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Liebe, List & Andenzauber: Dritter Roman der Mimi-Reihe

©2016 169 Seiten

Zusammenfassung

Tschüss Liebeskummer, hallo Abenteuer: Der Jugendroman „Liebe, List & Andenzauber“ von Erfolgsautorin Sissi Flegel jetzt als eBook bei jumpbooks.

Endlich Ablenkung vom Liebeskummer! Nachdem ihre große Liebe Rory aus heiterem Himmel Schluss gemacht hat, schwört sich Mimi, Jungs von nun an die kalte Schulter zu zeigen und sich auf gar keinen Fall mehr zu verlieben. Da kommt es gerade recht, dass sie ihre Tante bei einer Recherchereise begleiten soll: Wanderungen in schwindelerregender Höhe, gefährliche Fahrten durch die Atacama-Wüste – und immer an ihrer Seite der verdammt gutaussehende Student Carlos. Doch selbst er kann Mimi nicht von ihrem Entschluss abbringen – nein, wirklich nicht ... oder etwa doch?

Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der Jugendroman „Liebe, List & Andenzauber“ von Erfolgsautorin Sissi Flegel. Für Leser ab 12 Jahren. Wer liest, hat mehr vom Leben: jumpbooks – der eBook-Verlag für junge Leser.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Über dieses Buch:

Endlich Ablenkung vom Liebeskummer! Nachdem ihre große Liebe Rory aus heiterem Himmel Schluss gemacht hat, schwört sich Mimi, Jungs von nun an die kalte Schulter zu zeigen und sich auf gar keinen Fall mehr zu verlieben. Da kommt die bevorstehende Reise durch Chile gerade recht: Wanderungen in schwindelerregender Höhe, gefährliche Fahrten durch die Atacama-Wüste – und immer an ihrer Seite der verdammt gutaussehende Student Carlos. Doch selbst er kann Mimi nicht von ihrem Entschluss abbringen – nein, wirklich nicht ... oder etwa doch?

Über die Autorin:

Sissi Flegel, Jahrgang 1944, hat neben ihren Romanen für erwachsene Leser sehr erfolgreich zahlreiche Kinder- und Jugendbücher veröffentlicht, die in 14 Sprachen erschienen sind und mehrfach preisgekrönt wurden. Die Autorin ist verheiratet und lebt in der Nähe von Stuttgart.

Die Autorin im Internet: www.sissi-flegel.de

Die bei jumpbooks erschienenen Mädchenbücher von Sissi Flegel findet ihr am Ende dieses Buches.

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eBook-Neuausgabe Juli 2016

Copyright © der Originalausgabe 2002 Thienemann Verlag

(Thienemann Verlag GmbH), Stuttgart/Wien

Copyright © der Neuausgabe 2016 dotbooks GmbH, München

Copyright © 2016 jumpbooks Verlag. jumpbooks ist ein Imprint der dotbooks GmbH, München.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung einer Fotografie von Lena-Marie Starčevič und Mia Schütz, sowie shutterstock/Nalaleana (Hintergrund)

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN 978-3-96053-183-8

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Sissi Flegel

Liebe, List & Andenzauber

Roman

jumpbooks

Die rote Karte

Wir landeten in Chiles Hauptstadt Santiago. Das Flugzeug setzte auf und rollte die Landebahn entlang. Ich öffnete den Gurt, stand auf und griff in meine Hosentasche. Darin befanden sich der Pass, die entsetzliche Mail und die rote Karte. Auf der stand:

ZUM TEUFEL MIT DER LIEBE!

MEIN HERZ IST FUTSCH!

AB JETZT BIN ICH NUR NOCH FIES UND GEMEIN!

Ich nickte grimmig. Natürlich kannte ich die Mail längst auswendig. Trotzdem zog ich auch sie aus der Tasche und las sie noch einmal:

»Liebe Mimi,

wir sehen uns nie wieder. Es ist aus.

Ich wünsche dir alles Gute. Rory.«

Ich schluckte. Die wenigen Worte taten verdammt weh, selbst jetzt noch nach einem knappen Monat. Das Ende einer großen Liebe tut immer weh. Aber wenn es so abrupt kommt, so ohne Vorwarnung und so kurz vor einem lang ersehnten Treffen in Paris, ist es absolut vernichtend.

Als ich die Mail erhalten hatte, war ich am Boden zerstört. Ich aß nichts mehr. Die Schule? Konnte mir gestohlen bleiben. Freundinnen, alte Kumpel? Waren mir lästig. Ständig fragte ich mich, weshalb Rory keinen Grund für seine Mail angab. Warum war alles aus? Warum? Warum? Ich bombardierte ihn mit meinen Mails. Umsonst. Er hatte die Adresse geändert, auch die Telefon- und Handynummer stimmte nicht mehr. Ich war völlig hilflos und verzweifelt.

An diesem Punkt traten die Tanten in Aktion.

Nicki, meine ältere Schwester, und ich sind nämlich Vollwaisen. Als unsere Eltern – beide waren Geologen – kurz nach meiner Geburt bei einem Verkehrsunfall in der Türkei ums Leben kamen, haben uns unsere Tanten sofort zu sich genommen. Seitdem sind sie unsere Eltern und wir eine große glückliche Familie, der das Reisen im Blut steckt. Tante Anne ist Reisejournalistin und Fotografin. Tante Lise kümmerte sich schon immer um das große Haus und den Garten und schreibt Artikel zu so topaktuellen Themen wie »Geranien im Herbst«, »Was tun, wenn Stiefmütterchen trauern« und »Die ultimative Art, Bratkartoffeln zuzubereiten«.

Wir lieben unsere Tanten. Als ich nach Empfang der Mail nur noch heulend und schluchzend jammerte: »Ich werde nie wieder lachen. Ich werde leiden und mich nie wieder verlieben. Das Leben ist eine einzige Katastrophe!«, haben sie einen Plan ausgeheckt, wie nur sie ihn aushecken können.

»Rorys Verhalten ist ein Schock für dich. Wahrscheinlich leidet er genauso wie du, Mimi, aber was ihn zum Abbruch eurer Beziehung brachte, kann und will er wohl nicht sagen. So, wie wir es sehen, kommst du nur mithilfe starker neuer Erlebnisse darüber hinweg«, sagte Tante Lise.

Tante Anne nickte. »Deshalb begleitest du mich auf meiner nächsten Reise. Ich hab schon alles abgeklärt; du schreibst einen Artikel über den Trip für unsere ›Tagespost‹. Das gibt Geld, damit finanzierst du deinen Flug. Der gekürzte Artikel wird in deiner Schulzeitung veröffentlicht. Das ist der Preis für drei zusätzliche Ferientage, die dir der Schulleiter genehmigt. Damit ist auch dein Klassenlehrer einverstanden.«

»Na, was sagst du dazu?«, fragte Tante Lise munter.

Ich war fassungslos. »Ich will nicht fort! Ich will nichts sehen und nichts hören, ich will nur meine Ruhe!«, heulte ich los. »Ich leide!«

»Das ist nicht zu übersehen«, entgegnete Tante Anne. »Aber kannst du uns verraten, wie lange du leiden willst?«

»Bis an mein Lebensende!«

»Bist du wahnsinnig? Das ist der Kerl nicht wert!«, entgegnete Tante Lise empört. »Ich meine, du solltest –«

Ich hielt mir die Ohren zu und rannte in mein Zimmer.

Tante Anne riss die Tür auf und streckte den Kopf rein. »Du gehst mit mir auf die Reise, und wenn ich dich gefesselt und geknebelt auf dem Gepäckwagen ins Flugzeug transportieren muss. Basta!«

Rums, war die Tür zu.

Ich sprang auf. »Ich begleite dich nicht! Überhaupt: Wohin geht's denn?«, brüllte ich auf den Gang hinaus.

