewicht verloren haben. Jedenfalls endete an dieser Stelle ihre Erinnerung.

Wo bin ich hier?, fragte sie sich. War sie im Innern des Schlosses? Und wenn ja, wer hatte sie hergebracht?

Angst schnürte ihr die Kehle zu, und ihr war eiskalt. Gänsehaut lief über ihren Körper wie Tausende kleiner Käfer. Kein Wunder, denn man hatte ihr nur ein dünnes Hemd übergeworfen. War das ein Opfergewand?

Sie hätte so gern geschrien, nur durch den Klebestreifen drang kein einziger verständlicher Ton!

Plötzlich quietschte eine Tür. Sie schaute sich um, doch ein Vorhang verdeckte ihr die Sicht.

»Mmpf!«, stieß sie hervor und hätte gern mit dem Fuß aufgestampft, um auf sich aufmerksam zu machen.

Die Schritte kamen näher, und noch einmal quietschte die Tür. Nina hörte eine Stimme. War das Victor?

Wie wild zerrte Nina an ihren Fesseln.

Da wurde der Vorhang zur Seite gerissen, und vor ihr standen Victor und ein ganz in Schwarz gekleideter Mann mit einer unheimlichen Rabenmaske.

Nina verdrehte nur noch die Augen und sank mit einem Seufzer in Ohnmacht.

Als sie wieder zu sich kam, lag sie auf einer Art Altar. Sie war noch immer in dem unheimlichen Raum. Nur hatte man sie auf golden schimmernde Tücher gebettet und ihr die Hände vor dem Bauch gefesselt.

Der Duft nach Weihrauch war noch intensiver geworden, und es brannten sogar einige Kerzen. Sollte sie in diesem seltsamen Raum etwa geopfert werden?

Nina versuchte sich zu wehren, als der Mann mit der Rabenmaske ihr Sarahs Medaillon um den Hals legte, doch sie hatte keine Chance.

Dann riss ihr dieser Fiesling mit der Rabenmaske mit einem Ruck den Klebestreifen von den zarten Lippen.

»Hilfe!«, brüllte Nina aus Leibeskräften. Vor Schmerz, vor Angst, vor Wut. »Hilfe!!!« Ihre Haut brannte wie die Hölle.

Der Mann mit der Rabenmaske lachte. »Schrei nur«, sagte er spöttisch. »Hier auf dem Schloss hört dich niemand.« Er beugte sich vor und rückte Sarahs Medaillon noch einmal zurecht.

Nina verstummte. Wo hatte der Mann das Medaillon her?

Erst jetzt bemerkte Nina, dass jemand hinter ihr stand und ihr die Schultern mit eisernem Griff in die schimmernden Tücher drückte.

Victor!

Der Verwalter steckte also doch hinter der Geschichte. Er musste ihr das Medaillon gestohlen haben. Und auch den Gral. Aber wer war der andere Mann?

Mit einem Mal durchfuhr Nina ein eisiger Schreck der Erkenntnis.

Sie war die Auserwählte!

Sie trug das Medaillon. Und wenn die beiden Männer jetzt auch noch den Gral hatten, würden sie das Ritual vollziehen können, um die magische Wand vor dem Liebesgrab von Amneris und Tutanchamun zu öffnen, das der Legende nach randvoll mit Gold und Edelsteinen war. Ohne Zweifel wollten die beiden es ausrauben. Das durfte Nina auf keinen Fall zulassen.

»Hier ... festhalten!«, befahl der Mann mit der Rabenmaske und riss Nina damit aus ihren verzweifelten Gedanken. Er hielt tatsächlich den Gral in der Hand.

»Nein!« Nina dachte gar nicht daran.

»Tu es!«, drängte ihr Entführer.

»Niemals!« Störrisch verschränkte Nina die Finger ihrer gefesselten Hände.

»Denk an deine Oma«, drohte der Mann mit der Rabenmaske ungeduldig. »Du willst doch auch, dass sie wieder aufwacht, oder?«

Nina schluckte, und ihr brach der Schweiß aus. Der Fluch des Pharaos war schuld daran, dass ihre Großmutter im Koma lag. Und sie selbst hatte ihn wahrscheinlich ausgelöst, als sie den Gral geöffnet hatte. Die Lösung, wie der Fluch aufgehoben werden konnte, befand sich im Liebesgrab. Das hoffte sie zumindest. Doch wenn Victor und sein Komplize das Grab plünderten, würden Tutanchamun und seine Geliebte Amneris niemals in Liebe vereint sein können. Was sollte sie tun? Sie sah ihre Großmutter vor sich, die stumm und gefangen in ihrem eigenen Körper im Krankenbett lag und aus eigener Kraft an der ganzen Situation überhaupt nichts ändern konnte.

Zögernd umfasste Nina den Fuß des Grals.

Der Mann mit der Rabenmaske zwang sie, ihre gefesselten Arme auszustrecken und den Gral, so weit sie konnte, in die Höhe zu halten.

»Endlich«, krächzte der unheimliche Fremde. »Es ist so weit. Jetzt gibt es kein Zurück mehr.«

Theatralisch breitete er die Arme aus, als wolle er empfangen, was immer sich ihnen nun aus einer anderen Welt zeigen würde.

Ängstlich sah Nina sich um. Ihre Gedanken rasten. Was sollte sie nur tun? Sie musste unbedingt einen Weg finden, um die beiden Männer daran zu hindern, das Liebesgrab auszurauben.

Die Sekunden verrannen, aber es geschah nichts!

Kein Knall, kein gleißendes Licht, keine Rauchschwaden, die durch den Raum waberten, und es erschien schon gar keine magische Wand, die sich wie von Zauberhand teilte und den Blick auf die unermesslichen Schätze des Liebesgrabs freigab.

Alles blieb, wie es war.

Der Mann mit der Rabenmaske wurde sichtlich nervös. »Und jetzt?«, fragte er wütend. »Ich verstehe das nicht. Es ist doch alles richtig so.«

»Stimmt etwas nicht?«, erkundigte sich Victor unsicher.

»Irgendetwas passt nicht«, schimpfte der unheimliche Fremde. »Wir haben die Auserwählte, wir haben den Gral und das Medaillon! Jetzt muss uns doch eigentlich mitgeteilt werden, wo dieses verdammte Grab ist!«

Nina spürte, dass ihre letzte Chance gekommen war. Sie wusste nicht, was die Männer mit ihr machen würden, wenn sie sich als nutzlos erwies. Immerhin hatte sie Victor erkannt. Würde er sie einfach wieder laufen lassen?

»Hilfe!«, schrie sie erneut aus Leibeskräften. »Hilfe! Hilfe!!!«

Und diesmal wurde sie offenbar gehört. Von draußen trommelten Fäuste gegen die Tür, die in den geheimen Raum des Schlosses führte.

»Nina!«, rief jemand. Es war Luzy.

Dann hörte sie Daniels Stimme. »Nina!«

Noch nie in ihrem Leben war Nina so erleichtert gewesen. Ihre Freunde hatten sie gefunden.

Aber so einfach gab der Mann mit der Rabenmaske nicht auf. Blitzschnell presste er Nina die Hand auf den Mund. Sie bekam keinen Ton mehr heraus.

»Schnell!«, rief der unheimliche Fremde Victor zu. »Die Tür!«

Hektisch schaute Victor sich um. Dann griff er nach einem Stuhl, um ihn unter die Klinke zu schieben. Doch die Lehne war einfach zu hoch.

Von draußen wurde immer noch gegen die Tür getrommelt.

»Nein, den Kerzenständer, Idiot!«, schnauzte der Mann mit der Rabenmaske und eilte Victor zu Hilfe. Er musste unbedingt verhindern, dass jemand die Tür öffnete und ihn auf frischer Tat ertappte. Das wäre das Ende all seiner Pläne gewesen.

Nina reagierte unterdessen blitzschnell. Sie drehte sich zur Seite und schob den Gral mit ihren gefesselten Händen unter die schimmernden Tücher, die den Altar bedeckten.

»Los! Ich brauche Wasser!«, rief der Mann mit der Rabenmaske, während er Victor den Kerzenständer entriss und ihn eigenhändig unter die Klinke rammte. »Und ein Glas! Zack, zack!«

Nina hörte, wie ihre Freunde sich draußen an der Tür zu schaffen machten. Sie versuchten bestimmt, mit allen Mitteln zu ihr zu kommen.

Gleich würde sie in Sicherheit sein.

Victor kam mit einem Glas Wasser zurück. »Was ist das?«, fragte er nervös, als der Mann mit der Rabenmaske aus einem Hohlraum in seinem Ring ein weißes Pulver hineinschüttete.

»Etwas, was ihr Gedächtnis ausschaltet«, erwiderte der unheimliche Fremde.

Nina wollte das Wasser nicht trinken. Doch Victor packte ihren Kopf, und der Mann mit der Rabenmaske hielt ihr die Nase zu, bis sie den Mund öffnen musste, um Luft zu holen. Dann flößte er ihr Schluck für Schluck das Wasser mit dem aufgelösten Pulver ein.

Draußen waren jetzt wuchtige Schläge zu hören. Irgendjemand hatte sich offenbar einen massiven Gegenstand besorgt, um die Tür aufzusprengen.

Ich muss durchhalten, dachte Nina verzweifelt. Gleich sind die anderen bei mir.

Doch sie spürte bereits, wie das seltsame Pulver seine Wirkung tat.

Die Schläge gegen die Tür wurden in ihrem Kopf zu einem Dröhnen. Die beiden Männer schienen sich plötzlich wie in Zeitlupe zu bewegen, ihre Stimmen klangen, als kämen sie von einem zu langsam laufen Tonband. Der Altar unter ihr begann zu schwanken.

Ich darf jetzt auf keinen Fall ohnmächtig werden, dachte Nina.

Es war ihr letzter Gedanke.

Dann versank alles um sie herum in tiefer Schwärze.

Draußen hämmerte Daniel immer noch wie wild gegen die Tür. »Nina!«, rief er. »Nina!«

Doch die massive Tür hielt stand. Auch Felix und Luzy hatten versucht, mit ein paar schweren Gegenständen das dicke Holz einzuschlagen, hinter dem ihre Freundin Nina offensichtlich gefangen gehalten wurde.

Aber es schien aussichtslos. Was sollten die drei nur tun?

Im selben Moment näherten sich hinter ihnen Schritte.

Daniel fuhr herum. »Herr Radus!«, rief er überrascht und zugleich erfreut, den Lehrer zu sehen.

»Was ist los?«, fragte der Lehrer und trat zu der Gruppe. »Wo ist Nina?«

»Herr Radus, bitte helfen Sie uns!«, schrie Luzy hysterisch. Sie war völlig aufgelöst. »Nina ist da drin. Die Tür ist zu. Wir können nicht rein!«

»Ganz ruhig, Luzy. Ganz ruhig. Ich versteh kein Wort«, erwiderte der Lehrer ruhig.

»Nina ... wir haben sie schreien hören.« Daniel war sehr aufgeregt. »Aber die Tür ist abgeschlossen.«

Herr Radus trat einen Schritt vor und klopfte kräftig gegen das schwere Holz der Tür. »Victor!«

Verblüfft sahen die anderen drei ihren Lehrer an. Woher wusste er, dass Victor sich in dem Raum befand?

Radus schlug nun etwas heftiger gegen die Tür. »Victor! Machen Sie auf!«

»Victor ist da drin?«, fragte Luzy verblüfft.

»Ist der Typ taub?«, meinte Felix. »Wir klopfen hier schon die ganze Zeit.«

»Er hat mich angerufen«, erklärte Herr Radus fast entschuldigend. Noch einmal schlug er gegen die Tür. »Victor!«

Und dann, endlich, wurde die Tür geöffnet. Vor ihnen stand tatsächlich Victor.

Sofort strömten alle an ihm vorbei und beugten sich über Nina, die mit einer groben Wolldecke zugedeckt war.

»Nina!«, rief Daniel besorgt.

Auch Luzy konnte nicht fassen, was sie da sah. »Nina«, flüsterte sie eindringlich und rüttelte ihre Freundin an der Schulter. Doch die rührte sich nicht.

»Warum haben Sie denn nicht aufgemacht?«, wandte sich Daniel ärgerlich an Victor.

»Wir haben die ganze Zeit gegen die Tür gehämmert«, schimpfte Felix.

»Ja, ich ...«, stotterte Victor, »... ich habe eine Decke gesucht.«

Luzy musterte den Verwalter misstrauisch. »Sie müssen uns doch gehört haben!«

»Vielleicht zu dicke Wände«, versuchte Victor sich herauszureden.

»Wie lange ist sie schon bewusstlos?«, wollte Radus wissen.

»Eigentlich schon die ganze Zeit«, erwiderte Victor.

»Aber sie hat doch gerade eben noch geschrien«, wandte Luzy ein.

Victor wand sich wie ein Aal. »Ja, sie ist ganz kurz zu sich gekommen.«

»Und wie geht es ihr nun?«, erkundigte sich Daniel besorgt.

»Ich fürchte ... nicht so gut ...«, meinte Herr Radus düster.

