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Das Orakel von Farland - Band 3: Eden

©2016 356 Seiten

Zusammenfassung

Am Ende musst du dich entscheiden: Der dystopische Roman „Eden“ von Charlotte Richter-Peill jetzt als eBook bei jumpbooks.

Sie hat kaum noch daran geglaubt, doch endlich ist Fenja angekommen: in Estilien, beim Widerstand gegen das Orakel. Aber noch ist sie nicht am Ziel, denn für sie es gibt nur einen Weg, um endgültig Frieden zu finden – das Orakel muss zerstört werden. Tag und Nacht arbeiten Fenja und Merten gemeinsam mit den Rebellen an einer Möglichkeit, das scheinbar perfekte System zu sabotieren, doch schon bald steht fest, dass es nur eine Möglichkeit gibt: Fenja und Merten müssen zurück nach Elysium. Ein riskanter Plan. Und sie müssen entscheiden, was sie bereit sind, für das große Ziel zu opfern – ihre Liebe, ihre Freiheit … ihr Leben?

Jetzt als eBook kaufen und genießen: „Eden“ – Band 3 der dystopischen Trilogie „Das Orakel von Farland“ von Charlotte Richter-Peill. Wer liest, hat mehr vom Leben: jumpbooks – der eBook-Verlag für junge Leser.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Über dieses Buch:

Sie hat kaum noch daran geglaubt, doch endlich ist Fenja angekommen: in Estilien, beim Widerstand gegen das Orakel. Aber noch ist sie nicht am Ziel, denn für sie es gibt nur einen Weg, um endgültig Frieden zu finden – das Orakel muss zerstört werden. Tag und Nacht arbeiten Fenja und Merten gemeinsam mit den Rebellen an einer Möglichkeit, das scheinbar perfekte System zu sabotieren, doch schon bald steht fest, dass es nur eine Möglichkeit gibt: Fenja und Merten müssen zurück nach Elysium. Ein riskanter Plan. Und sie müssen entscheiden, was sie bereit sind, für das große Ziel zu opfern – ihre Liebe, ihre Freiheit … ihr Leben?

Über die Autorin:

Charlotte Richter-Peill, geboren 1969 in Nürnberg, entdeckte während ihres Studiums der Medizin, Tiermedizin und Germanistik ihre Liebe zum Schreiben. Für ihre Texte wurde sie bereits mehrfach ausgezeichnet. Heute lebt sie in der Nähe von Hamburg und genießt dort alles, was man für ein gutes Leben braucht: eine Steckdose fürs Notebook, viele Ideen, liebe Menschen, Pferde, Katzen und ein Kartoffelbeet.

Die Website der Autorin: www.charlotte-richter-peill.de

Charlotte Richter-Peills bei jumpbooks erschienene Trilogie Das Orakel von Farland umfasst die folgenden Bände:

Elysium
Nordland
Eden

***

Originalausgabe Oktober 2016

Copyright © der Originalausgabe 2016 dotbooks GmbH, München

Copyright © 2016 jumpbooks Verlag. jumpbooks ist ein Imprint der dotbooks GmbH, München.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Redaktion: Stefan Wendel

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock / Aleshyn_Andrei (Frau), macro-vectors (Orakel), Aygul Sarvarova (Landschaft)

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN 978-3-96053-199-9

***

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Charlotte Richter-Peill

Das Orakel von Farland
Eden

Band 3

jumpbooks

Die Insel

Wir saßen auf einer Bank, am Kai eines Geisterhafens. Die Luft roch nach Fisch und Salz. Kein Schiff, keine Menschen. Nur Merten, Nick und ich. Zoe war noch einmal losgefahren, um für uns einen Imbiss zu organisieren. Nick ging auf und ab und schaute aufs Meer.

»Der Widerstand setzt sich aus knapp 50 Leuten zusammen. Sie leben überall in Estilien verstreut. Vor ein paar Jahren ist die Kerngruppe auf einer Insel untergetaucht«, hatte Zoe uns erzählt und Richtung Horizont gedeutet. »13 Kilometer westlich vom Festland.« Sie hatte dort angerufen. Jetzt warteten wir auf die Überfahrt mit einem Fährschiff, das unterwegs zu uns war.

Merten war noch immer sehr blass. Nachdem Zoe und Nick uns in einem Dorf nahe der Grenze abgeholt hatten, waren wir zu einem Arzt gefahren, auch er ein Mitglied des Widerstands. Dr. Lassahn hatte Mertens Fuß versorgt und ihn in eine Klinik einweisen wollen, was Zoe und Merten abgelehnt hatten. Die Gefahr, dass man in Merten den flüchtigen FIP erkannte und Estilien ihm kein Asyl gewährte oder ihn sogar auslieferte, war einfach zu groß. Dr. Lassahn hatte widerwillig zugestimmt und uns großzügig mit Schmerzmitteln eingedeckt. Genug, um das ganze Lager zu versorgen, hatte Zoe gescherzt.

»Welches Lager?«, hatte ich gefragt. Sie war nicht darauf eingegangen. Nick hatte sowieso die ganze Zeit kein Wort gesagt. Auch Merten war sehr still gewesen. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass mehr hinter dem Schweigen der drei steckte als die Anspannung der letzten Stunden. Irgendwas ging zwischen ihnen vor.

Möwen schossen über den Himmel. Merten hatte die Augen geschlossen und hielt sein Gesicht der Sonne entgegen. Ich lehnte mich an ihn.

Er öffnete die Augen. »Kalt?«

»Bisschen«, murmelte ich. Er küsste mich aufs Haar und zog mich an sich. Wenn wir doch einfach hierbleiben könnten. In der Sonne. In der Ruhe. Ich wollte nicht schon wieder aufbrechen; in den letzten Wochen war ich so viel unterwegs gewesen, dass es für ein ganzes Leben reichte. Marlenes Hof, die Heide, Magicland, weiter nach Helvana, zum Medienpalast, in die Markthallen, dann das Parkhaus, der Friedhof, der alte Güterbahnhof, schließlich das Printemps, die Katakomben …

Der Übergang.

Ich wollte vergessen, was geschehen war, wen ich zurückgelassen, wen ich verloren hatte. Ich war müde, und der Gedanke an das Unbekannte, das auf mich zukam, die Frage, wie es weitergehen sollte, erschöpfte mich noch mehr.

Einfach hierbleiben. Das Meer sehen. Wie Marlene es sich gewünscht hatte.

Merten hatte die Augen wieder geschlossen. Nick setzte sich auf einen Poller, stützte die Ellenbogen auf die Knie, faltete die Hände zu einem Dach und musterte ihn über dessen First hinweg. Ich konnte den Ausdruck auf seinem Gesicht nicht deuten. Wachsamkeit? Jetzt schaute er mich an, sah, dass ich meinerseits ihn beobachtete, und lächelte. Vielleicht war das Lächeln die ganze Zeit da gewesen und die wachsame Miene von gerade eben nur meiner Phantasie entsprungen. Wochenlang war ich auf der Flucht gewesen. Ich hatte nicht gewusst, wem ich trauen konnte und wem nicht. Dieses Misstrauen konnte ich so schnell nicht ablegen.

Nick stand auf und schlenderte zu uns herüber. Der Wind wühlte in seinem haselnussbraunen Haar. Er war etwas älter als Merten, ein gutaussehender Mann mit blitzblauen Augen. Seine Thermojacke war uralt und ziemlich dreckig. Merten oder ich hätten darin nur abgerissen ausgesehen. Aber Nick trug die Jacke mit einer Art unbekümmerter Eleganz.

Der Offroader mit Zoe hinter dem Steuer bog um einen Schuppen und hielt neben unserer Bank. Zoe stieg aus und verteilte in Zellophan eingewickelte Sandwiches und Pappbecher mit Plastikdeckeln. Kaffee. Heiß und stark und zuckersüß. Genau richtig bei der Kälte.

Als Merten seinen Becher in Empfang nahm, streifte er Zoes Hand. Sofort legte Nick einen Arm um Zoe und zog sie ein Stück von ihm weg. Weil Merten eine FIP war? Nein, der Gedanke war ja albern, Nick arbeitete für den Widerstand, er hegte keine Vorurteile gegen FIP, er wusste, dass FIP …

Harmlos waren?

Klar. So was von harmlos. Vor nicht mal 48 Stunden hast du eine Frau ermordet. Du hast sie ermordet – weil du so harmlos bist.

Nick schaute kurz von Merten zu mir und runzelte die Stirn. Irgendwas stimmte da nicht. Oder wurde ich allmählich paranoid?

Mein Kopf dröhnte. Ich trank noch einen Schluck Kaffee und lehnte mich wieder an Merten, wollte nichts mehr denken und schon gar nicht darüber nachdenken, ob Nick uns mochte oder nicht.

Ein kleiner dunkler Fleck tauchte am Horizont auf und näherte sich rasch. Bald war der Umriss der Fähre klar zu erkennen. Zoe schob sich den letzten Bissen ihres Sandwiches in den Mund und knüllte das Zellophan zusammen. »Dann mal los.«

Der Bug schnitt schaumige Streifen ins Meer. Gischt spritzte um die Smilla, als trüge sie eine Stola aus grauweißen Perlen. Ihre Rostflecken wirkten allerdings wenig glamourös.

Die Smilla legte an, und eine Rampe wurde ausgefahren. Wir gingen an Bord. Eine Frau mit blonden Löckchen erwartete uns.

»Leonie, die Kapitänin«, stellte Zoe vor. »Auch eine von uns. Sie hat Farland vor fünf Jahren verlassen. Seither schippert sie zwischen unserer Insel und dem Nelsgod-Hafen hin und her.«

Leonie schüttelte Merten und mir die Hand. »Willkommen in Estilien«, sagte sie herzlich. »Ich bin schon ganz scharf auf eure Story.«

Die Rampe schwankte und ächzte, als Zoe den Offroader an Deck fuhr. Leonie verschwand im Ruderhaus. Es stank nach Diesel, ein Geruch, den man in Farland, wo nahezu jedes Fahrzeug mit Solarenergie betrieben wurde, kaum noch kannte.

Als Erstes suchte ich die winzige Toilettenkabine auf. Der Spiegel über dem Waschbecken zeigte mir eine Fremde. Die Frau, die ihr Zuhause vor so vielen Monaten verlassen hatte, war in Nordland zurückgeblieben. Wäre ich nach den Fotos und Filmaufnahmen gegangen, die sie von mir im Fernsehen brachten, ich hätte mich selbst nicht wiedererkannt. Auch die Worte, mit denen meine Familie mich in den Interviews beschrieben und die Tausende gehört hatten – sie hatten mit der Fenja, die ich jetzt war, nichts mehr zu tun.

Die Fähre legte ab. Ich verließ die Kabine, lehnte mich an die Reling und schaute zu, wie das Festland hinter uns zurückblieb. Wir hatten es geschafft. Doch statt Erleichterung empfand ich eine Mutlosigkeit, die mich durchströmte wie ein schwarzer Fluss. Das Orakel zerstören. Das war das Ziel gewesen, der Sinn meiner Flucht, der Sinn hinter allem. Jetzt, am Ende der Flucht angekommen, erschien mir dieses Ziel ferner denn je.

Ich schaute mich nach Merten und Zoe um, konnte sie aber nirgends entdecken. Stattdessen tauchte Nick neben mir auf.

»Früher war die Smilla eine Ausflugsfähre.« Seine Worte ertranken fast im Brausen der Wellen und im Motorenlärm. »Unten riecht es noch immer nach Heringsbrötchen und Bier.«

Ich lächelte mühsam. Die Smilla bockte.

»Manchmal stinkt ihr die Tour zwischen dem Festland und Arkadia«, witzelte Nick.

»Arkadia?«, fragte ich. Irgendwo hatte ich den Namen schon einmal gehört.

»So heißt unsere kleine Insel«, sagte Nick. »Wie geht’s dir?«

Ich zuckte die Schultern. »Müde, aber okay«, log ich.

»Bald könnt ihr euch ausruhen«, sagte er freundlich. »Vorher sollten wir allerdings noch ein paar Dinge besprechen.«

Ich folgte Nick eine Metallstiege hinunter und in einen großen Raum, der so stark nach Fisch roch, dass mir fast die Luft wegblieb. Zu beiden Seiten des Mittelgangs waren Tische und Holzbänke am Boden festgeschraubt. An einem der Tische saßen Merten und Zoe. Merten hatte seinen gebrochenen Fuß auf eine Decke gelagert. Als wir uns zu ihnen gesellten, drehte sich Merten kaum merklich von Nick weg und schaute an ihm vorbei aus dem mit Salz verkrusteten Fenster.

»Warum eine Insel?«, fragte er.

Nicks Finger trommelten auf die Resopal-Tischplatte. »Weil wir dort unsere Ruhe haben. Auf Arkadia können wir für unsere Sache arbeiten, ohne dass uns Estiliens Regierung auf die Finger schaut.«

»Und das ist der einzige Grund?«, fragte Merten ruhig.

Zoe strich über den Tisch, als müsste sie Staub wegwischen. »Auf Arkadia befindet sich ein Flüchtlingslager.« Sie zögerte. »Flüchtlinge sind in Estilien nicht gerade beliebt. Also bringt man sie dort unter, wo sie nicht … stören.«

»Und warum überrascht mich das so wenig?«, murmelte Merten.

»Was sind das für Flüchtlinge, woher kommen sie?«, fragte ich.

»Nordland«, sagte Zoe.

»Auch FIP?«

»Kaum eine Handvoll.«

»Aus Elysium getürmt?«

Sie schüttelte den Kopf. »Es sind FIP, die sich für Nordland entschieden haben, als sie zwischen Nordland und Elysium wählen konnten. Und die irgendwann merken, dass Nordland keine Alternative ist. Dann versuchen viele, über die Grenze nach Estilien zu fliehen. Schaffen tut das kaum jemand.«

»Und wenn man es schafft?«, fragte Merten. »Kein Willkommen in Estilien?«

Zoe zuckte die Schultern. »Wenn du nur Nordländer bist, geht’s in ein Lager. Wenn du eine FIP bist, heißt es Abschiebung. Sofort. Zurück nach Nordland. Keine Chance auf Asyl.«

»Weil es FIP sind«, sagte Merten leise.

»Menschen mit negativem Potenzial«, fügte ich mit rauer Stimme hinzu. »Zeitbomben.«

»Exakt«, sagte Nick ruhig. »Kein Land will die FIP. Okay, Nordland nimmt sie auf. Hätte Nordland eine Regierung, sähe die Sache anders aus.«

»Dann hält man die FIP also überall für schlechte Menschen?«, fragte ich bitter.

»Ja«, sagte Zoe schlicht.

»Darum und weil Farland euch sucht, bleibt euer Aufenthalt auf Arkadia geheim«, sagte Nick. »Keine Sorge«, er legte einen Arm um Zoe, »der Widerstand ist ziemlich gut darin, die Klappe zu halten. Bis heute weiß zum Beispiel niemand, dass sich die berühmte Zoe Colien auf Arkadia herumtreibt.«

Zoe Colien. Die Superwoman aus Farland. Zoe, der das Orakel fast 100 Prozent zuerkannt hatte. Und die sich, zum Entsetzen aller, für eine Abschaffung des Orakels eingesetzt hatte, bevor sie von der Bildfläche verschwunden war.

»Was ist mit dieser Handvoll FIP auf der Insel? Dürfen die auch nichts wissen?«, fragte ich.