»Ab in die Wüste!«

»Na super!«

Jetzt knallte ich die Tür zu. Ich warf mich mit Karacho auf mein Bett. »In die Wüste! Na klar, wohin sonst?«, knurrte ich. Eine kleine Abenteuerfahrt zu fröhlichen, gefräßigen Krokodilen und munteren Piranhas im Amazonas hätte mich wegen der damit verbundenen akuten Lebensgefahr vielleicht reizen können. Aber keine Wüste der Welt war trostloser als meine gegenwärtige Lage, und schwitzen konnte ich im Bett. Also warum sollte ich auch noch in eine Ödnis fahren, wo ich mich doch bereits in einer solchen befand? Ich schüttelte den Kopf und zog ein frisches Taschentuch aus der Packung.

Wüste … also ehrlich … echt abartig … Mit einem Satz war ich wieder an der Tür. »In welche Wüste? Die Gobi? Die Sahara?«

»Die Atacama ist es.«

»Die – was?« Von der hatte ich noch nicht mal den Namen gehört. »Wo liegt die denn?«

»Im Norden Chiles. In Südamerika.«

Jetzt stellte sich Tante Lise neben ihre Schwester. »Ich schlage vor, du putzt dir die Nase und kämmst dich; derweil koche ich uns einen guten starken Tee.«

Tante Anne und ich grinsten uns an. Natürlich wollte ich eigentlich nicht fröhlich grinsen. Aber Tante Lises Tee war so gut wie die Friedenspfeife der Apachen und erzielte dieselbe Wirkung: Eine gemeinsame Teestunde beseitigte jeden Streit.

Tante Anne glühte vor Stolz. »Ich hab einen neuen Auftrag«, erklärte sie. »Es ist ein super-super-su-per Auftrag, er ist spannend und bringt Geld –«

»Und er ist nicht ungefährlich«, ergänzte Tante Lise.

»Da, wo Peru, Bolivien und Chile Zusammenstößen, liegt die Atacama. In den Anden. In 4.500 Meter über dem Meeresspiegel. Die Zugspitze, höchster Berg Deutschlands, ist 2.962 Meter hoch, der höchste Berg Europas, der Montblanc, immerhin 4.810. Nicht schlecht, was?«

»Kann man da noch ohne Sauerstoffmaske atmen?«, erkundigte ich mich interessiert. Ich hatte schließlich mit meinem Leben abgeschlossen, und wenn ich mitginge und die Sauerstoffmaske nicht exakt auf die Nase setzen würde, wäre die Wüste so wirkungsvoll wie ein gieriger Piranha-Schwarm.

Tante Anne schien meine Gedanken gelesen zu haben. »Nichts da! Die Höhe ist völlig ungefährlich, wenn man sich akklimatisiert hat!«

»Worin besteht dann die Gefahr? Sind es Banditen? Ist es der Drogenhandel?«

»Die Vulkane sind es. Und die Erdbeben; durchschnittlich 500 pro Jahr.«

»Waaas?« Ich rechnete blitzschnell nach. Ein Jahr hat 365 Tage. 500 Erdbeben pro Jahr machte eineinhalb Erdbeben pro Tag! Ich riss entsetzt die Augen auf: »Das ist ja schlimmer als in Japan!«

»Nicht unbedingt. Nicht alle Beben sind gefährlich. Die meisten sind so schwach, dass sie der Mensch nicht mal bemerkt.«

»Trotzdem …« Vor Erdbeben hatte ich Respekt. Na klar, ich hatte mit der Liebe in meinem Leben abgeschlossen, aber das hieß noch lange nicht, dass ich ein über meinem Kopf zusammenkrachendes Haus herbeisehnte.

Wieder hatte Tante Anne meine Gedanken gelesen. »Es gibt keine Häuser, die über dir zusammenkrachen können, Mimi. Da, wo wir hinfahren, gibt es entweder gar nichts, weil dort nichts wächst, oder einstöckige, leicht zusammengefügte Gebäude, Bretterbuden und Lehmhütten.«

»Und was tust du da?«

»Ich fahre durch die Wüste, schreibe einen Bericht über das, was ich sehe und beobachte und mache Fotos. Übrigens, Manfred kommt auch mit.«

Manfred war ein Kollege, der sie häufig auf ihren Reisen begleitete. Ich mochte ihn sehr. Er war zwar schon reichlich betagt, mindestens fünfzig und drüber, außerdem Kettenraucher und mit fünf Kindern gesegnet, aber er machte immer den Eindruck, als sei er cool und durch nichts aus der Ruhe zu bringen.

Das Ende vom Lied war jedenfalls, dass wir drei nach Chile flogen. Alles war so schnell gegangen, dass ich mich, neben der Schule mit all den vielen Klassenarbeiten vor Ostern, nicht oder zumindest kaum auf die Atacama-Wüste hatte vorbereiten können. Das war schade. Aber andererseits war nun alles, was ich erleben würde, eine tolle Überraschung.

Jetzt waren wir also in Santiago und strebten gerade der Passkontrolle zu.

Sobald es möglich war, zündete sich Manfred eine Zigarette an. Er hustete erbärmlich.

»Du musst endlich mit dem Rauchen aufhören«, sagte Tante Anne streng.

»Gleich nach der Reise«, meinte er keuchend. »Hab's meinem Arzt versprochen.«

Nach der Passkontrolle und nachdem wir unser Gepäck vom Band genommen hatten, bestiegen wir einen kleinen Inlandflieger und düsten ab nach Arica, der nördlichsten Stadt Chiles. Dort streckten wir unsere winterweißen Gesichter in die strahlende Mittagssonne und hatten zwei Stunden Zeit, uns die Stadt anzusehen.

Diese war einmal so reich gewesen, dass die Einwohner bei Eiffel, demselben, der den Pariser Eiffelturm baute, eine Kirche und ein Zollgebäude bestellt hatten. Die Gebäude wurden in Frankreich konstruiert, abmontiert und Stück für Stück auf dem Seeweg hierher transportiert und aufgebaut.

Ganz in der Nähe der Kirche befand sich der Fischmarkt. Wie bei uns die Katzen, so spazierten hier unzählige Pelikane zwischen den Ständen umher, ließen die langen Schnäbel klappern und bettelten um Fischreste. Fast stolperte ich über ein besonders auffälliges Tier: Dieser Pelikan hatte wohl vor langer Zeit seinen Flügel gebrochen, nun ragte ein einzelner blanker Knochen kerzengerade aus dem Gefieder. Fliegen konnte er nicht mehr, dafür war er aber zum Maskottchen der Fischhändler geworden. Kein anderer bekam nämlich so viel zugeworfen wie er.

Später bummelten wir durch eine Straße voller Buden mit landestypischen Produkten: kratzige handgestrickte Pullover, knallbunte Figürchen, Ledergürtel – ich konnte mich für nichts entscheiden, ich war von den vielen Flugstunden noch so benommen, dass mir das Schauen reichte.

Tante Anne und Manfred wurden unruhig. »Zeit fürs Auto, nicht wahr?«

Ich wusste, dass wir hier in Arica Carlos treffen würden. Carlos hieß der Mann, der in den kommenden zwei Wochen unser Fahrer und ortskundiger Begleiter sein würde, und natürlich stellte ich mir einen älteren Herrn von mindestens dreißig Jahren vor.

Wir sammelten unser Gepäck ein und warteten. Die Trauer-Mail steckte noch in meiner Hosentasche. Immer wenn ich die Hand reinschob, knisterte das Papier und erinnerte mich an die Botschaft. Ich schluckte schwer. Verdammt, eigentlich sollte ich jetzt in Paris sein – und Rory neben mir stehen! Und ich sollte die herrlichsten Tage meines Lebens verbringen! In Paris, der Stadt der Liebe!

