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Jule - Band 2: Kussecht

©2016 200 Seiten

Zusammenfassung

Vorhang auf für Wirbelwind Jule: Der freche Jugendroman „Jule, kussecht“ von Erfolgsautorin Beatrix Mannel jetzt als eBook bei jumpbooks.

Kennt ihr das, wenn man auf seinem Bett liegt und völlig sinnlos rumheult? Ich bin Jule – und bei mir geht gerade alles ziemlich den Bach runter: In der Schule macht mir die Klassenzicke das Leben zur Hölle, ich habe Liebeskummer und jetzt hat mich meine Schwester auch noch überredet, in der Theater-AG mitzumachen. Bescheuerte Idee! Aber immerhin macht Twister da auch mit … und den finde ich eigentlich ganz süß. Und wie heißt es doch gleich am Theater? Kuss oder nicht Kuss, das ist hier die Frage!

„Einer solch charmanten und frechen Heldin kann man als Leserin nur schwer widerstehen!“ Jugendliteratur aktuell

Jetzt als eBook kaufen und genießen: „Jule, kussecht“. Der zweite Band der Jugendbuchserie für Leserinnen ab 12 Jahren von Beatrix Mannel. Wer liest, hat mehr vom Leben: jumpbooks – der eBook-Verlag für junge Leser.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Über dieses Buch:

Kennt ihr das, wenn man auf seinem Bett liegt und völlig sinnlos rumheult? Ich bin Jule – und bei mir geht gerade alles ziemlich den Bach runter: In der Schule macht mir die Klassenzicke das Leben zur Hölle, ich habe Liebeskummer und jetzt hat mich meine Schwester auch noch überredet, in der Theater-AG mitzumachen. Bescheuerte Idee! Aber immerhin macht Twister da auch mit … und den finde ich eigentlich ganz süß. Und wie heißt es doch gleich am Theater? Kuss oder nicht Kuss, das ist hier die Frage!

Über die Autorin:

Beatrix Mannel studierte Theater- und Literaturwissenschaften in Erlangen, Perugia und München und arbeitete dann zehn Jahre als Redakteurin beim Fernsehen. Danach begann sie – auch unter ihrem Pseudonym Beatrix Gurian – Romane für Kinder, Jugendliche und Erwachsene zu schreiben, die in viele Sprachen übersetzt wurden. Für ihre aufwändigen Recherchen reist sie um die ganze Welt. Außerdem gründete sie gemeinsam mit einer Kollegin 2015 die Münchner Schreibakademie.

Zur frechen Jugendbuchserie rund um Jule gehören die folgenden Bände: Jule – filmreif, Jule – kussecht, Jule – schwindelfrei, Jule – zartbitter

Bei jumpbooks erschien von ihr bereits die Serie S.O.S. – Schwestern für alle Fälle mit den Einzelbänden:

Willkommen in der Chaos-Klinik
Ein Oberarzt macht Zicken
Flunkern, Flirts und Liebesfieber
Rettender Engel hilflos verliebt
Prinzen, Popstars, Wohnheimpartys

und der historische Jugendroman Die Tochter des Henkers.

Mehr Informationen auch auf der Website der Autorin: www.beatrix-mannel.de

www.münchner-schreibakademie.de/

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eBook-Neuausgabe September 2016

Copyright © der Originalausgabe © 2001 Loewe Verlag GmbH, Bindlach

Copyright © der Neuausgabe 2016 dotbooks GmbH, München

Copyright © 2016 jumpbooks Verlag. jumpbooks ist ein Imprint der dotbooks GmbH, München.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Tanja Winkler, Weichs unter Verwendung eines Bildmotivs von Thaut Images (fotolia.com)

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN 978-3-96053-171-5

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Beatrix Mannel

Jule – kussecht

Roman

jumpbooks

EISZEIT

Kennt ihr das, wenn man auf seinem Bett liegt und völlig sinnlos rumheult? Das mache ich gerade, und es bringt natürlich nichts, nur dicke rote Augen und eine geschwollene Nase. Ich konnte noch nie weinen wie eine Feenprinzessin, der Tränen wie schimmernde Glasperlen von der bleichen Wange tropfen. Mir läuft der Rotz aus der Nase, und ich kriege keine Luft. Bestimmt wollt ihr endlich wissen, wieso ich dann trotzdem dieser Tätigkeit so intensiv nachgehe, statt etwas wirklich Schönes zu tun, wie zum Beispiel – ähh – Hausaufgaben zu machen.

Es ist ganz einfach – und einfach schrecklich. In meiner Klasse redet keiner mehr mit mir. Jetzt macht bloß nicht gleich wieder das Buch zu. Ich hab niemanden verpetzt, ich hab auch keiner Freundin den Typen ausgespannt, nein, mein Verbrechen ist anscheinend viel schlimmer: Ich habe eine Zeit lang bei einer Fernsehserie mitgespielt. Und seit das vorbei ist und ich wieder zurück bin, sagen die anderen nur noch zu mir: »Na, fette Fernsehziege« oder auch »Na, Ex-Fernsehstar«. Ich verstehe das nicht. Ich habe mich überhaupt nicht wie ein Star benommen. Ehrlich.

Es klopft an meiner Tür. Ich versuche mir das Gesicht abzuwischen, aber wahrscheinlich ändert das wenig an meinen Kaninchenaugen.

Es ist meine große Schwester Cindy, die da durch das Zimmer schwebt und sich auf mein Bett setzt. Sie sieht aus wie immer: perfekt. Sie ist groß und schlank und hat wunderschöne, leuchtende, blonde, lange Haare. Nicht so stachelige, fettige, rote Zipfelfransen wie ich. Cindy rümpft ihre kleine Stupsnase. »Hier mieft es. Du solltest frische Luft reinlassen.« Sie geht zum Fenster und reißt es auf, so weit, dass ich hören kann, wie die Pappel vor meinem Fenster im Sommerwind leise rauscht.

Ist Cindy nicht wunderbar? Sie fragt mich nicht, wieso ich heule, sie gibt keine fiesen Kommentare über mein verquollenes Boxergesicht ab und zwingt mich nicht, sie anzulügen und zu behaupten, ich hätte Heuschnupfen.

Cindy weiß nämlich, dass ich es verabscheue, beim Heulen erwischt zu werden.

Sie dreht sich um und mustert mich mit strengem Blick. »Wieso heulst du denn?«, fragt sie mich allen Ernstes. Von wegen wunderbar!

»Herzblatt hat mir abgesagt«, versuche ich einen Witz, aber Cindy verzieht nicht mal ansatzweise ihre paprikaroten Mundwinkel. »Jule, ich will dir doch nur helfen. Was ist denn los?«

»Nichts«, antworte ich stur und denke: Genau! Das trifft es auf den Kopf. Funkstille. Nichts.

»Was heißt nichts?« Cindy zieht eine Haarsträhne aus ihrem Pferdeschwanz und fängt an, darauf herumzukauen. Ich weiß, was das bedeutet. Sie ist beunruhigt.

»Nichts heißt nichts. Ich habe eine Allergie.« Genau genommen eine Allergie gegen meine Klasse.

»Jule, du bist so kindisch. Als ob ich nicht wüsste, was in der Schule läuft. Ich hab gestern Katharina und Sophie belauscht. Sie saßen im Bus vor mir.«

Meine beiden Lieblinge.

Katharina, Liebling Nummer eins, ist unsere Klassensprecherin und Chefin dieser Schweigekampagne gegen mich. Sie ist in etwa so sympathisch wie eine unterernährte afrikanische Tüpfelhyäne. Allerdings sieht sie aus wie ein Engel: blond, süß, pausbackig ... obwohl, nein, das nehme ich zurück. Das wäre eine Beleidigung für echte Engel.

Sophie, Liebling Nummer zwei, dient Katharina als Leibsklavin und würde auf Befehl ihrer Herrin keine Sekunde zögern, jemandem von hinten ein Messer in die Rippen zu stoßen; allerdings nicht, ohne vorher ihr Make-up zu prüfen.

Dass Cindy es überlebt hat, ein Gespräch der beiden zu belauschen, grenzt an ein Wunder. Schließlich kann sie nicht einmal eine Kakerlake erschlagen!

»Was hatten die Süßen denn so Weltbewegendes zu bereden?«, erkundige ich mich. »Hat sich Katharinas Bauchnabelpiercing entzündet? Oder möchte Sophie nun doch ein passendes Schlangentattoo auf ihrem Knöchel haben?«

Cindy schüttelt ihren Kopf. »Nein, es ging darum, dass du ganz schön alt aussiehst, jetzt, wo keiner mehr mit dir spricht.«

Mir fällt leider nichts ein, was ich dazu sagen könnte. Cindy legt ihren Arm um meine Schultern.

»Mach dir nichts daraus. Sie sind alle bloß neidisch, Jule. Du tust ihnen einen Gefallen, wenn du dich über diese kindische Aktion ärgerst!«

Sie hat gut reden. Cindy kennt solche Probleme überhaupt nicht. Obwohl sie schön und klug ist, schart sich immer ein Pulk von Busenfreundinnen um sie herum. Von den schmachtenden Jungs gar nicht erst zu reden. Ich dagegen habe nur ein paar Kumpels, männliche wohlgemerkt. Einen besten Freund habe ich allerdings auch, Matthias. Aber der ist leider nicht in meiner Klasse. Ich weiß nicht, warum, aber mit Mädchen freunde ich mich schwer an. Vielleicht liegt es an meinen Kilos? Ich bin nämlich 1,68 m und so hoch wie breit. Immer noch, obwohl ich in letzter Zeit dünner geworden bin. Ich kann neuerdings meine Fußspitzen sehen, wenn ich über meinen Bauch gucke, aber von Modelmaßen bin ich weit entfernt.