»Rufen wir die 112«, entschied Luzy.

Man sah, wie Victor das Herz buchstäblich in die Hose rutschte. »Einen Krankenwagen?«, fragte er entsetzt.

»Ja, klar«, stimmte Herr Radus zu.

Nina lag immer noch vollkommen reglos vor ihnen.

»Warum haben Sie nicht aufgemacht?«, beharrte Daniel, dem die ganze Situation ausgesprochen missfiel.

»Daniel! Schluss jetzt«, unterbrach ihn der Lehrer. »Victor hat mich doch angerufen.«

»Sie können mir nicht erzählen, dass ...«, holte Luzy erneut aus.

Doch Radus unterbrach sie. »Ende der Diskussion.« Er griff nach seinem Handy. »Ihr geht jetzt lieber zu Herrn Altrichter.« Dann wandte er sich ab und rief einen Krankenwagen.

»Nina!«, flehte Luzy. »Bitte wach auf!«

»Daniel, du musst sie küssen«, schlug Felix allen Ernstes vor. »Dann kommt sie wieder zu sich.«

»Felix«, antwortete Daniel genervt. »Das hier ist kein blödes Märchen.«

»Probier’s doch wenigstens mal«, beharrte Felix.

In diesem Moment trat Radus wieder zu den Schülern. »So, der Krankenwagen kommt. Und ihr geht jetzt zu Herrn Altrichter.«

»Ich bleibe hier!«, entschied Daniel.

»Ich verstehe ja, dass du dir Sorgen machst«, versuchte Herr Radus Daniel zu beruhigen, »aber das hat jetzt keinen Sinn. Also komm ...«, sagte er noch einmal und schob die drei mit sanfter Gewalt aus dem Raum. »Ich kümmere mich um sie. Versprochen.«

Nach einem letzten Blick auf Nina, die wie aufgebahrt und völlig regungslos auf dem Altar lag, verließen Luzy und Felix widerstrebend den Raum.

Daniel drehte sich noch einmal zu Nina um. Wäre es nicht seine Pflicht, bei ihr zu bleiben?

Doch auch ihn beförderte Herr Radus hinaus. »Ich kümmere mich um sie«, versprach er erneut.

Es dauerte nicht lange, bis die drei Herrn Altrichter und die anderen im würzig duftenden Wald gefunden hatten. Sofort bestürmten sie den Direktor mit ihren Erlebnissen.

»... und dann haben wir sogar ein Schwert genommen, um die Tür einzuschlagen«, berichtete Felix aufgewühlt. »Die war jedoch aus so dickem Holz ...«

»Und Nina war laut Victor die ganze Zeit bewusstlos«, fiel Luzy ihm ins Wort. »Aber wir haben sie doch schreien hören ...«

Beschwörend hob Herr Altrichter die Hände, denn er verstand kein einziges Wort mehr. »Otium cum digitale!«, sagte er. »Einer nach dem anderen – und bitte ruhig!«

Plötzlich meldete sich ein Handy mit einem ziemlich altmodischen Klingeln.

»Hat hier jemand Empfang?«, fragte Herr Altrichter überrascht.

»Ja ... Sie!«, meinte Felix trocken.

»Ich?« Sofort begann Herr Altrichter in den vielen Taschen seiner Outdoorweste zu wühlen und förderte schließlich ein ziemlich großes und aus der Mode gekommenes Mobiltelefon zutage.

»Klar! Ist ja typisch. Er hat natürlich Empfang – mit seinem Handy aus der Steinzeit«, meinte Felix genervt zu Daniel und Luzy.

»Altrichter«, meldete er sich schließlich, nachdem er den Knopf zum Einschalten gefunden hatte. »Altrichter hier! Hallo?« Niemand schien sich zu melden. Aber dann kam doch noch eine Verbindung zustande. »Ah!«, seufzte der Lehrer erleichtert. »Altrichter, ja.«

Unterdessen hatten sich die Mitglieder vom Club der Alten Weide zusammengefunden und steckten die Köpfe zusammen.

»Was ist denn los?«, wollte Delia wissen. »Wie geht’s Nina?«

»Wir wissen es nicht«, erwiderte Luzy besorgt. Sie wandte sich an Daniel, der auf einem Feldstein saß und dumpf vor sich hin starrte. »Daniel? Alles okay bei dir?«

»Ja, ja«, wehrte der genervt ab. »Lass mich einfach mal einen Moment in Ruhe.«

»Sie ist also bewusstlos«, stellte Delia fest.

Luzy nickte. »Ja ... es ist alles so merkwürdig. Sie ist bewusstlos, aber sie hat nichts! Und Victor war auch total komisch.«

»Victor war da?«, fragte Delia verblüfft.

»Ja ... und er hat uns angeblich nicht gehört«, meinte Felix. »Diese Geschichte stimmt hinten und vorn nicht.«

»Denkt ihr ... der Fluch?«, fragte Delia nach einem Moment des Schweigens.

Doch bevor die anderen antworten konnten, ertönte die Stimme von Herrn Altrichter durch den Wald: »Silentium! Silentium!«, rief er, um sich Gehör zu verschaffen. »Das war Herr Radus. Nina wird ins Krankenhaus gebracht, und wir fahren alle mit dem Bus zurück. Unser Zeltlager ist leider beendet!«

»Aber ...«, begann Daniel.

Doch Herr Altrichter ließ sich nicht beirren. »Bitte in Zweierreihen aufstellen. Wir fahren zusammen nach Hause. Kommen Sie. Etwas Bewegung bitte.«

Wenig später saßen alle in dem alten Bus des Internats und winkten Victor zu, der verzweifelt versuchte, sie noch einzuholen. Aber jeder gönnte es der alten Übelkrähe, dass sie nach Hause hüpfen musste. Und keiner kam auf den Gedanken, Herrn Altrichter oder den Fahrer darauf aufmerksam zu machen, dass draußen jemand völlig außer Atem und wild mit den Armen fuchtelnd hinter ihnen herkeuchte. Wer zu spät kam, den bestrafte das Leben.

Daniel bekam von all dem nicht viel mit. Noch einmal las er die letzten Zeilen, die Nina ihm in ihrem Brief geschrieben hatte.

... Ich hoffe, dass du mir vergeben kannst. Daniel ... Du warst immer der Einzige für mich ...

Betrübt faltete Daniel den Brief zusammen.

Charlotte entging Daniels miese Stimmung nicht, und sie setzte sich auf die andere Seite des Ganges neben ihn. »Hey«, meinte sie mit einem mitfühlenden Lächeln.

»Hi.« Daniel rang sich ein kurzes Lächeln ab.

»Alles in Ordnung bei dir?«, fragte Charlotte nach.

»Geht so.« Daniel ließ ziemlich den Kopf hängen.

»Und jetzt habt ihr euch gerade erst wieder versöhnt.« Charlotte seufzte.

»Ich weiß.«

Dann schwiegen die beiden. Es gab einfach nichts mehr zu sagen, und jeder hing seinen eigenen Gedanken nach, während der Bus sie zurück zum Haus Anubis fuhr.

Dort wurden sie gleich von der besorgten Rosie empfangen. »Ach du liebe Zeit, Kindchen«, sagte sie und umarmte Delia. »Ist alles in Ordnung bei euch? Herr Radus hat es mir gerade erzählt.«

»Wissen Sie etwas Neues?«, wandte sich Daniel an den Lehrer, der offensichtlich schon vor ihnen zurückgekehrt war.

Herr Radus nickte. »Nina liegt im Krankenhaus. Und dort wird sie wahrscheinlich auch eine Weile bleiben müssen.«

»Ist sie ... ist sie wieder bei Bewusstsein?«, wollte Daniel wissen.

Herr Radus schüttelte den Kopf. »Nein, leider nicht. Die Ärzte wissen auch nichts Genaues. Wir werden einfach abwarten müssen. Tut mir sehr leid. Ich hätte gern bessere Neuigkeiten für euch.«

Alle schauten ziemlich betreten vor sich hin, als plötzlich die Tür aufging und Victor hereingetaumelt kam.

Verblüfft starrte Rosie ihn an. »Victor? Wie siehst du denn aus?«

Der Verwalter sah wirklich aus, als habe er versucht, in einem Misthaufen sein Schwimmabzeichen zu machen.

»Ihr Satansbraten!«, fluchte er. »Ich wollte doch mit in den Bus!«

»Echt?«, gab sich Delia unschuldig. »Wir dachten, dass Sie uns hinterherwinken.«

»Natürlich nicht!«, schnauzte Victor.

Auch Herr Radus konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Wie sind Sie dann hierhergekommen?«

»Per Anhalter«, knurrte Victor. »Mit einem Schweinebauern.«

»Was für ein Tag«, bemerkte Herr Altrichter, und auch um seine Mundwinkel zuckte es verräterisch. »Was für ein Tag. Na zum Glück haben Sie Nina gefunden. Wo lag sie denn überhaupt?«

»Unten in der Schlucht«, erwiderte Victor gereizt.

»Da haben wir sie nicht gesehen«, stellte Daniel fest.

»Da lag sie aber!«, beharrte Victor.

Delia schüttelte entschieden den Kopf. »Das kann nicht sein!«

»Ich geh mich dann mal waschen«, murmelte Victor und wollte möglichst schnell verschwinden, um weiteren Fragen aus dem Weg zu gehen.

»Ist alles in Ordnung mit Ihnen?«, hielt ihn Herr Altrichter an der Schulter zurück. »Sie scheinen ziemlich durcheinander zu sein.«

Doch Victor riss sich los. »Mir geht es ausgezeichnet!«, erklärte er und stapfte wütend davon.

Die Nacht hatte sich über das Haus Anubis gesenkt. Draußen heulte der Wind. Daniel saß auf Ninas Bett und las wieder und wieder den Brief, den sie ihm geschrieben hatte: Du warst immer der Einzige für mich, Daniel. Deine Nina

Die anderen hatten sich im Sibuna-Kreis auf den Boden gesetzt.

»Daniel?«, erkundigte sich Luzy. »Kommst du?«

Daniel zögerte.

Luzy stand auf und setzte sich neben ihn auf Ninas Bett. »Na, komm schon. Wir wollen das nicht ohne dich machen.«

Daniel schüttelte den Kopf. »Wir können das nicht ohne Nina machen.«

»Gerade für Nina musst du dabei sein«, erklärte Luzy entschieden und erhob sich. »Los, komm!«

Daniel folgte ihr zu den anderen in den Kreis.

»Sie wacht wieder auf«, sagte Delia. »Ganz sicher!«

»Aber wir müssen zusammenhalten«, erklärte Luzy und sah Daniel fest in die Augen. »Okay?«

»Schön!«, meinte Felix zufrieden. »Willkommen zurück.«

»Pssst!«, fiel Delia ihm ins Wort.

Erschrocken lauschten alle ins Halbdunkel des Zimmers. Doch nirgendwo im Haus war auch nur das geringste Geräusch zu vernehmen.

»Ich dachte, ich hätte was gehört«, entschuldigte sich Delia. »Wir müssen zu Nina.«

»Und dann?«, fragte Luzy.

Daniel nickte. »Delia hat recht, wir müssen ins Krankenhaus.«

»Ja, sag ich doch«, erklärte Delia.

»Einfach mal nachsehen«, fügte Daniel hinzu. »Vielleicht ist sie ja schon wach. Oder es steht etwas auf der Karte an ihrem Bett. Wir müssen unbedingt etwas tun. So schnell wie möglich.«

»Wir kommen hier doch nicht weg«, gab Felix zu bedenken.

»Nicht alle«, meinte Daniel, »aber zu zweit müsste es hinhauen.«

»Und wer soll gehen?«, fragte Delia.

»Wir knobeln es aus«, schlug Felix vor und hatte auch schon ein paar verschieden lange Strohhalme in der Hand.

Luzy und Delia zogen die längsten.

Ohne zu zögern drückte Luzy Daniel ihren Strohhalm in die Hand. »Du musst gehen.«

Daniel lächelte dankbar.

»Ins Krankenhaus?« Delia machte ein ziemlich entsetztes Gesicht. Das war ein Ort, an den man sie eigentlich nur im betäubten Zustand schaffen konnte. Klar war ihr die Sache plötzlich überhaupt nicht mehr geheuer. »Und was ist, wenn sie doch nicht mehr aufwacht?«

»Dann ist es der Fluch«, meinte Luzy düster.

Aber Daniel winkte ab. »Es gibt keine Flüche«, erklärte er. »Und wenn, dann müssen wir die Rätsel lösen ... für Nina!«

»Für Nina!«, sagten die anderen im Chor und hielten sich dem Schwur gemäß das linke Auge zu. »Sibuna!«

Es war dunkel auf den Fluren des Krankenhauses, und Daniels Turnschuhe quietschten unangenehm laut auf dem Linoleumfußboden, als er sich dem Schwesternzimmer näherte.

Delia hatte sich hinter einer Ecke versteckt und beobachtete ihn erst einmal aus sicherer Entfernung. Es roch wie in allen Krankenhäusern, und sie mochte diese merkwürdige Luft überhaupt nicht.