Stattdessen starrte ich auf den Pelikan, aus dem der blanke Knochen herausragte, und kämpfte mal wieder mit den Tränen. Allein war ich, und allein würde ich bleiben, schwor ich mir. Fies würde ich sein, eklig und gemein. In der Schule würde ich streben ohne Ende. Dann würde ich Karriere machen, bis ich die berühmteste Reisejournalistin aller Zeiten wäre. So. Ich hob den Fotoapparat hoch und knipste schon mal den Pelikan. Jeder berühmte Reisejournalist hat schließlich klein angefangen. Ein zerrupfter, aber dennoch tapfer dem Leben die Stirn bietender Pelikan war nicht der langweiligste Start, dachte ich und knipste gleich noch eine Ansammlung leicht vergammelter Fischköpfe.

»Alphonso heißt der Arme. Er ist eine Berühmtheit in Arica«, sagte jemand neben mir.

Ich schnellte hoch. »Haben Sie mich erschreckt!«

»Tut mir Leid, das wollte ich nicht. Ich bin Carlos.«

»Ich … ich bin Mimi«, stammelte ich. Mich einfach so von hinten anzusprechen, dachte ich wütend. Ich schaute ihn mir genauer an: Carlos sah besser aus als jeder Mann, der bisher von einem Reklameplakat auf mich heruntergelächelt hatte.

Gebräunte Haut, dunkle Augen, schwarze, lockige Haare – der totale Latin-Lover-Typ! Meine Freundinnen hätten sich sofort seine Handynummer geben lassen, aber ich hatte dieses Thema ja für immer und alle Zeiten abgeschlossen. Fies würde ich sein und gemein, und keiner – schon gar nicht einer, der so unverschämt gut aussah wie Carlos – konnte etwas Nettes von mir erwarten. So!

»Ich habe einen älteren, versierten, verlässlichen Menschen angefordert. Das Geologische Institut von Santiago versicherte mir hoch und heilig, den Besten auszuwählen. Sind Sie nicht ein wenig jung für die Aufgabe?« Meine Tante Anne hielt nichts von diplomatischen Umwegen.

»Ich bin der Beste!« Breitbeinig stand er da, die Hände steckten tief in den Hosentaschen, er grinste herausfordernd.

Tante Anne grinste zurück. Ich kannte sie: Ein fröhliches Grinsen weckt ihr Misstrauen. »Na, mal sehen«, sagte sie und zog ihm sämtliche Informationen, die für sie wichtig waren, in null Komma nichts aus der Nase.

Carlos' Vorfahren waren Deutsche, lebten aber seit einigen Generationen in Chile. Deshalb studierte er auch in Deutschland und verbrachte nur ein »Gastsemester« in seiner Heimat.

»Ich kenne die Atacama genauer als den Schwarzwald«, erklärte er stolz.

»Na, wenn Sie nur mal kurz über den Schwarzwald drübergeflogen sind, heißt das gar nichts«, meldete sich Manfred zu Wort.

»Drübergeflogen?«, wiederholte Carlos empört. »Ich studiere in Freiburg, ich fahre Ski im Winter und im Sommer wandere ich im –«

»Wir kennen den Schwarzwald«, winkte meine Tante ab. »Außer Ski können Sie auch Auto fahren, nehme ich an. Also los, worauf warten wir noch? Wo steht das Auto? Ist der Tank voll? Haben Sie genügend Wasser besorgt?«

Carlos hob die Hände und verdrehte die Augen. »Wir halten noch kurz an der Tankstelle.«

Jetzt verdrehte Tante Anne die Augen. »Ich weiß, was das im Klartext heißt. Er hat das Auto nur aus der Garage gefahren.«

So war es auch. Wir überquerten die Straße und standen wenig später vor dem Fahrzeug, das uns durch Chiles Norden transportieren sollte.

Es war ein blauer Kleinbus. Das einzig Auffällige daran war ein großer, herzförmiger, knallroter Aufkleber an der Seite. »It's my baby Thildal«, stand in pinkfarbenen Buchstaben darauf.

Am Stadtrand hielt Carlos vor der einzigen Tankstelle weit und breit. Es dauerte, bis er in aller Seelenruhe die Reifen gecheckt, den Tank gefüllt, Wasser für die Scheibenwischanlage nachgegossen, Vorräte für uns alle besorgt und einige gemütliche Schwätzchen gehalten hatte.

»Endlich!«, rief meine Tante, als er nach einer guten Stunde erklärte, nun seien alle Vorbereitungen getroffen.

Sie und Manfred nahmen vorne neben Carlos Platz, ich machte es mir auf dem Rücksitz bequem. Einmal sah Carlos in den Rückspiegel, unsere Augen trafen sich und ich merkte, wie ich rot anlief. Sofort fuhr meine Hand in meine Hosentasche, ich fühlte die rote Karte und Rorys Abschiedsmail. »Ich bin nur noch fies, gemein und böse«, murmelte ich und schloss die Augen.

Der Strich durch die Rechnung

Irgendwann schlief ich ein – und wachte auf, als Thilda, unser Bus, zum Stehen kam.

Wir befanden uns in einer Mondlandschaft: Geröll und hellbraune Sandhügel, so weit das Auge reichte, und Ruinen, die einmal runde, aus Stein gefügte Behausungen gewesen waren. Über allem wölbte sich ein strahlend blauer, wolkenloser Himmel.

»Das ist eine verlassene Inkasiedlung«, erklärte meine Tante mit höchster Begeisterung. »Und weißt du, weshalb die Inkas ausgerechnet an dieser Stelle siedelten?«

»Wahrscheinlich suchten sie die unverfälschte Natur«, antwortete ich gähnend.

Manfred schüttelte den Kopf, wieherte, hustete und keuchte: »Sie wollten im Zentrum des Geschehens sitzen und Handel treiben.«

»Hier? Du nimmst mich auf den Arm, Manfred!«

»Schau dich um«, forderte er mich auf.

Nach wenigen Augenblicken ging mir ein Licht auf. Mit den Augen folgte ich einem schmalen, kaum erkenntlichen Pfad bis dahin, wo die Berge mit dem Horizont verschmolzen. Dieser Pfad wand sich unseren Hügel hinauf, senkte sich auf der anderen Seite in ein geröllbedecktes Flussbett, folgte diesem und verlor sich in der Weite.

»Eine alte Handelsstraße? Etwa so wie die Seidenstraße?«

»Mmm«, machte er, weil er gerade eine Zigarette anzündete.

Carlos lehnte an einer Mauer. »Das ist der uralte Weg von der Küste über die Anden«, erklärte er und machte eine weit ausholende Armbewegung. »Getrockneter Fisch gegen getrocknete Kokablätter. Was glaubst du, welchen Wert ein nettes kleines Fischfilet auf 4.000 Meter Höhe hatte!«

»Und die Kokablätter?«

»Na, die waren bei den Zusammenkünften von damals auch nicht unwillkommen«, spottete er und grinste so richtig unverschämt. »Allerdings muss man lange kauen, um ein bisschen high zu werden.«

»So? Du sprichst wohl aus eigener Erfahrung, was?« Ich grinste ebenso unverschämt zurück.

»Klar. Was sonst?«

Am liebsten hätte ich ihm die Zunge rausgestreckt. Stattdessen nahm ich mein Notizbuch zur Hand und schrieb: Handelsstraße Inkas. Kokablätter und Trocken fisch.

Carlos hatte mich beobachtet. »Schreibst du Tagebuch?«

»Nein«, antwortete ich hochnäsig. »Ich sammle Material für einen Artikel. Hab einen Auftrag von unserer Tageszeitung.«

Er zog die linke Augenbraue hoch. »Beachtlich. So jung und schon Reporterin.«

Ich sagte nichts darauf.

Im Wagen döste ich wieder ein und schreckte auf, als die Bremsen quietschten. »Zweites Kapitel aus der Inka-Geschichte?«, fragte ich schläfrig.

»Nein, diesmal ist's was Biologisches. Kakteen. Woran erinnern sie dich?«, wollte Tante Anne wissen und knipste, was das Zeug hielt.