Cindy spuckt ihre Haarsträhne resolut aus. »Hör mal, Jule, ich kann mir vorstellen, wie schrecklich das für dich ist. Du musst etwas dagegen unternehmen. Und ich habe auch schon eine Idee.« Sie strahlt mich aus ihren blauen Augen an, als würde sie mir gleich ein Geschenk überreichen.

Cindy hat selten überraschende Ideen. Ich bin trotzdem gespannt. Alles ist besser als dieses eisige Schweigen, jeden Tag sechs Stunden oder länger. Cindy steht auf und stolpert über meinen bunten Flickenteppich. Aber sie ist so in Fahrt, dass sie es gar nicht merkt.

»Du trittst in die Theater-AG ein. Da sollen sehr nette Leute drin sein, nicht solche Giftspritzen wie in deiner Klasse. Und außerdem wird sie vom Zwilling geleitet.«

Ich bin verblüfft. Und zwar zum einen, weil meine Schwester gerade das Wort »Giftspritze« in den Mund genommen hat. Das ist höchst ungewöhnlich. Cindy spricht sonst immer druckreif. So etwas Ordinäres wie »Mist«, geschweige denn »Scheiße« oder »Arschloch«, kommt niemals aus ihrem Mund gekrochen. Sie ist einfach nicht fähig zu bösen Gedanken. Zum anderen habe ich keinen blassen Schimmer, wen sie mit Zwilling meint. Ich frage nach, und prompt bekommt Cindy einen verzückten Gesichtsausdruck.

»Zwilling ist der neue Deutschlehrer in der Oberstufe. Er hat eine Theater-AG für alle Jahrgangsstufen gegründet.«

»Machst du auch mit?«

Cindy schüttelt den Kopf. »Ich muss leider fürs Abi lernen. Endspurt! Wenn alles gut geht, dann helfe ich vielleicht bei den Kostümen oder Kulissen. Ich sag dir, dieser Zwilling ist wunderbar.« Cindy dreht begeistert eine Haarsträhne hin und her.

»Und was soll ausgerechnet mir die Theater-AG bringen? Dann sagen die anderen bloß, ich will jetzt auch noch ein Bühnenstar werden ...«

»Quatsch, wenn du in der Theatergruppe nicht geschnitten wirst, dann verpufft diese miese Aktion doch total.«

Ich überlege kurz. Was meint ihr? Ist das eine gute Idee? Oder macht es alles noch schlimmer? Andererseits, schlimmer kann es sowieso nicht mehr werden.

Cindy zumindest ist begeistert von ihrem Vorschlag. Oder liegt das vielleicht eher an dem Lehrer ihres Vertrauens?

»Woher kennst du den Zwilling?«

»Er ist mein neuer Deutschlehrer, Frau Meister musste den Kurs abgeben, weil sie angeblich einen Nervenzusammenbruch hatte.«

»Und was gefällt dir so an ihm?«

Cindy zieht ihre Nasenflügel zusammen. Das tut sie immer, wenn sie angestrengt nachdenkt. Und es sieht ein bisschen so aus, als würde sie gleich in Ohnmacht fallen, weil ihre Nase ganz weiß wird. Schließlich schüttelt sie den Kopf. »Ich habe keine Ahnung. Er ist nicht wie Superman oder so, aber er hat was. Er ist, na ja, er ist klug.«

Na prima! Das sollte man von einem Lehrer wohl erwarten dürfen, oder? Und hattet ihr schon mal einen Lehrer, der Superman ähnelte? Ich nicht. Das Beste, an das ich mich erinnere, war mal ein Sportlehrer, der ausgesprochen durchtrainiert war. Aber leider hatte er so einen ekligen blonden Schnauzer und spuckte beim Reden.

Cindy setzt sich wieder dicht neben mich aufs Bett. Wie macht sie es nur, dass sie immer so angenehm riecht? Fast so gut wie Mama. Cindy nimmt meine Hand. O Gott, was soll das werden? Schwören wir gleich auf die Bibel, die Wahrheit zu sagen und nichts als die Wahrheit? Cindy schaut mich durchdringend an. »Also versprich mir, dass du gleich morgen zum Zwilling gehst und dich eintragen lässt.«

»Ich schwöre, so wahr mir Gott helfe! Amen«, rufe ich mit kräftiger Stimme und schlage mir mit der freien Hand auf meine ziemlich magere Brust.

»Dass du aber auch über alles Witze machen musst.« Enttäuscht steht Cindy auf und verlässt mein Zimmer. Tja ihr merkt schon, sie hat, und das ist eins der wenigen Dinge, die ihr fehlen, wenig Sinn für Humor.

Ich sinke zurück auf mein Bett und starre aus dem offenen Fenster. Ich liebe diese Silberpappel. Wenn die Blätter durch den Wind hin und her flirren, sieht das aus wie flüssiges Quecksilber und manchmal sogar wie das Glitzern der Sonne auf dem Meer. Vielleicht denkt ihr jetzt, dass es ziemlich öde ist, so einen Baum anzuglotzen, wo es doch jede Menge Soaps gibt oder Playstation 2. Na ja, erstens habe ich keinen Fernseher in meinem Zimmer, weil meine Eltern in dieser Hinsicht aus dem Mittelalter sind. Und zweitens ist das auch etwas ganz anderes. Ich sag es nicht gerne, weil es sich ganz schön verrückt anhört. Aber der Baum versteht mich irgendwie. Ich kann mit ihm reden. Der Baum weiß auch, dass ich davon träume, ein wunderbarer, zarter, goldener Glanz zu sein. Oder vielleicht sollte ich sagen, dass ich davon geträumt habe. Manchmal kommt es mir so vor, als würde ich mit diesem Wunsch etwas zu hoch greifen. Oder zu niedrig.

Das Gute an dem Baum ist, dass er sich nicht verändert. Nur wie ich ihn sehe – das ist anders. Manchmal kommt er mir böse vor oder gemein. Aber das ist nur in meinem Kopf, denn der Baum, bleibt immer derselbe. Ist das nicht verrückt? Aber jetzt hab ich euch genug mit dem Baumkram voll gelabert.

Ich hole das Powerbook unter meinem Bett hervor und schließe es an die ISDN-Leitung an, um meine Mails zu checken. Das Powerbook hat mir Stefan geschenkt, bevor er nach Los Angeles gezogen ist, um zu lernen, wie man richtig Filme macht. Stefan war Aufnahmeleiter bei der Fernsehserie, bei der ich mitgemacht habe, und ich bin in ihn verliebt. Heute wird vielleicht doch noch mein Glückstag, denn er hat mir eine Mail geschickt.

«Liebe Jule», schreibt er. Immerhin «Liebe», nicht «Hallo».

«Sorry für die späte Antwort. Aber hier ist so viel los, ich komme zu nichts. Ich hoffe, dir geht es gut. Küsse, Stefan.»

Ich starre auf den Bildschirm. Das soll ein Brief sein? Am liebsten würde ich Stefans altes Powerbook an die Wand werfen. Ich verstehe das nicht. Wir waren doch so verliebt. Ehrlich, er war auch in mich verliebt. Ich weiß, das ist schwer zu glauben. Schließlich bin ich nicht gerade Julia Roberts, noch nicht mal eine Sparversion, aber trotzdem, er hat mich geküsst und noch ein bisschen mehr.

Und jetzt?

Jetzt schreibt er mir immer weniger. Ob er eine andere Freundin hat? Eine Amerikanerin? Ich sehe knackige Cheerleader in kurzen Röckchen mit Pompoms vor ihm herumwedeln und bekomme bei dieser Vorstellung Herzweh. Es fühlt sich an, als würde eine große Eisenspange über meine Brust gelegt und zugedrückt. Und das Schlimmste daran ist, ich kann überhaupt nichts machen. Ich sitze in München auf meinem Bett und kann nichts machen. Dabei würde ich am liebsten zu Stefan fliegen und nachsehen, was dort los ist.

Ich laufe in meinem Zimmer hin und her. Nicht wie ein Tiger im Käfig, sondern wie eine Irre. Mach dir nichts vor, Jule, sagt mein Gehirn. Stefan ist viel älter als du. Für den warst du ein nettes Mädel, nichts weiter. Vergiss ihn.

Mein Herz erwidert: Das kann ich nicht.

Worauf mein Gehirn klugscheißert: Dann musst du es üben. Lern einen anderen kennen.

Hahaha. Noch mehr so gute Vorschläge, und ich lache mich tot. Obwohl, vielleicht ist es doch keine schlechte Idee. Wozu habe ich denn Internetanschluss? Ich könnte zumindest ein bisschen chatten. Aber zuerst schreibe ich eine tolle Antwort auf diesen Nicht-Brief.

«Lieber Stefan», beginne ich. Und halte inne.

Auf keinen Fall! Ich schreibe besser: «Hi Stefan, bitte schick mir keine Mails mehr. Sie brechen mir das Herz, und das willst du doch sicher nicht, oder?»

Nein, so geht das auch nicht. Vielleicht: «Hi Stefan, leider habe ich keine Zeit mehr für dich, weil ich den Dings von dieser neuen Boygroup zum Lover habe.»

Schwachsinn. Stefan würde sich mit seinen braunen Augen einen abgrinsen, mit den muskelbepackten Schultern zucken und mich für total beschränkt halten.

Also entscheide ich mich für ein «Hi Stefan, danke für deine Mail. Bis bald, Jule.»

Ja, das ist gut. Knapp, nicht zu beleidigt. Das schicke ich aber erst in zehn Tagen ab.