»Guten Abend«, wandte sich Daniel höflich an die diensthabende Nachtschwester. »Können Sie mir bitte sagen, wo Nina Martens liegt?«

Die Schwester lachte, und es klang nicht unbedingt freundlich. »Die Besuchszeit ist seit ungefähr ...«, sie nahm eine Uhr aus der Kitteltasche und warf einen beinahe ungläubigen Blick darauf, »... acht Stunden vorbei.«

»Ich ... ich will sie ja auch gar nicht besuchen«, stammelte Daniel. »Ich will nur wissen, wo sie liegt.«

Die Schwester musterte ihn von Kopf bis Fuß. »Bist du mit ihr verwandt?«

Daniel kam immer mehr in Bedrängnis. »Nein«, gestand er. »Sie ist meine Freundin.«

Die Schwester seufzte. »Es tut mir leid. Solche Informationen dürfen wir nur direkten Familienmitgliedern geben.« Sie hielt kurz inne. Dann sagte sie: »Komm doch bitte morgen ... äh ... heute Vormittag noch einmal vorbei.«

»Aber ...«, begann Daniel, doch der Blick der Schwester ließ ihn verstummen. Er seufzte. »Ja, schon gut. Danke. Schönen Abend noch.«

Damit schlich er davon, während die Schwester ihm mit einem milden Lächeln hinterherblickte.

Als er Delias Versteck erreichte, sah die ihm sofort an, dass etwas schiefgegangen war. »Sie will mir nicht sagen, wo Nina liegt«, berichtete er niedergeschlagen.

»Das steht doch garantiert in ihren Akten«, meinte Delia leise.

»Bestimmt.« Daniel nickte. »Aber die geht da im Leben nicht weg.«

Delia kniff die Augen zusammen und presste fest die Fingerspitzen auf ihre Schläfen.

»Was machst du?«, wollte Daniel verblüfft wissen.

»Pssst!«, erwiderte Delia. »Ich denke nach ... und ich hab auch schon eine Idee!«

Daniel verstand kein Wort, aber er ließ sich von Delia packen und den Gang hinunterziehen. Irgendetwas musste ihr eingefallen sein.

Und so war es auch.

Wenige Minuten später kam ein seltsames Paar den Krankenhausflur entlang. Die junge Frau – die übrigens eine verblüffende Ähnlichkeit mit Delia hatte, von der auch der schwarz-weiß gepunktete Hut und das grüne Kleid nicht ablenken konnten – saß in einem Rollstuhl, den ein junger Mann in einem Trenchcoat schob. Er hatte den Hut tief ins Gesicht gezogen.

»Hilfe!«, keuchte die junge Frau, als die beiden abrupt vor dem Schwesternzimmer bremsten. »Helfen Sie mir!«

»Bekommen Sie Ihr Kind?«, fragte die Nachtschwester völlig überrumpelt.

»Nein«, erwiderte Delia, und es klang klar und deutlich, »ich habe eine Wassermelone verschluckt! Und zwar ohne zu kauen!« Sie verdrehte die Augen. »Meine Güte, natürlich bekomme ich mein Kind. Holen Sie einen Arzt!«

»Haben Sie Wehen?«, erkundigte sich die Schwester.

»Ja, ganz regelmäßig«, erwiderte Daniel mit verstellter Stimme.

Misstrauisch blickte die Schwester auf. »Sie kommen mir bekannt vor.«

»Ganz unmöglich«, entgegnete Daniel und verstellte seine Stimme noch mehr.

»Wenn Sie nicht sofort einen Arzt holen«, mischte sich Delia wieder in die Diskussion ein, und ihre Stimme klang überzeugend hysterisch, kriege ich mein Kind noch hier!«

Nun wurde der Schwester die Sache allmählich doch zu heiß. »Ich gehe ja schon«, murmelte sie und eilte davon.

Kaum waren sie allein, blätterte Daniel in den Unterlagen, die auf einem Schreibtisch lagen. »Nina Martens ...! Fünfte Etage, Zimmer 506, Neurologie.«

»Da liegt ihre Oma auch, auf der Neurologie«, meinte Delia.

»Komm!«, drängte Daniel.

Mit Leichtigkeit sprang die angeblich hochschwangere Delia aus dem Rollstuhl auf und folgte Daniel den Krankenhausflur entlang zum Treppenhaus.

Als die Nachtschwester mit dem diensthabenden Arzt um die Ecke bog, waren die beiden längst verschwunden.

Sie hatten mittlerweile sogar die Neurologie erreicht und standen bereits vor Ninas Zimmer. Leise öffneten sie die Tür und traten auf Zehenspitzen in den Raum.

Da lag sie.

»Nina!«, flüsterte Delia und musste die Tränen zurückhalten. Schnell streifte sie sich Hut und Jacke ab, während Daniel zart nach der Hand seiner Freundin griff.

Ninas Augenlider fingen an zu flattern. Sie schien darauf zu reagieren.

»Ja«, wisperte Delia. »Ja!«

Nina öffnete die spröden, ausgetrockneten Lippen, als wolle sie ihnen etwas sagen.

Doch da ertönte hinter ihnen eine scharfe Stimme: »Was macht ihr denn hier?«

Erschrocken fuhren Delia und Daniel herum.

In der Tür stand Herr Radus

2
AUSGELÖSCHT

Nina hatte keine Ahnung, wo sie sich befand.

Alles um sie herum war so weiß, so steril – und so völlig fremd. Sie hatte keine Ahnung, wie sie hierhergekommen war.

Das einzig Vertraute waren die Gesichter von Delia, Daniel und Herrn Radus.

»Wo bin ich?«, fragte Nina. Ihre Stimme war nur ein leises Krächzen.

»Du liegst im Krankenhaus«, erklärte Daniel.

»Was ... was ist passiert?« Nina merkte, dass sie sich an absolut nichts erinnern konnte.

»Du bist in eine Schlucht gefallen«, erklärte Herr Radus. Er trat näher und schob Delia und Daniel zur Seite. »Leute, bedrängt sie nicht so«, sagte er. »Sie ist gerade erst aus dem Koma aufgewacht.«

»Victor ...«, stammelte Nina, die kaum die Augen offen halten konnte.

»Was ist mit Victor?«, hakte Delia sofort nach.

»Leute, sie braucht Ruhe!«, mischte Herr Radus sich eindringlich ein. Es schien ihm überhaupt nicht recht zu sein, dass Delia und Daniel so viele Fragen stellten.

Doch Daniel ließ sich davon nicht abschrecken. »Was war mit Victor? Was hat er gemacht?«

»Geburtstag ...« Nina konnte sich nur an einzelne Bilder erinnern.

»Victors Geburtstag?«, fragte Delia erstaunt.

»Wir waren auf einem Schulausflug«, versuchte Daniel seiner Freundin zu helfen, die Erinnerung zurückzuholen. »Du bist plötzlich verschwunden, aber ...«

»Schulausflug?«, fragte Nina verwundert, doch schon im nächsten Moment war sie wieder eingeschlafen.

»Nina!«, drängte Daniel leise.

Aber Nina hörte ihn nicht mehr.

»Was ist denn hier los?«, ertönte plötzlich eine ärgerliche Stimme von der Tür her. Es war die Nachtschwester.

Die drei fuhren herum.

»Wir wollten nur kurz nach ihr schauen«, versuchte Delia zu erklären. Damit konnte sie die Schwester allerdings nicht besänftigen.

»Dafür gibt es Besuchszeiten«, lautete die scharfe Antwort. »Die Patientin braucht Ruhe.«

»Die zwei gehören zu mir«, meldete sich in diesem Moment Herr Radus zu Wort. »Das sind Ninas beste Freunde.«

»Okay, ausnahmsweise«, sagte die Nachtschwester etwas freundlicher. »Beim nächsten Mal bitte anmelden, ja?«

»Die beiden versprechen, dass es nicht noch einmal passiert«, stellte sich der Lehrer vor seine Schüler. »Okay?«

Delia und Daniel nickten eifrig.

So ganz schien ihnen die Schwester nicht zu glauben, aber sie verließ trotzdem das Krankenzimmer.

»Und jetzt ab nach Hause mit euch«, flüsterte Herr Radus verschwörerisch, »bevor Victor dahinterkommt.« Er lächelte den beiden aufmunternd zu.

Das ließen sich Delia und Daniel nicht zweimal sagen. Sie ahnten ja nicht, in wessen Händen sie ihre Freundin Nina zurückließen.

Wenig später schlich Daniel in das Zimmer, das er mit Kaya und Benny teilte. Er wollte die beiden nicht wecken.

Doch während er vorsichtig aus Hemd und Hose schlüpfte, richtete sich Kaya in seinem Bett auf.

»Pssst, Daniel«, wisperte er. »Wo kommst du her?«

»Ich war bei Nina.«

»Im Krankenhaus?«, wollte Kaya wissen.

Daniel nickte.

»Und?«

Daniel warf einen Blick hinüber zu Bennys Bett, um ganz sicher zu sein, dass er bereits schlief. »Sie ist gerade zu sich gekommen«, flüsterte er dann. »Aber sie hat anscheinend alles vergessen.«

»Wie meinst du das?«

»Sie dachte, heute wäre Victors Geburtstag«, erklärte Daniel leise.

Keinem der beiden Jungen fiel auf, dass auch Benny in der Zwischenzeit aufgewacht war und aufmerksam ihrem Gespräch folgte.

»Victors Geburtstag?«, meinte Kaya verblüfft. »Der ist doch schon fast eine Woche her.«

»Ich weiß«, erwiderte Daniel, »aber sie hat anscheinend alles vergessen.«

Dann zog er sich schnell zu Ende aus und schlüpfte ins Bett.

Benny schloss die Augen. Ein zufriedenes Lächeln spielte um seine Lippen.

Er hatte einen Plan.

»Nina!«

Nina schrie aus Leibeskräften und schlug wild um sich.

»Nina, du träumst!«, sagte Benny. »Wach auf. Es ist alles gut. Ich bin bei dir, mein Liebling.«

Keuchend riss Nina die Augen auf. Vor ihr stand Benny, der sie liebevoll anlächelte.

Ihr Benny.

Schweißgebadet klammerte sie sich an ihn und musste erst einmal wieder zu Atem kommen.

»Ganz ruhig, mein Schatz«, sagte Benny und strich ihr über das verschwitzte Haar. »Du bist in Sicherheit. Es war nur ein böser Traum. Ich bin bei dir.«

Benny drehte sich um und nahm einen Blumenstrauß von einem kleinen Beistelltisch. »Den habe ich dir mitgebracht«, sagte er selbstzufrieden.

»Wie lieb von dir«, erwiderte Nina, die sich langsam beruhigte und ihn zärtlich küsste. »Es war so schrecklich … Da war Victor. Er hat seine Hände nach mir ausgestreckt.«

Benny lachte. »Hier gibt es keinen Victor. Und sollte er es wagen, tatsächlich aufzutauchen, werde ich ihn persönlich hinauswerfen.«

Verliebt sah Nina zu Benny auf. »Wahrscheinlich habe ich nur von ihm geträumt, weil er heute Geburtstag hat.«

»Wahrscheinlich«, stimmte Benny ihr zu und nickte ernst.

Als Daniel mit einem Blumenstrauß in der Hand den Krankenhausflur entlangkam, wurde er gleich von der Schwester abgefangen, die ihn sofort erkannte.

»Kann ich dir helfen?«, erkundigte sie sich.

»Ich wollte nur kurz nach Nina sehen«, erklärte er.

»Dann musst du schon bis zur Besuchszeit warten«, belehrte ihn die Schwester.

»Aber dann bin ich in der Schule«, entgegnete Daniel.

»Es tut mir leid.« Die Frau lachte gekünstelt. »Das sind die Regeln. Außerhalb der Besuchszeiten dürfen nur Familienangehörige vorbeikommen.«

»Ich bin ihr Freund«, ließ Daniel nicht locker.

Wieder lachte die Schwester leicht überheblich. »Netter Versuch«, entgegnete sie. »Aber ihr Freund ist schon da.«

»Wie bitte?« Ungläubig drängte Daniel sich an der Krankenschwester vorbei, um einen Blick in Ninas Zimmer zu werfen.

Entsetzt trat er zurück.

Dort auf dem Bett, ganz nah bei Nina, saß ... Benny!

Und noch viel schlimmer war der verliebte Blick, mit dem Nina ihn ansah. Seine Nina!

Er wollte auf ihr Bett losstürzen, doch die Krankenschwester hielt ihn zurück.

»Nein, du kannst nicht zu ihr!«, erklärte sie entschieden und stellte sich ihm in den Weg.

»Was machst du hier?«, zischte Daniel wütend.

Benny legte den Finger auf die Lippen, denn Nina war gerade dabei, wieder ein wenig einzuschlafen.

Leise kam er auf Daniel zu.

Die Krankenschwester rührte sich vorsichtshalber nicht von der Stelle. Sie hatte das Gefühl, dass es besser war zu bleiben, um unter Umständen zwei Streithähne trennen zu können.

»Was machst du hier?«, fragte Daniel noch einmal.