»Nur Teddy und Estrella«, sagte Nick. »Die lernt ihr noch kennen. Sie machen bei unserer Sache mit. Die anderen – auf keinen Fall. Die wissen nicht mal, dass es überhaupt einen Widerstand gibt.«

»Warum nicht?«

Zoe verzog traurig den Mund. »Sagen wir mal so: Wir halten sie für wenig vertrauenswürdig.«

Nick lächelte schwach. »Nicht jede FIP denkt so wie ihr, Fenja.«

Leonie kam mit einem Tablett herein, auf dem vier Teller dampften. Nick nahm ihr das Tablett ab.

»An Bord gibt’s leider nur Dosenfutter«, sagte Leonie. »Im Hauptquartier kriegt ihr was Besseres.« Sie grinste. »Dafür wird Estrella schon sorgen.« Damit verschwand sie wieder.

Nick verteilte das Essen. »Lasst es euch schmecken.«

Das Zeug auf den Tellern sah grau und klumpig aus, die deprimierende Version einer Erbsensuppe. Sorgsam fischte ich die Wurststücke heraus; auf Fleisch konnte ich jetzt hoffentlich wieder verzichten.

Arkadia, dachte ich. Arkadia. Wo habe ich diesen Namen schon einmal gehört?

Und dann hatte ich es.

»Die Insel war mal in den Nachrichten«, sagte ich laut. »Ist ewig her, ich komme gleich drauf …«

Zoe wischte sich den Mund mit einer Papierserviette ab. »Arkadia war früher ein Feriencamp. Bis dort ein Jugendlicher Amok lief.«

Das war es. Mein Löffel platschte zurück in die Suppe. Amoklauf. Plötzlich meldeten sich alle möglichen unguten Erinnerungen. Auf dem Phönix-Kolleg hatte ich mehr über Amokläufe erfahren, als mir lieb war. Wieder und wieder hatten die Mentoren uns die Reportagen und Dokumentationen voller Blut und Gewalt vorgeführt. Das Thema war immer dasselbe: Schaut euch an, was aus euch wird, wenn wir uns nicht beizeiten um euch kümmern.

»Der Junge reiste mit dem Sturmgewehr seines Vaters an.« Nick stippte ein Stück Toast in seine Suppe. »Sie konnten ihn erst nach zwei Stunden stoppen. 17 Tote. Das jüngste Opfer war neun Jahre alt. Wenn ich mich recht erinnere, ging es um verschmähte Liebe. Aber er hatte auch sonst Probleme.«

»Jahre später richtete ein privater Stifter mit dem Einverständnis der Regierung auf der Insel ein Auffanglager für Flüchtlinge ein«, sagte Zoe. »Ein Schauspieler, ziemlich prominent. Einmal im Jahr legt er mit großem Tamtam und einem Fernsehteam auf der Insel an, feiert eine Riesenparty, lässt sich mit den Flüchtlingskindern filmen und dampft wieder ab. Natürlich«, fügte sie rasch hinzu, »sind wir ihm dankbar für sein Engagement. Wäre gut, wenn es mehr Leute wie ihn gäbe. Ohne ihn wäre unsere Organisation längst pleite.«

»Er unterstützt den Widerstand?«, fragte ich verwirrt.

Nick schob sich ein weiteres Stück Toast in den Mund. »Nö. Offiziell arbeiten wir ja nur für eine Organisation, die sich um Flüchtlinge aus Nordland kümmert. Gute Flüchtlinge. Nicht offiziell verstecken wir ein paar FIP und gehen gegen das Orakel vor. Obwohl man von Vorgehen kaum sprechen kann.« Das klang bitter. »Praktisch haben wir in Sachen Orakel noch nichts bewirkt. Was sich hoffentlich bald ändert.« Seine Augen leuchteten auf. »Severin arbeitet an …«

Zoe legte ihm eine Hand auf den Arm. »Später, Nick.«

»Und wer ist Severin?«, fragte ich.

»Auch einer von uns«, sagte Zoe. Sie nickte Merten zu. »Er versteht was von Medizin, gut für deinen Fuß. Aber vor allem ist er unser Informatik-Genie. Er ist praktisch unbezahlbar. Dann sind da noch Teddy, Estrella und Leonie. Nick und ich natürlich. Das ist die Kerngruppe, der innere Zirkel. Mit euch sind wir acht.«

»Mehr nicht?«, entfuhr es mir. Die Enttäuschung in meiner Stimme hörte sogar ich selbst.

»Die anderen leben auf dem Festland. Wir, die Inselleute, sind sozusagen die Zentrale. Noch.«

»Was heißt noch?«, fragte Merten.

»Farland fordert von Estilien eine schärfere Kontrolle der Flüchtlingslager.« Zoe lachte leise. »Sie vermuten dort Aktivitäten des Widerstands. Bisher hält Estilien seine schützende Hand über die Lager und lässt sich von Farland nichts vorschreiben. Umso wichtiger, dass wir nicht auffallen. Nach außen machen wir denselben Job wie die anderen Lagerhelfer. Wir versuchen, die Flüchtlinge in Estilien zu integrieren, Jobs und Wohnungen zu vermitteln.« Sie seufzte. »Unsere Erfolgsquote ist mies, ehrlich gesagt. Nicht alle Flüchtlinge kriegen ein eigenständiges Leben hin. Nicht alle packen das. Manche haben einfach zu viel Mist erlebt.«

Wenig später legten wir am Hafen der Insel an. Im Offroader ging es weiter, Zoe am Steuer, das Meer fast immer in Sichtweite. »Arkadia«, sagte Leonie, die unablässig ihre Löckchen zwirbelte, »ist winzig. Keine fünf Quadratkilometer.«

Ziemlich wilde fünf Quadratkilometer. Überall wucherten in wirrem Durcheinander Silberpappeln, Eichengehölze und Heckenrosen, verkrüppelt und krumm, weil ihnen der Wind keine Ruhe gönnte. Eine Weile folgten wir einem Schotterweg, der uns quer durch die Dünen führte, vorbei an Strandhafer, buckeligen Sträuchern und lichtdurchfluteten Kiefernwäldchen, dann bogen wir auf eine Asphaltstraße ab. »Die einzige vernünftige Straße auf der Insel«, erklärte Leonie.

Als wir uns dem Flüchtlingslager näherten – eine Ansammlung langgestreckter Backsteinbauten –, setzte Zoe ihre riesige Tarn-Sonnenbrille auf und befahl mir, mich in den Fußraum zu ducken. Seiner Verletzung wegen durfte Merten auf solche Verrenkungen verzichten, stattdessen warf Nick eine staubige Decke über ihn. Durch den Motorlärm hörte ich Stimmen von draußen, Zoe hupte ein paarmal, dann merkte ich, wie es eine Anhöhe hinaufging. Wir hielten, Nick stieg aus, ein Geräusch, als würde ein Tor geöffnet und hinter uns wieder geschlossen.

»Raus mit euch«, sagte Zoe.

Vor uns, halb verborgen hinter Kiefern und Heckenrosen, lag ein kleines, einstöckiges Haus: kleine, ins rote Mauerwerk gepresste Fenster, wie wachsame Augen. Das Ganze machte einen heruntergekommenen und abweisenden Eindruck. Dann sah ich den Eisenzaun, der das zum Meer hin abfallende Grundstück zu allen Seiten umgab. Zoe, die ihre Sonnenbrille ins Haar geschoben hatte und jetzt wie ein Fotomodell für eine Luxus-Urlaubsreise aussah, bemerkte mein Unbehagen.

»Der Zaun ist neu. Im letzten Jahr wurde in unserem Hauptquartier neunmal eingebrochen.«

Mein Blick wanderte zu den fernen Gestalten, die sich zwischen den langen Backsteinhäusern bewegten.

»Genau«, sagte Zoe. »Arschlöcher gibt’s auch bei den Flüchtlingen.«

Ja, dachte ich. Dass jemand aus Nordland geflohen ist, verwandelt ihn wohl nicht automatisch in einen netten Menschen.

»Kommt rein«, sagte Nick.

Im Innern des Hauptquartiers, wie sie das Häuschen nannten, roch es sauer und muffig. Severin, der Computerspezialist mit Medizinkenntnissen, kam uns entgegen. Er wirkte müde. Grau gesträhntes Haar, ein erschöpfter Gesichtsausdruck; die Arbeit für den Widerstand war offenbar keine, die einen jung und frisch hielt. Doch als er Merten und mich begrüßte, lächelte er so herzlich, dass ich mich sofort willkommen fühlte.

Nick ließ uns keine Zeit für ausgiebige Begrüßungen, er nahm Severin am Arm und verschwand mit ihm durch eine Tür. Merten und ich folgten Zoe über eine schmale Treppe in den ersten Stock, wo am Ende eines Flurs unser Zimmer lag: ein schachtelkleiner Raum mit hoher Decke, dazu ein winziges Bad, alles ausgelegt mit demselben graugelben Linoleum, das auch den Flur verunstaltete. Die beiden Betten machten einen uralten Eindruck, die Tapete hing in vergilbten Streifen herunter. Aber wir hatten ein Fenster zum Meer und eine Thermoskanne mit Tee, die ein freundlicher Mensch auf einem Tisch neben einem betagten Fernseher abgestellt hatte.

»Für heute Abend sind ein Essen und eine Versammlung angesetzt«, sagte Zoe. Das klang ziemlich offiziell. »Um sieben hole ich euch ab. Braucht ihr Pullover? Jacken? Wir müssen Heizkosten sparen, darum ist es ein bisschen kühl.« Sie lächelte mir zu. Als sie sich Merten zuwandte, verschwand das Lächeln.

Irgendwo in Nordland hatte Merten mir erzählt, dass er und Zoe dasselbe Kolleg besucht hatten. Näher gekannt hatten sie sich nicht. »Zwischen uns gab es keinen Kontakt.« So oder so ähnlich hatte Merten es ausgedrückt.

Der Blick, den die beiden sich jetzt zuwarfen, erzählte etwas anderes. Ein trauriger Blick. Wehmütig.

Eine Liebesgeschichte. Das war mein erster Gedanke. Er gefiel mir überhaupt nicht.

Leise zog Zoe die Tür hinter sich zu. Ihre Schritte entfernten sich. Ich setzte mich auf eines der Betten, zu Tode erschöpft und gleichzeitig hellwach. Merten ließ sich neben mir nieder. Die Sprungfedern quietschten. Ich lehnte mich an ihn, schob den Gedanken an Zoe beiseite, wünschte mir, dass er mich wieder so in die Arme nahm wie beim allerersten Mal, am Anfang unserer Flucht, in dem Felsspalt, in dem wir uns versteckt hatten. Wie damals wollte ich von ihm gehalten und getröstet werden. Aber wir waren nicht mehr in dem Felsspalt. Merten war nicht mehr der Merten von damals, der mich beschützt und dem ich alle Entscheidungen überlassen hatte.

»Was macht dein Fuß?«, fragte ich.

»Geht schon.« Er streckte sich auf dem Bett aus, nahm meine Hand und legte sie an seine Wange. Dort ruhte sie noch, als er eingeschlafen war. Das Bett war schmal, aber breit genug, dass ich mich an ihn schmiegen konnte.

Während der letzten Stunden hatte ich die Müdigkeit mit aller Kraft von mir ferngehalten. Jetzt konnte ich endlich nachgeben. Aber der Schlaf kam nicht. Ich drehte den Kopf zur Seite, starrte auf das graugelbe Linoleum, die stockfleckige Tapete.

Estilien. Da waren wir also. Am Ziel. Für den Widerstand kämpfen. Dazu brauchte ich kein Himmelbett und keine Unterwäsche aus Seide, keine Rosenseife und kein Drei-Gänge-Menü. Aber ich hatte gehofft, dass Nordland mir schon genug Verzicht abverlangt hatte. Ich hatte gehofft, das sei nun vorbei. War es ja auch. Irgendwie. Doch wenn ich ehrlich war, hatte ich mir etwas wie Farland ausgemalt. Nur ohne Orakel.

Hoch über mir, auf einer Brücke, unter der ein schwarzer Fluss gurgelte, stand die Letzte Wächterin. Sie lachte und lachte, lachte über mich, Fenja, das Farland-Mädchen, das naive Ding. Ich hob meine Waffe und schoss. Der Kopf der Wächterin platzte. Sie fiel von der Brücke, langsam, ein Zeitlupensturz, und während sie dem Wasser entgegenschwebte, wuchsen dort, wo ihr Kopf gewesen war, neue Köpfe hervor, mit neuen Gesichtern, die sich immer wieder veränderten, meine Mutter, mein Vater, mein Bruder Bertil, meine Schwester Leane. Und Rasmus, den ich geliebt hatte. Romilda, meine Freundin in Elysium. Orlando, auch er ein Freund, auch er wie Romilda in Eden verschwunden. Blut lief aus ihren Augen und Mündern. Ich hatte sie alle getötet. Niemand anderes hatte das getan. Ich, Fenja …

Ich fuhr aus dem Schlaf. Mein T-Shirt war klitschnass geschwitzt. Das Fenster stand einen Spalt offen, aus der Ferne hörte ich Gelächter und Musik, als wäre bei den Flüchtlingen eine Party im Gange.

Benommen tappte ich ins Bad und klatschte mir kaltes Wasser ins Gesicht. Dann duschte ich so heiß, wie ich es gerade noch aushalten konnte, trocknete mich ab, hüllte mich in den Bademantel, der neben der Dusche hing, und ging wieder hinüber ins Zimmer.

Merten wachte gerade auf. Er sah elend aus. Ich setzte mich zu ihm. »Wie geht’s deinem Fuß?«

»Wird schon.«

»Brauchst du Tabletten?«

Er schüttelte den Kopf.

Ich half ihm aus dem Bett und sah ihm nach, wie er ins Bad humpelte.

Nach einer Weile begann ich mir Sorgen zu machen und klopfte an die Tür. »Merten? Alles in Ordnung?«

»Bin gleich fertig.«

Weitere Minuten verstrichen. Wieder klopfte ich. »Merten?«

Die Tür öffnete sich. Er lächelte. Sein Lächeln kam mir sonderbar vor, als hätte er es aus einem anderen Gesicht gestohlen und über sein eigenes gestülpt. Er ging zum Fenster. Ich folgte ihm.

»Dieser Zaun«, sagte er, ohne mich anzusehen. »Damit hatte ich nicht gerechnet.«

»Es ist ja nicht für immer.«

»Das hoffe ich.«

Nach einer Pause fragte ich: »Würde uns Estilien wirklich an Farland ausliefern?«

Er zuckte die Schultern. »Ich denke ja.«

Wieder Pause.

»Merten? Was ist mit Zoe? Mit Nick? Was ist mit euch?«

»Du hast es also gemerkt.« Er atmete tief aus und wandte sich mir zu. »Zoe und ich waren auf demselben Kolleg. Das weißt du ja. Sie war ein Jahr über mir, in derselben Stufe wie Nick. Er und ich, wir … also, wir konnten einander nicht ausstehen.«

Ich wartete.

»Nick war Stufensprecher. Eine Sportskanone. Er sah toll aus. War schlau. Ein Genie am Klavier. Alle mochten ihn. Lehrer wie Schüler. Er war schon damals mit Zoe zusammen. Das perfekte Paar. Was mich betraf …« Merten starrte in die Luft, über meinen Kopf hinweg. In die Vergangenheit.

»Ich war anders als er«, sagte er leise.

Ich zog eine Augenbraue hoch. »Ihr mochtet euch nicht, weil du anders warst?« Das klang ziemlich dürftig.

Er legte einen Arm um mich. »Ich erzähle es dir ein andermal.«

Ich nahm meinen Mut zusammen. »War etwas zwischen dir und Zoe?«

Er ließ den Arm sinken. »Was?«

»Seid ihr«, ich holte tief Luft, »mal zusammen gewesen?«

Er schaute so fassungslos, dass ich fast lachen musste. Und am liebsten losgeheult hätte. Vor Erleichterung.