»An riesige, vielarmige Kerzenleuchter«, hätte ich sagen sollen, damit sie »Deshalb heißen sie Kandelaber-Kakteen« hätte antworten können. Stattdessen murmelte ich was von »absoluter Scheußlichkeit« und dass so eine Kandelaberkaktee noch nicht mal einen Trostpreis bei einer Pflanzen-Misswahl ergattern würde.

Die Straße schraubte sich die Berge hoch, und dann, viele Serpentinen später, hielt Carlos erneut.

»Für heute haben wir unser Ziel erreicht. Hier liegt Putre. Wir befinden uns 3.500 Meter über dem Meeresspiegel.«

Tatsächlich. Da waren Häuser. Und Bäume. Und Felder, terrassenförmig angelegt, mit schiefen, krummen Rändern. Unglaublich, wie das Grün leuchtete.

»Die Inkas haben die Felder angelegt. Sehr einfallsreich, jeder Tropfen Wasser wird ausgenutzt, alles ist bis ins Einzelne durchdacht«, erklärte er, und dabei klang seine Stimme richtig ehrfürchtig. Er fuhr ganz langsam durch den kleinen Ort, über eine Brücke und einen Feldweg hoch bis zur »Hosteria Los Vicunas«.

Mir kam sie ziemlich schlicht vor. Ein Zimmer reihte sich nämlich ans andere, davor zog sich eine Art überdachte Terrasse entlang, und dann gab es noch ein zentrales Gebäude mit der Küche und dem Gastraum.

An diesem Abend schlug der Jetlag voll zu. Ich wankte ins Restaurant, schaufelte halb schlafend einen Eintopf in mich hinein und ging schnellstens ins Bett.

Am nächsten Morgen wachte ich ausgeschlafen auf, war vergnügt und voller Tatendrang – bis mein Blick auf die rote Karte auf dem Nachtkästchen fiel.

Mit einem Schlag kam der ganze Jammer wieder über mich. Rory! Paris! Paris im Frühling, die Bäume im Bois de Boulogne, die Seine, die großen Avenuen, die interessanten Geschäfte! Mit Rory, meiner großen Liebe, hatte ich den Frühling in Paris feiern wollen!

Ich kroch aus dem Bett und öffnete die Vorhänge.

Nichts als Wüste pur: braune, verbrannte Erde, braune Hügel, hellbraune Berge, kaum Steine, nichts Grünes, schon gar nichts Blühendes, eine tote Landschaft …

Ich lehnte den Kopf an die Scheibe und heulte.

Jemand klopfte mit den Fingerspitzen ans Fenster, ich zuckte zusammen und machte gleichzeitig einen Satz rückwärts ins Zimmer: Carlos, der einzige Mensch, den ich in Chile kannte – ausgerechnet der musste mich in dieser Verfassung ertappen. Wie peinlich! Und noch dazu in diesem lächerlichen Shirt, das ich als Nachthemd trug! Sch…! Ich rannte ins Bad und knallte die Tür hinter mir zu. Mit zitternden Fingern drehte ich die Dusche auf. Aber nur ein dünnes, lauwarmes Rinnsal lief an mir herunter. Auch das noch. Ich seifte mich ein und hatte eine Ewigkeit damit zu tun, den Schaum abzuwaschen.

Jammernd und vor mich hin schimpfend zog ich Jeans, Hemd und Turnschuhe an, stopfte die Abschiedsmail und die rote Karte in die Hosentasche, nahm mir vor, fies und gemein zu sein, und war endlich bereit, in den Gastraum zu gehen.

Tante Anne und Manfred kamen gerade von einer ausgiebigen Fototour zurück.

»Das Licht war absolut einmalig«, schwärmte meine Tante. »Was hab ich jetzt für einen Hunger!«

Ich linste vorsichtig in den Raum. Kaum zu glauben: Carlos war nicht da! Sofort besserte sich meine Laune. Manfred drückte seine Zigarette aus, wir setzten uns an ein breites Fenster, das uns den vollen Blick auf die Wüste gestattete, und schauten uns um. Thermoskannen mit lauwarmem Wasser, Körbchen mit allerlei Teebeuteln, Brot, Marmelade. Das war's.

»Könnte schlimmer sein«, stellte Tante Anne fest und griff zu.

Manfred verweigerte das Essen; er behauptete, so früh am Morgen noch keinen Hunger zu haben, was meine Tante zu einem »So kenne ich dich gar nicht!« bewog.

An einem langen Tisch in der Ecke saßen mindestens dreißig Oldies in abgetragenen Safariklamotten. Jeder hatte einen Notizblock und einen Bleistift in der Hand, einer las einen Begriff oder ein Wort aus einem dicken Buch vor, einige hielten den Stift in die Höhe, notierten etwas, dann kam das nächste Wort und so weiter.

»Was tun die denn?«, fragte ich interessiert.

Manfred grinste spöttisch. »Das sind ›Birdwatcher‹, Leute, die sich an den entlegensten Stellen der Welt treffen, vor Sonnenaufgang in die Wildnis marschieren und abhaken, welchen seltenen Vogel sie hören oder sogar sehen. Wer die meisten Häkchen hat, ist Sieger. Schummeln gilt nicht.«

»Was? Die sammeln Vögel wie andere Leute Autogrammkarten von Fußballspielern oder so?«

»Mhm. Darf man hier rauchen?«

»Nein, das darf man nicht«, sagte eine Stimme hinter mir. »Schmeckt's?«

Die Frage ignorierte ich. Da erschien eine Hand und legte ein winziges, ziemlich mickriges, gelbes Blümchen auf meinen Teller.

Ich verschluckte mich. Eigentlich hätte ich cool und hochnäsig sagen müssen: »Wohl der örtlichen Gärtnerei einen Besuch abgestattet? Grandioses Angebot an exotischen Gewächsen, was?« Aber wenn man mit dem Husten kämpft und nach Atem ringt, kann man einfach nichts sagen. Das ist unfair. Also würgte und keuchte ich noch ein bisschen, während Tante Anne sagte: »Wie nett von Ihnen, Carlos! So aufmerksam!«, dann wurde sie ungemütlich und drängte zum Aufbruch. »Alles klar? In zehn Minuten geht's los!«

Carlos sagte nichts davon, dass er mich heulend und in einem unmöglichen Hemd gesehen hatte. Das fand ich anständig.

Wir packten Fotoausrüstung, warme Jacken und Proviant ein und saßen zehn Minuten später in unserem Kleinbus. Die erste Fahrt hinauf in die Berge begann.

Ich hatte mein Notizbuch auf den Knien, um alle überwältigenden Eindrücke mit heißer Feder festzuhalten. Denkste. Links braune Hügel, rechts braune Hügel. Rechts braune Hügel, links braune Hügel. Nach und nach gehen die braunen Hügel in eine Art braune wellige Hochebene über.

Ich seufzte tief und stellte fest, dass ich unter akuter Schreibhemmung litt. Daher verschob ich meine literarischen Anstrengungen auf den Abend und dachte an Rory.

Vor den braunen Hügeln erschien Rorys Gesicht, Rory am Strand, Rory in der Disco, Rory an unserem letzten Abend. Verdammt, schon wieder kamen mir die Tränen! Ich schniefte und schluckte und putzte mir die Nase.

Carlos sah in den Rückspiegel. »Wir fahren«, sagte er, »auf eine Höhe von 4.500 Metern. Manche Menschen vertragen die dünne Luft nicht, sie bekommen Kopfweh, sie werden müde und ihnen wird übel.«

Tante Anne lachte. »Kein Problem für uns. Manfred und ich waren schon oft in ähnlichen Höhen, und Mimi ist jung und gesund.«

Carlos schaute wieder in den Rückspiegel. Er nickte zufrieden. »Ich hab die Tour schon mehrmals gemacht«, meinte er. »Noch nie ist jemandem dabei schlecht geworden.«

»Na prima. Wie beruhigend«, antwortete ich und befühlte meine rote Karte. Du bist fies und gemein, Mimi, vergiss das nicht, ermahnte ich mich und schaute mal wieder aus dem Fenster. Inzwischen war die wellige Hochebene nicht mehr wellig, sondern tatsächlich eben. Den Horizont verzierten schneebedeckte Kegel, allesamt Vulkane, von denen einer mächtig rauchte. Carlos hielt am Straßenrand an.