»Das siehst du doch«, erwiderte Benny lässig. »Ich bin bei meiner Freundin.«

»Bei deiner Freundin?« Daniel konnte es nicht fassen.

»Ich finde es echt nett von dir, dass du kurz vorbeigekommen bist, Daniel, aber ... es ist wohl besser, wenn du jetzt gehst«, erklärte Benny. »Denn Nina braucht wirklich Ruhe.«

»Aber ich ...«, begann Daniel.

»Komm doch morgen wieder«, schlug Benny vor. »Wenn sie geschlafen hat, darf sie sicher mehr Besuch bekommen, nicht wahr, Schwester?«

Die Schwester nickte, und Benny ging zurück zu Ninas Bett.

Was sollte Daniel tun?

Nur ein paar Meter von ihm entfernt lag Nina in ihrem Krankenhausbett, und er konnte nicht zu ihr. Schlimmer noch, sie schien sich nicht einmal daran zu erinnern, dass er ihr Freund war. Dass sie sich liebten.

Hatte sie den Brief wirklich vergessen? Wusste sie nicht mehr, was nach Victors Geburtstag geschehen war?

Und wenn sie sich nun nie wieder daran erinnern würde? Daniel ertrug den Gedanken nicht. Aber ihm war auch klar, dass er an diesem Abend dort nichts mehr würde ausrichten können.

Resigniert wandte er sich ab und verließ mit schwerem Herzen das Krankenhaus.

»Liebe Susi, ich kann ohne dich nicht mehr leben. Ich brauche irgendein Zeichen, dass du es genauso siehst«, las Luzy aus einem Leserbrief an die Schülerzeitung vor.

»Wow«, meinte Delia beeindruckt. »Wie romantisch.«

»Das ist schon der fünfte Brief, den er mir schickt«, stellte Luzy fest.

»Nicht dir, sondern der lieben Susi«, korrigierte Delia.

»Ich habe aber das Gefühl, dass er mich meint«, erwiderte Luzy.

»Oder mich«, wandte Delia ein.

»Vergiss es, Delia«, sagte Luzy, und der leichte Spott in ihrer Stimme war nicht zu überhören. »Wer so romantisch schreibt, kann gar nicht dich meinen.«

Die beiden Mädchen schwelgten so in ihren Fantasien, dass sie überhaupt nicht bemerkten, wie sich auf leisen Sohlen der Fotograf ihrer Zeitung näherte.

»Wieder der Casanova?«, erkundigte er sich.

»Was willst du, Max?«, fragte Luzy.

»Ich hab mich gefragt, ob ich nicht doch noch schnell ins Krankenhaus gehen sollte«, sagte er. »Ein paar Fotos von Nina machen, für die Unfallstory.«

»Das kannst du dir sparen«, erklärte Daniel, der gerade zur Tür hereinkam.

»Was ist denn mit dir los?«, fragte Delia, als sie Daniels Gesicht sah.

Daniel ließ sich neben Luzy auf die Couch fallen. »Ich wollte gerade Nina besuchen, aber ich durfte nicht zu ihr«, berichtete er.

»Geht es ihr nicht gut?«, erkundigte sich Luzy besorgt.

»Es geht ihr gut«, schnaubte Daniel, »aber ihr Freund ist gerade bei ihr.«

»Du bist doch ihr Freund«, entgegnete Delia. Sie verstand mal wieder überhaupt nicht, worum es ging.

»Na, vor ihrem Blackout war ich es zumindest«, widersprach Daniel. »Aber daran kann sie sich nicht mehr erinnern. Jetzt ist Benny bei ihr!«

»Was?« Nun fiel auch bei Delia der Groschen.

»Oh!«, stöhnte Luzy voller Mitleid.

»Hm, du hast doch den Brief«, fiel Delia plötzlich ein.

Verwirrt sah Daniel sie an.

»Den Brief, den sie dir im Bus gegeben hat«, erklärte Delia.

»Genau«, sagte Daniel und schöpfte plötzlich wieder Hoffnung. »Wenn sie den liest, dann ... dann weiß sie, wie es wirklich ist. Ich hole ihn gleich. Danke, Delia.«

Sofort sprang Daniel auf und lief hinaus.

Der Brief war seine Rettung.

»Geht es?«, fragte Benny und stützte Nina, während sie einen Schluck trank.

»Danke«, antwortete Nina und legte sich wieder zurück in die Kissen. »Benny?«, sagte sie dann.

»Ja?« Benny setzte sich zu ihr auf die Bettkante.

»Ist Daniel böse auf mich?«, wollte Nina wissen.

Benny zögerte nur kurz. »Ich denke, dass er noch nicht so gut damit klarkommt, dass wir zusammen sind«, sagte er. »Und das ist doch eigentlich verständlich, oder?«

Nina nickte, auch wenn ihr der Gedanke nicht besonders behagte.

»Schlaf du jetzt erst mal schön, meine Süße«, versuchte er sie wieder abzulenken. »Du brauchst viel Ruhe.«

Nina lächelte. Wie liebevoll ihr Freund Benny sich doch um sie kümmerte. Außerdem war sie auch wirklich schrecklich müde.

Nur im Halbschlaf bekam sie noch mit, wie die Schwester Benny eine Tüte mit den Dingen übergab, die sie bei sich gehabt hatte, als sie ins Krankenhaus eingeliefert worden war. Aber sie wusste nicht, ob sie das alles vielleicht nur träumte.

Und deswegen sah sie auch nicht, wie Benny das Amulett aus der Tüte zog und wie sich ein fieses Grinsen über sein Gesicht ausbreitete, als er begriff, was er da in seinen Händen hielt.

»Er ist weg! Ich hab ihn verloren!« Verzweifelt durchwühlte Daniel wieder und wieder alle seine Sachen.

»Wenn du mir sagst, wonach du suchst, kann ich dir vielleicht helfen«, bot Kaya an.

»Ich suche den Brief!«, erwiderte Daniel und wurde von Sekunde zu Sekunde unruhiger.

»Welchen Brief?« Kaya begriff überhaupt nicht, was Daniel meinte.

»Na, den von Nina. Ich meine den Brief, in dem sie sich bei mir entschuldigt«, erklärte Daniel. »Sie hatte ihn mir im Bus gegeben. Ich muss ihn finden.«

»Und warum?«

»Weil er beweist, dass sie Benny abserviert hat«, sagte Daniel.

»Dann würde ich mal sehr gut suchen«, ertönte plötzlich Bennys Stimme von der offenen Tür her.

Ungläubig drehten sich Daniel und Kaya zu ihm um.

»Nina und ich sind nämlich noch zusammen«, behauptete Benny mit süffisantem Grinsen, »und wir beide sind ja so glücklich.«

Daniel schluckte. Dann verließ er wortlos das Zimmer.

Kaya folgte ihm, doch als er vor Benny stand, warf er ihm einen abschätzigen Blick zu. »Du bist und bleibst eine miese Ratte!« Dann ging auch er.

Kaum hatten seine beiden Mitbewohner das Zimmer verlassen, zog Benny den kleinen Tresor unter seinem Bett hervor, in dem er alle Dinge aufbewahrte, die ihm wichtig waren.

Er schloss ihn auf und verstaute als Erstes das Medaillon, das ihm die Schwester im Krankenhaus gegeben hatte. Niemand sollte es in die Hände bekommen.

Danach holte er einen Umschlag aus dem kleinen Metallkasten. Es war der Brief, den Daniel eben noch so verzweifelt gesucht hatte.

Er faltete ihn auseinander und las spöttisch und mit mädchenhafter Stimme den Anfang: Lieber Daniel ...

Böse grinsend schüttelte Benny den Kopf. »Daniel, Daniel, ganz schön leichtsinnig von dir, dass du diesen Brief nicht ordentlich versteckt hast.«

In seiner Selbstzufriedenheit bemerkte er nicht, dass Luzy an der Tür stand und jedes einzelne Wort mithörte, das er gerade von sich gab.

3
EIN KOSTBARER BRIEF

»Hey, was macht ihr denn hier?«, fragte Charlotte überrascht, als sie zusammen mit Luzy schmutzige Wäsche in den Waschraum brachte und Daniel und Kaya dabei erwischte, wie sie die Körbe mit der Wäsche durchwühlten.

Etwas verlegen drehte Kaya sich um. »Wir suchen einen Brief«, erklärte er.

»Den Brief, der beweist, dass Nina Benny abserviert hat«, fügte Daniel hinzu, der sich nun auch umgedreht hatte, die Hände immer noch tief in einem Korb mit Schmutzwäsche. Um den Brief zu finden, würde er alles tun.

»Aber ... den Brief hat Benny«, meinte Luzy.

»Woher weißt du das?«, fragte Daniel entgeistert.

»Ich bin an eurem Zimmer vorbeigegangen, und da hab ich gehört, wie er ihn vorgelesen hat«, berichtete Luzy. »Er ist in einer Kiste unter seinem Bett.«

Kaya schritt auf Luzy zu und drückte ihr einen dicken Kuss auf den Mund. »Du bist großartig!«, rief er, ohne Charlotte zu bemerken, die dieser Kuss mitten ins Herz getroffen hatte. Wie gern hätte sie ihn selbst auf ihren Lippen gespürt.

»Aber wie kommen wir an den Brief ran?«, bremste Daniel die allgemeine Begeisterung.

Daran hatte bisher noch keiner gedacht. Betreten sahen sie einander an. Sie brauchten unbedingt eine Idee, und zwar schnell.

»Ich hau ihm einfach eine runter«, meinte Kaya schließlich. »Das wollte ich sowieso schon die ganze Zeit ...«

»Nein, so wird das nichts«, widersprach Daniel. »Vor allem, wenn er mitkriegt, dass wir von dem Brief wissen.«

»Ich weiß was!«, meldete sich Luzy plötzlich zu Wort. »Ich rufe einen Fotografen an.«

Die anderen verstanden zwar nur Bahnhof, aber Kaya meinte grinsend: »Also, wenn du das auf die Reihe kriegst, dann bist du echt die coolste Frau der Welt.«

Luzy strahlte übers ganze Gesicht. »Los geht’s, Lotte! Die Wäsche kann warten.«

Grinsend folgten die beiden Jungs den Mädchen aus dem Waschraum.

Tatsächlich gelang es Luzy und Charlotte, den eitlen Benny zu einem »total professionellen« Shooting für das Cover der nächsten Ausgabe der Schülerzeitung zu überreden. Schließlich sei er ja so etwas wie der neue Hausmeister, und auf diesem Wege könnten ihn dann alle in der Schule gleich besser kennenlernen.

Und während Benny sich von Max in den verschiedensten Posen ablichten ließ – er stieg sogar in ein Superman-Kostüm und nahm irgendwelche dämlichen Flugpositionen ein –, durchsuchte Luzy die Jacke ihres Opfers … und wurde tatsächlich fündig.

Im Zimmer der Jungen warteten Daniel und Kaya schon außer sich vor Ungeduld, als endlich die Tür aufsprang und Luzy hereinkam.

»Hast du den Schlüssel?«, drängte Daniel.

Mit einem zufriedenen Quieken hielt Luzy ihm das Objekt der Begierde entgegen.

»Und wo ist die Kiste?«, fragte Kaya.

»Unter seinem Bett«, antwortete Luzy. »Da muss er drin sein.«

»Los«, forderte Kaya seinen Freund auf.

Schnell kniete Daniel sich hin und tastete den Boden unter dem Bett ab. Und tatsächlich! Schon nach wenigen Sekunden bekam er die Kiste zu fassen.

Sie war sehr stabil gebaut, wie eine Art kleiner Tresor. Doch das war kein Problem, denn der Schlüssel passte, und so war das Ding schon im nächsten Moment geknackt.

Ungeduldig griff Daniel hinein und erwischte als Erstes eine Kette. Er ahnte, worum es sich handelte, und zog sie vorsichtig durch die Öffnung.

Er hatte sich nicht getäuscht. An der Kette baumelte das Medaillon.

Dann warf er Luzy einen vielsagenden Blick zu.

»Und was ist das?«, wollte Kaya wissen.

»Ninas Lieblingskette«, erwiderte Daniel.

Luzy verzog das Gesicht. »Wo hat er die denn her?«

»Keine Ahnung«, meinte Daniel. »Auf jeden Fall hat er sie jetzt nicht mehr«, fügte er hinzu und steckte das Medaillon vorsichtig ein.

Dann griff er erneut in die Kiste … und holte Ninas Brief heraus.

»Bingo!«, rief Daniel begeistert und erleichtert zugleich.

Doch in dem Moment flog die Zimmertür auf und Benny kam herein. Er hatte Lunte gerochen und fluchtartig das »professionelle Shooting« verlassen, weil er ahnte, was er jetzt vorfand.

»Diebe!«, rief er empört. »Ich hole Victor«, drohte er dann großmäulig. »Und Herr Altrichter wird auch davon erfahren.«

Während Daniel zunächst beschämt zu Boden blickte, weil er sich auf frischer Tat ertappt fühlte, ließ Luzy sich überhaupt nicht aus der Ruhe bringen.