Und damit mir nicht noch mehr böse Gedanken durch den Kopf wirbeln, mache ich mich auf in meinen Lieblings-Chatraum für Munich Teens und Twens. Ich habe übrigens den Chatnamen Silberglanz123, und prompt stürzen sich Tigerfell77, Kussecht99 und Muskeljohnny auf mich. Ich weiß nicht, wie es euch beim Chatten geht. Ich finde es meistens nicht besonders prickelnd. Immer dieselben Fragen: «Hey, wo kommst du her?» und «Was machst du gerade?» Ich antworte dann wahlweise: «Meinen Goldfisch füttern» oder auch «Mein Haar runterlassen» oder «100 Liegestütze». Ich würde zu gern mal schreiben: «Ich posiere gerade nackig vorm Spiegel», nur um zu sehen, was passiert.

Aber das traue ich mich nicht. Man weiß ja nie, ob man dann nicht lauter Telegramme von fiesen Gruftie-Perverslingen kriegt. Natürlich wollen Tigerfell und Kussecht als Erstes wissen, woher ich käme. Ich kontere mit «Neuseeland» und behaupte, dass ich erst seit kurzem in Deutschland sei. Radebreche ein bisschen Deutsch. Das macht Spaß.

Und ich verrate auch, dass ich weiblich bin. Die anderen drei geben an, m. zu sein. Auf meine Frage, was denn das bei ihnen bedeute: m. wie »mental gestört« oder m. wie »muskelbepackt« oder m. wie »muss ich erst meine Mama fragen«, antwortet leider nur noch Kussecht99. Er schreibt, ich könnte mir aussuchen, was ich von den drei ms am liebsten hätte: M wie »Mettwurst«, M wie »Mundgeruch« oder M wie »Möchte dich gern kennen lernen«. Leider ruft in diesem Moment meine Mutter zum Abendessen. Und sie mag es nicht, wenn wir zu spät kommen. Also verabschiede ich mich mit einem freundlichen «cu» und gehe ins Esszimmer.

Ich liebe meine Eltern. Sie sind wirklich in Ordnung, wenn man einmal von Mamas Wahnvorstellung absieht, dass sie unbedingt unsere Freundin sein will. Ich kann das nicht. Mama ist meine Mutter, und mit der kann man doch nicht über alles reden, oder?

Auf unsere gemeinsamen Abendessen legen Mama und Papa viel Wert. Sie finden, wir sollten uns einmal am Tag erzählen, was alles in unserem Leben passiert ist. Eigentlich keine schlechte Idee, wenn man etwas zu erzählen hat.

Schon seit Tagen sauge ich mir fröhliche Geschichten aus den Fingern. Wie wir Frau Dr. Reiflein eine überreife Tomate an die Tafel geschmissen haben. Wie Katharina bei ihren Lateinhausaufgaben herumgestottert hat. Ja, ich weiß, das ist nicht wirklich lustig, aber besser, als vom Schweigen zu sprechen.

Cindy sieht das allerdings ganz anders, für sie ist Mama nämlich nicht nur eine Mutter, sondern eine Freundin. Deshalb könnte es sein, dass Cindy ihr von Katharina, der Hyäne, und ihrer Kampagne gegen mich berichtet. Und das wäre mein Untergang, denn Mama ist imstande, zu meinem Klassenlehrer zu gehen und ihn wütend zu fragen, was zum Teufel in seiner Klasse los ist. Dann bin ich endgültig unten durch.

Zum Glück bespricht Cindy mit Mama den nächsten Einkaufstrip zu H&M. Mama hat es aufgegeben, mich dorthin zu schleppen. Es ist mir wirklich schleierhaft, wie man Spaß daran haben kann, in winzigen, flugzeugtoilettengroßen Umkleidekabinen Kleider anzuprobieren. Außerdem gibt es dort sowieso nichts Passendes für mich, außer riesigen Hängeblusen in gedeckten, stumpfen Farben oder Plastikchiffonteilen. Ich lasse mir lieber etwas mitbringen, das ich dann kommentarlos anziehe.

»Du siehst krank aus, Jule.« Mein Vater mustert mich eindringlich und unterbricht damit Cindys und Mamas Einkaufsträume. Mama sieht mir in die Augen. »Du hast Recht, Martin. Jule, seit du nicht mehr beim Fernsehen bist, kommst du mir verändert vor.«

»Ich fühle mich sehr gesund«, antworte ich bestimmt und fahre, ohne Atem zu holen, fort, »und muss noch kurz zu Matthias. Er braucht meine Hilfe bei einem Referat.« Nichts wie weg hier. Meine Mutter wirft mir einen missbilligenden Blick zu und nickt dann nachdenklich.

In Sekundenschnelle bin ich dem Familientisch entflohen und im dritten Stock, denn Matthias ist nicht nur mein Freund, sondern er wohnt auch noch im selben Haus.

Zoe, Matthias' kleine Schwester, macht die Tür auf und lässt mich rein. Ich lege den Zeigefinger auf die Lippen, zwinkere ihr zu und schleiche zu Matthias' Tür, um ihn zu überraschen.

»Taraaa!«, rufe ich in ein leicht abgedunkeltes Zimmer, und bevor ich noch kapiere, in welchen Fettnapf ich nun schon wieder getreten bin, brüllt Matthias: »RAUS!« In Großbuchstaben.

Mist! Ich habe nicht daran gedacht, dass Aische zu Besuch sein könnte. Aische ist seine erste große Liebe, und normalerweise treffen sie sich niemals bei ihm zu Hause. Obwohl ihre Eltern in Deutschland geboren sind und Aische auch kein Kopftuch trägt, darf sie sich nicht alleine mit Jungs treffen. Matthias hat sich Stunden um Stunden bei mir beklagt, dass Aische das immer respektiert hat. Und ich dumme Gans laufe in dem Moment ein, wo Matthias endlich einmal allein mit Aische sein kann.

Beschämt stehe ich vor seiner Tür. Zoe kommt durch den Flur und zeigt mir ihre neue Superhaar-Barbie. »Wieso hast du mir nicht gesagt, dass Matthias Besuch hat?«, blaffe ich sie an. Sie schaut erstaunt und legt ihren Zeigefinger auf die Lippen. Und ich schäme mich noch mehr. Sie kann ja nichts dafür. Am liebsten würde ich schon wieder heulen, aber es reicht für heute, findet ihr nicht?

»Bist du traurig?«, fragt mich Zoe und streckt mir ihre Superhaar-Barbie entgegen. »Ich leih sie dir, wenn du willst!«

Leider bleibt mir jedes Wort im Hals stecken, und ich renne zur Wohnungstür. Nur zurück in mein Zimmer, oder besser nicht, sonst fragt Mama, wieso ich schon wieder da bin.

Ich haste also die Treppen abwärts und frage mich bei jedem Schritt, ob ich mich nicht gleich über das Eisengeländer ganz nach unten stürzen sollte.

Das ist heute wirklich ein rabenschwarzer Tag. Ich kann mich nicht erinnern, dass je ein Tag derart mies gewesen wäre. Dann kann es ja nur noch besser werden, sagt eine Stimme in meinem Kopf. Papperlapapp (das ist übrigens ein schönes altmodisches Wort. Das P kann man so richtig zornig spucken und dann gleich so viele Ps, macht Spaß, findet ihr nicht?). Papperlapapp, sagt also die andere Stimme, es könnte noch viel schlimmer kommen. Aber ich habe keine Lust, dieser Stimme zu glauben. Bestimmt ist das heute der absolute Tiefpunkt, und ab morgen geht es besser. Morgen gehe ich zu diesem Zwilling und melde mich fürs Theater an. Morgen werde ich mir eine Eisenhaut aus glänzendem Stahl zulegen, und alles Schweigen meiner Klasse wird an mir abprallen wie an einem ... an einem Eisblock.

Eis ist eine gute Idee. Zufällig bin ich vor der Eisdiele gelandet. Und ich sehne mich nach einem dicken, fetten Nussbecher mit extra Sahne. Leider habe ich kein Geld dabei. Doch der italienische Ober, der mich sofort als Stammgast erkennt, winkt mir fröhlich zu, als wäre heute ein ganz gewöhnlicher Spätsommerabend und nicht der Weltuntergang. Vielleicht kaufe ich ein Eis, tue dann so, als hätte ich mein Geld vergessen, und bringe es morgen nachträglich vorbei. Ja, das mache ich.

Schwindeln ist übrigens eine meiner Lieblingsbeschäftigungen – auch wenn es für euch vielleicht so aussieht, als würde ich vorwiegend heulen. Aber ehrlich, ich heule wirklich selten.

Und so sitze ich Minuten später an dem grünen Eisentisch und löffle meinen Nussbecher. Wie die Sahne sich mit dem Haselnusseis in meinem Mund verbindet und dann den Rachen runterschmilzt, das ist einfach lecker. Ich werde nie verstehen, wie jemand nur Knäckebrot mit Radieschen essen kann. Als ich genüsslich den letzten Rest aus dem Glas kratze, stehen plötzlich Aische und Matthias vor mir.

»Tut mir Leid, dass ich dich so angebrüllt habe,« sagt Matthias verlegen.

»Mir tut es Leid, dass ich euch gestört habe. Ich werde in Zukunft immer anklopfen.«

Aische sagt gar nichts. Sie steht neben Matthias und lächelt beschwingt. Dabei bekommen ihre schwarzen Augen kleine Lichter, und ihr brombeerdunkler Mund öffnet sich, sodass man die weißen Zähne sieht. Habt ihr auch davon gelesen, dass das Lachen eigentlich aus einer Drohgebärde entstanden ist? Das war natürlich lange, bevor die Affen zu Menschen wurden. Trotzdem ist es etwas, das ich mir nicht vorstellen kann. So ein Lachen, wie es Aische gerade im Gesicht hat, macht Menschen schön. Ich weiß, das klingt dämlich. Schließlich sind sogar Damenbinden schön, formschön, um genau zu sein. Aber wie nennt ihr es, wenn von einem Menschen dieses Leuchten ausgeht, wenn jemandem ein glückliches Strahlen sogar durch die Haut schimmert? Was kann man da anderes sagen als: Das ist schön!