»Passhöhe 4.400 Meter«, las ich auf einem Schild. Bahn frei für die Höhenkrankheit!

Wir stiegen aus. Obwohl die Sonne vom wolkenlosen Himmel knallte, war es ziemlich kalt.

Manfred zündete sich wieder eine Zigarette an, dann hängte er sich seinen Fotoapparat um und stiefelte los. Tante Anne setzte sich auf einen Felsbrocken; sie sah sich um, seufzte und meinte: »Also diese Landschaft muss man mögen. Wenn ich die mit einem lieblichen Flusstal bei uns vergleiche … Mimi, ich weiß nicht, es fällt mir schwer, sie schön zu finden.«

»Musst du sie denn schön finden?«, fragte ich zurück. »Ich finde es hier grässlich.«

»Ich auch«, entgegnete sie. »Aber warte mal; in meinem Reiseführer über Chiles Norden habe ich etwas Kluges gelesen.«

Sie rannte zwei, drei Schritte zum Bus, hielt inne und jammerte: »Mein Gott, wie kurzatmig man in dieser Höhe wird. Na, vielleicht ist's auch das Alter!«

Tante Anne setzte sich neben mich und las vor: »Zwischen dem Ozean und der großen Mauer der Anden erstreckt sich ein scheinbar endloser Wüstenstreifen aus braunem Sand, aus Felsen und Bergen. Er ist absoluter und schrecklicher in seiner Nacktheit als die Sahara … Der Anblick dieser grausamen Wüste bedrückt den Geist durch seine grenzenlose Verlassenheit …«

Carlos nickte. »Anfangs sagt das jeder«, stimmte er Tante Anne zu. »Aber wartet ab, bis ihr ein, zwei Tage hier seid. Dann bekommt ihr ein Gefühl dafür, wie großartig es hier oben ist. Fahren wir weiter?«

»O. k. Wo ist Manfred?«

Wir sahen uns um. Manfred war wie vom Erdboden verschwunden. Komisch. Wir warteten, dann machten wir uns auf die Suche, jeder ging in eine andere Richtung. Wir riefen ihn, wir spähten hinter jeden Stein und Felsen und wir entfernten uns immer weiter vom Bus.

Ich stellte fest, dass ich entweder nur gehen oder »Manfred! Wo bist du?« rufen konnte. Für beides zusammen reichte die Puste nicht.

Endlich kehrte ich um. Auf dem Rückweg sah ich etwas Farbiges am Boden. Das konnte nur Manfred sein: Ob er einen seit der Kreidezeit ausgestorbenen Käfer entdeckt hatte und ihn fangen wollte?

Ich grinste; Manfred traute ich alles zu. Aber warum hatte er auf unser Rufen nicht geantwortet?

»Hallo, Manfred, was hast du denn entdeckt?«

Er antwortete immer noch nicht.

Ich ging auf ihn zu, mein Herz begann schmerzhaft zu pochen.

»Manfred? Ist dir schlecht?«

»Hä? Was sagst zu?«, keuchte er. »Schlecht? Nein, nicht schlecht; nur ein bisschen schwindlig und kurzatmig. Ich hab mich zum Ausruhen auf den …«

Die letzten Worte schenkte er sich. Sein Kopf kippte weg. Er schlief.

Ich rüttelte ihn an der Schulter. »Wach auf, Manfred. Hast du die Höhenkrankheit?«

»Wie? Was? Höhenkrankheit? Quatsch. Muss noch der Jetlag sein.«

Er rappelte sich mühsam auf. Vor dem Auto zündete er sich noch eine Zigarette an.

Carlos, der inzwischen wieder da war, nahm sie ihm missbilligend aus der Hand. »Das ist überhaupt nicht gesund hier oben.«

Manfred sagte störrisch: »Pure Luft bekommt meinen Lungen nicht«, aber dann setzte er sich doch in den Bus.

Tante Anne kam auch zurück, wir stiegen ein und fuhren weiter.

Wenige Kilometer später hielt Carlos vor einem Schlagbaum, dem Checkpoint am Eingang zu einem der Nationalparks. Aus der Hütte kam ein Carabinero, fragte nach unserem Fahrtziel, notierte dieses und die Uhrzeit, dann konnten wir passieren.

»Warum macht er das?«, fragte ich verwundert.

»Hier oben halten sich so wenig Leute auf – es gibt keine Siedlungen und schon gar nicht das, was man Fremdenverkehr nennt –, dass jemand, der 'ne Panne hat –«

»– ziemlich verloren ist«, ergänzte Tante Anne. »Und sollte einer dieser rauchenden Vulkane ausbrechen oder die Erde beben, sind unsere Angaben der einzige Anhaltspunkt zu unserer Rettung. Jedenfalls, solange dem Carabinero nichts geschieht.«

»Na prima«, murmelte ich. »Hoffentlich sind die Fotos das Abenteuer wert.« Eigentlich wollte ich ja nur fies und gemein sein, aber auf Mont-Blanc-Höhe und mit der Wahrscheinlichkeit von eineinhalb Erdbeben pro Tag hat man wenig Möglichkeiten, fies und gemein zu sein.

Außerdem hatte sich die Landschaft geändert: Eben war's hier immer noch, aber nun erstreckten sich knallgrün leuchtende Moospolster unendlich weit, die jedoch nicht samtig weich, sondern beinhart waren, wie ich später feststellte. Dann sah ich meine ersten Lamas und Alpakas außerhalb unseres Zoos, und schließlich kam ein unglaublich blauer See in Sicht. Dahinter ragte ein rabenschwarzer Vulkankegel in den genauso unglaublich blauen Himmel – der Schnee im oberen Drittel sah aus, als hätte jemand einen Riesenpott Zuckerguss drübergeleert.

Carlos ließ den Wagen ausrollen.

»Lago Chungara«, sagte er andächtig, und nach einer Weile deutete er auf den Berg: »Volcan Parinacota.«

»Spektakulär«, murmelte Tante Anne und gab Manfred, der vorne neben ihr saß, einen kräftigen Stoß in die Rippen. »Aufwachen! Das siehst du nicht alle Tage!«

Ich hatte schon mein Notizbuch auf den Knien und schrieb: Wir befinden uns soeben auf 4.600 Meter über dem Meeresspiegel. Die Luft ist sehr dünn, man atmet hastig und ziemlich mühsam. Wir bewegen uns auch langsam und vorsichtig, weil Da hörte ich plötzlich Manfred rasselnd den Atem einziehen: »Mir ist übel. Himmel, ist mir übel!«, stieß er hervor. Carlos packte ihn am Arm, zog ihn zu sich rüber und sprang gleichzeitig aus dem Bus. Keine Zehntelsekunde zu früh.

Das Ende vom Lied war, dass wir den Ausflug panikartig abbrachen und so schnell es die Pisten mit ihren scharfen Kurven erlaubten nach Putre zurückdüsten.

»Der Mann muss ins nächste Krankenhaus«, stellte Miguel, der Leiter der Hosteria, alarmiert fest. »Lebensgefahr!«

Wie es jemandem in so kurzer Zeit dermaßen schlecht gehen konnte, war uns ein Rätsel. Alles Jammern half aber nichts, Tante Anne packte ihres und Manfreds Gepäck, warf es in den Bus und rief mich zu sich. »Du bleibst hier. Ich fahre mit Carlos nach Arica oder wo immer sich das nächste Krankenhaus befindet und komme so schnell wie möglich zurück. O. k.? Es hat keinen Sinn, dass du mitkommst; spätestens morgen Abend sind wir ja wieder da.«

»Super Aussichten«, meinte ich.