»Tu, was du nicht lassen kannst, Benny«, meinte sie schnippisch. »Herr Altrichter wird sich sicher sehr freuen, wenn er hört, dass der Hausmeister ein armes krankes Mädchen belügt.«

Bennys Gesichtsausdruck wechselte von überheblich zu unsicher.

»Hör mir genau zu«, erklärte Daniel und erhob sich drohend. »Wenn ich dich noch einmal in Ninas Nähe sehe, dann sorge ich dafür, dass Altrichter alles erfährt.«

»Und dann gibt es noch einen Ort auf der Welt, wo du dich nicht mehr sehen lassen kannst«, fügte Kaya hinzu.

Was Benny daraufhin ausstieß, konnte man nur noch als wütendes Grunzen bezeichnen. Er wusste, dass er diesmal verloren hatte.

Wütend stürmte er aus dem Zimmer.

Die drei anderen lachten.

»Genialer Plan!«, lobte Kaya und klatschte mit Luzy ab. »Und ihn auch noch in ein Superman-Outfit zu stecken!« Voller Begeisterung umarmte Kaya die strahlende Luzy, nahm ihren Kopf in die Hände und küsste sie auf den Mund. Ausgerechnet in diesem Moment kam Charlotte an der offenen Zimmertür vorbei.

Schlechtes Timing!

Wortlos drehte sie sich um und verschwand wieder in die Richtung, aus der sie gekommen war. Sollten die anderen doch feiern. Was hatte sie mit der ganzen Sache schon zu tun? Es war so gemein!

Obwohl es bereits sehr spät war, machten Delia und Daniel sich umgehend auf den Weg ins Krankenhaus. Sie wollten keine Sekunde verlieren.

Endlich konnten sie alles aufklären, und vielleicht würde der Brief Nina sogar helfen, sich daran zu erinnern, wer sie entführt und in das Schloss gebracht hatte.

Daniel war überglücklich und ungeduldig zugleich. Und auch Delia konnte es kaum erwarten, ihrer Freundin einen Beweis vorzulegen, was tatsächlich in der Zwischenzeit passiert war.

Schon kurz darauf liefen Delia und Daniel den Krankenhausflur zu Ninas Zimmer entlang, als Daniel plötzlich die überraschte Delia packte und sie hinter einen Mauervorsprung zerrte.

Mit dem Kopf deutete er nach vorn.

Und da sah es auch Delia: Nur wenige Meter von ihnen entfernt stand ein guter alter Bekannter der beiden: Victor!

Sie hatten noch einmal Glück gehabt. Beinahe wären sie ihm in die Arme gelaufen.

Von ihrem Versteck aus beobachteten sie, wie der Verwalter sich gerade mit einer Krankenschwester unterhielt. Was für ein Zufall! Es war genau die, mit der Delia und Daniel schon mehrfach aneinandergeraten waren.

»Kannst du was verstehen?«, flüsterte Daniel.

Delia schüttelte den Kopf. »Nein, nichts. Aber was macht Victor hier? Der will doch garantiert zu Nina.«

Doch schon im nächsten Moment drehte Victor sich um und lief direkt auf Delia und Daniel zu.

»Ich glaub, er kommt«, wisperte Delia, presste sich, so fest sie konnte, an die Wand und kniff die Augen zusammen.

Auch Daniel hielt die Luft an.

Wenn Victor die beiden jetzt auch noch im Krankenhaus entdeckte, hätte es wahrscheinlich wieder monatelangen Stubenarrest gegeben, und ihr ganzer schöner Plan, Nina dabei zu helfen, sich wieder an alles zu erinnern, wäre in weite Ferne gerückt.

Aber sie hatten Glück: Victor war offenbar so sehr in Gedanken vertieft, dass er weder rechts noch links schaute, während er an den beiden vorbeimarschierte.

»Das war knapp«, murmelte Delia.

Nachdenklich sah Daniel dem Verwalter hinterher. »Was hat er nur hier gewollt?«

Delia zuckte mit den Schultern. »Ich habe keine Ahnung.«

Nachdem Victor verschwunden war, machten sich Delia und Daniel auf den Weg zu Ninas Zimmer.

Die Tür stand ein Stück weit offen, und die beiden warfen einen Blick hinein.

Nina schien zu schlafen, und die Krankenschwester fühlte gerade ihren Puls.

»Hast du den Brief?«, erkundigte sich Delia vorsichtshalber noch einmal leise bei Daniel.

»Ja.« Er nickte und hielt das für ihn so kostbare Schreiben zur Bestätigung in die Höhe.

Dann betraten sie mutig das Krankenzimmer.

»Hallo«, sagte Delia so freundlich wie möglich, um das Eis zu brechen.

Die Schwester drehte sich um. Doch heute schien sie milder gestimmt zu sein als sonst. Vielleicht lag es daran, dass die offizielle Besuchszeit noch nicht beendet war.

»Fasst euch bitte kurz!«, mahnte sie lediglich mit einem Blick auf Nina. »Und nicht zu viele komplizierte Fragen, das regt sie nur auf.«

»Wie meinen Sie das?«, fragte Delia misstrauisch.

»Ihr dürft nicht mit ihr über Dinge sprechen, an die sie sich nicht erinnern kann«, erklärte die Schwester. »Dann gerät sie noch außer Fassung, und das ist gefährlich. Der Arzt hat es ausdrücklich angeordnet.«

Das konnte ja heiter werden. Daniel machte ein ziemlich betretenes Gesicht. Wie sollte er ihr unter diesen Umständen den Brief zeigen oder ihr überhaupt nur davon berichten, was passiert war?

Er sah alle seine Felle davonschwimmen. Benny würde wohl noch lange seinen Platz an Ninas Seite besetzen können.

»Was hat sie denn nun?«, wollte Delia wissen.

»Ehrlich gesagt, ist das ein ziemlich ungewöhnlicher Fall«, erwiderte die Schwester erstaunlich auskunftswillig. »Obwohl wir vor Kurzem noch einen Patienten mit den gleichen Symptomen hatten. Bei ihm waren sie aber aufgrund der höheren Dosis viel ernster.«

»Höhere Dosis?«, fragte Daniel verblüfft. »Was für eine höhere Dosis?«

»Ein seltenes Gift, das aus einem ägyptischen Käfer gewonnen wird«, erklärte die Schwester. »Also ich hab so einen Fall noch nie erlebt. Und schon gar nicht zweimal hintereinander!«

Daniel und Delia warfen sich erschrockene Blicke zu.

»Sie wurde vergiftet?« Delia konnte es nicht fassen.

Die Schwester nickte. »Es sieht ganz danach aus.«

Plötzlich kam Daniel eine Idee. »Dieser andere Patient?«, erkundigte er sich. »War das zufällig Per Marrant?«

Verblüfft sah die Schwester ihn an. »Ja. Kennst du ihn?«

Daniel nickte beunruhigt. »Er ist mein Onkel. Was wissen Sie von ihm?«, fragte er eindringlich.

»Er ist in eine Spezialklinik verlegt worden«, berichtete die Schwester. »Hier konnten wir nichts mehr für ihn tun.«

Daniel schnitt diese Nachricht tief ins Herz.

Als die Schwester sein trauriges Gesicht sah, fragte sie: »Ihr seid doch Freunde von Nina, oder?«

Daniel nickte. »Ja, wieso?«

Die Schwester zögerte einen Moment, als müsse sie sich erst entscheiden, ob sie darüber sprechen durfte. Doch dann begann sie zu erzählen: »Da war ein Mann, der behauptete, er sei ihr Onkel Victor. Er wollte wissen, wo Ninas Schmuck ist.«

Daniel und Delia tauschten einen überraschten Blick.

»Als er hörte, dass ich diesem Benny das Medaillon und ein paar andere Sachen mitgegeben habe, ist er weggegangen, ohne Nina überhaupt zu besuchen«, fuhr die Schwester fort. »Ist er wirklich Ninas Onkel?«

Delia wollte gerade den Kopf schütteln, doch Daniel kam ihr geistesgegenwärtig zuvor.

»Ja«, antwortete er. »Er gehört zur Familie ... die kommt allerdings nicht wirklich mit ihm klar.«

»Nun gut, ihr könnt jetzt mit Nina reden«, sagte die Schwester abschließend. »Aber fasst euch kurz, okay?« Danach ging sie zur Tür.

»Danke«, flüsterte Delia ihr noch hinterher. Dann wandte sie sich Daniel zu. »Deswegen also war Victor hier!«

Daniel nickte. »Und so ist Benny auch an die Sachen von Nina gekommen. Durch die Schwester.« Er starrte auf den Brief in seiner Hand.

Delia folgte nachdenklich seinem Blick. »Willst du ihn ihr trotzdem geben?«

Daniel schüttelte den Kopf. »Das wäre zu gefährlich für sie.«

Resigniert schob er den Brief in seine Jackentasche und setzte sich neben Nina aufs Bett, die inzwischen wieder eingeschlafen war. Von dem Gespräch mit der Schwester hatte sie offenbar nichts mitbekommen.

Auch Delia setzte sich vorsichtig auf die Bettkante, doch wohl nicht vorsichtig genug.

Nina wandte den Kopf und schlug die Augen auf. Als sie ihre Freunde erkannte, lächelte sie matt. »Hallo, ihr zwei«, krächzte sie heiser. »Schön, euch zu sehen. Wie läuft es zu Hause?«

»Verrückt wie immer«, meinte Delia so fröhlich wie möglich. »Bei der Schülerzeitung treffen ständig anonyme Liebesmails ein. Sie sind aber alle an eine gewisse Susi gerichtet.« Delia kicherte. »Luzy glaubt, dass in Wirklichkeit sie gemeint ist. Und jetzt setzt sie alle Hebel in Bewegung, um herauszufinden, wer die Briefe schreibt.«

»Ich wusste gar nicht, dass Luzy so romantisch ist«, meinte Nina.

Delia nickte. »Sie versucht sogar, die Mails zurückzuverfolgen, nur um herauszufinden, wer dahintersteckt.«

Beide Mädchen mussten lachen, obwohl es Nina sichtlich schwerer fiel. Sie war noch ziemlich geschwächt.

»Wisst ihr eigentlich, wo Benny ist?«, erkundigte sie sich. »Er wollte heute Abend noch vorbeikommen.«

Daniel und Delia wechselten einen kurzen Blick.

»Äh ... also ... ich glaube, Victor hat ihm ein paar Aufgaben aufs Auge gedrückt«, flunkerte Delia schnell.

Nina nickte. Das war typisch Victor!

»Benny ist so lieb zu mir«, seufzte sie. »Ich weiß gar nicht, was ich ohne ihn machen würde.«

Unruhig rutschte Daniel auf dem Bett hin und her. Er konnte es einfach nicht mehr ertragen, wie sehr seine Nina von diesem Benny schwärmte.

»Wollen wir gehen, Delia?«, schlug er vor. »Die Schwester hat doch gesagt, dass wir nicht so lange bleiben sollen.«

»Ja, das stimmt«, bestätigte die Freundin, die sich gut vorstellen konnte, welche Qualen Daniel durchstehen musste.

Nina lächelte Delia und Daniel an. »Schön, dass ihr da wart«, bedankte sie sich.

Die beiden standen auf, und Delia gab ihrer Freundin noch einen Kuss auf die Stirn. »Tschüs, meine Süße«, sagte sie.

»Tschüs«, sagte auch Nina und winkte den beiden zum Abschied. Dann fügte sie noch hinzu: »Könnt ihr Benny ausrichten, dass er heute Abend nicht mehr zu kommen braucht? Ich bin so müde und sehe ihn dann ja morgen.«

Delia nickte. »Ja, machen wir«, versprach sie.

Aber da waren Nina schon wieder die Augen zugefallen.

Daniel warf noch einen letzten Blick auf das wunderschöne Mädchen, das vor wenigen Tagen endlich seine Freundin geworden war – und nun wie eine Prinzessin vor ihm auf dem Bett lag.

Es zerriss ihm schier das Herz, ihr nicht die Wahrheit sagen zu dürfen. Aber wichtiger als seine Liebe war, dass sie wieder ganz gesund wurde. Dann würde sie sich ganz bestimmt auch wieder daran erinnern, wem wirklich ihr Herz gehörte.

Das hoffte er zumindest.

Auf Zehenspitzen verließen Daniel und Delia Ninas Krankenzimmer, und keiner von beiden merkte, dass Daniel der Brief, den er absichtlich vor Nina verborgen hatte, beim Aufstehen aus der Jackentasche gefallen war und nun neben ihrem Bett lag.

Hatte das Schicksal seine Hände im Spiel oder war es nur ein Zufall, dass wenig später die Schwester noch einmal hereinkam, um nach Nina zu sehen, die immer noch schlief?

Natürlich fiel der Umschlag der Schwester sofort ins Auge.

Sie nahm ihn hoch, warf einen kurzen Blick hinein, und als sie sah, dass er an Daniel gerichtet war, legte sie ihn Nina auf den Nachttisch.

Dann verließ auch sie das Krankenzimmer und löschte hinter sich das Licht.

Es war noch sehr früh am nächsten Morgen, als Nina erwachte. Ihr Mund war trocken, die Lippen fühlten sich spröde an. Im Krankenhaus herrschte anscheinend noch Nachtruhe. Jedenfalls war alles still.