»Nein, Fenja. Keine Sorge. Na ja, alle Jungs am Kolleg träumten von Zoe«, räumte er ein. »Ich war keine Ausnahme. Aber das hatte nichts mit Liebe zu tun.«

»Entschuldige. Ich hatte einfach das Gefühl, dass …«

»… etwas ist.« Er zog mich neben sich auf das Bett und umarmte mich so, wie ich es mir vorhin gewünscht hatte. »Irgendwann erzähle ich es dir. Gib mir noch etwas Zeit.«

Ich nickte. Er strich mir mit der Hand über die Stirn. Halb fürchtete, halb hoffte ich, er würde seinen Finger auf die Stelle zwischen meinen Augenbrauen legen, wie Rasmus es immer getan hatte. Doch er umschloss mit beiden Händen meinen Hinterkopf und drückte mit den Daumen sanft in die Vertiefung zwischen Kopf und Nacken. Ein Schauer durchlief mich. Rasmus’ Berührung hatte mich beruhigt; die Berührung von Merten zündete mich an.

»Ich liebe dich«, sagte er leise.

Bis zu der Versammlung um sieben Uhr blieb noch etwas Zeit. Wir schalteten den Fernseher ein. Als ich mich neben Merten vor den Bildschirm setzte, wurde mir mulmig. Ob auch in Estilien über unsere Flucht berichtet wurde?

Einen Sonderkanal wie in Nordland gab es immerhin nicht; keine Sendeschleife, die 24 Stunden am Tag die neuesten Interviews mit meiner Familie und meinen Freunden ausstrahlte. Doch nach kurzem Suchen gerieten wir in eine Nachrichtensendung.

»Inzwischen haben die Hüter von Farland in den sogenannten Katakomben von Helvana eine Suchaktion nach Merten Jakobeit und Fenja Mobi eingeleitet«, sagte der Sprecher. »Es handelt sich um ein stillgelegtes Kanalisationsnetz, das weitgehend in Vergessenheit geraten ist. Es steht zu befürchten, dass sich Fenja und Merten in dem unterirdischen Labyrinth verirrt haben. In diesem Fall, so ein Sprecher der Hüter, geht ihre Überlebenschance gegen null.«

Es folgte ein Interview mit Anselm Dredd, dem obersten Befehlshaber der Hüter. Das Gespräch fand in dem Partysaal des Printemps statt, in dem ich der Organjägerin Aika begegnet war. Im Hintergrund drückten sich ein paar Mitglieder des Faywray-Clans herum – des Clans, mit dem die Hüter ein Zweckbündnis eingegangen waren, um Merten und mir auf die Spur zu kommen. Jetzt wirkte es so, als überwachten die Faywrays das Interview, wohl damit Dredd nichts über den geheimen Übergang verriet. Stillschweigen über dessen Existenz war vermutlich eine Bedingung der Faywrays gewesen, bevor sie sich auf den Deal mit den Hütern eingelassen hatten.

Vom Printemps ging es direkt in unser Wohnzimmer auf Xanadu. Meine Mutter, Bertil und Leane hatten sich offenbar zu einem weiteren Interview bereit erklärt. Mein Vater, so ließ uns eine honigsüße Stimme aus dem Off wissen, lag wegen eines Herzanfalls noch in der Klinik. Die Kamera schwenkte zu Juditta Birk. Da saß sie. In meinem Lieblingssessel. Farlands preisgekrönte Auslandskorrespondentin. Meine Schultern verkrampften sich. Wie ich diese Frau inzwischen hasste!

»Fenjas Familie«, flötete Juditta, »kann sich in dieser schweren Zeit auf die Unterstützung kompetenter Ansprechpartner verlassen. Das Angehörigen-Zentrum von Ganborn bietet den Eltern und Geschwistern der FIP eine umfassende Hilfe und …«

»Wie ich Fenja helfen kann, sagen sie mir da nicht«, unterbrach Bertil ihr Geseire. Seine Augen funkelten, seine Hände lagen zu Fäusten geballt auf seinen Knien. Er sah ungeheuer wütend aus; ich war ungeheuer stolz auf ihn. Mein kleiner Bruder, aus dessen blonden Locken zwei feuerrote Ohren ragten, bot der berühmten Juditta die Stirn!

Juditta lächelte. »Aber sie helfen dir, Bertil. Du und Leane, ihr könnt in dem Zentrum mit anderen Jungen und Mädchen sprechen, denen es ähnlich geht wie euch.«

»Und wie soll das Fenja helfen?«

»Es hilft dir und Leane. Ihr seid auch wichtig.«

»Sie will dir sagen, dass du dich um neue Freunde bemühen musst«, sagte Leane. »Weil unsere alten Freunde nichts mehr mit uns zu tun haben wollen. Weil das mit dem Mitgefühl, der Toleranz und der Empathie nämlich seine Grenzen hat.« Sie wandte den Blick jetzt direkt in die Kamera. »Auch hier, in Farland.«

Ich war fassungslos. Leane, die laut heulend überfahrene Igel und aus dem Nest gefallene Vögel angeschleppt hatte, damit ich sie gesund pflegte – Leane, die in der Nacht vor ihrem ersten Kollegball vor Aufregung praktisch nonstop gekotzt hatte – Leane, die mich stundenlang mit ihrem Liebeskummer vollgejammert hatte: Diese Leane blickte das Fernsehpublikum jetzt mit einer Härte an, dass mir der Atem stockte.

»Nicht schlecht«, murmelte Merten.

»Ich denke doch, dass Toleranz und Empathie überall in Farland großgeschrieben werden«, sagte Juditta ruhig, hielt es aber für klüger, sich nun lieber meiner Mutter zuzuwenden. »Keine Nachrichten von Ihrer Tochter, Frau Mobi. Sie tragen da eine schwere Last«, säuselte sie.

»Ja.« Meine Mutter wirkte völlig gelassen, wie sie da auf unserem Sofa thronte. Eine Königin, der nichts mehr etwas anhaben konnte. Das Schlimmste war passiert. Alles, was jetzt noch kam, konnte nur ein Schatten davon sein.

»Was glauben Sie, Frau Mobi? Ob Fenja bewusst ist, was sie mit ihrer Flucht ausgelöst hat? Ob Fenja …«

»Gewissensbisse hat?«, fragte meine Mutter trocken. »Ich habe keine Ahnung. Warum stellen Sie nicht endlich die Frage, die Sie mir eigentlich stellen wollen?«

Juditta blinzelte. »Bitte?«

Auch auf meine Mutter war ich stolz.

»Die Frage nach der Schuld. Warum hat Fenja getan, was sie getan hat? Wen trifft die Schuld? Die Antwort ist kurz und einfach, und jeder kann sie verstehen: Schuld sind mein Mann und ich. Klingt das einleuchtend, Juditta? Ist es nicht das, was Sie denken und was die meisten Menschen dort draußen glauben? Mein Mann war ein schlechter Vater, ich war eine schlechte Mutter. Die Eltern machen sich immer schuldig, egal, was sie tun oder lassen«, sagte sie sanft. »Fenja hat Mist gebaut, weil wir zu hart oder zu weich waren, ihr alles oder nichts erlaubt, ihr keine oder zu enge Grenzen gesetzt, zu wenig oder zu viel von ihr verlangt, sie vernachlässigt oder verwöhnt haben. Wissen Sie, was ich Ihnen rate, Juditta?« Ihr Blick streifte Judittas Bauch, der sich unter dem modischen Blazer sanft rundete. »Werden Sie erst mal 100-prozentig, bevor Sie ein Kind in die Welt setzen. Das ist es schließlich, worauf es ankommt, nicht wahr? Darum haben wir das Orakel. Weil wir perfekte Eltern für perfekte Kinder für eine perfekte Welt brauchen.«

Meine Augen brannten. Nie, nie hätte ich mir vorstellen können, dass meine liebe, gutmütige Mutter so etwas sagte. Aber sie sagte es. Nicht zu mir, nicht zu meinen Geschwistern, nicht zu meinem Vater. Sie sagte es zu Juditta. Sagte es vor laufender Kamera.

Und damit zu ganz Farland.

Medusa

»Dieses hier wird dir gut stehen.«

Zoe war mit uns in die Wäschekammer gegangen. Als sie mir das grüne Kleid hinhielt, wich ich zurück.

»Es passt phantastisch zu deinen Augen, Fenja, genau deine Farbe.«

Ich schüttelte den Kopf. »Tut mir leid. Bei Grün hört der Spaß auf. Erinnert mich zu sehr an Elysium.«

»Nur heute Abend. Sie sollen wissen, woher du kommst und was du erlebt hast.«

»Das erzähl ich ihnen gern. Dafür muss ich aber kein grünes Kleid tragen.«

Sie seufzte, dann kramte sie in weiteren Kisten und Kartons und zog einen lila Minirock und ein cremefarbenes Top heraus.

»Geht klar«, sagte ich.

Merten, der aus dem gleichen Grund wie ich nicht scharf auf Grün war, wählte ein schwarzes Hemd und schwarze Hosen.

Zoe reichte mir einen Kamm. Wegen der stoppeligen Kürze meiner Haare war da nicht viel zu machen. »Hübsch siehst du aus«, sagte sie nicht sehr überzeugend. Ich zuckte die Schultern. Mein Aussehen war mir egal. Auch das war vor Nordland anders gewesen.

Der Widerstand traf sich in der Zentrale, wie der mit Möbeln vollgestopfte Raum im Untergeschoss hieß. Wackelige Regale, zerschrammte Schränke, Sofas, die nach Staub und alten Pipiflecken aussahen. »Spenden für die Flüchtlinge«, sagte Zoe.

Fenster gab es keine, das Licht kam von drei Kugellampen an der Decke. Unter den Lampen stand ein Tisch voller Geschirr und dampfender Schüsseln. Es roch nach warmem Brot. Nach Fleisch.

Nick und die Kapitänin verteilten letzte Gläser. Merten unterhielt sich leise mit dem grauen Severin. Ein junger Mann mit sehr unterschiedlich hohen Wangenknochen kam lässig auf mich zugeschlurft. Sein blaues Schmuddelhemd hatte er schief zugeknöpft, wodurch es gut zu seinen Wangenknochen passte. Er schüttelte mir so kräftig die Hand, dass ich in die Knie ging.

»Ich bin Teddy. Da bist du also. Fenja. Ist ja schräg.«

Was Teddy schräg fand, war mir nicht ganz klar, aber ich mochte sein Grinsen, seine lockere Art. Er kam mir vor wie einer, der krumm denken konnte, wie mein Vater das manchmal genannt hatte. Wenn man ein Orakel vernichten wollte und einen Plan brauchte, war krumm denken bestimmt eine nützliche Sache.

Die Letzte, die zu uns stieß, war Estrella. Sie trug ein schwarzes Männerhemd und Jeans, und obwohl sie so groß war wie ich, erinnerte sie mich an ein kleines, flinkes Tier. Ein Eichhörnchen vielleicht oder eine Maus. Trotz der kühlen Temperaturen hatte sie Sandalen an den Füßen. Ihre Haare waren noch kürzer als meine. Wie mit einer Nagelfeile abgeraspelt. Anders als mir stand es ihr aber. Sie und Teddy waren ungefähr in Severins Alter: Anfang oder Mitte dreißig.

Das waren wir also: der innere Zirkel des Widerstands. Acht Hansel gegen das mächtige Orakel. Das konnte ja nur gutgehen.

Nick setzte sich neben Zoe und winkte mich heran. »Mach’s dir gemütlich.«

Ich nahm auf der äußersten Stuhlkante Platz und schaute angespannt von einem zum anderen. Gleich würden sie mich auffordern zu erzählen. Dann musste ich nach Nordland zurückkehren. Es wäre zwar nur eine Rückkehr in Gedanken, aber das war schlimm genug. Doch stattdessen begann Estrella Paprikahühnchen und Pfeffersteaks auszuteilen. Ich lehnte beides ab und belud meinen Teller mit Bratkartoffeln und Dosenerbsen.

»Rind und Geflügel sind sehr nahrhaft, Fenja«, sagte Zoe freundlich. »Du musst schnell wieder zu Kräften kommen.«

»Das schaffe ich auch ohne Fleisch.«

Ihr Lächeln blieb freundlich, doch ich spürte ihre Missbilligung. Meine Unsicherheit verschwand, und etwas anderes gewann die Oberhand. Ich legte mein Besteck nieder, setzte mich gerade hin und sagte: »In Nordland musste ich Fleisch essen, sonst wäre ich verhungert. Ich glaube nicht, dass mir das in Estilien passieren kann, oder?«

»Sicher nicht. Estrella wird deine Essgewohnheiten berücksichtigen.« Es war deutlich zu hören, dass Zoe mich für kapriziös und anspruchsvoll hielt.

»Kein Problem.« Estrella, die neben mir saß, tätschelte meine Hand. »Ich krieg dich auch mit Bohnen und Karotten wieder auf die Beine.«

Ich wollte ihnen erklären, dass ich bereits auf den Beinen war und mich ausgezeichnet fühlte, aber das wäre eine Lüge gewesen. Nordland hatte mich mindestens zehn Kilo gekostet, und ich hatte schon vorher kein Übergewicht gehabt. Meine körperliche Verfassung war zweifelhaft, von meinem seelischen Zustand ganz zu schweigen. Dabei hätte ich selig sein müssen, dass ich in Estilien angekommen war. Doch ich war müde und kaputt, erschöpft und ausgelaugt.

Während des Essens wurde wenig gesprochen. Erst als der Tisch abgeräumt war und Estrella mehrere Thermoskannen Kaffee und einen Riesenteller mit Schokoladenkeksen vor uns hingestellt hatte, begrüßte Zoe mich und Merten offiziell als neue Mitglieder des Widerstands.

»Ihr habt einen weiten Weg hinter euch. Dass ihr überhaupt auf Arkadia angekommen seid, ist eine beachtliche Leistung. Alle FIP, die aus Elysium fliehen wollten, wurden in Nordland aufgegriffen. Und hätten sie Merten erst in Eden eingewiesen … Von dort ist noch niemandem die Flucht gelungen.«

Nein, wollte ich sagen, das stimmt nicht. In Helvana habe ich jemanden getroffen. Er hieß Parkin. Er hat es geschafft. Aber Zoe fuhr bereits fort: »Gleichzeitig ist eure Ankunft nur der Anfang. Der schwierigste Teil liegt noch vor euch. Aber diesmal seid ihr nicht allein. Der Widerstand steht hinter euch. Wir alle arbeiten für dasselbe Ziel. Gemeinsam werden wir es schaffen. Wir werden Farland vom Orakel befreien.«

Etwas an ihrer Haltung, ihrem Tonfall weckte in mir eine unbehagliche Erinnerung. Erst wusste ich nicht, was es war. Dann fiel es mir ein: das Phönix-Kolleg. Die Begrüßungsrede der Direktorin. Ihre Ansprache hatte ganz ähnlich geklungen.

»Ihr werdet hier im Hauptgebäude wohnen«, fuhr Zoe fort. »Getrennt von den anderen Flüchtlingen. Das Lager beherbergt zurzeit 78 Menschen, die sich mehr oder weniger frei auf der Insel bewegen dürfen. Auch darum muss ich euch bitten, das Gelände innerhalb des Zauns nicht zu verlassen«, sagte sie ruhig. »Die Flüchtlinge könnten euch erkennen. Oder die Helfer, die regelmäßig auf Arkadia vorbeischauen.«

Ich blinzelte. Wir durften tatsächlich nicht hinaus. Ich schaute Merten an, der unbewegt auf seine gefalteten Hände blickte.