Und es macht meinen miesen Tag tatsächlich auch ein bisschen schöner.

Matthias räuspert sich. »Ich bringe Aische jetzt nach Hause.«

»Du klingst wie ein Macho! Wie wär's mit: Ich begleite Aische jetzt nach Hause?«

»Ich sehe, du hast deinen Humor wieder gefunden«, grinst Matthias. »Willst du hier warten? Dann spendier ich dir noch ein Eis.«

»Ich weiß ja nicht, wie lange du für den Rückweg brauchst.«

Er tauscht einen kurzen Blick mit Aische. »Das geht bestimmt ziemlich schnell. Aisches Eltern sehen uns nicht so gern zusammen.«

»Dann warte ich. Schönen Abend noch, Aische!«

Die beiden gehen nebeneinander, ohne sich zu berühren, und doch bilde ich mir ein, dass man ihre Verliebtheit sofort sieht. Oder denke ich das nur, weil ich es weiß? Ich hätte Lust, die Dame am Nebentisch mit der Dauerwelle aus Stahlwolle nach ihrer Meinung zu fragen. Aber dann traue ich mich doch nicht. Bei meinem Pech heute ist sie vielleicht schwerhörig. Und wenn ich etwas nicht besonders mag, dann lautes Reden, wenn viele Leute zuhören können.

Eigentlich wundert mich, dass ich nicht eifersüchtig auf Aische bin. Aber noch viel erstaunlicher finde ich es, dass Aische nicht sauer auf mich ist. Mir würde es überhaupt nicht passen, wenn ich nach Hause müsste, während Stefan sich mit einem anderen Mädchen träfe, ganz egal wie platonisch auch immer.

Aber Matthias und ich kennen uns schon so lange, und da war nie auch nur ein Funken von etwas anderem als Freundschaft.

Ich bin noch ganz in Gedanken versunken, als Matthias schon wieder vor mir steht.

»Gut, dass du kommst. Ich habe nämlich gar kein Geld dabei!«, begrüße ich ihn.

»Du hast Nerven!«

»Nein, Mut. Und jetzt, wo du da bist, nehme ich noch einen Nussbecher.«

Matthias bestellt für sich Spaghettieis. Das ist ein alter Streitpunkt zwischen uns. Wie kann ein richtiger Junge so ein Warmduschereis mögen? Es sieht aus wie ein Haufen Würmer, und gleichzeitig hat es was von »Mamis Liebling isst heute die Miracolispaghetti mal kalt«. Eklig. Aber darüber diskutiere ich nicht mehr mit ihm, er liebt es nämlich trotzdem.

»Welches Eis isst eigentlich Aische am liebsten?«, erkundige ich mich.

Matthias weiß genau, worauf ich hinauswill; und grinst. »Zitronensorbet«

Da fällt mir spontan bloß »Sauer macht lustig« ein, aber ich will nichts Falsches über Aische sagen, denn sie ist echt okay. Mit ihr könnte ich mich anfreunden. Zu dumm, dass die beiden nicht in meiner Klasse sind.

Also erzähle ich Matthias lieber von Stefans öder E-Mail und frage nach, was Jungs, die solche Mails verschicken, sich dabei denken.

»Nichts«, kommt es sofort von Matthias.

»Ein bisschen wenig, wenn man seiner Freundin schreibt, findest du nicht?«

Matthias schaufelt einen Berg Eismaden mit roter Soße in den Mund und nickt ernsthaft. »Vergiss ihn!«, nuschelt er dann.

»Kann ich nicht.« Seltsamerweise macht diesmal die eiserne Klemmspange über meine Brust Pause. Vielleicht, weil ich nicht allein bin? Oder weil ich gerade Zuckersüßes in mich reinstopfe?

»Solltest du aber. Erst wenn du den Kerl abgehakt hast, bist du offen für einen neuen.«

»Wohl heimlich in den Büchern deiner Mutter gelesen, Dr. Freud?«

Matthias' Mutter Marion ist Psychologin. Mein Freund und Ratgeber zuckt mit seinen Schultern und versucht betont lässig, den Ober herbeizuwinken, leider vergeblich. Der Kellner ignoriert ihn einfach. Komisch, das Gleiche passiert immer meinem Vater.

Ich kann es nicht ausstehen, wenn bis auf den Kellner alle Gäste darüber informiert sind, dass man zahlen will. Es sieht so dämlich aus.

Ich wünsche mir dann einen Vater, der bloß cool und lässig einmal mit den Fingern zu schnippen braucht, und sofort kommen alle angerannt, um sich nach seinen Wünschen zu erkundigen.

Matthias reißt mich aus meinen Gedanken.

»Mann, Jule, kannst du nicht mal ernst sein?«

»Wenn ich ernst werde, heule ich gleich wieder, also verzichte ich lieber drauf.«

Matthias reißt erstaunt die Augen auf. So etwas habe ich noch nie zu ihm gesagt.

»Mach dir keine Sorgen«, beruhige ich ihn. »So weit lasse ich's nicht kommen.«

Erleichtert macht er sich wieder über sein Eis her.

»Wie kommt es, dass Aische heute bei dir zu Besuch war?«, wechsele ich das Thema.

»Sie hat ihre Eltern angelogen. Und das wegen mir. Sie hat ihnen gesagt, dass sie bei dieser Theater-AG mitmacht.« Matthias lächelt geschmeichelt.

Hey, was ist denn das für ein Typ, der da unter meinem alten Kumpel zum Vorschein kommt?

»Stimmt das wirklich, oder wird die Theatergruppe bloß als Ausrede für heimliche Treffen mit dir benutzt?«

»Heute war leider eine Ausnahme. Die Proben fangen nächste Woche an.« Matthias seufzt abgrundtief.

»Wie wäre es, wenn du mitmachst? Ich komme übrigens auch!«

»Du tickst wohl nicht richtig!« Matthias ist entrüstet. »Seit wann spielen Legastheniker bei Theaterstücken mit? Allein die Leseprobe würde mich umbringen!«

Das habe ich im Eifer des Gefechts total vergessen. Wie schwach von mir! Aber in unserer Freundschaft ist das so unwichtig, ich vergesse es immer wieder.

»Es werden bestimmt noch andere Leute gesucht. Muss ja nicht jeder gleich die Hauptrolle spielen ...«

»Wie wär's mit Souffleur?« Er macht sich über sich selbst lustig und stottert übertrieben: »D-duuud-d-d-duuuurrchchch d-d-d-d-d-d-die-s-s-see ho-ho-o-oh-le Ga-Ga-Ga-Ga...«

Leider muss ich lachen, weil er dabei sein Gesicht verzerrt wie Quasimodo kurz vor einem Gehirnschlag und absichtlich seine Augen verdreht. Das heißt nicht, dass ich Stottern lachhaft finde, aber Matthias bringt das so komisch, dass ich nicht anders kann. Ich schlage ihm kräftig auf den Rücken, als hätte er eine Betriebsstörung. Sofort wird er wieder ernst. »Wenn ich so darüber nachdenke, ist es vielleicht doch eine gute Idee. Jule, du bist manchmal gar nicht so doof, wie du aussiehst.«

Ist er nicht nett? Als der Kellner endlich kommt, stehen wir auf und gehen zusammen nach Hause.

Eine Stunde später im Bett überlege ich mir gerade, dass mein rabenschwarzer Tag ein mittelgraues Ende genommen hat, als Cindy ihren Kopf durch die Tür steckt. Sogar mit einem verwaschenen Handtuchturban sieht sie aus, als käme sie frisch vom Laufsteg.

»Und, hast du es dir überlegt?«

»Ja. Ich bin dabei!«

»Gut«, stellt sie zufrieden fest, schließt leise die Tür und überlässt mich meinen Träumen. Die zumindest sind rosafarben.

FANS

Ich verabscheue Turnhallen. Erstens stinkt es da nach jahrhundertealtem Schweiß, Gummimatten und Staub. Und zweitens sind es die Stätten meiner grausamsten Niederlagen. Wenn ihr eine Figur wie ich hättet, wüsstet ihr, wovon ich rede.

Wie oft habe ich – einem schlappen Kartoffelsack gleich – an diesem idiotischen Doppelbarren gehangen und den zuckrig guten Zureden meiner diversen Sportlehrer gelauscht: »Komm ... (fehlte eigentlich bloß noch ein putt, putt), na komm schon, Jule, das schaffst du doch, so ein kleinen Felgaufschwung, das ist doch kein Problem, oder?«

Natürlich ist das ein Problem, ich bin ja nicht Arnold Schwarzenegger. Besonders von mir gehasst ist das Hochklettern am Seil. Da war und bin ich die ultimative Witzfigur.

Und das genau ist auch die einzige Möglichkeit, sich nicht zum vollständigen Trottel zu machen. Nämlich selbst darüber Witze zu reißen. Am Seil beispielsweise führe ich stets eine kleine, kreischende Affenschaukelnummer vor, die alle mit Genuss anschauen. Alle bis auf die Sportlehrer.

Wenn ich ehrlich bin, dann sind das die Momente, in denen ich gern wie meine Schwester wäre: gertenschlank. Dann nehme ich mir vor, weniger zu essen, aber ich schaffe es nicht. Manchmal habe ich das Gefühl, es liegt genau daran. Ich denke, ich sollte abnehmen, und sofort habe ich nur noch eines im Sinn. Essen.

Zum Glück kann man sich in der Oberstufe seine Sportarten selber aussuchen. Im Schwimmen bin ich nämlich unschlagbar. Ich schwimme tausend Meter unter zwanzig Minuten. Aber nur, wenn ich muss. Ich sehe keinen Sinn darin, mich freiwillig so anzustrengen, dass ich ins Schwitzen komme.