Seufzend richtete Nina sich auf und griff nach dem Glas Wasser, das wie immer auf ihrem Nachttisch bereitstand. Während sie trank, fiel ihr Blick auf den Umschlag.

Überrascht griff sie danach. War Benny am Abend doch noch da gewesen und hatte ihn ihr als kleinen Liebesgruß zurückgelassen?

Voller Vorfreude zog sie den Brief heraus, und während sie las, wurden ihre Augen immer größer.

Lieber Daniel!

Ich finde es wirklich sehr schlimm, was ich gemacht habe. Es war feige von mir, dass ich mich nicht sofort für dich entschieden habe ... Ich hoffe, dass du mir vergeben kannst. Daniel ... Du warst immer der Einzige für mich.

Deine Nina

Urplötzlich kam die Erinnerung zurück.

In Bruchstücken zwar, aber ganz deutlich.

Wie Delia ihr geraten hatte, Daniel einen Brief zu schreiben, um ihm ihre wahren Gefühle zu gestehen. So ganz romantisch, fürs Herz.

Wie lange sie dann aber noch gezögert hatte, Daniel den Brief zu geben, obwohl sie ihn längst fertig hatte.

Auf der Busfahrt ins Hirschbachtal schließlich hatte Delia das Unglück nicht mehr mit ansehen können. Sie hatte ihrer Freundin den Brief einfach aus der Hand genommen und ihn Daniel gebracht.

Nina konnte sich noch genau an das glückliche Lächeln auf Daniels Gesicht erinnern, als er den Brief gelesen hatte.

Und auf einmal wusste Nina auch wieder, was nach ihrem Sturz geschehen war.

Ihr war klar, dass sie etwas unternehmen musste.

Und zwar sofort.

Schnell warf sie die Decke zurück, sprang aus dem Bett, lief hinüber zum Kleiderschrank und öffnete die Tür.

Aber oje! Dort waren nur der grüne Mantel, den sie auf dem Campingausflug getragen hatte, und ein Paar Straßenschuhe. Egal, dachte sie. Das muss reichen.

Schnell griff sie nach der spärlichen Kleidung und streifte sie sich über.

Jetzt kam es nur darauf an, dass niemand sie bei ihrer Flucht erwischte, denn sie hatte etwas überaus Wichtiges zu erledigen.

Nur sie wusste, wo sich der Gral befand.

Sie musste ihn in Sicherheit bringen, bevor Victor oder dieser unheimliche Mann mit der Rabenmaske ihn fanden.

Leise schlich sie zur Tür des Krankenzimmers und öffnete sie behutsam.

Der Flur schien leer.

Hoffentlich kam jetzt nicht eine der Schwestern aus einem der anderen Zimmer! Aber Nina hatte keine andere Wahl. Sie musste dieses Risiko eingehen.

Sie setzte alles auf eine Karte und lief los.

4
NINA IST WEG

»Ich hab schon alles probiert«, meinte Charlotte zu Luzy. »Da gibt’s keinen Geheimcode.« Sie hielt eine ausgedruckte Version eines der Liebesbriefe an Susi in der Hand, die in den letzten Tagen ständig in der Redaktion der Schülerzeitung eintrafen.

»Natürlich nicht.« Luzy verstand ihre Freundin nicht. »Warum sollte es auch?« Sie zuckte mit den Schultern.

»Um demjenigen seine Identität zu enthüllen, der schlau genug ist, den Code zu knacken.« Bei dem Gedanken bekam Charlotte einen ganz romantischen Gesichtsausdruck.

Im Haus Anubis war gerade Frühstückszeit, und entsprechend hoch war der Lärmpegel. Auch wenn Benny nicht mehr dabei war. Er hatte nach seiner Pleite wutentbrannt die Koffer gepackt und war abgereist. Nach Ibiza, wie er angekündigt hatte.

»Hey, Mädels«, ertönte hinter Charlotte und Luzy plötzlich eine Stimme. »Einen Liebesbrief bekommen?« Es war Kaya, der nach dem Joggen noch geduscht hatte.

»So was in der Art«, meinte Luzy, während Charlotte den Brief schnell zusammenfaltete und Luzy zuschob.

Wie ein hypnotisiertes Kaninchen starrte Charlotte Kaya nach, der in der Küche verschwand, um sich ein Glas frischen Orangensaft zu holen.

»Siehst du, es ist Kaya«, flüsterte Luzy ihrer Freundin zu. »Woher sollte er das denn sonst mit dem Liebesbrief wissen?«

Charlotte schluckte. Wenn Luzy nun recht hatte?

Doch in diesem Moment wurde sie aus ihren Gedanken gerissen, denn in der Küche brach ein wilder Tumult aus. Völlig aufgelöst kam Rosie in den Frühstücksraum gestürmt.

»Oh Gott«, stammelte sie immer wieder. »Oh Gott, oh Gott, oh Gott!«

Alle fuhren entsetzt herum.

»Rosie?«, fragte Delia erschrocken. »Was ist los?«

»Nina ...« Mehr brachte Rosie nicht heraus.

Sofort sprang Daniel auf. »Was ist passiert, Rosie?«, rief er aufgeregt. »Was ist mit Nina?«

»Sie ist ... sie ... sie ist ...« Rosie schien es buchstäblich nicht über die Lippen zu bringen.

»Was?«, fragte Daniel noch einmal. »Rosie! Was ist mit Nina?«

»Sie ist verschwunden«, jammerte Rosie.

»Aus dem Krankenhaus?«, fragte Daniel verblüfft.

Rosie nickte. »Sie haben gerade angerufen und mitgeteilt, dass sie heute Nacht verschwunden ist.«

Helle Aufregung breitete sich im Frühstücksraum aus, und alle redeten plötzlich durcheinander.

»Wie kann das denn sein?«, meinte Luzy entsetzt.

»Wohin denn?«, wollte Delia wissen.

Auch Daniel war fassungslos. »Aber ... sie hat doch ihr Gedächtnis verloren!«

»Hat jemand sie abgeholt?«, fragte Delia.

Nur für Daniel war auf einmal alles klar. »Benny! Ich wusste es ...«

»Nein! Nein!«, widersprach Rosie. »Nicht Benny! Im Krankenhaus denken sie, dass sie weggelaufen ist ...«

»Wir müssen sie suchen«, stellte Luzy entschieden fest. »Wenn sie ihr Gedächtnis verloren hat ...«

Delia schlug sich die Hand vor den Mund. »Vielleicht hat sie sich ja verlaufen.«

Rosie war mit der ganzen Situation völlig überfordert. »Oh, das arme Kind ... das arme Kind ...«, wiederholte sie immer wieder.

»Aber wo sollen wir denn suchen?« Fragend blickte Delia die anderen an.

»Im Krankenhaus! Hier in der Umgebung! In der Schule!«, zählte Daniel wie aus der Pistole geschossen auf. »An allen Orten, die sie kennt.«

»Wir gehen in die Schule«, bot Charlotte sofort an.

»Okay«, stimmte Luzy ihr zu, und die beiden sprangen auf.

»Ich geh ins Krankenhaus«, erklärte Felix.

»Ich komm mit«, meinte Delia sofort.

Kaya wandte sich an Daniel. »Wir suchen draußen, okay?«

»Ja.« Daniel nickte. »Ja ...« Er bekam plötzlich weiche Knie.

»Ich bleib hier bei Rosie«, sagte Mara. »Vielleicht kommt Nina ja auch einfach nach Hause.«

Während Rosie weinend am Frühstückstisch zusammensank und alle anderen durcheinanderwieselten, um die Suchaktion in Angriff zu nehmen, kam plötzlich Victor herein. Er machte ein ziemlich verblüfftes Gesicht.

»Was ist denn das für ein Chaos?«, schimpfte er.

»Nina ist aus dem Krankenhaus verschwunden«, erklärte ihm Mara.

»Und wo wollt ihr jetzt alle hin?«, erkundigte sich Victor begriffsstutzig.

»Nina suchen, natürlich«, erwiderte Daniel genervt und lief auch schon mit den anderen nach draußen.

Rosie konnte sich nach wie vor nicht beruhigen. »Oh ... das arme Kind ...«, schluchzte sie immer wieder.

Mara hatte alle Hände voll damit zu tun, die gute Seele des Hauses einigermaßen in Griff zu bekommen. »Es wird sicher alles gut werden«, meinte sie aufmunternd und streichelte ihr den Arm. »Sie kommt bestimmt zurück.«

Und so schwärmten der Club der Alten Weide und alle anderen aus, um Nina zu finden. Sie fragten in der Schule und hängten überall Steckbriefe auf.

Daniel ließ es sich nicht nehmen, selbst dort noch einmal nachzusehen, wo die anderen bereits gewesen waren. Aber so sehr sich alle auch bemühten, keiner von ihnen hatte Erfolg.

Nina war und blieb verschwunden.

Es war bereits Nachmittag, als Daniel und Kaya erschöpft in den Garten des Hauses Anubis zurückkehrten.

»Ich verstehe das alles nicht«, sagte Daniel verzweifelt. »Wo kann sie nur sein? Vielleicht hat Benny ihr ja doch was angetan ...«

»Sie taucht schon wieder auf«, versuchte Kaya seinen Freund zu trösten. »Mach dir keine Sorgen.«

»Es fehlen in ihrer Erinnerung ganze Tage«, meinte Daniel verzweifelt. »Gestern dachte sie, dass Victor Geburtstag hätte. Wie lange ist das her?« Müde ließ er sich auf die Gartenbank sinken.

»Na ja«, erwiderte Kaya unschlüssig, »länger als gestern?«

»Wenn ihr nun was passiert ist ...« Daniel seufzte. »Ich dreh noch durch! Wir sind doch schon überall gewesen ... im Krankenhaus, im Park, auf dem Weg zur Schule ...«

Kaya nickte nachdenklich.

»Haben wir vielleicht irgendwas vergessen?«, fragte Daniel.

Kaya schüttelte den Kopf. »Nein, wir waren an allen Orten, die sie kennt.«

Hilflos hob Daniel die Schultern. »Nina ist ... ich bin ...«

Kaya nickte. »Ich kann dich schon verstehen.«

»Echt?« Hoffnungsvoll wandte Daniel sich seinem Freund zu. »Warst du schon mal so verliebt in jemanden, dass du das Gefühl hattest, durchzudrehen, wenn derjenige nicht da ist?« Daniel schämte sich fast ein wenig, so deutlich auszusprechen, was er empfand. Selbst Kaya gegenüber.

»Puh«, meinte Kaya verunsichert. »Ich weiß nicht genau ... aber ich denke schon.«

Daniel war total verblüfft. »Echt? Ich dachte ... du bist immer so cool.«

Noch bevor Kaya antworten konnte, kam Luzy in den Garten.

Daniel fuhr zu ihr herum. »Und?«, fragte er.

Luzy schüttelte den Kopf. »Sie war nicht in der Schule. Ich hab alle Leute gefragt. Niemand hat sie gesehen. Und was war bei euch?«

»Nichts«, erwiderte Kaya ebenso enttäuscht.

Luzy seufzte. »Vielleicht haben Delia und Felix im Krankenhaus ja mehr Glück«, meinte sie, obwohl ihr deutlich anzusehen war, wie wenig sie an einen Erfolg glaubte.

»Hoffentlich«, sagte Daniel.

»Wir finden sie auf jeden Fall, Daniel!«, versuchte Luzy ihn aufzumuntern.

Doch Daniel war völlig aufgelöst. Er hatte keine Ahnung, was er noch tun konnte. »Wo sollen wir denn weitersuchen?«, fragt er erschöpft.

Ninas Freunde hatten wirklich überall nachgesehen, hatten keine Ecke ausgelassen, in der sie vielleicht verwirrt herumsitzen oder sogar ohnmächtig liegen konnte.

Alle waren verzweifelt, ganz besonders Daniel, und keiner von ihnen hatte auch nur den Hauch einer Idee, wohin Nina verschwunden sein konnte.

Nachdem Nina ihren grünen Mantel übergestreift und sich aus dem am frühen Morgen noch stillen Krankenhaus geschlichen hatte, war sie direkt zu der Stelle gelaufen, von der aus sie während des Campingausflugs im Wald das mächtige, düstere Schloss entdeckt hatte.

Diesmal achtete sie genau darauf, wohin sie trat, um nicht wieder einen Abhang hinabzustürzen oder sich sonst wie zu verletzen.

Vorsichtig und in der Deckung der Bäume näherte sie sich dem gewaltigen Schloss. Sie konnte sich zwar nicht daran erinnern, hineingetragen worden zu sein, aber irgendwo dort musste es einen Raum geben, in dem sie wieder zu sich gekommen war.

Und diesen Raum galt es nun zu finden.

Hinter dem Stamm einer dicken Eiche, die in den mindestens zweihundert Jahren ihres Lebens sicher schon vieles gesehen hatte, blieb sie stehen und blickte sich vorsichtig um. Von dort waren es nur wenige Meter bis zum Hauptportal des Schlosses.