»Klar. Ideal ist die Sache nicht. Aber die Gegebenheiten sind nun mal nicht anders. Außerdem: Chaotische Bedingungen sind ein äußerst wirksames Training für zukünftige Reisejournalistinnen. Mach's gut, Mimi!«

Was dann begann, kann man nur als Albtraum bezeichnen. Am späten Abend rief mich Miguel, der Wirt, ans Telefon. Es war Tante Anne. »In Arica nehmen sie Manfred nicht auf. Wir fahren weiter nach Iquique. Ich melde mich, sobald ich mehr weiß!«

Schließlich landeten sie in Antofagasta, mehrere hundert Kilometer weiter südlich.

»Nimm den Überlandbus und fahre hierher«, sagte meine Tante später am Telefon. »Miguel wird dir helfen.«

So kam's, dass ich den Tag darauf zwischen Indios, riesigen Gepäckbündeln, Taschen und Körben mit Gemüse und lebenden Hühnern ein Plätzchen ergatterte, nach Antofagasta rumpelte und mich dort zum Krankenhaus durchfragte.

Die Wette

Am Straßenrand parkte unser Bus mit dem Aufkleber »It's my baby Thilda!«, aber Carlos entdeckte ich nirgends. Auch recht, dachte ich, setzte mich auf ein ziemlich mitgenommen aussehendes Bänkchen und hielt mein Gesicht in die Sonne. Ich dachte an das Gespräch, das ich gerade mit Tante Anne geführt hatte. Manfred ging es so schlecht, dass sie ihn nicht allein lassen konnte. »Weißt du«, hatte Tante Anne gesagt, »es macht keinen Sinn, wenn wir hier alle herumhängen. Ich möchte, dass du mit Carlos nach San Petro fährst. Er zeigt dir die Gegend. Du fotografierst und machst dir Notizen für deine beiden Artikel. Und wer weiß – vielleicht können wir gemeinsam einen Bericht für meine Zeitung schreiben, dann wäre die Reise auch für mich nicht ganz umsonst gewesen.«

»Ich? Allein mit Carlos?«, hatte ich entsetzt gerufen.

»Er ist kein Menschenfresser«, hatte sie cool geantwortet. »Wenigstens du sollst etwas von der Reise haben. Aber wahrscheinlich kommt sowieso alles anders, als wir denken. Es ist durchaus möglich, dass ich in zwei, drei Tagen wieder zu euch stoßen kann. Wer weiß?«

»Hast du Carlos schon gefragt?«

»Natürlich. Er findet die Idee gut.«

»Du hast ihn gefragt? Hinter meinem Rücken? Hast du ihm auch gesagt, warum ich überhaupt die Reise mache? Hast du ihm von Rory –« Ich war so entsetzt, dass ich nicht weiterreden konnte.

»Nein. Hab ich nicht. Was du ihm sagen oder nicht sagen willst, ist deine Sache. Besprich du das mit ihm.«

Das war's. Hier saß ich nun, wartete auf Carlos und dachte an meine Freundinnen. Wenn ich ihnen erzähle, dass ich – mit Erlaubnis meiner Tante! – allein mit einem coolen Studenten durch Chiles Wüste touren sollte, würden alle nur an das eine Thema denken: Liebe in Großbuchstaben! Wenn ich dann aber durchsickern ließe, dass dieses Thema für mich keins mehr war, wäre ich komplett erledigt; mit Geistesgestörten lassen sich meine Freundinnen nämlich nicht ein.

Deren Meinung konnte mir aber gestohlen bleiben. Wenn ich an Rory dachte, spürte ich sofort wieder das schlimme Ziehen in der Herzgegend. Noch mal so eine Enttäuschung halte ich nicht aus, dachte ich grimmig, es tut einfach zu sehr weh …

Mich fröstelte trotz der Sonne. Ich fühlte mich unbehaglich, so als würde ich beobachtet. Ich schaute mich um, dachte, na, war wohl eine Täuschung, aber dann sah ich, wie sich die Zweige eines in der Nähe wachsenden Busches bewegten, obwohl nicht das geringste Lüftchen wehte.

Mit einem Sprung war ich am Busch, bog die Zweige auseinander – und fiel fast in Ohnmacht. »Carlos! Warum versteckst du dich hier? Bist du wahnsinnig? Was hast du vor?«

Er lachte verlegen und zog mich zur Bank. »Kein Grund zur Aufregung«, meinte er beruhigend. »Weißt du, was deine Tante will?«

»Ja. Du sollst mir das Land zeigen«, antwortete ich. »Aber ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist.«

»Siehst du!«, rief Carlos temperamentvoll aus. »Wir beide hatten denselben Gedanken! Ich weiß auch nicht, ob das eine gute Idee ist. Deshalb dachte ich, na, beobachte das Mädchen mal ein wenig, vielleicht findest du heraus, ob du ein paar Tage mit ihr verbringen kannst.«

»Du hast mich beobachtet?«, schrie ich wütend.

»Klar. Ist ja nicht verboten, oder? Jedenfalls weiß ich jetzt, warum du so traurig bist.«

»Das weißt du nicht!«

Carlos hob die Augenbrauen und hielt mir ein eng zusammengefaltetes Papier vor die Nase.

Ich erkannte es sofort. »Gib das her!«, schrie ich. »Woher hast du das? Hast du die Mail gelesen?«

»Klar hab ich sie gelesen«, antwortete Carlos cool. »Warum auch nicht? Du musst sie verloren haben, als du dich im Krankenhaus nach Manfreds Zimmer erkundigt hast. Ich wollte dir sagen … ich sage dir, so einen Brief hab ich schon tausendmal bekommen. Vielleicht nicht ganz tausendmal, aber einmal schon. Kein Grund zu Panik, kein Grund zur Aufregung, kein Grund, sich das Leben zu vermiesen, kein Grund –«

»Ach, halt doch den Mund und lass mich in Ruhe!«, fuhr ich ihn an.

»Klar. Sofort. Gleich. Pass auf: Ich kann mir denken, wie dir zumute ist. Aber weißt du, wir beide können eine schöne Zeit zusammen verbringen. Die vielen neuen Eindrücke werden dir helfen, diesen Rory zu vergessen. Ich zeige dir die schönsten, interessantesten Gegenden der Wüste. Du wirst das Land lieben lernen, und du wirst einen tollen Artikel schreiben.«

»O. k.«, sagte ich.

»Und du wirst dich in mich verlieben.«

»Was?«, rief ich ungläubig. »Was sagst du da? Du spinnst ja wohl!« Ich schnaubte verächtlich durch die Nase. »Was bist du nur für ein Angeber! Niemand verliebt sich auf Befehl! Ich schon gar nicht!«

»Wetten, dass es so kommen wird?«, beharrte er.

»Quatsch. «

»Wetten, dass?«

»Wetten, dass nicht?«

»Ich gehe jede Wette ein …«

»Ich auch!«

Wir funkelten uns an.

Carlos sprang auf und hielt mir die Hand hin. »Ich wette!«

»Ich auch!«

»O. k. Worum wetten wir?«

»Keine Ahnung. Ich … « Mir fiel wirklich nichts ein.