Aber jetzt ist diese Gefahr in die Ferne gerückt, denn in unserer alten Turnhalle findet kein Sportunterricht, sondern das erste Treffen der Theater-AG statt. Es sind weniger gekommen, als ich gedacht habe. Ich hätte geschworen, dass sich allein aus meiner Klasse mindestens sieben Mädchen dem Kampf um die Hauptrolle stellen würden, aber es ist nur Lisa da.

Lisa ist auch eine Untergebene von Katharina, der Hyäne. Komisch, dass die Hyäne nicht danach lechzt, sich auf der Bühne bewundern zu lassen! Lisa ist allerdings nicht so mies wie Sophie, denn wenn Katharina außer Sichtweite ist, dann spricht sie sogar mit mir. Trotzdem erinnert mich Lisa an ein graues Schaf. Ja, ihr habt euch nicht verlesen, graues Schaf. Diese so genannten grauen Mäuse gibt es doch eigentlich gar nicht. Habt ihr euch eine Maus mal genauer angesehen? Ich schon, letzten Sommer auf dem Balkon. Sie hatte lebendige, glänzende Knopfaugen und trippelte aufgeregt schnuppernd hin und her. Keine Sekunde hielt sie still. Seitdem weiß ich, dass Mäuse alles andere als langweilig sind. Obwohl, Schafe vielleicht auch nicht?

Wie auch immer, Tiervergleiche hinken sowieso. Auf jeden Fall wirkt an Lisa alles langweilig. Ihre dunkelblonde Naturkrause, ihre durchschnittliche Figur, ihre 08/15-Jeans. Ihr Stimmchen. Wenn sie nicht dauernd mit der Hyäne zusammenhängen würde, müsste ich mich jedes Mal bei ihrem Anblick fragen, woher ich sie kenne. Es ist mir ein Rätsel, was ausgerechnet sie in der Theater-AG will. Sucht sie einen Job als Souffleuse?

Ich wende meinen Blick von Lisa, bevor ich gähnen muss, und mustere die anderen Anwärter auf den Schul-Oscar. Nick Petri aus der Zwölf ist da, der heimliche Schwarm aller Mädchen, na ja, fast aller. Ich bin nämlich nicht sein Fan. Ich habe übrigens keinen blassen Schimmer, wieso ich ihm nicht zu Füßen liege. Denn Nick ist auf den ersten Blick unglaublich nett. Der Typ, der dir deine ölige, dreckverschmierte Radkette wieder auflegt oder dich auf seiner Stange nach Hause fährt, wenn du einen Platten hast. Noch dazu ist er Trampolinspringer. Perfekt proportionierte Muskeln. Nicht wie bei diesen Bodybuildern, bei denen man Angst hat, dass ihr Gehirn gleich vom Bizeps zerquetscht wird. Zu guter Letzt sieht er unverschämt gut aus, ihr wisst schon, dieser dunkle, südländische Typ. Und er hat nicht mal Haare auf dem Rücken!

Nick scheint der Einzige zu sein, dem seine Ausstrahlung nicht auffällt. Trotzdem gehe ich davon aus, dass er einfach nur besonders trickreich ist und diese angebliche Ahnungslosigkeit als Köder benutzt. Momentan hat er keine Freundin. Ein Ausnahmezustand, der nicht lange anhalten wird.

Matthias und Aische, die auch zu dem Treffen gekommen sind, kennt ihr ja schon. Außerdem ist da noch Twister. Er heißt eigentlich Oliver, aber seine Freunde haben ihm diesen Spitznamen gegeben. Und irgendwie passt er. Twister bedeutet Wirbelsturm, aber auch Schwindler. Er ist einen Jahrgang über mir und so groß wie ich, was man allerdings nur schwer schätzen kann, weil sein schlaksiger Körper unentwegt herumhampelt. Wenn ich ihn länger angucke, wird es in meinen Füßen ganz kribbelig. Das einzig Ruhige an ihm sind seine mit Gel festbetonierten, weiß blondierten Igelhaare. Er redet schon, seit wir hier zusammensitzen, und unterbricht den Zwilling andauernd. Ich glaube, es würde ihn umbringen, eine Minute still zu sein.

Zwilling sieht für einen Lehrer ziemlich lässig aus. Er hat noch alle Haare auf dem Kopf! Ist euch schon mal aufgefallen, dass bei vielen Lehrern die Haare vom Haaransatz aus nach hinten abhauen? So als würden sie die Flucht vor dieser ständigen Besserwisserei ergreifen. Zwilling trägt einen grauen Rollkragenpullover und Jeans. Und die sitzt einwandfrei. Sie hängt nicht unter einem Trommelbauch oder ist bis zum Bauchnabel hochgezogen. Seine Schuhe sind auch akzeptabel. Schwarze Schnürschuhe. Manche tragen allen Ernstes weiße Socken zu braunen Mokassins, unser Lateinlehrer Herr von Fliegenberg zum Beispiel.

Zwilling schaut auf seine Uhr. Dazu holt er eine Taschenuhr aus seiner Jeanshosentasche. Ich bin beeindruckt.

Eben hechelt noch »Tascha« zu unserer Gruppe. »Training«, haucht sie mit zarter Stimme und »Sorry«. Sie wirft dem Zwilling einen Blick zu, der allen klarmacht, dass wir eigentlich nur auf sie gewartet haben und es jetzt erst so richtig losgehen kann.

Natascha war früher in meiner Klasse, konnte dann aber gleich eine Jahrgangsstufe weiter aufsteigen, weil sie so klug ist. »Tascha« ist ziemlich klein, mindestens einen großen Kopf kleiner als ich, aber dafür ausgesprochen ätherisch, fast elfenhaft. Ich habe immer das Gefühl, wenn ich, Jule, die robuste Kampfmaschine, mit ihr rede, sollte ich vorsichtig atmen, damit ich sie nicht wegpuste. Dabei ist sie zäh. Als sie in meiner Klasse war, hat sie sich sehr unbeliebt gemacht. Sie hat sich zum Beispiel freiwillig zu so blödsinnigen Aufgaben wie Tafelwischen gemeldet. Und wenn man etwas von ihr abschreiben wollte, hat sie ihren blonden Ballerinaknoten empört in ihren Schwanennacken gedrückt und etwas von Verantwortung gemurmelt.

Niemand war traurig, als sie versetzt wurde.

Zwilling ignoriert Taschas Auftritt. »In Zukunft erwarte ich, dass ihr pünktlich seid. Nur weil es keine Noten in der Theater-AG gibt, heißt das nicht, dass ich Schlamperei dulde. Ich bin pünktlich. Ihr seid pünktlich. Ganz einfach.« Dabei sieht er niemand Besonderen an und lächelt dämonisch. Ich verstehe langsam, was Cindy an ihm mag.

»Als Erstes möchte ich, dass sich alle kurz vorstellen und uns sagen, warum sie hier sind.« Er schaut auffordernd herum und fängt grausamerweise bei mir an. Ich beginne, Cindy gründlich zu misstrauen. Wie kann er das nur verlangen?

Mich vorstellen! Ein Albtraum.

Vielleicht fragt ihr euch gerade, wieso ich mich so anstelle. Wo das Problem ist. Jule hat doch im Fernsehen diese Tina gespielt. Ich werde es euch sagen. Es ist ein großer Unterschied, ob ich mich selbst vorstellen soll oder bloß eine Rolle spiele. Ist doch klar, oder?

Die andern grinsen mich erwartungsvoll an. Verdammt, mir fällt nichts, aber auch gar nichts ein. Also räuspere ich mich erst mal. »Ähh, ja, also, ich bin Jule und bin hier, weil die Batterie von meiner Fernbedienung leer ist.« Das war ein sehr schwacher Witz. Trotzdem hat jemand gelacht. Ich weiß nicht, wer sich meiner erbarmt hat, denn ich bin damit beschäftigt, auf meine Knie zu starren – wir sitzen hier nämlich alle im Schneidersitz im Kreis. Ich danke stumm dem Lacher.

Zwilling ist nicht zufrieden. »Es interessiert mich wirklich, wieso ihr hier seid. Ich sage übrigens du zu euch allen, weil wir hier vom Alter her so gemischt sind. Außerdem liegt das bei unserer Arbeit auch näher. Ist jemand dagegen?«

Natürlich meldet sich niemand. Als Nächste ist Lisa dran. Ich bin gespannt, was sie zu sagen hat. »Mäh, Mäh, Mäh« vielleicht? Doch stattdessen lächelt sie in die Luft und erklärt mit dünner Stimme: »Ich bin die Lisa, und ich bin hier, weil ich davon träume, Schauspielerin zu werden.«

Ich falle fast um. Habe ich gesagt: graues Schaf? Das nehme ich sofort zurück. So viel Mut hätte ich ihr gar nicht zugetraut. Noch während ich staune, meldet sich schon der Nächste zu Wort: »Okay Leute, ich mach's auch kurz. Ich bin Twister und werde mal Comedystar, alles klar?«

Genau. Ich gebe dann das nächste Bondgirl.

Matthias räuspert sich und sagt seinen Namen. »Ich möchte gern die Technik machen, Licht oder so«, setzt er hinzu. Über Zwillings Gesicht geht ein freudiges Lächeln.

Nach Matthias ist Aische dran. Sie erklärt als Erste, dass sie das Theater interessiert. Das macht den Zwilling neugierig. »Wie meinst du das, Theater interessiert dich?«

»Ich lese gern Theaterstücke. Besonders gut gefallen mir die alten Griechen. Und Beckett.«

»Ich kenn nur ein Becken, und zwar das von meiner Freundin«, grölt Twister grob. Aische wird rot.