Alles wirkte sehr gepflegt und absolut nicht verlassen oder verwahrlost. Sie musste also auf der Hut sein, um nicht von einem Gärtner oder Aufseher erwischt und des Einbruchs bezichtigt zu werden.

Sie wusste aber auch, dass sie unbedingt in dieses Schloss gelangen musste, denn in dem Raum, in dem sie auf den unheimlichen Mann mit der Rabenmaske und auf Victor getroffen war, befand sich mit etwas Glück immer noch der Gral.

Und der Gral zusammen mit dem Medaillon waren der Schlüssel zum Liebesgrab und zur Rettung ihrer geliebten Großmutter.

Nina fühlte sich nach wie vor etwas schwach auf den Beinen und lehnte sich gegen den mächtigen Stamm der alten Eiche, um vor ihrem unausweichlichen Abenteuer noch einmal alle Kräfte zu sammeln. Gleichzeitig beobachtete sie, ob sich im Schloss oder davor etwas bewegte.

Aber sie schien Glück zu haben. Niemand zeigte sich.

Und so nahm Nina schließlich all ihren Mut zusammen, stieß sich von der knorrigen Rinde der alten Eiche ab und lief, so schnell sie konnte, hinüber zu der mächtigen Eingangstür des Schlosses.

Jeder ihrer Schritte knirschte auf dem steinigen Untergrund, und sie war heilfroh, als sie die wenigen Steinstufen erreicht hatte, die zu der Flügeltür hinaufführten und auf denen sie leiser gehen konnte.

Doch im nächsten Augenblick durchfuhr sie ein eisiger Schreck.

Vielleicht war die Tür zum Schloss ja gar nicht offen.

Ein nicht allzu fernliegender Gedanke, wie sie sich eingestehen musste. Warum sollte ein so prächtiges Gemäuer unverschlossen und unbewacht sein?

Mit zitternder Hand griff Nina nach der polierten Messingklinke.

Unter Umständen war an dieser Stelle, in dieser Minute schon alles vorbei, aber versuchen musste sie es einfach.

Vorsichtig drückte sie die Klinke nach unten. Die war gut geölt und gab keinen Laut von sich. Und dann schwang die schwere Holztür in ebenso gut geölten Angeln leise und leicht nach innen.

Nina konnte ihr Glück kaum fassen.

Schnell schlüpfte sie durch die Tür und schloss das schwere Portal wieder behutsam hinter sich.

Bisher war alles gut gegangen, aber das Herz schlug Nina bis zum Hals.

Was sollte sie als Nächstes tun?

Wie sollte sie in dem riesigen Gebäude jenen Raum finden, in dem man sie gefangen gehalten hatte, um an ihr das uralte Ritual zu vollziehen?

Sie befand sich in einer riesigen Eingangshalle, die sich über mehrere Stockwerke in die Höhe zog. Treppen und Gänge führten in alle Richtungen. Es war ein wahres Labyrinth. Nina kam sich plötzlich so unglaublich klein vor.

Wie hatte sie nur auf die Idee kommen können, in diesen gewaltigen Mauern jenen Ort zu finden, in dem ihr Schicksal hatte besiegelt werden sollen? Wahrscheinlich musste man hier aufgewachsen sein, um jeden einzelnen Raum wenigstens einmal in seinem Leben betreten zu haben.

Das Schloss Zimmer für Zimmer abzusuchen, hatte jedenfalls wenig Sinn. Sie würde Tage, nein, wohl eher Wochen dafür brauchen.

Entmutigt wollte Nina gerade aufgeben, als sich in ihrem Hinterkopf eine leise, aber eindringliche Stimme meldete. Und die schien genau zu wissen, wohin Nina gehen musste.

Nina wandte sich nach links und lief den Gang entlang, an dessen Wänden ein Ölporträt neben dem anderen hing. Mit großer Wahrscheinlichkeit zeigten sie die früheren Besitzer des Schlosses.

Auf einmal, sie hatte keine Ahnung wieso, kam ihr alles so vertraut vor, und sie folgte der inneren Eingebung, die ihr ruhig und sicher den Weg wies.

Kurz darauf sah sie zu ihrer Rechten, halb hinter einem Vorhang verborgen, eine schwere Tür aus dunklem Holz, die einen Spaltbreit offen stand.

Vorsichtig trat Nina näher und stieß die Tür ein Stück weiter auf.

Und sofort kamen die Erinnerungen zurück. Stürzten geradezu auf sie ein.

Da stand der Altar, und sogar die schimmernden Tücher waren noch da, genau wie die Stoffbinden, mit denen man sie gefesselt hatte.

Die Bilder, die Angst und sämtliche schlechten Gefühle, die sie verspürt hatte, durchfluteten sie mit aller Macht – und das, obwohl es helllichter Tag war und sich niemand in der Nähe befand, der ihr etwas tun konnte und vor dem sie sich fürchten musste.

Trotzdem war sie wieder mittendrin in der Szene. Spürte die Fesseln, die sie banden. Sah, wie der Mann mit der Rabenmaske sich über sie beugte und ihr das Medaillon umlegte. Sie hörte sich schreien, hörte die dröhnenden Schläge, mit denen ihre Freunde die Tür aufbrechen wollten. Sie erinnerte sich, wie sie den Gral in einem günstigen Moment hatte verschwinden lassen. Und dann ... Dunkelheit!

Keuchend stützte sich Nina auf dem massivem Tisch ab, der ihre Opferbank hatte werden sollen, und ihr wurde kurz schwindelig.

Reiß dich zusammen, dachte sie. Du bist so kurz vor dem Ziel. Du darfst jetzt nicht schlappmachen.

Sie blinzelte und versuchte, sich zu konzentrieren. Was hatte sie in der Eile mit dem Gral gemacht?

Und dann fiel es ihr von einer Sekunde zur anderen wieder ein.

Vorsichtig tastete sie am Kopfende die schimmernden Tücher ab. Und tatsächlich, ihre Fingerspitzen berührten etwas Hartes.

Es war der Gral.

»Ich wusste es«, murmelte sie und zog ihn ans Licht. »Er ist noch da.«

Mit klopfendem Herzen hielt sie den kunstvoll geschmiedeten Becher hoch und betrachtete ihn erleichtert.

Nun würde alles gut werden.

Doch plötzlich hörte sie ein Geräusch. Draußen auf dem Gang.

Es waren Schritte.

Und sie kamen näher.

Nina fuhr herum. Das Blut rauschte ihr in den Ohren. Wo sollte sie hin? In dem kargen Raum gab es kaum eine Möglichkeit, sich zu verstecken. Und zur Flucht war es zu spät.

Die Schritte kamen näher und näher.

Schnell lief sie um den Altar herum und ging in die Hocke. Die schimmernden Tücher hingen zum Glück bis auf den Boden und gaben ihr etwas Deckung.

Angespannt wartete Nina darauf, was nun geschehen würde. Sie wagte kaum, zu atmen.

Außer den Schritten, die durch den Gang hallten, war es vollkommen still in dem alten Gemäuer.

Totenstill.

Und die Schritte kamen unaufhaltsam auf sie zu.

Nina biss sich vor Nervosität auf die Unterlippe. Sie durfte unter keinen Umständen entdeckt werden, sonst war alles umsonst gewesen.

Direkt vor der offenen Tür verstummten die Schritte.

War es der unheimliche Mann mit der Rabenmaske?

Oder war es Victor?

Wer immer es war, jetzt betrat er den Raum.

Ninas Kehle zog sich zusammen, und sie hatte das unbändige Bedürfnis, zu schlucken. Aber sie wusste, dass selbst das leiseste Geräusch sie verraten würde.

Ohne den Kopf auch nur einen Millimeter zu bewegen, spähte sie durch einen Spalt zwischen den herabhängenden Tüchern.

Sie erkannte zwei Beine, die in einer grauen Uniformhose steckten.

Kein Kittel, also auch kein Victor, dachte sie.

Und der Mann mit der Rabenmaske hatte einen schwarzen Mantel getragen.

Vielleicht ist es ja ein Wächter, fiel ihr plötzlich ein, und sie fühlte sich ein wenig erleichtert, obwohl auch der Wächter sie auf keinen Fall erwischen durfte.

Etwas mutiger geworden, versuchte Nina durch den Spalt zwischen den Tüchern mehr von dem Mann zu erkennen, der dort, keine drei Meter von ihr entfernt, im Raum stand.

Und tatsächlich, er trug eine Uniform. Samt Mütze. Sie hatte ihn noch nie zuvor gesehen.

Wahrscheinlich war er auf einer seiner regelmäßigen Runden durch das Schloss und hatte die offene Tür bemerkt.

»Ist da jemand?«, rief er.

Nina dachte spontan an ein Theaterstück, das sie früher einmal im Haus Anubis mit den anderen und Felix aufgeführt hatte und in dem es zu einer ähnlichen Situation gekommen war. »Nein!«, hatte Felix damals als Antwort gerufen und damit für große Heiterkeit im Publikum gesorgt.

Fast hätte Nina bei dem Gedanken gekichert, doch sie biss sich gerade noch rechtzeitig auf die Lippe. Sie musste jetzt unbedingt durchhalten und durfte sich nicht verraten. Mit etwas Glück würde der Mann sie vielleicht nicht entdecken.

Es sei denn ...

Die Schritte setzten sich wieder in Bewegung.

Nina lauschte angestrengt. Kamen sie in ihre Richtung? Würde der Wächter den Altar umrunden, sich einmal in dem ganzen Raum umsehen, ob sich dort auch wirklich keine ungebetenen Besucher aufhielten?

Vielleicht würde sie dann einfach aufspringen und davonlaufen. Den Gral hatte sie ja, und freiwillig, das wusste sie, würde sie ihn nicht wieder hergeben.

Doch dann hörte sie, dass sich die Schritte entfernten. Im nächsten Moment wurde die Tür zum Gang von draußen geschlossen.

Der Wächter war gegangen.

Erst jetzt bemerkte Nina, dass sie fast die ganze Zeit die Luft angehalten hatte. Tief atmete sie durch und presste den Gral gegen die Brust.

Sie hatte es geschafft!

Vorsichtig schob sie den Gral unter ihren Mantel und wartete noch ein paar Minuten, bis sie ganz sicher sein konnte, dass der Wächter seine Runde fortgesetzt hatte und sich inzwischen in einem anderen Teil des mächtigen Gebäudes befand.

Dann öffnete sie behutsam die Tür, schlüpfte aus dem unheimlichen Raum und verließ das Schloss, so schnell sie konnte, auf dem gleichen Weg, wie sie hineingekommen war.

5
DUNKLE GESTALTEN

Im Haus Anubis herrschte noch immer absolute Ratlosigkeit und Unruhe. Es gab nicht die geringste Spur von Nina, und allmählich gingen den Bewohnern die Ideen aus, wo sie ihre Freundin suchen konnten.

Besonders Daniel war völlig außer sich und fast nicht zu beruhigen.

»Das wird schon, mach dir keinen Kopf«, versuchte Luzy ihn zu trösten, während sie gemeinsam aus der Küche kamen. »Wir finden sie bestimmt ...«

In diesem Moment betraten Delia und Felix die Eingangshalle. Sie sahen etwas abgekämpft aus.

»Und?«, fragte Daniel hoffnungsvoll.

Delia schüttelte den Kopf. »Im Krankenhaus ist sie definitiv nicht mehr.«

Daniel war verzweifelt. »Was machen wir jetzt?« Flehend sah er die anderen an.

Doch Luzy brannte plötzlich eine ganz andere Frage auf den Lippen, während sie Felix anstarrte. »Warum hast du eigentlich einen Bart?«, wollte sie wissen.

Verlegen zupfte Felix an seinem Schnurrbart. Er wusste nicht so recht, wie er die ganze Geschichte erklären sollte.

»Wir haben uns verkleidet, damit wir im Krankenhaus nicht auffallen«, sprang Delia ihm schnell bei. »Als Arzt und Schwester – und Felix eben mit Schnurrbart, aber das Ding geht jetzt nicht mehr ab.«

Felix zuckte mit den Schultern. »Der muss wohl von selbst abfallen«, meinte er todernst.

Luzy sah ihn mit großen Augen an. Das konnte er doch nicht wirklich meinen, oder?

Ein Blick zu Daniel reichte Felix, um zu erkennen, wie schlecht es seinem Freund ging. »Hey, Kopf hoch, Kumpel! Wir finden Nina schon«, versuchte er ihn zu beruhigen.

»Ich hoffe, du behältst recht«, erwiderte Daniel voller Zweifel.

»In der Schule war sie also auch nicht?«, erkundigte sich Delia.

Luzy schüttelte den Kopf. »Nein. Wir haben überall Zettel aufgehängt, aber niemand hat sie gesehen.«

Delia verstand die Welt nicht mehr. »Wo kann sie nur sein?«

»Im Altenheim vielleicht«, schlug Felix vor. Es war das Einzige, was ihm noch einfiel.