»Und jetzt«, sagte Zoe betont munter, »wollen wir alles über eure Flucht hören.«

Ich überließ es Merten, unsere Geschichte zu erzählen. Ich kaute noch immer an der Nachricht, dass wir im Hauptquartier festsaßen. Mertens Bericht fiel knapp aus, auch er hatte offenbar keine Lust, sich länger als nötig an Nordland zu erinnern. Besonders aufmerksam hörten sie zu, als er bei den Katakomben angelangt war. Natürlich wussten sie, dass es einen geheimen Übergang gab, die Flüchtlinge mussten davon berichtet haben, doch niemand hatte je eine Wegbeschreibung durch das unterirdische Labyrinth liefern können. Nur die Schleuser kannten die Route. Parkin hatte mir das Geheimnis verraten: An jeder Abzweigung musste man sich an einer winzigen Höhlenmalerei – dem geflügelten Pferd – orientieren. Nur so kam man durch.

»Aber wie konntet ihr euch genug Geld für zwei Passagen beschaffen?« Nick schaute skeptisch.

Wir konnten es, weil Marlene gestorben ist. Weil ich die Schleuserin erschossen habe. So haben wir das gemacht, Nick.

Ich blickte zu Boden und schwieg.

»Wir sind FIP, schon vergessen?«, antwortete Merten knapp. »FIP kriegen so was hin. Wir haben euch sogar ein Geschenk mitgebracht.« Er holte etwas aus seiner Hosentasche und streckte es Zoe und Nick auf der flachen Hand entgegen. Ich reckte den Hals.

Eine Metallkapsel.

»Was soll das sein?«, fragte Zoe.

»In der Kapsel steckt ein Datenträger. Darauf findet ihr einige aufschlussreiche Informationen über das Phönix-Programm«, sagte Merten.

Severin nahm ihm die Kapsel aus der Hand. »Du hast dieses Ding aus dem Kolleg und aus Elysium rausgeschmuggelt?«

»Und durch ganz Nordland gebracht, ja.«

Ungläubig starrte ich die Kapsel an. »Wie hast du sie an der Organjägerin vorbeigekriegt?«

Mertens Mundwinkel zuckten. »Die gute Frau hat nicht an der richtigen Stelle nachgesehen.« Er grinste.

»Oh, verstehe.« Severin legte die Kapsel auf den Tisch und wischte sich die Hand an einer Serviette ab.

Merten lachte. »Keine Sorge. Sie war hygienisch und keimfrei verpackt.«

Darum war er so lange im Bad verschwunden gewesen. Von so etwas hatte ich bisher nur in Büchern im Zusammenhang mit Drogen gelesen.

»Sehr tapfer«, bemerkte Teddy.

Merten winkte ab. »Eines meiner kleineren Opfer für die große Sache.«

Nick war noch immer misstrauisch. »Und warum glaubst du, dass uns das Phönix-Programm interessiert?«

»Weil es auf einem Prinzip aufbaut, das der Öffentlichkeit nicht bekannt ist. Die Erfinder des Programms waren davon überzeugt, dass es für die FIP in einem angenehmen und einigermaßen komfortablen Umfeld zu leicht wäre, im Sinne der Moral von Farland zu handeln. Für ein solches Handeln mussten die FIP weder moralisch denken noch fühlen. Die Preisfrage lautete also: Wie könnte man an den wahren Wesenskern der FIP herankommen?«

Alle schauten Merten an.

»Man verpflanzt sie in eine Umgebung, die ihren Schatten füttert. Man testet, wer für Punkte und Privilegien seinen dunklen Impulsen nachgibt – und wer diesen Impulsen widersteht. Das ist die Prüfung. Die FIP kommen in Elysium an und glauben, sie wüssten, was richtig ist und was falsch. Sie nehmen sich vor, richtig zu handeln, weil sie aus Elysium raus wollen. Und dann erzählt man ihnen, dass richtig möglicherweise gar nicht richtig ist. Wer verhält sich noch moralisch und mitfühlend, empathisch und human, wenn man ihm ohne Pause einhämmert, genau dieses Verhalten sei unerwünscht, egoistisch und bequem?« Mertens Augen funkelten. »Nur wer sich menschlich verhält, obwohl ihn das Programm zu einem unmenschlichen Verhalten auffordert, hat überhaupt eine Chance, die Nachprüfung zu bestehen.«

»Dann ist das Programm eine Art Trick?«, fragte Zoe.

Die Thermoskannen auf dem Tisch, die Möbel um uns herum, die Gesichter von Merten, Zoe und Nick – für einen Augenblick verschwamm das alles. Ich war wieder in der Mensa des Phönix-Kollegs angekommen. Mir gegenüber saß eine FIP. Sie hieß Sibylla. »Manchmal denke ich, es könnte ein Trick sein«, flüsterte sie. »Dass sie die Augen belohnen.«

Die Augen. Das waren die FIP, die Extrapunkte dafür kassierten, dass sie ihre Kommilitonen ausspionierten. Weil man ihnen einredete, es sei eine gute Sache, Fehlverhalten zu melden; letztlich würde man ja niemanden anschwärzen, sondern den anderen dabei helfen, sich zu besseren, verantwortungsvolleren Menschen zu entwickeln.

»Vielleicht stellt sich am Ende heraus, dass es darum ging, der Versuchung zu widerstehen und niemanden zu verraten«, wisperte Sibylla in meiner Erinnerung.

Nie hätte ich mir damals vorstellen können, dass ihre Vermutung genau ins Schwarze traf. Noch jemand kam mir in den Sinn: Lisa, die übergewichtige FIP, die sich für Geld ausgezogen hatte. Auf den Plantagen von Elysium hatten zwei ältere FIP sie dazu aufgefordert, es noch einmal zu tun: Klamotten runter oder Punktabzug. Waren die beiden einfach nur miese Typen gewesen? Oder hatte die Direktorin oder ein Mentor sie angewiesen, Lisa in Versuchung zu führen? Und wenn es so war: Wie hatte es sich auf die Chancen der beiden ausgewirkt, dass sie dieser Aufforderung gefolgt waren?

»Dann weiß niemand, wie das Programm wirklich funktioniert?« Teddy rührte so heftig in seinem Milchkaffee, dass sich in der Untertasse ein See bildete.

»Oh, selbstverständlich gibt es eine Gruppe von Eingeweihten.« Merten lächelte schmal. »Auch Farland hat seinen inneren Zirkel – das sogenannte Phönix-Kompetenzteam. Die Direktorin des Kollegs gehört dazu.«

»Was ist mit den Mentoren?«, fragte Teddy. »Meiner war ein solches Arschloch, ich kann mir nicht vorstellen, dass der nur so getan hat als ob.«

»Die Mentoren hält man strikt aus dem Kompetenzteam raus. Sie kennen die Wahrheit über das Programm nicht.« Merten lachte bitter. »Darum sind wir ja so überzeugend.«

»Und kein Mentor hat je gerafft, wie das Programm wirklich funktioniert? Das muss doch auffallen, dass alle FIP mit hohem Kontostand durch die Nachprüfung rasseln und alle mit niedrigem die Prüfung packen.«

»Ebbe auf dem Konto heißt erst mal gar nichts; und schon gar nicht verwandelt es dich automatisch in eine FIP, die bei der Nachprüfung eine Chance hat. Umgekehrt bedeutet ein hoher Kontostand nicht zwangsläufig, dass du durchrasselst. Im Übrigen fummelt unsere geschätzte Direktorin immer wieder gern, und natürlich in Absprache mit dem Kompetenzteam, an den Punktekonten herum.«

»Was soll das heißen?«

»Schau dir die Geheimdateien an, dann kapierst du es. Wenn die Direktorin meint, dass eine FIP die Nachprüfung bestehen könnte, manipuliert sie in den letzten Wochen vor der Prüfung deren Kontostand, so dass er weder auffällig hoch noch auffällig niedrig erscheint. Dasselbe Verfahren gilt für die FIP, die ihrer Vermutung nach durchfallen werden.« Merten machte die Augen schmal. »Nein, Teddy, soweit ich weiß, ist keinem Mentor je etwas aufgefallen. Wenn du mitten im System drinsteckst, passen sich dein Denken, Fühlen und Handeln dem System an. Das ist eine reine Überlebensfrage. Und sogar wenn dir manches schräg oder unlogisch erscheint, behältst du deine Zweifel lieber für dich. Die Zweifler haben in Elysium ganz schnell verschissen.«

»Aber wenn das alles so ist und außer der Direktorin und diesem Team keiner die Wahrheit kennt, müssen wir diese Wahrheit doch nur noch in Farland verbreiten!« Estrella strahlte Merten an. »So schnell bringen die kein neues Programm auf die Beine. Vielleicht müssen sie das Kolleg sogar schließen. – Los, zugreifen!« Sie reichte die Schokoladenkekse herum, als gäbe es etwas zu feiern.

»Diese geheimen Details über das Phönix-Programm sind natürlich äußerst aufschlussreich«, sagte Nick kühl. »Aber ich sehe nicht, wie uns das in unserem Kampf gegen das Orakel hilft.«

Estrella schob sich einen Keks in den Mund. »Hast du ’nen Knall, Nick?«, nuschelte sie. »Alles hilft, was uns hilft, Farlands Lügenmärchen aufzudecken.«

Merten sah Nick fest an. »Du hast recht. Mir war doch, als hätte ich was vergessen. Das Orakel in die Luft jagen. Herrgott noch mal. Das hätte ich wirklich noch schnell erledigen können, bevor ich hier aufgekreuzt bin.«

»Schon gut, Merten«, sagte Zoe sanft. »So war das nicht gemeint.«

Nick rührte Zucker in seinen Kaffee. »Ich will euch nur an das Ziel des Widerstands erinnern. Es besteht nicht darin, das Phönix-Programm zu sprengen. Unser Feind ist das Orakel. Eine Maschine entscheidet darüber, wer bleiben darf und wer geht; eine Maschine ist in Farland der oberste Befehlshaber, verdammt noch mal!«

»Nein, Nick, das stimmt nicht.« Severin hatte die Metallkapsel wieder in die Hand genommen und drehte sie zwischen seinen Fingern. »Das Orakel tut nur, was Menschen ihm zu tun befehlen. Es sind Menschen, die das alles so entschieden haben.«

»Und Menschen können dafür sorgen, dass es aufhört«, sagte Zoe. »Wenn sie es wollen.«

»Tja.« Nick verschränkte die Arme vor der Brust. »Das Problem ist, sie wollen nicht.«

»Weil es den Bürgern von Farland an Information und Aufklärung fehlt.«

»Und was bringt es, die Wahrheit über das Phönix-Programm öffentlich zu machen?«, fragte Kapitänin Leonie. Genau wie ich hatte sie bisher nur zugehört. »Das ist Zeitverschwendung. Wir müssen uns auf das Wesentliche konzentrieren: das Orakel.«

»Ich halte es nicht für Zeitverschwendung, wenn unsere Bemühungen dazu führen, dass Farland das Phönix-Kolleg schließt«, sagte Zoe. »Es wäre ein erster Schritt, um das System aufzuweichen, das sie rund um die FIP aufgebaut haben. Ich habe es schon oft gesagt, ich sage es gern noch einmal: Farland muss von innen heraus aktiv werden!« Nick öffnete den Mund, schloss ihn jedoch gleich wieder, als Zoe die Hand hob. »Es wäre ein Fehler, das Orakel gegen den Willen der Bürger von Farland zu zerstören. Wir müssen darauf hinarbeiten, dass sie es selbst zerstören wollen.«

Nicks Wangen glühten. Auch mir war nicht wohl bei Zoes Worten. »Die schaffen das Orakel nie ab«, sagte er mit mühsam beherrschtem Zorn. »Die halten das Orakel für eine großartige Sache. Zoe, um Himmels willen! Erinnere dich doch nur an deine eigene Zeit in Farland – als du versucht hast, die Leute von den Schattenseiten des Orakels zu überzeugen. Was hat das gebracht?«

»Es hat ein paar Menschen aufgerüttelt. Menschen, die heute für den Widerstand arbeiten. Und ProFIP kam bei der nächsten Wahl auf fast fünf Prozent …«

»ProFIP!« Nick lachte schnaubend. »Dieser klägliche Haufen von FIP-Freunden? Das ist lächerlich. Farland wird niemals freiwillig auf das Orakel verzichten. Wenn du was anderes glaubst, machst du dir was vor. In Farland will man die dunkle Seite, die es in uns allen gibt, um jeden Preis unter Kontrolle bringen oder besser noch: ausmerzen.«

Und vielleicht ist das ganz gut so.

Der Gedanke kam aus dem Nichts. Ich wollte ihn nicht denken, aber er war da. Orlandos Gesicht stand mir deutlich vor Augen. Seine Traurigkeit. Auch das war eine dunkle Seite. Nicht nur Gewalt und Grausamkeit. Ich dachte daran, wie sehr sein dunkles Inneres eine Gefahr für ihn war, mit diesem Wunsch zu sterben, der immer wieder in ihm aufloderte. Wäre es nicht gut, das loszuwerden?

Ja. Aber das durfte nicht bedeuten, Orlando loszuwerden.

»Seien wir doch mal ehrlich«, sagte Nick. »99 Prozent der Farländer halten das Orakel für eine feine Sache. Sie bilden sich wer weiß was auf ihr Orakel ein und sehen auf andere Nationen herab, weil sie überzeugt sind, dass nur sie selbst es richtig hingekriegt haben.« Seine Augen blitzten. »Wisst ihr, was die Farländer denken? Warum sollen wir was ändern? Das denken sie! Läuft doch alles prima in unserem schönen Land, in unserem schönen Leben. Überall nette Menschen, die nett mit anderen Menschen umgehen. Alles voll von sozialen und kulturellen Einrichtungen und Angeboten. Wohin man schaut, intakte Familien, Freunde, generationsübergreifende Wohnprojekte und Lebensgemeinschaften, und hey, dann engagieren wir uns auch noch für die Umwelt und machen ein bisschen Entwicklungshilfe in anderen Ländern, weil wir so wahnsinnig fortschrittlich und aufgeklärt sind. Nein, diese Menschen sind einfach nur verwöhnt und überheblich und ignorant und werden nie etwas verändern!«

»Aha«, sagte Merten leise. »Verwöhnt. Kommst du nicht ursprünglich aus einer reichen Familie, Nick? Einer richtig reichen Familie in einem richtig reichen Land? Du beklagst dich über die verwöhnten Farländer, aber auf was hast du je verzichtet?«

»Ich habe das Land verlassen.«

»Ja, weil du es kapiert hast und alle anderen nicht; weil alle anderen, die nicht dasselbe tun und nicht so denken wie du, rückständig und blöde sind. Weißt du, mit welchen Worten ich deine kleine Rede zusammenfassen möchte? Überheblich und ignorant. Ich sehe nicht, was dich groß von den Farländern unterscheidet. Und ich frage mich gerade, warum du diesen Menschen helfen willst. Was dir an ihnen liegt.«

»Es freut mich zu hören, dass wenigstens du auf der richtigen Seite stehst, Merten Jakobeit«, gab Nick mit bebender Stimme zurück. »Es hat ja lange genug gedauert.«

Was sollte das nun heißen? Ratlos blickte ich vom einen zum anderen. Merten war kalkweiß im Gesicht. Seine Hände, die sich fest um seinen Kaffeebecher geklammert hatten, zitterten.

»Ich stand immer auf der Seite von denen, die etwas verändern wollen«, quetschte er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

»Das kann man wohl sagen«, höhnte Nick.

»Leute, für die Gewalt keine Option ist.«

Nick lachte. »Komisch, ich erinnere mich, dass du …«

»Hört auf!« Zoe klang nicht mehr ruhig. Wie ein Messer schnitt ihre Stimme zwischen die beiden Männer. Das folgende Schweigen war beinahe noch schlimmer als der offene Streit.