»Für einen Comedystar hast du einen echt primitiven Humor!«, stelle ich fest.

Matthias und Aische lachen. Twister verzieht den Mund zu einem Grinsen, aber ich sehe, dass er verzweifelt an einer passenden Entgegnung arbeitet. Zwilling beruhigt die Gruppe und knöpft sich Nick vor.

»Ich bin Nick, ich mache dieses Jahr Abi. Meine Oma wollte mich schon immer mal auf der Bühne sehen, da dachte ich, ich probier's aus.«

Beifälliges Gemurmel. Alle Blicke richten sich jetzt auf Tascha, die Letzte in der Runde. Sie intoniert nun mit tragender Stimme: »Mein Name ist Natascha Braun. Ich bin hier, weil ich die weibliche Hauptrolle spielen möchte. Ihr findet das bestimmt überheblich, aber ich weiß, dass ich dazu fähig bin.«

Erstauntes Schweigen macht sich breit. Ehrgeiz zu haben ist ja gut und schön, natürlich besonders als Mädchen, aber so aufzudrehen, das ist mir zu affig.

Zwilling grinst viel sagend, das zweite Mal an diesem Nachmittag, und betrachtet Tascha wie ein seltenes Insekt. »Was bedeutet dir Theater?«, fragt er sie.

Zum Glück fragt er sie das und nicht mich. Ich habe erst einmal ein Stück gesehen, und das war schrecklich. Es gab Woyzeck. Es kam mir so grausam, so sinnlos und deprimierend vor. Danach hatte ich die Schnauze voll von Theater.

Aber Tascha ist nicht umsonst eine Klasse raufgeklettert. »Ich gehe regelmäßig ins Theater, besonders gern in die Kammerspiele. Ich halte Theater für wichtig in unserer Welt voll elektronischer Medien. Dieser direkte Kontakt zwischen Mensch und Mensch ohne ein Medium dazwischen, das ist etwas Kostbares.«

Twister klatscht demonstrativ in seine klodeckelgroßen Hände. Klapp, ... Pause, Pause, ... klapp ... Pause, Pause, ... klapp. Ich bin platt. Klingt ziemlich gut, was sie da abgelassen hat. So etwas würde mir nie einfallen. Der Satz mit den Medien hätte glatt auf Arte gesendet werden können.

Zwilling aber scheint unbeeindruckt. »Gut. Wir sind alle aus sehr verschiedenen Gründen hier. Aber wir wollen das Gleiche, nämlich ein Theaterstück zum Laufen bringen. Jetzt stellt sich die Frage nach dem Stück selbst. Ich bitte jeden von euch, ein Theaterstück auszusuchen, das eurer Meinung nach für uns geeignet sein könnte. Das bringt ihr dann nächste Woche mit und stellt es vor. Mir ist völlig egal, ob es ein deutsches Stück ist oder ein griechisches, egal, ob modern oder alt. Hauptsache, es sagt euch etwas.« Zwilling blickt einmal in die Runde und wechselt das Thema. »Und jetzt wollen wir ein paar kleinere Übungen machen, als Einstimmung auf die eigentliche Theaterarbeit.«

Na, danke schön! Wenn ich etwas noch weniger mag als Sport, dann sind das Ringelpiez-Übungen mit Anfassen, so etwa in der Art von: »Wir wollen uns alle kräftig entspannen.« Doch bevor jemand protestieren kann, teilt Zwilling uns in Zweiergruppen ein. Ich bete, dass ich nicht Tascha abkriege, und habe Glück.

Lisa sieht mich nicht gerade begeistert an, schließlich muss sie jetzt nicht nur mit mir sprechen, sondern auch noch mit mir arbeiten. Und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Jede Gruppe bekommt eine Karte und soll pantomimisch eine Redensart oder ein Sprichwort darstellen. »Morgenstund hat Gold im Mund«, heißt es für uns. Lisa schlägt vor, dass wir als Erstes das Aufwachen spielen, dann Goldwäscher bei der Arbeit mimen, und anschließend gibt sie einen Zahnarzt, der seinen Patienten (mich) malträtiert. Nicht, dass ich keine Idee gehabt hätte, aber Lisa war schneller als ich. Das mit dem grauen Schaf muss ich wirklich zurücknehmen. Vielleicht ist sie ein Wolf im Schafspelz? Wir passen erstaunlich gut zusammen. Wenn sie eine Bewegung macht, weiß ich, worauf sie hinauswill, und umgekehrt klappt es genauso gut. Die anderen erraten schon nach ein paar Minuten das richtige Sprichwort, und Zwilling lobt unsere Zusammenarbeit.

Letztere scheint für Tascha und Twister ein Fremdwort zu sein. Twister gräbt mit verdrehten Augen und einer imaginären Schaufel, und Tascha hopst herum, als hätten die Bienen sie in ihren perfekten kleinen Hintern gestochen.

»Wer anderen eine Grube gräbt«, versuche ich.

»Falsch«, kommentiert Zwilling. Twister setzt seine Hände als Hörner ein und galoppiert durch die Halle, bevor er in die Hocke geht und augenscheinlich – melkt. Tascha tippt sich genervt an die Stirn und schichtet etwas auf einen Haufen.

»Den Stier bei den Hörnern packen?«, rät Lisa.

Zwilling schüttelt den Kopf. »Das reicht fürs Erste. Ich hoffe, dass euch durch diese kleine Übung etwas klar geworden ist!«

Tascha meldet sich sofort: »Ja, natürlich, wir brauchen eine fähige Regie!« Dabei strahlt sie Zwilling zuckersüß an.

»Was meinen die anderen?«, fragt Zwilling in die Runde.

»Es geht um Teamarbeit. Wir sollten zusammenarbeiten«, grinst Matthias.

Teamarbeit, das kenne ich schon vom Fernsehen. Dort weiß jeder, dass eine Sendung nur so gut ist wie der schlechteste Mitarbeiter des Teams. Aber ich hüte mich davor, etwas zu sagen, sonst heißt es wieder, ich würde angeben.

»Was habt ihr beide denn nun dargestellt?«, fragt Aische, die zusammen mit Nick und Matthias sehr überzeugend »Wer zuletzt lacht, lacht am besten« gespielt hat.

Wie aus der Pistole geschossen kommt es von Zwilling: »Die dümmsten Bauern ernten die dicksten Kartoffeln.« Alle außer Tascha lachen. Die kriegt rote Flecken am Hals. »Lernen wir heute auch noch etwas?«, will sie von Zwilling wissen.

»Ich glaube, die Lektion habt ihr bereits gründlich gelernt.« Zwilling sieht so aus, als würde er zwinkern. »Ich wünsche euch viel Spaß beim Aussuchen des Theaterstücks und bin schon sehr gespannt auf unser nächstes Treffen. Und bevor ihr geht, noch eine Frage. Seid ihr euch darüber im Klaren, dass wir uns, sobald die Proben beginnen, mindestens drei- bis viermal in der Woche treffen müssen?«

Bejahendes Gemurmel breitet sich aus.

»Sonst schaffen wir es nicht bis Weihnachten. Überlegt euch das auch gut bis zum nächsten Mal. Später wieder auszusteigen wäre reichlich unfair den anderen gegenüber. Möchte noch jemand etwas wissen?«

Mir rutscht es einfach heraus. »Wieso sind Sie denn hier?«

Verblüfft schaut er mich an. »Das ist in der Tat eine gute Frage ...«

Wir alle warten gespannt auf seine Antwort.

»Ich bin hier, weil ich es liebe, Regie zu führen. Alle hören auf mein Kommando. Großartig.« Er schwingt eine unsichtbare Peitsche.

»Ich dachte, deshalb wären Sie Lehrer geworden«, kontert Twister.

»Nee, Lehrer bin ich geworden, weil in der Schule immer ein paar Komiker gebraucht werden!« Damit schnappt sich Zwilling seine ziemlich abgeranzte Ledertasche und verschwindet. Ein guter Abgang.

Auch wir verschwinden einer nach dem anderen, und als ich mit Matthias gemeinsam in unsere Straße einbiege, sehe ich Cindy an unserer Haustür stehen.

Sie wirkt aufgeregt und strahlt über das ganze Gesicht. »Du wirst es nicht glauben, aber du hast Post.«

Nun ja, Post. Offenbar ein Grund für ein Fest?

Cindy zerrt mich ins Wohnzimmer. Dort liegt ein großer brauner Jutesack, ähnlich wie der vom Nikolaus, auf dem Boden. Prall gefüllt. Meine Mutter kniet daneben auf dem Fußboden. Ihr klares Gesicht ist fast so rot wie ihre rotblonden Locken. Als sie mich sieht, springt sie auf, um mich zu umarmen. Für einen winzigen Moment kann ich ihr Parfüm riechen. Es duftet nach Clementinen, Sandelholz und Maiglöckchen, seit ich mich erinnern kann. Für mich heißt es deshalb Clesamai.

»Was ist denn los, Mama?« Ich würde ja lieber Lilly zu ihr sagen, so ein wunderbarer Name, nicht so öde wie Mama, aber sie hat das nicht gern.

»Schau mal, was für ein Haufen Fanpost da gekommen ist. Ich bin so stolz auf dich. Viele müssen von dem, was du in der Serie getan hast, beeindruckt gewesen sein. Sonst schreibt man doch nicht an einen wildfremden Menschen, oder?« Mama umkreist den Sack in großen Schritten. Sie ist noch aufgeregter als ich. Denn ich bin wie betäubt bei dem Gedanken, dass alle Post für mich sein soll.