Luzy verdrehte die Augen. »Ihre Oma liegt im Krankenhaus, im Koma! Schon vergessen?«

»Stimmt«, bestätigte Felix verlegen. »Das wär dann eher unlogisch.«

»Logisch wäre es im Krankenhaus, in der Schule und hier«, zählte Daniel auf. »Aber da waren wir ja schon überall.«

Felix hatte eine andere Theorie. »Vielleicht wurde sie von irgendeinem Psycho aufgesammelt«, meinte er mit tiefer Grabesstimme. »Der Tankstellenkiller hat sein neuestes Opfer ...«

»Felix!«, unterbrach Daniel ihn scharf. »Deine Witze sind wirklich unangebracht.«

»Aber man muss auch mal lustig sein«, verteidigte sich sein Freund. »Gerade, wenn es ernst wird ...«

»Felix«, sagte Daniel, »halt die Schnauze.«

»Jetzt hört doch mal alle auf«, versuchte Luzy zu schlichten. »So finden wir Nina nie.«

»Ja und wie dann?«, entgegnete Delia.

Da musste auch Luzy passen. »Ich weiß es nicht.«

In diesem Moment riss jemand ärgerlich die Eingangstür auf.

»Victor!«, riefen Delia und Felix wie aus einem Mund und flüchteten die Treppe hinauf. Sie hatten im Krankenhaus schon genug Ärger mit dem Verwalter gehabt, der sie natürlich sofort entlarvt hatte, als sie als Arzt und Schwester alle Räume nach Nina abgesucht hatten und dabei auch in einen Notfall geraten waren.

Jetzt hieß es nur noch, so schnell wie möglich zu verschwinden.

»Stehen bleiben!«, rief Victor ihnen hinterher, als sie die Stufen hinaufstürmten – vorbei an Mara und Magnus, die gerade nach unten kamen.

Im ersten Stock bog Felix in den Flur der Mädchenzimmer ein, setzte sich neben eine große Vase auf einen Stuhl und hielt sich die Augen zu.

Im nächsten Moment kam Delia um die Ecke geflitzt. Verdutzt blieb sie stehen. »Was machst du denn da?«, fragte sie ungläubig.

»Mich verstecken«, erwiderte Felix, als sei das die natürlichste Sache der Welt.

»Ach ... das funktioniert doch nicht!« Delia verdrehte die Augen. Allerdings durften sie Victor tatsächlich nicht in die Hände fallen, denn im Krankenhaus war es zu einem kleinen, unangenehmen Zwischenfall gekommen. Man hatte dem angeblichen Patienten Victor Rodemer eine ausgiebige Darmspülung verpasst. Und daran waren Felix und Delia nicht ganz schuldlos.

»In mein Zimmer, los!«, befahl Delia, zog Felix von dem Stuhl hoch, stieß die Tür zu ihrem Zimmer auf und schob ihn hinein. Dann schloss sie die Tür leise hinter ihnen.

Gebannt starrten sie darauf, als erwarteten sie, dass Victor jeden Moment hereinstürmen würde. Er musste ziemlich wütend sein, und das konnten sie irgendwie auch verstehen.

»Hi ...« Hinter ihnen ertönte plötzlich eine Stimme. Eine Stimme, die ihnen nur allzu bekannt vorkam.

Felix und Delia fuhren herum – und trauten ihren Augen nicht.

Auf dem Bett saß eine ziemlich gut gelaunte Nina. In der Hand hatte sie den Gral, und sie strahlte ihre Freunde an.

»Nina?«, fragten Delia und Felix völlig verblüfft und wie aus einem Mund.

War das alles ein Traum?

Delia lief sofort zu Nina und umarmte sie. »Hey, alles klar? Wo kommst du denn her, und wie geht’s dir?«, wollte sie alles auf einmal wissen. »Und wie kommst du an den Gral?«

»Ich hab ...«, begann Nina.

Doch in diesem Moment waren draußen auf dem Flur schwere Schritte zu hören. Sie kamen direkt auf das Zimmer der Mädchen zu.

»Schnell!«, rief Felix. »Victor!« Er packte den Gral und wollte ihn unter Ninas Bett verstecken.

Delia mischte sich sofort ein. »Nicht da!« Hektisch sah sie sich um. Dann hatte sie eine Idee. Sie rannte zu ihrer Kommode und zog die Schublade mit der Unterwäsche auf. »Äh, hier!«, meinte sie.

Blitzschnell verstaute Felix den Gral zwischen Delias Sachen und schlug die Schublade wieder zu.

Dann starrten die drei gebannt auf die Zimmertür.

Draußen war es still geworden. Lauschte Victor etwa auf dem Gang?

Nina hielt den Atem an. Sie hatte nicht all diese Mühe auf sich genommen, nur damit der Gral in letzter Minute doch wieder in Victors Hände fiel. Und was dann?

Plötzlich flog die Tür auf, und Victor kam herein.

»Aha, hier seid ihr«, rief er drohend und triumphierend zugleich. Doch dann fiel sein Blick auf das Bett, und ihm blieb buchstäblich die Spucke weg.

»... Nina!«, brachte er gerade noch heraus.

»Hallo, Herr Rodemer«, erwiderte Nina freundlich und versuchte, sich ihre Anspannung nicht anmerken zu lassen.

Victor konnte nicht fassen, was er gerade mit eigenen Augen sah. »Wo ... kommst du denn her?«, fragte er misstrauisch.

»Von draußen«, erwiderte Nina unschuldig, was ja auch der Wahrheit entsprach.

Verwirrt sah Victor sich in dem Zimmer um. »Ja, aber ...?«, stammelte er. Für ihn war das alles eindeutig eine Nummer zu hoch.

»Felix«, versuchte Nina, das Thema zu wechseln, »seit wann hast du eigentlich einen Schnurrbart?«

Diese Frage war nun überhaupt nicht angebracht.

»Äh ... Nina! Wie geht’s dir überhaupt?«, riss Delia schnell wieder das Wort an sich.

»Ganz gut«, antwortete Nina und spürte allmählich, wie sehr ihr abenteuerlicher Ausflug sie angestrengt hatte. »Ich bin nur ein bisschen müde ...«

Victor hatte sich wieder etwas gefangen und ergriff sofort die Gelegenheit. »Habt ihr gehört? Nina braucht Ruhe«, erklärte er und schob Felix und Delia zur Tür. »Also raus mit euch.«

So hatte Delia sich das nicht gedacht. »Nein, ich bleibe hier«, protestierte sie. Schließlich war das auch ihr Zimmer.

Victor aber ließ nicht mit sich verhandeln. »Sofort!«, bestimmte er wütend, und schon standen die beiden draußen auf dem Flur.

Bevor er den Raum verließ, drehte Victor sich noch einmal zu Nina um. »Schön schlafen«, sagte er mit einem scheinheiligen Lächeln, und während er die Tür hinter sich zuzog, sah Nina noch, wie er seinen Generalschlüssel aus der Tasche zog. Dann hörte sie, dass er von draußen abschloss.

Erschöpft ließ Nina sich zurück auf ihr Bett sinken. Sie war wirklich völlig erledigt. Zum Glück ist der Gral erst einmal in Sicherheit, dachte sie beruhigt.

Dass Victor Felix und Delia zwei Wochen Hausarrest verpasste und Delia nur zwanzig Sekunden Zeit bekam, um ein wenig Wäsche aus dem Zimmer zu holen, weil sie die nächsten Nächte nebenan schlafen sollte, bekam Nina schon gar nicht mehr mit. Auch nicht, dass Delia bei dieser Gelegenheit unauffällig den Gral mitgehen ließ, damit er von Leuten behütet wurde, die wach und aufmerksam waren – und natürlich auch, damit sie ihn den anderen zeigen konnte.

»Daniel«, mahnte Luzy, »das Letzte, was Nina jetzt braucht, ist ein Freund, der aufgibt.«

Luzy und Daniel saßen im Zimmer der Mädchen.

Aber Daniel war am Boden zerstört. »Was sollen wir denn machen? Alles geht schief. Der Club ... ihre Oma ...«

»Der Club macht weiter!«, entgegnete Luzy eindringlich. »Und ich helfe euch!«

Doch Daniel winkte ab. »Es ist viel zu gefährlich«, meinte er. »Das hätten wir gleich erkennen müssen.«

»Ich hab keine Angst«, sagte Luzy entschieden. »Und du darfst auch keine haben. Sonst bekommen wir Nina wirklich nicht mehr wieder.«

Es entstand eine bedrückende Stille ... die allerdings nur kurz anhielt, denn im nächsten Moment flog die Zimmertür auf, und Delia und Felix kamen hereingestürmt.

Erstaunt fuhren Luzy und Daniel herum.

»Das erratet ihr nie«, quiekte Delia und machte eine Kunstpause.

Doch Felix hielt es nicht mehr länger aus. »Nina ist wieder da!«, platzte er heraus.

»Echt?«, fragte Luzy und konnte es kaum fassen.

Daniel strahlte übers ganze Gesicht. »Wo ist sie? Ich muss sie sehen.« Er war schon auf dem Weg zur Tür.

»Das geht nicht«, bremste Delia ihn. »Sie schläft. Und außerdem hat Victor sie eingesperrt.«

»Was soll denn das jetzt schon wieder?«, fragte Luzy und spürte, wie die Wut in ihr hochkochte.

Daniel hatte sich als Erster unter Kontrolle. »Wie geht es ihr?«, wollte er wissen. »Ist sie ...?«

»Sie war sehr müde«, meinte Delia, »aber sonst war alles in Ordnung, glaube ich.«

»Hat sie ...?«, begann Daniel, der natürlich wissen wollte, ob Nina sich nach ihm erkundigt hatte.

Doch Felix fiel ihm ins Wort. »... nach meinem Schnurrbart gefragt? Ja! Das Teil geht mir langsam, aber sicher auf die Nerven. Es geht einfach nicht ab!«

»Nein«, erwiderte Daniel, »hat sie ...?«

»Hey«, unterbrach ihn Delia. »Victor hat uns sofort rausgeschmissen. Er war wieder total komisch.«

Aber es gab diese eine Frage, die Daniel derart auf der Seele brannte, dass er sie nicht zurückhalten konnte: »Du weißt also nicht, ob sie ...?«

Delia ahnte natürlich, was er meinte. »... sich an alles erinnert? Nein. Aber, hey, schaut mal, was ich hier habe ...«, sagte sie triumphierend und zog den Gral aus ihrer Tasche, »Tadaah!« Dann hielt sie ihn hoch, damit alle ihn sehen konnten.

Luzy griff danach und wog ihn in der Hand, als wolle sie sich davon überzeugen, dass er auch echt war. »Ihr hattet ihn doch verloren, oder?«, meinte sie erstaunt.

»Ja«, sagte Delia, »aber anscheinend hatte Nina ihn bei sich.«

»Ich kapier nichts mehr.« Daniel wirkte vollkommen verwirrt. »Wo hat Nina den her? Und wo war sie überhaupt, verdammt noch mal?«

Delia grinste. »Immerhin bin ich mal nicht die Einzige, die nichts versteht.«

»Irgendetwas Seltsames geht hier vor sich«, stellte Daniel fest. »Das hat bestimmt mit den Rätseln zu tun.«

Delia nickte. »Ja, und Victor steckt da garantiert auch mit drin. Warum sonst hätte er Ninas Tür abgeschlossen! Wir dürfen nicht mal mit ihr sprechen, wenn sie aufwacht«, fügte sie empört hinzu.

»Und er war im Krankenhaus«, stellte Felix fest. »und da hat er sich auch verdächtig verhalten.«

»Ja, stimmt«, bestätigte Delia.

»Er darf nicht zu ihr«, sagte Luzy. »Sonst tut er ihr was an.«

»Ja, aber er hat die Schlüssel zu unserem Zimmer«, gab Delia zu bedenken.

»Dann müssen wir eben Ninas Tür im Auge behalten«, erklärte Luzy entschlossen.

»Das können wir dann gleich zusammen machen«, meinte Delia und schien darüber nicht besonders unglücklich zu sein. »Ich schlaf heute Nacht nämlich hier.«

Daniel war alles andere als zufrieden. »Wir kommen einfach nicht weiter«, sagte er und setzte sich auf eins der Betten. Es knarrte bedrohlich, doch er merkte es nicht einmal. »Das macht mich wahnsinnig! Die Rätsel ... die Legende von Tutanchamun ... die geheime Wand ...« Er gab sich einen Ruck. »Wir müssen mit den Aufträgen weitermachen!«

»Willst du ... in den Keller?«, fragte Delia beklommen.

Daniel nickte und sah die anderen erwartungsvoll an.

»Ich kann nicht mit«, winkte Delia ab. »Ich muss Ninas Tür bewachen.«

»Ich auch«, erklärte Luzy sofort.

Alle Blicke richteten sich auf Felix.

Details

Seiten
Erscheinungsform
eBook-Lizenz
Jahr
2016
ISBN (eBook)
9783960530008
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (April)
Schlagworte
eBooks TV-Serie Buch zur Serie Kinderbuch ab 10 Jahre Jugendbuch fuer Maedchen fuer Jungen Nickelodeon Spannung Freundschaft Abenteuer Internat aegypten Mythologie Geheimnisse
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Titel: Das Haus Anubis - Band 4: Die Auserwählte
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