»Manchmal geht es eben nicht ohne Gewalt.« Nervös zwirbelte Leonie ihre blonden Löckchen. »Nicht, dass ich das befürworte, aber wir können nicht warten, bis Farland in fünf oder 50 oder 100 Jahren freiwillig auf das Orakel verzichtet. Meine bescheidene Meinung.«

»Und was willst du tun?« Merten war noch immer weiß im Gesicht, aber wenigstens zitterten seine Hände nicht mehr. »Dem Orakel den Stecker ziehen?«

Die Kapitänin wandte sich an Severin. »Hey, Computermann. Das ist dein Part, oder?«

»Was wollt ihr hören? Viele oder wenige technische Einzelheiten?«, fragte Severin.

»Gar keine bitte.« Nick sah noch immer wütend aus. »Mich interessiert nur, ob Medusa endlich funktioniert.«

»Nein, tut sie nicht«, sagte Severin ruhig.

»Was für eine Überraschung«, knurrte Nick.

»Wer ist Medusa?«, fragte ich.

»Ein Computervirus, das Severin modifiziert hat«, sagte Zoe. »Er arbeitet schon ziemlich lange an dem Ding. Zu lange, wie manche hier finden«, fügte sie mit einem Seitenblick auf Nick hinzu. »Der Plan ist, Medusa in das Orakel einzuschleusen.«

»Aha«, sagte ich. »Und wie soll das funktionieren?«

»Über eine Schnittstelle«, sagte Severin. »Wir können davon ausgehen, dass das Orakel eine der modernsten Computeranlagen der Welt ist. Eine Kontaktstelle für die Datenübertragung wird also vorhanden sein.«

»Du meinst diese Finger-drauf-Geschichten?«, fragte Merten.

Severin nickte. »Theoretisch müsste man Medusa über eine solche Schnittstelle in das System des Orakels einschleusen können. Das ist wie Händeschütteln: Der Virus überträgt sich durch physischen Kontakt.«

»Und dann?«

»Wenn Medusa so arbeitet wie von mir geplant, wird sich das Orakel selbst zerlegen.«

»Wenn. Falls. Theoretisch.« Aus Nicks Stimme sprach mehr als eine Spur Ungeduld. »Wann, Severin? Du puzzelst seit drei Jahren an der Schlangentante rum. Soll das noch mal drei Jahre dauern?«

»Es braucht Geduld und Vorsicht, um Viren zu zähmen. Man muss sie äußerst zartfühlend behandeln. Sie beißen, und wenn sie nicht beißen, reißen sie aus.«

»Ja, und während wir geduldig und vorsichtig sind, rennt uns die Zeit davon. Was wollt ihr inzwischen tun? Mit Farland zartfühlend ein paar Argumente austauschen? Herrgott noch mal! Ihr wisst genau, was passieren kann. Die werden da drüben jeden Tag fertig!«

»Fertig? Womit?«, fragte ich.

Estrella wischte sich einen Klecks Schokolade aus dem Mundwinkel. »Farland will das Orakel schon seit langem in Serie bringen. Es heißt, sie seien ihrem Ziel sehr nah. Das wäre ein Riesendurchbruch. Stell dir vor: ein Orakel für jedes Land. Die ganze Welt ein Paradies.« Sie lachte bitter. »Das Paradies auf Erden.«

»Es würde die Arbeit des Widerstands 100 Mal schwieriger machen.« Leonie blickte düster in ihren Kaffee. »Keine Ahnung, wie viele Orakel wir dann vernichten müssten.«

Severin strich sich das graumelierte Haar aus der Stirn. »Farlands Wissenschaftler haben offenbar noch nicht alle Probleme gelöst. Das ist einerseits gut für uns, andererseits ist es … sagen wir mal, merkwürdig. Warum gelingt es ihnen nicht, ihr eigenes Programm zu reproduzieren? Zukunftsvorhersagen auf der Basis von hochspezialisierten Algorithmen sind schließlich nichts Neues. Okay, neu ist die Präzision, die praktisch 100-prozentige Unfehlbarkeit des Orakels, aber wenn sie es einmal geschafft haben, ein derart perfektes Prognoseprogramm auf die Beine zu stellen, warum gelingt es ihnen kein zweites Mal?«

»Klingt so, als verstünden sie ihr eigenes Programm nicht«, sagte Merten.

»Genau«, nickte Severin. »Meiner Meinung nach war das Orakel ein Zufallsprodukt. Es funktioniert. Nur weiß keiner, wie und warum.« Er trank einen Schluck Kaffee. »Meine Theorie ist durch nichts zu beweisen, aber ich denke, Farlands Orakel ist mehr als ein Analyseprogramm. Viel mehr. Allein die Exaktheit, mit der es schon in der Testphase den Verlauf menschlicher Biografien vorhersagen konnte – das ging weit über alles hinaus, was man von den leistungsfähigsten Algorithmen kannte. Und das führt uns zu einer spannenden Frage: Was ist das Orakel wirklich?«

Merten sah mich an. »Da kann euch Fenja vielleicht weiterhelfen.«

Ich scheute davor zurück, das Wort zu ergreifen und ihnen zu erzählen, was ich wusste. Das hier war der Widerstand. Diese Männer und Frauen beschäftigten sich seit Jahren mit der Frage, was das Orakel war und wie man es stoppen konnte. Und ich? Ein naives Farland-Mädchen, noch immer. Fenja, die keine Ahnung von irgendwas hatte, schon gar nicht von Software-Programmen, Algorithmen, Viren oder Aufklärungskampagnen.

Du bist aus Elysium entkommen. Du hast den Weg durch Nordland gefunden. Du weißt Dinge über das Orakel, die niemand sonst weiß.

»Fenja?«, fragte Merten leise.

Ich schloss die Augen. Öffnete sie wieder. Und begann. Stockend berichtete ich von Parkin, dem Schleuser im Rollstuhl, der vor vielen Jahren aus Eden geflohen war.

»Er ist entkommen?«, unterbrach mich Zoe sofort. »Das ist unmöglich. Keiner kommt aus Eden raus.«

»Doch. Eine Ärztin hat ihm geholfen.«

Sie blinzelte. »Du meinst: eine Ärztin aus Eden?«

Ich nickte.

Zoe und Nick sahen sich kurz an. »Hat er ihren Namen erwähnt?«, wandte sich Zoe wieder mir zu. »Kannst du dich an irgendwas erinnern, Fenja?«

»Zephir. Sie heißt Vesta Zephir.«

Zoes schönes Gesicht war mit hektischen roten Flecken übersät. »Du stellst den Kontakt her, Severin.« Ihre Stimme bebte vor Erregung. »Finde heraus, ob wir diese Zephir für unsere Sache gewinnen können. Eine von uns, direkt in Eden, das wäre unser Ass im Ärmel. Aber sei vorsichtig, verstanden?«

Severin tätschelte ihre Schulter. »Vorsichtig, klar. Danke, Zoe. Da wäre ich von selbst nicht drauf gekommen. Bitte weiter, Fenja. Was hat dieser Parkin dir erzählt?«

»In Eden haben sie ihn für einen Versuch ausgewählt. Es war ein Experiment, bei dem es einen direkten Kontakt mit dem Orakel gab. Er hat das Orakel gesehen. Er hat es … gespürt.«

»Na, das haben wir doch alle«, meinte Nick.

Ich blinzelte. »Wie bitte?«

»An unserem Tag des Orakels. Nur hat dieser Kontakt bei mir zu keinen größeren Erkenntnissen geführt.«

»Weil es gar nicht das echte Orakel war. Das Ding in Galada haben sie bloß für die Show gebaut. Das richtige Orakel steht im Untergeschoss von Eden.«

Alle starrten mich an. Estrellas Hand, die einen Schokoladenkeks hielt, war auf halbem Weg zum Mund in der Luft erstarrt. Teddys Augen verengten sich zu Schlitzen, wodurch sein Gesicht noch schiefer wirkte. »Wie kommst du denn auf so einen Quatsch?«, fragte er.

Meine Unsicherheit von vorhin war verschwunden. »Vesta Zephir hat es Parkin anvertraut«, sagte ich ruhig. »Als er dem Orakel dann selbst begegnet war, wusste er, dass sie die Wahrheit gesagt hatte.« Ich erinnerte mich an jede Einzelheit. »Sie brachten ihn in einen Saal im Untergeschoss, zu einer riesigen Anlage. Dort hat er das Bewusstsein verloren, aber als er noch einmal zu sich kam, hat jemand mit ihm gesprochen. Es war das Orakel. Da war er sich völlig sicher. Und da war nicht nur eine Stimme, da war …«

Zoe beugte sich zu mir. »Was?«

»Etwas … Zusammengekrümmtes.«

Sie schüttelte den Kopf. »Was soll das heißen?«

»Auf Parkin wirkte es … also, es kam ihm lebendig vor.«

Nick runzelte die Stirn. »Fenja, hör mal, mit solchen Ammenmärchen …«

Severin hob die Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen. »Erzähl weiter, Fenja.«

»Ich glaube, Parkin wollte sagen, dass es lebendig war, aber anders lebendig als wir. Er sprach von einer künstlichen Intelligenz. Einem neuronalen Netz, was immer das ist. Keine Ahnung, ob so was lebt, aber es könnte die Versuche in Eden erklären. Die sogenannten Versuche der ersten Kategorie. Mit denen wollen sie ein zweites Orakel erschaffen, ein zweites künstliches Gehirn. Und dazu experimentieren sie an den Gehirnen der FIP herum.« Ich lächelte bitter. »Alles freiwillig natürlich. Darauf legen sie in Eden großen Wert. Keine FIP wird zu den Versuchen gezwungen.«

Zoe war blass geworden. Sie wandte sich an Severin. »Könnten die Vermutungen von diesem Parkin zutreffen?«

»Jedenfalls zielen sie in eine Richtung, in die ich selbst schon gedacht habe. Eine künstliche Intelligenz, die sich eigenständig weiterentwickelt hat und mehr geworden ist als die Summe ihrer Teile. Das ist es, was den Konstrukteuren des Orakels Kopfzerbrechen bereitet. Man kann diese KI nicht einfach nachbauen oder kopieren, so wenig, wie sich ein menschliches Gehirn nachbauen oder kopieren lässt.« Er seufzte. »Das verschafft uns zwar einen zeitlichen Vorteil, erschwert aber auch unsere Arbeit.«

»Inwiefern?«, fragte Nick misstrauisch.

»Ich habe keine Ahnung, ob Medusa mit einer solchen KI fertigwird.«

Nick verschränkte die Arme vor der Brust. »Wenn wir weiter hier rumsitzen und Kekse essen, finden wir es nie heraus.«

»Und wie sieht dein Plan aus? Nach Eden fahren, mit einer Medusa im Köfferchen, von der niemand weiß, ob sie ihre Arbeit tut?« Merten sah Nick zum ersten Mal wieder direkt an. »Ein solcher Trip steht nicht unbedingt auf Platz eins meiner Wunschliste. In deinen Ohren mag es paranoid klingen, aber ich habe das komische Gefühl, dass uns Eden nicht gerade mit offenen Armen empfängt.«

»Das Orakel direkt angreifen kommt nicht in Frage«, pflichtete Zoe ihm bei. Nick funkelte sie an, doch sie fuhr unbeeindruckt fort: »Nur ein Wahnsinniger würde in die Höhle des Löwen spazieren und …«

»Von einem Spaziergang war keine Rede.« Nicks Stimme zitterte vor Wut. »Aber etwas mehr Wahnsinn täte unserer Sache gut. Es würde zum Beispiel verhindern, dass wir vor lauter Scheiß-Vernünftigsein noch in fünf Jahr bloß rumdiskutieren, ohne es endlich anzupacken.«

»Und wie sieht dein Plan aus?«, wiederholte Merten. »Eine Armee von wahnsinnigen Widerständlern zieht los und erobert Eden im Sturm?«

»Wir haben keinen Plan.« Estrella fegte mit einem Finger ein paar Krümel zusammen. »Darum sitzen wir hier. Um gemeinsam etwas zu entwickeln. Was mich betrifft, ich bin auf der Seite von Zoe und Merten. Keine Gewalt. Wir müssen die Bürger von Farland aufklären und informieren.«

»Worüber denn?«, zischte Nick.

»Über das Phönix-Kolleg und über Eden.« Estrella nahm sich einen weiteren Keks und kaute geräuschvoll. Sie musste schon mindestens ein Dutzend von den Dingern verdrückt haben. Ihr Kauen machte mich ganz verrückt, schmatz, schmatz, schmatz, ich versuchte, es auszublenden, meine Finger zuckten, ballten sich zu Fäusten, öffneten sich, schlossen sich, ich fühlte mich kribbelig und nervös und kapierte einfach nicht, warum sie immerzu von aufklären und informieren sprachen. Was sollte das denn bringen? Wozu …

Meine Familie fiel mir ein. Sie begann gerade umzudenken. Umzulernen. Wenn Menschen direkt betroffen waren, konnte das wohl wirklich gelingen – aber auch dann nur langsam und sicher nicht, weil eine allgemeine Aufklärungswelle durchs Land rollte, die zu einem richtigen Verhalten aufforderte.

»Hirnversuche in Eden«, sagte Zoe bedächtig. »Das wird Farlands Bürger nicht kaltlassen.«

»Vor allem, weil sie dir jedes Wort glauben werden, Zoe, mein Schatz«, knurrte Nick. »Wie willst du diese Hirngeschichte beweisen?«

»Wir stellen ihnen einen Augenzeugen vor. Wir müssen diesen Parkin einschleusen und …«

»Das wird nicht möglich sein, Zoe«, sagte ich leise.

»Warum nicht?«

»Die Hüter suchten mich auch auf dem Gelände, auf dem Parkin wohnte und …« Ich schluckte. »Er wollte vor ihnen fliehen.« Mühsam quetschte sich meine Stimme an dem Kloß in meiner Kehle vorbei. »Parkin ist tot.«

Merten berührte meine Hand.

»Das tut mir leid, Fenja«, sagte Zoe mitfühlend.

»Es macht keinen Unterschied.« Nicks Stimme klang kühl. »Parkin war eine FIP. Niemand glaubt einer FIP.«

Ja, dachte ich. So, wie niemand Evard Gers geglaubt hat. Ich erinnerte mich nur zu gut an den Fernsehbericht, den ich mir vor fast drei Jahren am Abend der großen Spendengala angesehen hatte. Evard Gers, Ex-FIP, hatte die Nachprüfung bestanden und nach seiner Rückkehr ein unauffälliges Leben als Finanzbuchhalter geführt. Bis er eines Tages Flugblätter zu verteilen begann. Euthanasie in Elysium. Todesversuche in Eden. In mehreren Interviews beharrte er auf seiner Geschichte, bis man sogar ein Fernsehteam nach Eden schickte. Ohne Ergebnis. Kurz darauf wurde Evard in ein Sanatorium eingewiesen, wo mehrere Ärzte seinen desolaten Geisteszustand bezeugten.

Wer zu viel über Elysium oder Eden sprach, wurde als unglaubwürdig hingestellt. Den Horrorstorys einer Ex-FIP würde niemand Glauben schenken, im Gegenteil, man würde diese Gruselgeschichten auf eine verrenkte Psyche zurückführen.

»Was ist eigentlich los mit euch?«, rief Nick. »Wollt ihr ewig auf dieser Insel hocken bleiben und nutzlose Aufklärungskampagnen zusammenbasteln?«

Zugegeben, ich mochte Nick nicht besonders. Aber wenigstens dachte er in die richtige Richtung.