»Willst du ihn nicht endlich aufmachen?« Cindy gibt mir eine Schere. Ich reiße mich zusammen, tue ihnen den Gefallen und schneide die Schnur durch. »Na dann ...«, sage ich mit großer Geste, als würde ich ein Denkmal enthüllen, und werfe die Schnur dramatisch hinter mich. »Bedient euch!«

»Aber das ist doch deine Post!«, wenden Mama und Cindy in einem Atemzug ein. Und sie meinen es ehrlich. Keine von beiden würde jemals in meinen Tagebüchern herumkramen, wenn ich denn welche schreiben würde, oder heimlich meine E-Mails lesen. Manchmal kann ich nicht glauben, dass ich aus dieser tugendhaften Familie stamme.

Aber ich weiß, dass Mama und Cindy genauso wie ich danach lechzen, ein paar Briefe zu lesen. Also sage ich schnell das Einzige, was sie überzeugen wird: »Quatsch, das ist doch nichts Persönliches, das sind doch Briefe an Tina.« So hieß die Figur, die ich in der Serie gespielt habe. »Diese Leute kennen mich, Jule Neumann, nicht wirklich.«

Cindy steckt daraufhin ihren schlanken, braun gebrannten Arm bis zur Achselhöhle in den Sack und rührt darin herum, als müsste sie einen Lottomillionär herausfischen.

»Jetzt musst du vorlesen!«, bestimme ich und bin froh, dass ich mit dem ersten Brief nicht alleine bin. Wer weiß, was Fans einem so schreiben ...

Cindy liest ein wenig atemlos: »Hi, Tina. Ich finde es zwar stark, dass endlich mal eine Dicke in dieser öden Serie mitspielt. Aber im wirklichen Leben ist das doch ganz anders. Ich heiße Marita und bin vierzehn Jahre alt. Ich wiege 120 Kilo bei 1,60 m. Da weiß ich, wovon ich rede. Ich bin der totale Freak in meiner Klasse. In den Ferien finde ich nie einen Job, weil ich allen zu fett bin. Hast du eine Idee, wie ich an einen Job kommen kann, vielleicht auch beim Film? Bitte schreib mir, deine Manita Schultheiß.«

Mich hat noch nie jemand um Hilfe gebeten, wenn man von meiner Mutter mal absieht, die jede Menge Bitten hat. Spülmaschine ausräumen, saugen usw. Was mache ich, wenn alle Briefe so sind?

»Lies noch einen vor«, ist alles, was mir einfällt. Diesmal greift Cindy nur kurz in den Posthaufen. »Ich finde«, fängt sie an. »Nein, das kann ich nicht vorlesen, das ist widerlich.«

»Egal, mach bitte.« Das muss etwas ganz Fieses sein, wenn Cindy sich so ziert.

»Mama, entschuldige, aber das steht hier wirklich.« Cindy räuspert sich.

»... ich finde fette Schenkel geil. Wenn du mal einen richtig tollen Stecher treffen willst, ruf mich an, du sexy Arsch du.«

Mama schüttelt sich. »Das sind nur die Ausnahmen. Ich habe neulich im Fernsehen einen Bericht darüber gesehen, was für verrückte Briefe viele Prominente bekommen.«

Prominente. Will Mama damit sagen, ich wäre prominent? Dabei werden bloß noch zehn Folgen ausgestrahlt, in denen ich mitgespielt habe. Danach hat mich der Produzent leider wieder rausgeworfen, weil ich zu dünn geworden bin.

»Vielleicht sollte ich den Mann mal anrufen. Zu mir hat noch nie einer ›sexy Arsch‹ gesagt.« Ich grinse die beiden an.

Mama schnappt entsetzt nach Luft.

»Das war nur ein Spaß, Mama, ich bin doch nicht blöd! Komm, Cindy, noch einer. Und Cindy, wenn er tickt, dann mach bloß nicht auf.«

»Das ist nicht lustig, Jule. Es sind schon Menschen furchtbar verstümmelt worden durch Briefbomben.« Mama presst ihren Mund zu einem schmalen Strich zusammen und zieht missbilligend ihre Augenbrauen über der Nase zu einer tiefen Falte zusammen.

»'tschuldigung.«

Cindy liest den nächsten Brief. »Liebe Tina. Bestimmt bist du sehr reich, weil alle, die beim Fernsehen arbeiten, sind sehr reich. Ich bin sehr arm und hab Hunger. Bitte schick mir doch, was du entbehren kannst, an diese Adresse: Petra Petzoldt, Postfach 3821, 64404 Bickenbach.«

Und ich habe gedacht, Fanbriefe, das wären sehnsüchtige Autogrammwünsche. Jungs, die für eine Haarlocke von mir sterben wollen. Mädchen, die ihren Kanarienvogel nach mir benennen möchten. »Was soll ich denn darauf antworten?«, frage ich verzweifelt.

Mama ist Sekretärin in einer Schule und sehr praktisch veranlagt. »Darüber machen wir uns später Gedanken. Als Erstes legen wir verschiedene Ordner an. Du liest alles und sortierst die Post vor. Perverse wirfst du natürlich gleich weg. Den Rest legst du in 1. Bittbriefe, 2. Autogrammwünsche, 3. ähh, Verschiedenes ab. Ich werde deinen Produzenten anrufen und fragen, wie man mit Bittbriefen umgeht. Ich könnte mir denken, dass es welche gibt, auf die man erst gar nicht antwortet, weil man sonst immer wieder Post bekommt. Aber es gibt ja auch andere Arten. Vielleicht sammelt jemand für einen guten Zweck.«

»Aber das ist doch verrückt. All dieses Papier! Vielleicht sollten wir es einfach verbrennen!« Mir wird schlecht bei dem Gedanken, das alles lesen zu müssen.

»Das bist du deinen Fans schuldig.« Cindy klingt nur ein winziges bisschen hämisch.

»Na, dann tragen wir das Monstrum mal zu dir.« Mama, Cindy und ich schleppen den Sack in mein Zimmer. »Wohin?«, fragt Mama.

»Am besten unters Bett, da ist er aus dem Weg.«

Mama legt den Arm um mich. »Ach, Jule, nun ärgere dich nicht, dass die ersten drei Briefe keine schmachtenden Liebesbriefe waren.«

Sie hat gut reden. Ich hab doch noch nie in meinem Leben romantische Liebesbriefe bekommen.

»Es sind bestimmt auch andere dabei. Ich bin sogar sicher, dass andere dabei sind! Um eines möchte ich dich bitten. Verabrede dich unter keinen Umständen mit jemandem, den du nicht kennst, ohne es uns oder Cindy zu sagen. Hast du das verstanden?« Ernst schiebt sie mich von sich und sieht mir in die Augen. »Jetzt wünsch ich dir viel Spaß! Komm, Cindy, du kannst mir beim Abendessen helfen.« Und weil meine Schwester niemals meine Mutter anmaulen würde, verlassen mich die beiden, und ich sitze da mit meinem Sack.

Ziemlich lange hocke ich regungslos da, starre aus dem Fenster auf meine Silberpappel, die sich heute nicht bewegt, und tue gar nichts. Ich denke auch nicht.

Schließlich greife ich mir eine Hand voll Post und lese sie. Es sind fünf ganz normale Autogrammwünsche und eine Bewunderin ohne Autogrammwunsch. Kein einziger Junge. Wie schade. Dabei sollte ich mich doch freuen über meine Fans. Wenn die Hyäne diesen Sack gesehen hätte, wäre sie bestimmt ausgeflippt.

Wahrscheinlich werde ich bis an mein Lebensende auf einen richtigen Liebesbrief warten müssen. Genau, denke ich trotzig, dann gib dir doch den Rest und check auch noch deine E-Mails. Schau nach, ob sich Stefan in einen sehnsuchtsvollen Romeo verwandelt hat.

Und was glaubt ihr? Nichts? Richtig! Nada. Niente.

Bevor ich wieder in totaler Trübsal versinke, beschließe ich kurzerhand, meinem Munich-Chatraum einen Besuch abzustatten. Ich betrete als Silberglanz 123 den Chatraum und treffe doch tatsächlich Kussecht99 wieder. Und Überraschung! Er erinnert sich an mich und schickt mir gleich ein Telegramm. Leider antworte ich auf die Frage »Wie geht's« in einwandfreiem Deutsch. Und das bei meiner neuseeländischen Vergangenheit.

«Hey, was ist mit deinem Deutsch passiert, über Nacht perfekt geworden?», fragt mich Kussecht99.

«Wunder passieren immer wieder.»

«Und was tust du sonst noch, außer dich wundern?»

«Meine Fanpost lesen.» Das ist mir so rausgerutscht. Oder besser von den Fingern geflogen.

«Was denn für Fans?»

Bingo, Jule! Da hast du dir wieder etwas Schönes eingebrockt. Ich habe keine Lust, über meine Fernsehepisode zu reden. Bevor ich noch gründlich darüber nachgedacht habe, tippe ich:

«Fans, die nach meinem Traumkörper lechzen ...»

«Ist das alles, was du zu bieten hast, einen Traumkörper?»

Kussecht beginnt mich stärker zu interessieren.

Ihr wart bestimmt schon oft chatten, und es ist doch wirklich meistens so, dass alle Kerle wissen wollen, wie man aussieht, und zwar schon nach wenigen Minuten. Und jetzt hat Kussecht auf diesen wunderbaren Köder nicht angebissen. Fragt nicht, wie meine Maße sind. Ob er schwul ist?

«Na klar habe ich mehr zu bieten: Ich bin ...», tippe ich. Was soll ich jetzt schreiben? Ich will ja nicht eingebildet klingen. Leider fällt mir nichts Besseres ein als «nett». Prompt kommt von Kussecht zurück: «Nett klingt langweilig. So als würdest du gebügelte Taschentücher in deinen BH stopfen.» Diese Frechheit muss sofort beantwortet werden: «Genau! Während du an deinem Brusthaartoupet zupfst.»