Carlos grinste. »Wenn du dich in mich verliebst, schreibst du: ›Ich widme den Artikel meinem Freund Carlos. Er zeigte mir die Atacama und ließ mich Rory vergessen. Ich danke ihm dafür.‹«

Vor Empörung blieb mir die Spucke weg. »Waaas?« Dann lachte ich los. »O. k. Die Wette gilt! Dein Vorschlag ist das beste Mittel, mich nicht in dich zu verlieben!«

»Das werden wir sehen.«

Fast hätte ich gesagt: »Du Blödmann, du kennst mich nicht.« Aber dann verkniff ich mir die Antwort. Nicht durch Worte, durch Taten würde ich ihn überzeugen, fies und gemein würde ich sein, und überhaupt – es war eine einseitige Wette. »Hey, was ist, wenn ich die Wette gewinne?«

»Du gewinnst sie nicht.«

»Klar gewinne ich sie. Dann will ich … ich werde …« Meine Gedanken rasten, trotzdem fiel mir auf die Schnelle nichts ein, was fies genug war, um diesem eingebildeten Typ eine Lektion in Sachen Bescheidenheit zu erteilen.

»Also, wenn du die Wette gewinnst –« Carlos legte seine Hand auf meinen Arm. »Dann hast du einen Wunsch frei.«

»Wie im Märchen? O. k. Ich werde mir den Wunsch gut überlegen«, antwortete ich boshaft.

»Abgemacht.« Er beugte sich zu mir rüber, unter uns knackte es, das Brett krachte – und wir lagen uns in den Armen. »Dass ich die Wette so schnell gewinnen würde, hab ich nicht gedacht«, flüsterte Carlos in mein Ohr.

Wütend stieß ich ihn von mir. »Bilde dir bloß nichts ein! Das morsche Holz war schuld!«

Wir rappelten uns auf. »Du liebes morsches Holz«, sagte Carlos mit einer Verbeugung vor der Bank, »wie gut von dir, dass du gerade im passenden Augenblick gekracht bist!«

Ich rieb meinen Ellbogen. »Wann fahren wir?«, fragte ich so sachlich, wie ich nur konnte.

»Jetzt. Gleich, nachdem wir uns von deiner Tante und Manfred verabschiedet haben.«

Zwanzig Minuten später und versehen mit allen erdenklichen Reisewünschen düsten wir auf einer nahezu autoleeren Piste ins Abenteuer. Ich war sauer auf den Angeber Carlos, auf die Wette, auf Manfred, dass er krank geworden war, auf Rory, weil ich seinetwegen in Chile gelandet war – eigentlich war ich sauer auf alles und jeden. Deshalb saß ich viele Kilometer der Wegstrecke unglücklich und schweigend neben Carlos.

Die Landschaft gab nichts her; eben, sandig und rotbraun, nur hie und da ein paar dürre Wüstenpflanzen, so zeigte sich das Land links und rechts der Fahrbahn.

Die einzige Abwechslung bestand in einem Auto, das sich mit uns auf der Straße befand. Es war ein alter sandgrauer Pick-up, dessen Plane über der Ladefläche mehrfach ausgebessert war; ging es bergab, überholte er uns. Stieg die Fahrbahn an, hatte unser Bus mehr Power und zog locker an ihm vorbei. Anfangs winkte ich dem Fahrer zu. Nachdem er aber nie zu uns rübergeschaut hatte, gab ich es schließlich auf und gähnte vor Langeweile. Als ich zum tausendsten Mal den Mund aufriss, lachte Carlos los.

»Es wird schon noch interessanter. Bald erreichen wir eine verlassene Stadt. Die Ruinen sind sehenswert.«

»Du nimmst mich wohl auf den Arm«, erwiderte ich empört.

»Dazu bist du mir viel zu schwer«, spottete er. »Weißt du, das Land war verdammt arm. Es gab einfach nichts, womit man hätte handeln können.«

»Das glaube ich dir sofort. Es sei denn, jemand hätte Sand gebraucht für seinen Vorgarten.«

»Es war tatsächlich der Sand – jedenfalls das, was darunter zum Vorschein kam«, bestätigte er grinsend. »Im 19. Jahrhundert fand man ausgerechnet hier, in dieser unfruchtbaren Gegend, Salpeter. Wunderbar, dachte ein Deutscher, Thadaeus Peregrinus Haenke, aus dem Zeug ließ sich nämlich Schießpulver herstellen. Nicht lange danach entdeckte ein anderer Deutscher, Justus Liebig, dass sich daraus auch Kunstdünger fabrizieren ließ. Ein Riesengeschäft begann. Man musste nur den Sand ein bisschen wegschaufeln, dann kam man ans Gestein mit dem Rohmaterial. Die Steine wurden losgesprengt und in riesigen Kupferkesseln gekocht –«

»Die Steine wurden gekocht?«, fragte ich verblüfft.

»Natürlich. Wusstest du das nicht?«, erwiderte Carlos spöttisch und mit hochgezogenen Augenbrauen. »Das ergab eine sehr nahrhafte Suppe, die zwar nicht gelöffelt und gegessen, aber in flache Pfannen gegossen wurde. Den Rest besorgte die Sonne.«

»Wieso?« Ich biss mir auf die Zunge. Sei fies und gemein!, ermahnte ich mich. Aber ich wollte noch mehr Infos, das Thema interessierte mich, deshalb fragte ich: »Die Flüssigkeit verdampfte, was?«

Carlos nickte. Statt enttäuscht zu sein, dass er sein gesamtes Wissen nicht an die Frau hatte bringen können, ergänzte er: »Zurück blieb ein Pulver. Salpeter, das Rohmaterial für Schießpulver und Kunstdünger. Es musste nur noch an die Küste und auf Schiffe verladen werden. Abnehmer gab es mehr als genug. Doch bevor Chile Alleinbesitzer und Exporteur wurde, brach ein Krieg zwischen meinem Land und Bolivien und Peru aus. Damit will ich dich aber nicht langweilen.«

»Danke. Wer sagt, dass du mich nicht schon längst langweilst?«

»Was? Ich langweile dich doch nicht!«, rief er ungläubig. »Es gibt nichts Interessanteres als Chile und seine Geschichte!«

»So? Also mir fallen mindestens ein, zwei andere Themen ein«, spottete ich. »Ich muss nicht mal nachdenken!«

»He! Aber warte, ich habe noch viel mehr zu bieten. Also hier, direkt unter dem Sand, lagen immense Schätze. Was fehlte, waren –«

»– die Menschen, die nichts lieber taten, als sich zu bücken, um diese Schätze zu heben.«

Carlos warf mir einen verzweifelten Blick zu. »Du weißt aber auch alles. Mit nichts kann ich dich beeindrucken.«

»Klar. Gut, dass du das endlich kapierst.« Wenn ich wollte, konnte ich echt fies sein.

Er biss sich auf die Unterlippe.

Ich grinste und griff in meine Hosentasche. Da war die rote Karte. Wie wenig Mühe es doch machte, fies und gemein zu sein; so wenig, dass sich der Spaß in Grenzen hielt.

Ich seufzte tief und lenkte ein. »Woher kamen also die Arbeiter?«

Carlos räusperte sich. Die ganze Begeisterung war aus seiner Stimme gewichen. »Hauptsächlich aus dem Süden des Landes. Man lockte sie unter falschen Versprechungen her und machte ihnen, die gar nicht oder kaum lesen und schreiben konnten, Hoffnung auf sehr hohe Löhne in Verbindung mit befristeten Arbeitsverträgen. Klar, dass alle Zugriffen. Die Leute dort unten im Süden waren nämlich bettelarm. In kurzer Zeit, dachten sie, hätten sie ihr Vermögen gemacht und könnten wieder zurück. Aber als sie dann hier waren, war alles anders. Sicher, die Löhne waren für sie unvorstellbar hoch, aber das Geld ging für Essen, Trinken, Kleidung, Seife – für den Alltag eben – drauf. Statt sparen zu können, verschuldeten sie sich, und weil sie Schulden hatten, mussten sie Weiterarbeiten. Reich werden? Das blieb ein Traum. Die Familie nachkommen lassen? Wie denn, wenn man die Fahrt nicht bezahlen konnte. Den Angehörigen schreiben und ihnen den ganzen Jammer schildern? Wie, wenn keiner schreiben und die Leute daheim nicht lesen konnten?«

»Ich wäre geflohen!«

Carlos wieherte vor Lachen. »Kein Problem. Es gab weder Zäune um die Siedlung noch Wachen, die dich an der Flucht gehindert hätten. Aber bitte –«, er ließ das Lenkrad los und breitete dramatisch die Arme aus, »wohin wärst du denn geflohen? Nach Norden? Nach Süden? Osten oder Westen? Und wie weit wärst du gekommen?«

»Mist.« Mit meinem Einwurf hatte ich ein Eigentor geschossen. Jetzt biss ich mir auf die Unterlippe. »Die Menschen waren wirklich in einer verdammt verzweifelten Lage.«

»So könnte man's zusammenfassen.«

Die Sonne stand sehr schräg. Carlos bog auf eine Schotterpiste ein, und kurz darauf sah ich vor uns die versprochene Geisterstadt.