»Unsere Kampagne wird nicht nutzlos sein«, gab Teddy zurück. »Wenn wir die Hirnversuche und das Phönix-Programm öffentlich machen, sorgt das in Farland zumindest für Unruhe. Und Unruhe ist gut. Unruhe ist das, was Farland braucht. Ich weiß, du willst das nicht hören, Nick, ich sag’s trotzdem: Wenn wir versuchen, das Orakel mit Gewalt zu stoppen, wäre das einfach nur saudämlich.«

»Genau«, murmelte Estrella und nahm sich den tausendsten Keks. Ich starrte auf ihre Hand, ihren Mund, auf Teddy, der jetzt auch in die Schale griff. Was hatten sie vor? Sich in aller Ruhe bis auf den Grund der Schale durchfuttern? War das alles, was sie tun wollten?

»Einfach warten, ja?«, platzte ich heraus. »Worauf denn, verdammt? Farland schafft das Orakel nie freiwillig ab! Nie, nie, nie!« Ich zitterte am ganzen Körper. Warten, warten, und während wir warteten, blieben meiner Schwester kaum noch drei Monate bis zu ihrem Tag des Orakels. Und dann? Leane in Elysium, mit einer Schwester, die getürmt war; das würde ihr garantiert das Wohlwollen der Mentoren, die Liebe der Direktorin und die Hochachtung der anderen FIP einbringen. Und Romilda und Orlando und, ja, auch Nuja – was war mit ihnen? Sie saßen bereits in Eden, und mindestens Orlando und Nuja nahmen an den Versuchen teil. Jederzeit konnte jemand entscheiden, dass sie perfekte Kandidaten für einen Versuch der ersten Kategorie waren. Und dann?

Ich versuchte, das Beben in meiner Stimme unter Kontrolle zu bringen. »Wir müssen handeln, bevor die nächste Ladung FIP in Elysium eintrifft. Bevor sie in Eden den nächsten Gehirnversuch starten.«

»Ich sehe das wie Fenja.« Severin goss frischen Kaffee in seinen Becher. »Und auch wie Nick und Leonie. Damit stehen vier gegen vier. Die Abstimmung Angriff oder Aufklärung können wir uns schenken. Mein Vorschlag: Wir fahren zweigleisig. Ich arbeite weiter an Medusa, aber gleichzeitig werde ich versuchen, in die Informationskanäle von Farland einzudringen. Wenn mir das gelingt, machen wir das Phönix-Programm und die Hirnversuche öffentlich.«

»Und sonst tut ihr nichts?«, grummelte Nick.

»Wir, Nick«, gab Severin ruhig zurück, »wir sind noch immer ein Team. Und zu tun gibt es eine Menge. Auch für dich. Wir brauchen Ideen, wie das Eindringen in Eden vor sich gehen kann. Ob wir die Ideen dann umsetzen«, fügte er mit einem Blick auf Zoe hinzu, »darüber entscheiden wir, wenn es so weit ist. Einige von uns«, sein Blick wanderte weiter zu Merten und zu mir, »haben Eden schon kennengelernt und wissen, dass es nicht darum gehen kann, einem Aufseher den Schlüssel zu stehlen oder durch ein offenes Fenster zu klettern. Eden ist uneinnehmbar. Auch wenn ich finde, dass wir uneinnehmbar vorläufig aus unserem Wortschatz streichen sollten.«

»Nächstes Treffen übermorgen. Bis dahin soll sich jeder Gedanken machen.« Zoe griff über den Tisch, zog Estrella die Keksschale weg und nahm sich den letzten Keks.

Ich schaute zu Merten. War er zufrieden mit dem Ergebnis? Ich war es jedenfalls nicht. Aber er war ganz auf den Computerspezialisten konzentriert.

»Wir machen das zusammen, Sev. Ich möchte deine Medusa kennenlernen.« Er lächelte. »Und was Farlands Informationskanäle angeht – die würde ich zu gern mit dir auseinandernehmen.«

Warten

Der nächste Tag begann mit Verspätung. Als ich gegen neun erwachte, war Merten schon weg. Ich trödelte unter der Dusche, das heiße Wasser war einfach zu schön, dann zog ich mich an und machte mich auf den Weg in die Küche. Dort waren nur noch Teddy und Estrella. Sie spülten das Geschirr.

»Schlafmütze im Anmarsch«, sagte Teddy, doch es klang freundlich.

Ich setzte mich an den Tisch. »Wo sind die anderen?«

»Zoe und Nick sind mit Leonie aufs Festland rüber. Vorräte aufstocken. Severin und Merten haben sich in Sevs Bude eingeschlossen.«

»Stör sie bloß nicht.« Estrella grinste. »Severin macht Merten gerade mit Medusa bekannt.«

»Die haben sich ganz schön was vorgenommen.« Teddy reichte Estrella einen Stapel Teller, den sie in den Schrank einräumte. »Das Virus startklar machen, allein das ist ein Vollzeitjob. Und dann noch Farlands Nachrichtennetz infiltrieren? Ehrlich, ich glaub nicht, dass sie beides hinkriegen. Ist ja nicht so, dass Farland seine Informationskanäle nicht schützen würde. Die haben da vermutlich auch ein paar Experten sitzen.«

»Man wünscht sich glatt das Internet zurück«, meinte Estrella. »Da könnten wir die ganzen Infos einfach raushauen. In einer Sekunde um die ganze Welt. Scheiß-Cyberkriege.« Sie stellte mir eine Kanne mit frischem Kaffee hin. »Na, was soll’s. Severin packt das. Der weiß, was er tut.«

»Dachte ich auch«, murmelte Teddy. »Und dann spricht er sich dafür aus, Eden anzugreifen.«

»Wie soll man das Orakel denn sonst mit dem Virus infizieren?«, fragte ich.

»Keine Ahnung.« Teddy guckte betrübt in die Spüllauge. »Ist einfach so, dass ich Severin so was nicht zugetraut hätte. Dass er sich für ein Eindringen in Eden ausspricht, meine ich. Ohne Gewalt wird das nicht funktionieren. Das gibt Tote, egal, was für einen tollen Plan wir ausarbeiten. Nee«, er schüttelte den Kopf, »ich dachte, Severin wäre einer von den Friedfertigen.«

Estrella zuckte die Schultern. »Eine verborgene dunkle Seite hat jeder.«

»Und wie lange dauert es, bis Merten und Severin in Farlands Systeme reinkommen, was meint ihr?«, fragte ich und biss in mein Brot.

»Ein paar Monate«, mutmaßte Estrella.

Ich verschluckte mich und hustete Krümel über den Tisch. »So lange?«, krächzte ich.

»Nick hat heute Morgen auch schon Stress gemacht. Aber Sev sagt immer nur: Wenn du mich nervst, mach ich Fehler, und wenn ich Fehler mache, fliegt uns die Sache um die Ohren.«

Monate, bis etwas passierte! Ich konnte es nicht fassen. Bei meiner Ankunft auf Arkadia hatte ich zwar nicht gerade auf einen fertigen Plan zur Vernichtung des Orakels und zur Befreiung von Romilda, Orlando und, ja, auch von Nuja gehofft, aber … aber irgendwie doch.

Teddy setzte sich zu mir an den Tisch und griff nach der Kaffeekanne. »Eins ist mir überhaupt nicht klar. Diese Hirnversuche. Die Leute, die sich das ausgedacht haben – warum hat das Orakel diese Perverslinge nicht ausgemustert? Das ist doch irgendwie nicht logisch.«

War es auch nicht. Das hatte ich bereits mit Parkin diskutiert, damals, in seinem bunten Eisenbahnwaggon auf dem alten Güterbahnhof von Helvana. »Aus unserer Sicht mag es pervers sein«, sagte ich langsam, während ich mich an Parkins Worte zu erinnern versuchte. »Aus Sicht des Orakels oder im Hinblick auf den größeren Plan ist es wohl vertretbar. Diese Leute handeln nicht in böser Absicht, Teddy. Sie wollen das Orakel erhalten, wollen es reproduzieren, damit eine bessere Gesellschaft entsteht. Eine perfekte Gesellschaft. Wenn man es so betrachtet, arbeiten diese Experten im Sinne eines übergeordneten Gedankens. Auf ein paar FIP mehr oder weniger darf es da nicht ankommen.«

Estrella reagierte ähnlich wie damals ich. »Das ist doch total abartig!«, rief sie erbost. »Abartig und brutal und falsch!«

Ich nickte. »Aber folgerichtig.«

»Leute mit Gewissen würden so was nicht tun.« Teddy ließ Zucker in seinen Kaffee rieseln und rührte um. Er rührte und rührte, hörte gar nicht mehr auf. »Oder?!«

»Was ist denn das für eine bescheuerte Frage?« Estrella räumte noch mehr Geschirr in den Schrank, ließ Teller und Schalen aufeinanderknallen. Wenn sie so weitermachte, würden wir heute Abend von Papptellern essen müssen. »Wer ein Gewissen hat, tut so etwas nicht. Würdest du es tun?«, fragte sie Teddy zornig. Er duckte sich. »Oder du?« Sie funkelte mich an. Ich rutschte auf meinem Stuhl zurück. »Diese Leute sollte man allesamt umbringen!«

Teddy und ich sahen uns an. »Umbringen. Aber mit gutem Gewissen«, sagte er so leise, dass Estrella es nicht hören konnte.

Die ersten zwei Wochen auf Arkadia. Es fiel mir schwer, in eine halbwegs normale Welt zurückzufinden und die Bilder von mir fernzuhalten, die sich mir in Nordland eingebrannt hatten und die immer wieder in meinem Kopf aufblitzten.

Nach wie vor durften Merten und ich das umzäunte Gelände nicht verlassen. Arkadia blieb für uns Terra incognita. Aber wenigstens konnten wir durch den Garten hinter dem Haus zu einer kleinen Bucht hinuntergehen, die innerhalb des Zaunes lag. In 50 Meter Entfernung ragten zwei Felsnadeln aus dem Wasser, zwischen denen ein Stahlnetz gespannt war; das störte zwar die Aussicht, trotzdem fühlte ich mich während der Stunden am Meer besser als im Haus.

Oft saß ich alleine hier, schaute auf das blaugraue Wasser und dachte an Marlene. Es waren traurige Gedanken, aber sie quälten mich nicht mehr; die Gedanken waren friedlich und ruhig. Ich malte mir aus, wie Marlene das alles gefallen hätte, der Geschmack des Salzes auf den Lippen, die Schreie der Möwen im Ohr, die Sonnenwärme auf den Schultern. Auch wenn ich Marlene nicht mehr sehen, hören, berühren konnte, war sie in diesen Augenblicken bei mir. Irgendwann würde ich wieder eine so wunderbare Freundin an meiner Seite haben, wie sie es für kurze Zeit gewesen war.

Ich sah es ja ein: Den Rest der Insel durften Merten und ich nicht betreten. Unsere Gesichter waren zu oft im Fernsehen gezeigt worden, und die Gefahr, dass uns die Flüchtlinge oder die freiwilligen Helfer erkannten, war einfach zu groß. Diese Helfer störten mich besonders. Sie kümmerten sich vor allem um die Kinder, die auf Arkadia geboren waren, organisierten Spielgruppen, brachten den Älteren Lesen und Schreiben bei und veranstalteten Picknicks und Ausflüge, was sicher eine gute Sache war. Nicht gut war, dass diese enthusiastischen Männer und Frauen immer auch im Haupthaus vorbeischauten. Stundenlang saßen sie in dem Büro im Erdgeschoss, tranken Tee, verputzten Estrellas Kekse, monierten die Hygiene im Lager, schmutzige Zimmer, Kakerlaken in den Gemeinschaftsküchen und -duschen, Nissen in den Kinderhaaren, oder sie drängten darauf, noch mehr Flohmärkte, Tombolas, Tage der offenen Tür, Sommerfeste, Kleidersammlungen zu organisieren. Mit Vorliebe beklagten sie sich auch über die Unfähigkeit der anderen Helfer. Das behaupteten jedenfalls Teddy und Estrella.

Ich selbst bekam von diesen Diskussionen nichts mit; sobald sich ein Helfer dem Gebäude näherte, verschwanden Merten und ich in Windeseile in der Zentrale im Untergeschoss. Wir schoben einen Schrank beiseite und stiegen durch eine Falltür in den Keller darunter, eigentlich nur eine Kammer mit einem Tisch, einem Stuhl und einer Campingliege, dazu ein Bücherstapel, ein Wasserkocher und eine chemische Toilette. Vergleichsweise komfortabel also, trotzdem fühlte ich mich unangenehm an meine Zeit in Helvanas Markthallen erinnert, als die Hüter und die Putzleute die Hallen durchkämmt und wir – ein paar Obdachlose und ich – uns in einem Kriechboden verstecken mussten. Einmal harrten Merten und ich sechs Stunden in unserem Gefängnis aus, und ich war kurz davor, mich auf den Boden zu werfen und schreiend um mich zu treten.

Fast genauso ungern hielt ich mich in unserem Zimmer im ersten Stock auf. Aus einem mir unerfindlichen Grund roch der Kleiderschrank wie mein Schrank zu Hause. Es war zum Verrücktwerden, sobald ich ihn öffnete, dachte ich: Da bin ich wieder, auf Xanadu, und alles war nur ein böser Traum. Doch es war kein Traum. Ich war auf dieser verdammten Insel gelandet. Arkadia. Abgeleitet von Arkadien, was – so hatte Zoe mir erklärt – so viel bedeutete wie Land der Seligkeit und des Glücks. Mit anderen Worten: ein Paradies. Früher, als Arkadia noch eine Ferieninsel gewesen war, mochte das sogar gestimmt haben, und wunderschön war es hier noch immer: von Sonnenlicht durchtanzte Kiefernwäldchen, Dünen und Silberpappeln und Strandhafer und Dickichte aus hutzeligen Eichen, im Westen und Osten ein fast weißer Sandstrand, im Norden und Süden eine bewaldete Steilküste mit winzigen Buchten. Das alles konnte ich von meinem Fenster aus sehen. Aber nach dem Amoklauf des depressiven Jugendlichen hatte man die Insel samt Ferienanlage mehr oder weniger sich selbst überlassen. Wie es um die Backsteinhäuser der Flüchtlinge bestellt war, wusste ich nicht, aber unser Haus, das Hauptquartier, war klein und feucht, Türen und Fenster schlossen schlecht, der Putz rieselte von den Wänden, ab und zu kam ein Stück Decke herunter, eine Stufe brach ein oder eine Scheibe fiel aus ihrem morschen Rahmen. Der handwerklich begabte Nick reparierte notdürftig, was möglich war, sonst kümmerte sich niemand um das Haus. Zumindest das verschaffte mir eine Aufgabe. Estrella und Teddy meinten zwar, ich sollte mich erholen, aber ich zog es vor, zu putzen und aufzuräumen. Ich nähte Vorhänge, flickte Bettzeug, wachste die Holzmöbel und versuchte, mich mit unserer gemeinsamen Behausung anzufreunden. Ich wollte gern hier wohnen. Doch ich schaffte es nicht. Es waren nicht die zugigen Flure oder die kaputte Heizung, die mich störten, auch nicht, dass es keine Badewanne gab oder die Waschmaschine nur sporadisch funktionierte, kaum jemals frisches Obst auf den Tisch kam, wir uns mit Kernseife wuschen oder der Heißwasserboiler manchmal lief und meistens nicht. Was mich störte, war die Tatsache, dass ich eingesperrt war. Wieder einmal. Auf Arkadia lebte ich noch isolierter, in einem noch enger umgrenzten Gebiet als in Elysium.

Eine FIP, auch in Estilien.