Kussecht schickt mir ein paar Grinser :-))). Typisch Mann, wenn sie nicht mehr weiterwissen, flüchten sie sich in Zeichensprache. Ich nutze den Moment und frage: «Und wie bist du so?» Sofort kommt die Antwort: «Ich bin stark, klug, treu, und Frauen interessieren mich wirklich.»

Das klingt nach Siegfried oder Braveheart. «Kannst du auch Drachen töten?»

«Klar. Meine Spezialität sind die Drachen der Trauer.»

Was meint er denn damit? «Hää???», tippe ich spontan auf die Tastatur.

«Ich meine, ich kann Leute zum Lachen bringen.»

«Ich suche eher einen, der gierige Fressdrachen in Schach halten kann.» Wieso tippe ich so einen Schwachsinn? Ich muss bescheuert sein. Vielleicht kommt es auch von dem leckeren Essensgeruch, der langsam durch meine Zimmertür wabert.

«Welche Fressdrachen bedrohen dich denn? Schokodrachen etwa?»

Ich mache einen Rückzieher. «War nur ein Scherz.»

Es klopft an meiner Tür. »Hey, Jule, hast du was an den Ohren? Ich habe schon dreimal gerufen. Du sollst zum Essen kommen. Es gibt gegrilltes Hühnchen und Pommes.«

Mmh. Mein Lieblingsessen. »Ist gut, ich bin gleich da«, sage ich über die Schulter.

»Beeile dich!« Cindy poltert zurück ins Esszimmer, und ich verabschiede mich von Kussecht. Vorher allerdings will er meine Mail-Adresse wissen, und ich gebe sie ihm. Was soll schon passieren? Vielleicht bekomme ich ja von ihm den ersehnten Liebesbrief. Natürlich hätte ich am liebsten einen von Stefan – aber da kann ich bestimmt noch lange warten. Vielleicht ist Kussecht ja ein Romantiker. Ich finde, ein bisschen Romantik würde mit unheimlich gut tun.

»Jule«, brüllt meine Mutter jetzt ziemlich sauer aus der Küche, »wenn du in einer Minute nicht da bist, esse ich deine Portion auf!«

Mütter sind höchst unromantisch! Es wird wirklich Zeit, dass sich in meinem Leben etwas ändert. Na ja, aber Hunger habe ich trotzdem ...

THEATERFIEBER

Wenn die Turnhalle leer ist und die Sonne scheint, ist es hier eigentlich ganz schön. Durch die oberen Fenster fallen schräge Sonnenstrahlen auf den Boden, und man sieht, wie Millionen winzige Staubkörner darin herumtanzen. Es ist, als könnte man diese goldenen Staubkörnchen anfassen, aber wenn man hinlangt, dann ist da nichts.

Ich weiß nicht, ob ich euch schon verraten habe, dass ich vor ganz langer Zeit beschlossen hatte, ein Glanz zu werden. Ich wollte zu so etwas Leichtem, Zauberhaftem werden, so ähnlich wie diese Staubstrahlen aus Gold. Aber seit einiger Zeit frage ich mich, wohin es führen würde, ein Glanz zu sein. Kann man einen Glanz lieben?

Plötzlich legen sich zwei große, dunkle Scheuklappen von hinten auf meine Augen, und ich höre, wie jemand aufgeregt atmet.

»Überraschung. Rate mal, wer hinter dir steht«, sagt eine piepsig verstellte Stimme. Mein Herz klopft fast so schnell, wie damals, als mich Stefan das erste Mal geküsst hat, aber diesmal nicht vor Freude, sondern vor Schreck. Blitzschnell überlege ich, wer das wohl sein kann.

Matthias würde das nicht machen, er weiß seit unserer Kindergartenzeit, dass ich es hasse, erschreckt zu werden. Lisa, Tascha und Aische würden sich an meinen Körper nicht herantrauen, und Zwilling ist ja wohl zu alt für diesen Blödsinn.

Bleiben Nick oder Twister. Nick kommt nicht in Frage, denn Nick ist mir dankbar. Und ich ihm. Grenzenlos. Er hat dafür gesorgt, dass ein Wunder passiert ist. Nick hat mich in der großen Pause vor allen anderen auf dem Schulhof angesprochen. Und er wollte mit mir alleine reden. Mein Status als Aussätzige hat sich seitdem schlagartig geändert. Meine so genannten Klassenkameraden sind alle fast geplatzt vor lauter Neugier. Sie haben sich wahnsinnig angestrengt, herauszufinden, was er von mir gewollt hat. Und weil ich so nett bin, habe ich natürlich nicht geschwiegen, sondern jedem eine passende Antwort gegeben. Katharina, der Hyäne, habe ich zum Beispiel mitgeteilt, dass Nick ein gebrauchtes Höschen von mir haben wollte. Sie hat sich sofort angewidert abgewendet. Aber das wird ihr nichts nützen, denn ich bin sicher, es arbeitet in ihr. Diese Vorstellung wird sie nicht mehr los. Sophie habe ich erklärt, er hätte ein Autogramm von mir gewollt ... und zwar ein ganz spezielles. Auf seine nackte Haut. Leider wollte Sophie gar nicht mehr wissen, wohin. Und Tascha glaubt nun, ich hätte Nick Diättipps gegeben. Den Witz daran hat sie leider nicht kapiert. In Wahrheit war Nick im Übrigen verzweifelt, weil ihm kein Theaterstück eingefallen ist. Er hat mich gefragt, ob ich ihm nicht etwas empfehlen könnte, das er heute vorstellen kann. Keine Ahnung, warum er gerade mich gefragt hat. Vielleicht hatte er nur bei mir keine Angst, sich zu blamieren. Ich habe ihm dann »Die Räuber« vorgeschlagen, weil ich dachte, man könnte ein paar spannende Kampfszenen zwischen den Brüdern einbauen. Bei einem Schwertkampf oder einer Prügelei gibt Nick bestimmt eine tolle Figur ab. Da kann seine Oma sehr stolz auf ihn sein.

Aber zurück zu den Händen. Den Händen auf meinen Augendeckeln. Da Nick ausscheidet, kann es nur noch Twister sein. Komisch, ich habe gedacht, einer, der ewig herumhampelt, müsste feuchte, kalte Finger haben, aber seine Hände fühlen sich warm an. »Okay, Twister, dein Spiel ist aus«, sage ich in bester John-Wayne-Qualität.

Twister lässt los. Jetzt erst sehe ich, dass wir mittlerweile gar nicht mehr allein sind. Bis auf Zwilling sind schon alle da. Und sehen uns feixend zu. »Muss Liebe schön sein«, säuselt Tascha. Ich ignoriere sie und setze mich zu Matthias und Aische, die wie immer ganz darin aufgehen, sich in die Augen zu schauen. Warum hat Twister das gemacht? Wollte er mich einfach nur erschrecken? Was meint ihr?

Lisa blättert nervös in einem Buch. Ich bin auch ein bisschen aufgeregt und neugierig, was die anderen ausgesucht haben. Es war eine ziemlich schwere Aufgabe, ein geeignetes Stück zu finden. Denn was hält ein Zwilling für geeignet?

Endlich kommt er und entschuldigt sich, sein Auto hätte den Geist aufgegeben. Ich mustere ihn von seinem schwarzen Rollkragenpulli bis zu den schwarzen Socken und komme zu dem Schluss, dass es sich um die Beerdigung des Autos gehandelt haben muss. Zwilling setzt sich auf eine Bank vor uns. Ganz schön clever, denn so müssen wir zu ihm hochschauen, schließlich haben wir uns wieder auf den Boden gesetzt. »Dann legt mal los.« Er schaut uns auffordernd an.

Tascha springt sofort auf, wirft sich eine glänzende graue Stola um und deklamiert:

»Du weißt, die Nacht verschleiert mein Gesicht,
Sonst färbte Mädchenröte meine Wangen
Um das, was du vorhin mich sagen hörtest.
Gern hielt ich streng auf Sitte, möchte gern
Verleugnen, was ich sprach: doch weg mit Förmlichkeit!«

An dieser Stelle reißt sich Tascha das Tuch vom Leib und stellt sich vor Nick in Positur, der völlig perplex aus der Wäsche schaut. Tascha beugt sich zu ihm und sagt mit feiner, fast tonloser Süße und einem großartigen Augenaufschlag:

»Sag, liebst du mich? Ich weiß, du wirst's bejahn,
Und will dem Worte traun; doch wenn du schwörst,
So kannst du treulos werden; wie sie sagen,
Lacht Jupiter des Meineids der Verliebten.«

Tascha richtet sich kurz himmelwärts auf und verzieht bitter den Mund bei dem Wort »Meineid«. Wider Willen bin ich gefesselt, als sie sich erneut zu Nick beugt, ja sich sogar hinkniet und dann leidenschaftlich flüstert:

»O holder Romeo! Wenn du mich liebst:
Sag's ohne Falsch! Doch dächtest du, ich sei
Zu schnell besiegt ...«

Hier springt sie spielerisch auf, greift nach ihrem Tuch und wedelt damit keck herum.

»... so will ich finster blicken,
Will widerspenstig sein, und nein dir sagen,
So du dann werben willst: sonst nicht um alles.«

Zwilling unterbricht sie an dieser Stelle, was Tascha überhaupt nicht passt. Gerade hat sie noch tief Luft geholt, und jetzt sticht Zwilling mit seinen Worten wie eine Nadel in ihre aufgeblähten Lungen. »Weiß jemand, um welches Stück es sich handelt?«

Details

Seiten
Erscheinungsform
Neuausgabe
Jahr
2016
ISBN (eBook)
9783960531715
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (September)
Schlagworte
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Titel: Jule - Band 2: Kussecht
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200 Seiten