»Bitte!« Carlos stieg aus und streckte den Arm aus. »Schau sie dir an.«

Ich sprang aus dem Bus, knallte die Tür zu – und genau in diesem Augenblick ging die Sonne unter. Im Nu lagen die Gemäuer in violetter Dämmerung. Leere Fensterhöhlen gähnten mir entgegen. Hier hing noch der Rest einer Tür in den Angeln, da ragte ein letzter Dachbalken in die Luft. Kein Vogel piepste, nichts raschelte, nirgendwo klapperte ein Fensterladen. Nicht mal ein Flugzeug düste über unsere Köpfe weg. Es herrschte totale Stille, und ich fand's grauenvoll. Nicht mal Carlos' Schritte waren zu hören. Ganz bestimmt war er beleidigt. Schade. Jetzt hätte ich ihn gerne an meiner Seite gehabt, die ganze Zeit wollte ich ja nicht fies und gemein sein …

Die Geisterstadt war nichts für mich, hier war's mir zu gruselig, zu gespenstisch, viel zu unheimlich; ich bestand nur noch aus Gänsehaut. Mimi, ermahnte ich mich, es ist leicht, im sicheren Auto fies und gemein zu sein. Wo bleibt dein Mut?!

Also straffte ich die Schultern und stiefelte mutig von Haus zu Haus, blieb aber nirgends stehen. Nur ein einziges Mal, als ich im allerletzten Restlicht einen Urwald entdeckte, hielt ich inne: Jemand hatte auf die bloßen Wände einen Wald mit Lianen und üppig wuchernden Orchideen gepinselt und hatte dabei auch nicht die Papageien und Kolibris vergessen. Plötzlich begriff ich, wie verzweifelt einsam und heimwehkrank der Maler und seine Leidensgenossen gewesen sein mussten. Den Lieben zu Hause keine Nachricht schicken zu können, keinen Brief, kein Telegramm, keine SMS, kein Telefon, nichts gab's, nur die Gedanken – das muss man sich mal vorstellen! Und dann noch dies: Was mussten die Zurückgebliebenen denn von dem Abgereisten denken?! Was die annahmen, konnte man sich ja leicht ausmalen, und das machte die Verzweiflung nur noch bitterer.

Himmel noch mal! Ich drehte mich um und wollte zum Bus zurück. Nur: Wo stand er? Rechts?

Links? In der Finsternis war die Richtung so schwer auszumachen. Wo befand sich Carlos? Zuerst eilte ich in die eine Richtung. Die war falsch. Also machte ich kehrt und versuchte es mit der anderen. Ich hörte nichts als meine Schritte im Sand und meinen keuchenden Atem.

Da! Plötzlich leuchteten Scheinwerfer auf. Sofort schlug ich einen Haken und rannte auf das Licht zu, wollte schon vor Erleichterung »Hier bin ich!« brüllen, als ich wie angewurzelt stehen blieb. Das waren nicht die Lichter unseres Busses, und die Gestalt, die jetzt aus dem Auto stieg und langsam auf mich zukam, war kleiner und gedrungener als Carlos.

Mein Herz raste, ich wollte schreien, aber kein Laut kam aus meiner Kehle.

Und dann – stolperte der Mann. Worüber? Keine Ahnung. Aber er stolperte, stieß dabei einen kurzen Schrei der Überraschung aus, fing sich wieder, und in diesem Moment hörte ich hinter mir Carlos' Stimme: »Was geht hier vor?«

Der Mann stutzte, drehte sich um, rannte die wenigen Schritte zu seinem Auto zurück, sprang hinein, knallte die Tür zu, ließ den Motor an, wendete, gab Gas und verschwand in einer Staubwolke.

Carlos war ihm nachgerannt. Jetzt blieb er stehen, dann kam er zu mir zurück.

»Wer war das?«, fragte ich. Gott sei Dank konnte ich wieder sprechen, wenn auch meine Stimme noch recht heiser klang.

»Wie der Mann heißt, weiß ich natürlich nicht; ich konnte auch das Nummernschild an seinem Auto nicht lesen, dazu war es zu verstaubt. Aber Tatsache ist, dass es der Fahrer des Pick-ups war, der uns während der Fahrt immer wieder überholt hatte. Nur komisch«, setzte Carlos nachdenklich hinzu, »dass wir ihn während der letzten halben Stunde Fahrt nicht mehr gesehen haben. Und noch komischer ist, dass ich nicht bemerkt habe, dass er hier angekommen ist. Hast du das Auto gehört?«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich hab ja nicht mal dich gehört«, sagte ich und bemerkte sofort, wie anklagend das klang. »Aber das hat mir natürlich nichts ausgemacht. Überhaupt nichts«, setzte ich kratzbürstig hinzu. »Ich hab mir die Siedlung gerne allein angeschaut.«

Cool, fies und gemein bleiben!

»Ist ja super«, spottete Carlos. »Dann können wir weiterfahren.«

Mit einigen Schritten Abstand folgte ich ihm, blieb aber extra noch einmal stehen und blickte angestrengt ins pechrabenschwarze Innere eines Hauses, so lange jedenfalls, bis ich nicht mehr schneller als sonst atmete, dann schlenderte ich locker zu unserem Wagen.

»Freut mich«, knurrte Carlos kühl. »Gut, dass du Katzenaugen hast. Kannst in der Dunkelheit sehen. Ziemlich ungewöhnlich.«

»Ach, deshalb hast du mich allein umherwandern lassen? Um meine Augen zu testen?«

»Klar. Das war die Absicht.«

Ich war sauer. Ich hätte diesem eingebildeten Kerl neben mir den Kopf abreißen können, aber die Begegnung mit dem Pick-up-Fahrer steckte mir noch in den Knochen. Als er nämlich auf mich zugegangen war, war etwas Lauerndes, ja Gefährliches von ihm ausgegangen; noch jetzt bekam ich eine Gänsehaut, wenn ich daran dachte. Als ich in unseren Bus stieg, sagte ich: »Ich möchte nur wissen, was der Unbekannte vorhatte. Ist doch ungewöhnlich, dass jemand so überstürzt davonfährt, oder?«

»Verboten ist es natürlich nicht.« Carlos nagte an der Unterlippe. »Aber komisch ist es. Weißt du, Mimi, hier gibt es nichts zu holen, höchstens eine morsche Holzlatte oder einen verrosteten Nagel. Die Siedlung ist blank, absolut leer. Die Bewohner besaßen kaum etwas, und die wenigen Habseligkeiten, die sie hatten, haben sie garantiert mitgenommen.« Carlos seufzte. »Wir werden nie erfahren, was der Unbekannte im Sinn hatte.«

Details

Seiten
Erscheinungsform
Neuausgabe
Jahr
2016
ISBN (eBook)
9783960531838
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (Juli)
Schlagworte
eBooks ab 12 Jahren fuer Maedchen frech Liebe Freundschaft Abenteuer reisen Urlaub Ferien Atacama-Wueste Suedamerika Chile Jungs verliebt sein kuessen
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Titel: Liebe, List & Andenzauber: Dritter Roman der Mimi-Reihe
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