Unerwünscht.

Und dann die fruchtlosen Treffen in der Zentrale; die Diskussionen, wie man in Eden eindringen könnte. Die Zusammenkünfte endeten jedes Mal mit Streit und Frustration und der Erkenntnis, dass es schlichtweg keine Möglichkeiten gab. Mit jeder Stunde, die verstrich, rückte der Tag des Orakels näher. Die Angst um meine Schwester wuchs. Was, wenn das Orakel ihr einen Wert unterhalb der Nulllinie verpasste?

Nicht minder entmutigend waren meine Versuche, das Hauptquartier wenigstens für kurze Zeit zu verlassen. Eines Morgens bekam ich während des Frühstücks mit, dass Leonie und Zoe mit der Fähre aufs Festland wollten, um eine weitere Ladung Kleiderspenden abzuholen. Ich bettelte sie geradezu an, mich mitzunehmen.

»Ich muss hier einfach raus, sonst dreh ich durch, ich bleib auch auf dem Schiff, versprochen, bitte, ich …«

»Kommt überhaupt nicht in Frage«, schnitt mir Zoe das Wort ab. Sie klang ruhig und bestimmt. »Die Gefahr, dass du erkannt wirst, ist einfach zu groß.«

»Und du?«, platzte ich heraus. »Dich können sie auch erkennen, du wirst auch gesucht! Oder glaubst du, deine alberne Sonnenbrille genügt als Tarnung? Dann will ich auch eine Sonnenbrille! Oder eine Atemmaske! Oder …«

»Mein Gesicht ist seit Ewigkeiten nicht mehr in der Presse oder im Fernsehen aufgetaucht – im Gegensatz zu euch. Du und Merten, ihr seid in den Medien noch viel zu präsent.«

»Fenja, hör zu, es ist ein Riesenglück, dass man uns noch immer in Nordland vermutet«, versuchte Merten mich zu besänftigen. »Das dürfen wir nicht aufs Spiel setzen. In den Katakomben verschollen. Tot, mit anderen Worten. Das ist das Beste, was uns passieren kann.«

Ich hätte ihm am liebsten eine geknallt. Das Beste, ja? Für mich war es nicht das Beste. Und für meine Familie auch nicht. Und falls Rasmus angesichts ihrer Trauer sein Schweigen brach und ihnen verriet, was in den Katakomben wirklich geschehen war, wäre es ganz sicher nicht das Beste.

Alle schauten mich an. Unbeherrschte Fenja. Kindische Fenja. Ich schluckte meinen Zorn hinunter, beendete mein Frühstück, verließ grußlos die Küche und stieg in das verhasste Zimmer im ersten Stock hinauf.

Vom Fenster aus beobachtete ich, wie sich Leonie und Zoe mit dem Offroader auf den Weg zu Arkadias winzigem Hafen machten. Ich hörte das Rauschen der Wellen in der Ferne, dann den Knall einer Fehlzündung; Estrella schraubte vor dem Haus an ihrem Mofa herum. Aus dem Flüchtlingslager wehte Gelächter herüber.

Die Flüchtlinge. Zu ihnen zog es meinen Blick immer wieder. Von Estrella wusste ich, dass es in dem Lager schon mehrere Prügeleien und einige Messerattacken gegeben hatte. Auch Diebstahl war ein Problem. Trotzdem hätte ich lieber dort gewohnt, wäre lieber eine von ihnen gewesen. Die Flüchtlinge konnten sich frei auf der Insel bewegen, konnten zum Hafen oder in der Frühlingssonne spazieren gehen, sie durften sich treffen, wo und mit wem sie wollten, konnten Geburtstage und alles Mögliche feiern und um ein Lagerfeuer sitzen …

Putzen und aufräumen. Eine tolle Aufgabe. Ich fühlte mich nutzlos und überflüssig, und vielleicht war das mein Hauptproblem. Bis zu meiner Ankunft auf Arkadia hatte ich mir selbst geschmeichelt, dass ich etwas Außergewöhnliches geschafft hatte. Und das hatte ich ja vielleicht auch. Aber jetzt hatten andere das Ruder übernommen, und ich musste mich fügen.

»Hilf Teddy im Küchengarten«, hatte Zoe vorgeschlagen. Doch ich hatte keine Lust auf Gartenarbeit. Ich war nicht aus Elysium entkommen und durch Nordland geflohen, um Kartoffelbeete umzugraben. Merten und Severin kämpften mit Medusa und Farlands Kommunikationsnetz, die anderen kümmerten sich um das Lager oder studierten die Dateien, die Merten aus dem Kolleg rausgeschmuggelt hatte, oder sie brüteten über irgendwelchen Plänen, falls sie nicht gerade aufs Festland fuhren. Sie hielten mich aus allem raus. Als trauten sie mir nichts zu. Als sei mir die Flucht durch Nordland nur gelungen, weil Merten an meiner Seite war.

Das alles hätte mich wütend machen müssen, und Wut war auch da, aber vor allem begann ich, mich klein und unwichtig zu fühlen. Besonders dann, wenn sich Zoe im selben Raum aufhielt, Zoe, die Anführerin des inneren Zirkels, vernünftige Zoe, erwachsene Zoe … Ich sagte mir, dass es keine Rolle spielte und keine Bedeutung hatte, welchen Wert das Orakel ihr vor Jahren zugesprochen hatte, irrsinnige 99 Prozent, oder welchen Wert mir. Unter null.

Aber es spielte eine Rolle. Für mich.

Wirklich gern war ich nur mit Estrella zusammen. Oft werkelten wir still nebeneinander in der Küche, oder ich begleitete sie ins Büro und half ihr, die Flüchtlingsunterlagen zu sortieren, oder wir gingen hinunter ans Meer. Mit ihrem struppigen Haar und ihrer forschen Art erinnerte sie mich an Romilda, auch wenn sie ruhiger und besonnener war. Sie roch immer nach einer Mischung aus Vanille und Motoröl, Honig und Gummi: Estrella, Expertin für Süßspeisen und Mofas. Als sie mitbekam, wie gern ich Pfannkuchen aß, kamen sie fast täglich auf den Tisch. Die anderen beschwerten sich, aber sie zuckte nur die Schultern. »Macht euch halt ein Butterbrot.« Solange ich Pfannkuchen essen wollte, würde sie Pfannkuchen backen, Punkt. Für sie war ich so etwas wie eine erschöpfte Heldin, die wieder aufgepäppelt werden musste.

Doch oft genug hatte auch sie keine Zeit für mich. Dann ging ich wieder allein über das harte Gras und den weichen Sand bis zu der von Klippen umschlossenen Bucht, planschte mit den Füßen durchs Wasser, setzte mich auf einen Stein und schaute den Wellen zu. Wenn erst der Sommer käme, würde ich schwimmen gehen und …

Wäre ich im Sommer noch hier? Wie lange musste ich auf Arkadia bleiben?

Am Strand, mit dem Blick auf das graublaue Wasser, war mir das manchmal fast egal. Kleine Wellen leckten über den Sand und über meine Zehen. Das Meer und die Wellen waren da, und ich war es auch. Ich war am Leben. Mein Atem ging ruhig und gleichmäßig. Wenn das Wasser an den Strand schlug und ich das Salz schmeckte und das Sonnenlicht auf dem Meer glitzern oder die Regentropfen darin verschwinden sah, war ich im Frieden mit mir, dann war ich an dem Ort, an dem ich sein wollte.

Ich nahm Dinge mit, die ich am Strand entdeckte. Ein Stück Treibholz, das wie ein kleines Pferd aussah. Man brauchte etwas Phantasie, aber dann war es eindeutig ein Pferd. Wehmut überkam mich, wenn ich es betrachtete, denn es erinnerte mich an das Abschiedsgeschenk meines kleinen Bruders. Ich beklebte es mit Krebsschalen und Glasscherben, auch sie Fundstücke vom Strand. Ich steckte Zweige und Büschel aus Strandhafer in leere Flaschen, fädelte Muscheln und Steine mit Loch an einer Schnur auf, versuchte mit allen Mitteln, mich von den Gedanken abzulenken, die immer häufiger nach Elysium und zu Romilda und Orlando zurückkehrten. Oder zu Leane. Die Zeit lief. Und lief. Und nichts geschah.

Der Tag kam, an dem das Meer mich nicht mehr beruhigen konnte und ich mich vor dem Fernseher wiederfand. In der Küche, die gleichzeitig unser Ess- und Wohnzimmer war, flimmerte er den ganzen Tag und oft genug auch in der Nacht. Manchmal blieb der Ton weg, ein Bild kam fast immer. Ich hatte mir nie etwas aus Fernsehen gemacht; hier, auf Arkadia, entdeckte ich es als Mittel gegen die Angst, die Hilflosigkeit, das Gefühl des Ausgeliefertseins. Ich begann auch wieder, Süßigkeiten zu stehlen, bediente mich heimlich aus der Küchenschublade und hortete die Schokolade hinten in dem Kleiderschrank, der nach Xanadu roch.

Wie lange noch, bis das Orakel in die Luft flog, ich die Insel verlassen konnte, endlich alles anders wurde? Ich wollte mein Leben wieder an einem Ort leben, für den ich mich freiwillig entschieden hatte. Aber wo sollte das sein? Estilien wollte mich nicht. Und in meine Heimat konnte ich nicht zurück.

Es ist nicht mehr deine Heimat.

Wo war mein Zuhause? Wo waren die Menschen, die zu mir gehörten? Merten. Er gehörte zu mir. Das Problem war: Es fühlte sich nicht so an. Hier auf der Insel hatte er kaum Zeit für mich. Entweder schloss er sich mit Severin und Medusa ein, oder er diskutierte mit den anderen die Pläne, die uns ein Eindringen in Eden ermöglichen sollten und die allesamt undurchführbar waren. In unserem Zimmer nahm er mich zwar in die Arme, war aber nie wirklich bei mir. Und ich, ich war auch nicht bei ihm. Und sowieso platzte alle paar Minuten jemand herein. Meistens sogar, ohne vorher anzuklopfen. Alles war immer schrecklich dringend: Sev hatte eine neue Idee zu Medusa, Teddy suchte irgendwelche Computerausdrucke, Zoe fragte nach weiteren Einzelheiten über Eden, das Programm oder sonst etwas. Nirgends hatten wir Ruhe, ständig polterte jemand durch die Flure, brüllten Stimmen durchs Haus, plärrte das Radio im Erdgeschoss, piepten, klingelten, jaulten Telefone, Pads und Computer, wollte irgendwer irgendwas von irgendwem. Acht Leute auf 130 Quadratmetern. Im Vergleich zu Elysium zwar eine Verbesserung, für unsere Beziehung aber die Hölle.

Nach wie vor wollte Merten nicht über das reden, was ihn mit Zoe und Nick verband. Er hatte um Zeit gebeten. Klar. Alle verlangten nach Zeit. Wartezeit, Vorbereitungszeit, Bedenkzeit, Planungszeit.

»Wir haben keine Zeit, verdammt noch mal!«, schrie ich, als er wieder einmal Geduld von mir verlangt hatte. »Leane nicht, Romilda nicht, Orlando und Nuja nicht. Keine FIP, die in Eden sitzt, hat Zeit!«

Ich knallte die Tür zu, polterte die Treppe hinunter und warf mich vor den Fernseher, von dem ich inzwischen beschämend abhängig war. Wütend drückte ich auf der Fernbedienung herum, bis ich bei den Love Hunters landete. Mitten in einem Streit zwischen Selina und Rimaud, den beiden Protagonisten, verabschiedete sich das Gerät. Sendeausfälle waren auf der Insel an der Tagesordnung, doch diesmal rastete ich völlig aus. Ich drosch auf den Apparat ein, feuerte die Fernbedienung durch die Küche und begann zu heulen. Als ich damit fertig war, kochte ich mir einen Tee und dachte nach.

Was ich brauchte, war ein Programm. Kein Fernsehprogramm. Mein eigenes.

Anfang der dritten Woche. Aufstehen um sieben, kalte Dusche, dann eine Stunde Sport, um wieder richtig fit zu werden. Ich hob Gewichte, lief zum Strand und zurück, immer auf und ab, schwamm im eiskalten Meer bis zu dem Stahlnetz zwischen den Klippen. Nach dem Frühstück grub ich mit Teddy die neuen Gemüsebeete um. Oder ich half Estrella in der Küche. Oder ich erledigte mit Nick ein paar dringend notwendige Renovierungsarbeiten, falls wir nicht an den Möbeln im Untergeschoss herumzimmerten. Den Fernseher hatte ich mir verboten. Zu viel Nachdenken auch.

»Wir könnten einen Hindernisparcours für dich aufbauen«, sagte Merten eines Morgens beim Frühstück. »Wie auf dem Phönix-Kolleg. Und sobald mein Fuß wieder in Ordnung ist, mache ich mit.«

Wie auf dem Phönix-Kolleg. Ich hörte seine Worte noch, nachdem er die Küche längst verlassen hatte. Konnte das sein? Hatte ich mir mein eigenes Phönix-Programm auferlegt?

An diesem Tag mochte ich keine Kartoffeln schälen und kein Gemüsebeet jäten. Zum ersten Mal setzte ich mich vor den alten Bürocomputer und vertiefte mich in die Unterlagen, die der Widerstand im Laufe der Jahre über das Orakel zusammengetragen hatte. Wann hatte alles seinen Anfang genommen? Was hatte zum Orakel, zu Elysium, dem Phönix-Programm geführt?

Überquellende Gefängnisse. Psychiatrien, die aus allen Nähten platzten. Gewalt, Korruption, finstere politische Machenschaften, die die Gesellschaft immer stärker durchdrangen. Gründe für eine Veränderung gab es genug. Aber je mehr ich las, desto stärker wurde das Gefühl, dass der eigentliche Grund für das Orakel ein anderer gewesen war.

Sie hatten das Orakel entwickelt, weil es möglich gewesen war.

Das Orakel begeisterte die Wissenschaftler: ein Instrument, um eine optimierte Gesellschaft zu erschaffen, getragen von optimierten Menschen. Fast schon perfekten Menschen. Menschen, die auf der Sonnenseite standen. Das Soziale, Kulturelle und Ökologische, endlich in den Mittelpunkt gerückt. Mit Hilfe des Orakels ließ sich erkennen, wer eine solche Gesellschaft stützen und bereichern – und wer sie schädigen würde. Das Orakel würde die Spreu vom Weizen, das Dunkle vom Hellen, den Schatten vom Licht trennen. So weit, so gut. Wie aber sollte man mit den Schattenmenschen verfahren? Förderprogramme wurden entwickelt, ein Förderzentrum aufgebaut. Alles zu dem Zweck, das positive Potenzial der Schattenmenschen zu wecken. Manche schafften es und wurden Sonnenmenschen. Und die, die im Schatten blieben? Nun. Die blieben dann eben auch im Förderzentrum. Nur dass sie nicht mehr gefördert, sondern nur noch untergebracht wurden.

Elysium, ein Gefängnis wie in alten Zeiten? Der Vorwurf wurde immer wieder laut. ProFIP tat sich in dieser Diskussion besonders hervor: Bürger von Farland, eingesperrt und unter Aufsicht, und das lebenslang! Das Thema wurde in den Medien erörtert, doch ProFIP fand in der Bevölkerung wenig Gehör. Hatten die FIP nicht drei Jahre lang die Chance, sich in den Griff zu kriegen? Wenn sie das nicht schafften, sollte man sie da etwa zurück nach Hause schicken – Zeitbomben, die jederzeit explodieren konnten?

Man durchdachte verschiedene Alternativen und traf schließlich ein Abkommen mit Nordland. Jede FIP, die dreimal durch die Nachprüfung rasselte, sollte Elysium verlassen dürfen. Sofern sie nicht in Eden saß. Und sofern sie Elysium Richtung Nordland verließ.

Ich starrte auf den Bildschirm. Warum? Warum nicht gleich alle FIP über die Grenze nach Nordland abschieben, sobald das Orakel sie ausmusterte? Warum der ganze Aufwand mit Elysium, dem Phönix-Kolleg, dem Programm, den Nachprüfungen?

Weil in Farland niemand aufgegeben wurde. Jedenfalls nicht sofort. Jeder bekam seine Chance.

Ich schaltete den Computer ab. Lange saß ich da und starrte aus dem Fenster, ohne etwas zu sehen. FIP. Elysium. Eden. Welche Alternativen konnte es geben? Was sollte nach dem Orakel kommen? Ich hatte keine Antwort auf diese Fragen. Vielleicht – und der Gedanke machte mir wirklich Angst – hatte niemand Antworten darauf. Vielleicht würde es immer nur Fragen geben.

Langsam stand ich auf und ging in die Küche. Nicht, um die Antworten von jemandem einzufordern. Einfach, um mit meinen Gedanken nicht allein zu sein. Doch in der Küche war bloß der Fernseher, den Merten wieder in Gang gebracht hatte. Ich räumte die Frühstücksreste weg und spülte das Geschirr. Als ich die letzten Teller abtrocknete, kam Severin herein.

»Hallo, Fenja. Noch Kaffee da?«

Ich reichte ihm die Kanne.

»Alles in Ordnung mit dir?«, fragte er.

»Ja. Ich weiß nicht.«

»Was ist los?«

»Ich packe das hier nicht«, platzte ich heraus und kam mir im selben Augenblick kindisch und undankbar vor.

Er zögerte, dann stellte er die Kanne ab und legte mir einen Arm um die Schulter. »Komm mit.«

Er führte mich in sein winziges Zimmer, das neben einem schmalen Bett und einem Regal voller Aktenordner und Bücher von einer aufgebockten Sperrholzplatte ausgefüllt war. Auf dem improvisierten Schreibtisch drängten sich Monitore, Tastaturen und jede Menge kleiner Geräte, von denen ich keine Ahnung hatte, welchem Zweck sie dienten. Es interessierte mich auch nicht; für Computer hatte ich mich nie begeistern können. Viel bemerkenswerter fand ich die Vorhänge am Fenster, dunkelgrün, mit naiv dargestellten Dschungeltieren: lächelnde Löwen, großäugige Giraffen, langwimprige Elefanten. Severin sah meinen Blick und lachte. »Die hab ich aus Farland mitgebracht. Sie hingen schon in meinem Kinderzimmer. Ich hab es nie über mich gebracht, sie wegzuwerfen.«

»Warum hast du Farland verlassen?«

»Weil ich etwas gegen das Orakel tun wollte. Und weil ich wusste, dass mir das von Farland aus nicht gelingen würde. Aber so leicht lässt dich Farland nicht vom Haken. Von Zeit zu Zeit wünsche ich mich noch immer dorthin zurück. Es war auch ein gutes Leben, weißt du?«

Ich schluckte. Mir war zum Heulen zumute. Hastig sagte ich: »Wo ist Merten? Ich dachte, ihr arbeitet hier zusammen an deiner Medusa.«

»Er ist mit Teddy und Zoe unten in der Zentrale. Sie wollen die Reihenfolge abstimmen, in der sie die Informationen über das Phönix-Programm rausgeben. Das heißt: wenn es so weit ist.«

»Dann dauert es noch?«

»Ja. Farlands Kommunikationsnetz hat praktisch keine Lücken.«

Er wies auf einen der beiden Schreibtischstühle. »Mach’s dir bequem.«

Wir setzten uns.

»Und Medusa?«, fragte ich.

Er zuckte die Schultern. »Wild und bissig. Das Ziel kommt zwar in Sichtweite, aber einen Termin kann ich noch nicht nennen. Gab’s in deiner Nachbarschaft auch ein Kind mit Segelohren?«, fragte er unvermittelt.

»Wie bitte?«

Er legte die Hände hinter seine Ohrmuscheln und klappte sie nach vorn. »Mit zwölf Jahren ließ ich mich operieren. Als ich aus dem Krankenhaus wiederkam, dachte ich, jetzt würde sich alles ändern und ich würde endlich dazugehören. Aber so war es nicht.« Er legte den Kopf schief. »Was ist mit dir, Fenja? Hast du in Farland dazugehört?«

Ich sagte mir, dass ich mit Severin reden, es wenigstens versuchen sollte. Er war einer, der zuhörte, statt innerlich mit den Hufen zu scharren und nur darauf zu warten, dass sein Gegenüber die Klappe hielt, damit er selbst loslegen konnte. Doch wo sollte ich anfangen?

Ich schaute auf seine Füße, die nackt und riesig in sandfarbenen Sandalen steckten. »Letzte Nacht hatte ich einen Traum.«

»Erzähl, worum ging es?«

Ich hob den Kopf. Severin lümmelte gemütlich in dem beigebraunen Schaffell seines Schreibtischstuhls, die großen Hände hatte er bequem auf die Lehnen gelegt. Verblüffend kräftige Hände. Genau wie der Rest von ihm. Computerexperten hatte ich mir immer blass, weich und schlapp wie diese Pilze vorgestellt, die in dunklen Kellern am besten gedeihen. Severins Hände – und auch seine Füße – sahen so aus, als wären sie an etwas gewöhnt, was man im Freien tat. Sein Haar war vorzeitig ergraut, aber glänzend und dicht. Über dem linken Mundwinkel hatte er eine winzige Kerbe. Gab es jemanden, jetzt oder in der Vergangenheit, der mit dem Finger zärtlich darüber strich?

»Ich habe von zu Hause geträumt«, sagte ich vorsichtig. »Rasmus kam in dem Traum vor.«

»Dein Ex-Freund, ja? Ich habe ihn im Fernsehen gesehen.«

»Er war in dem Traum und … und er war wie für mich gemacht. Kennst du das? Träume, die besser sind als das Leben?«

»Ich erinnere mich selten an meine Träume. Ich würde es gern besser können, aber ich schaffe es fast nie.«

»Vor Elysium kannte ich solche Träume nicht. Träume, die mir lieber sind als die Wirklichkeit.« Meine Schultern schmerzten vor Anspannung.

Severin lehnte sich mir entgegen. »Welches Gefühl hat der Traum in dir geweckt?«, fragte er sanft.

»Er hat mich traurig gemacht.« Ich blickte auf meine Fingernägel. »Ich habe Angst, dass es nie wieder so wird, wie es mal war. Ich dachte, ich hätte das Schlimmste hinter mir, aber das stimmt wohl nicht. Ich bin traurig, weil ich Rasmus nie wiedersehen werde und meine Familie auch nicht; traurig, weil ich sie alle verloren habe. Das Leben mit ihnen.«

»Nichts ist schlimmer, als glücklich gewesen zu sein und es zu merken«, sagte Severin leise. »Ungefähr so hat es ein Gelehrter und Politiker der späten Antike ausgedrückt.«

Ich nickte. »Ich habe Angst, dass ich nie wieder glücklich sein werde. Oder auch nur zufrieden. Dass zu viel passiert ist. Jedes Leben hat seine beste Zeit, seinen … seinen Berggipfel. Ich habe Angst, dass der Gipfel schon hinter mir liegt.«

»Kommt Merten in deinen Träumen vor?«

Ich traute mich nicht zu antworten. Zu groß war meine Angst, vor Severin in Tränen auszubrechen. »Ich weiß nicht, wie es um dich und Merten steht, Fenja, aber ich vermute, dass Arkadia euch nicht bekommt. Und das hat nichts mit dir zu tun. Weißt du das?«

»Ich hatte es gehofft«, flüsterte ich.

»Hat er mit dir über die Vergangenheit gesprochen?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Er hat dir nichts erzählt?«

»Nein. Kannst du es mir erzählen?«

»Ich fürchte, das steht mir nicht zu. Merten muss schon selbst mit der Sprache rausrücken. Und ich finde, er sollte nicht mehr allzu lange damit warten«

Als ich Merten später beim Mittagessen wiedersah, ging es um etwas ganz anderes. Dachte ich jedenfalls. Während wir Estrellas Bohneneintopf löffelten und sie selbst ihr ganz eigenes Spezialgericht genoss – eine Plünderung der Keksdosen –, wurde eine lebhafte Diskussion darüber geführt, in welcher Form Farland die Wahrheit über das Phönix-Programm und über Elysium erfahren sollte.

Zoe und Teddy stellten einen kleinen Film vor, den sie zusammengeschnitten hatten: Archivaufnahmen, die das Kolleg und den Rest von Elysium zeigten, einschließlich Klinikum, Zentraler Versorgungsstelle und Wertstoffpark. In den Filmsequenzen präsentierte sich Elysium von seiner Schokoladenseite, man hätte die Anlage glatt mit einem Ferienressort oder einer Erholungsklinik verwechseln können.

»Wenn wir das mit der Wahrheit über das Programm kombinieren, wirkt es umso grotesker«, freute sich Teddy. »Das kapieren dann sogar die Leute in Farland.«

Teddy und Zoe hatten hervorragende Arbeit geleistet, trotzdem sackte meine Laune immer tiefer in den Keller. »Keine Aufnahmen vom Schlachthof?«, fragte ich mit belegter Stimme. »Oder von Zimmer 7, dem Sterbezimmer? Ist das der neue Plan: Farland das Schlimmste ersparen?«

»Von beidem existieren keine Filmdokumente«, erwiderte Zoe. »Aber wir können versuchen, Aufnahmen aus anderen Schlachthöfen zu bekommen, aus Nordland zum Beispiel oder …«

»Dann tut das doch gefälligst!«, rief ich.

Alle schauten mich an. Zoe legte ihr Besteck nieder. »Was ist los, Fenja? Was genau stört dich an unserer Idee?«

Mir platzte der Kragen. »Was mich stört? Ihr redet, als sei alles längst entschieden, als stünde schon fest, dass wir es genauso machen, wie du es willst. Wir zeigen diese Bilder und spülen das Virus im Klo runter, weil wir sowieso nicht versuchen werden, das Orakel zu vernichten. Warum sprichst du es nicht endlich offen aus?«

»Das ist doch Unsinn, Fenja«, versuchte Merten dazwischenzugehen. »Du unterstellst Zoe da etwas, das überhaupt nicht stimmt. Wir arbeiten nach wie vor parallel an zwei Plänen. Und wir entscheiden gemeinsam …«

»Orlando!«, rief ich. »Romilda! Nuja! Sie haben keine Zeit mehr! Und meine Schwester auch nicht. Was, wenn das Orakel sie ausmustert? Oder meinen Bruder? In ein paar Jahren ist Bertil dran, aber das kann euch ja scheißegal sein!«

»Merten und ich tun unser Bestes«, sagte Severin leise. »Wir arbeiten unter Hochdruck. Mehr geht nicht.«

Ich hörte kaum hin. »Was glaubt ihr, wie sie Leane in Elysium empfangen? Meint ihr, die schenken ihr Rosen und ein paar Extrapunkte, weil sie so eine tolle Schwester hat?« Ich fuhr mir mit der Hand über die Augen. »Warten. Warten. Ich kann das nicht mehr.«

»Weil du deine persönlichen Ziele nicht zurückstellen willst. Das ist dein Problem.« Zoes Stimme klang ruhig, aber ihre Wangen glühten, als hätte jemand ein Feuer unter ihrer Haut angezündet. »Wenn du für den Widerstand arbeiten willst, musst du deine eigenen Interessen der gemeinsamen Sache unterordnen.«

Ich funkelte sie an.

Merten berührte meine Hand. »Ich kann dir Dutzende von Menschen nennen, denen ein hoher Wert zugesprochen wurde, obwohl sie einen Bruder oder eine Schwester in Elysium hatten.«

»Zum Beispiel dein Bruder?« Tränen brannten in meinen Augen. »Für dich ist es leicht, so zu reden, du hast keine Geschwister mehr in Elysium.«

Merten zog seine Hand zurück. Ich sackte zusammen wie ein angestochener Hefeteig. »Tut mir leid«, flüsterte ich beschämt.

Er nahm sich spürbar zusammen. »Ist schon gut.«

Nick brach ein Stück Brot ab und tunkte es in seinen Eintopf. »Es gibt keinen Grund, aus dem Leane in Elysium landen sollte. Es sei denn, du hängst der Theorie der Union an. Dass die Tendenz, eine FIP zu werden, erblich ist und man sie wegzüchten muss und dieser ganze Scheiß. Erzähl mir nicht, dass du so denkst, Fenja. Das ist was für Leute, denen man das Gehirn weggezüchtet hat.«

»Nick«, sagte Zoe leise.

»Wer hat denn je bewiesen, dass die Union sich irrt?«, fragte ich verzweifelt.

Estrella hielt mir ihre Keksdose hin. »Nimm dir mal einen. Das beruhigt. Zu der Erbguttheorie gibt es Hunderte von Untersuchungen. Und keine einzige stützt diesen Schwachsinn.«

»Was die Union behauptet, hat nichts mit Wissenschaft oder Logik zu tun«, sagte Nick. »Das sind sozial motivierte Feindseligkeiten. Aufgestaute Aggressionen gegen die, die anders sind.«

»Ach.« Merten klang ruhig, aber ich hörte seine Stimme zittern. »Du findest also, FIP sind anders?«

Nick runzelte die Stirn. »Das hab ich nicht gesagt.«

»Aber vielleicht gemeint.«

Nick schloss die Faust um sein Brot und zerquetschte es zu Krümeln. »Und was meinst du, Merten Jakobeit? Dass ich mit den FIP nichts zu schaffen haben will? Dass ich mich für was Besseres halte? Dass ich der Union heimlich Fanbriefe schreibe? Ausgerechnet du solltest …«

Zoe schlug mit der Hand auf den Tisch. Teller und Bestecke hüpften. »Hört auf! Alle beide, sofort!«

Schweigen. Merten trommelte mit den Fingern auf den Tisch, dann stieß er seinen Stuhl so heftig zurück, dass er umkippte.

»Merten«, sagte Zoe. »Bleib bitte hier.«

»Danke, mir ist der Appetit vergangen.«

Ich wollte ihm folgen, doch Zoe legte mir eine Hand auf die Schulter. »Lass ihn, Fenja.« Sie drückte mich zurück auf den Stuhl. »Lass ihn jetzt allein.«

Ich setzte mich wieder. Sie nahm ihre Hand weg und sah Nick an. »Ich will mit dir reden. Nach dem Essen.«

»Von mir aus.« Er stand auf und verließ ohne ein weiteres Wort die Küche.

Zoe seufzte, schob ihren halb aufgegessenen Eintopf beiseite und ging ihm nach. Wir anderen sahen uns an.

»Puh«, sagte Teddy.

»Allerdings«, sagte Estrella. »Mannomann.«

»Freundschaft«, meinte Leonie, »ist eben nichts, das sich automatisch einstellt, nur weil man für dieselbe Sache kämpft.«

Die Union

Merten ließ sich erst gegen Abend wieder in der Küche blicken. Das Fernsehprogramm versprach uns ein weiteres Interview zum Fall Fenja. Merten und Nick hielten weiten Abstand voneinander. Während Estrella Kekse verteilte, fummelte Severin an dem Fernsehapparat herum, der mal wieder Zicken machte. Zoe saß rittlings auf einem Stuhl, nippte an einer Flasche Bier und beobachtete uns aufmerksam.

Zögernd setzte ich mich neben Merten auf das Sofa. Er legte einen Arm um mich. Erleichtert lehnte ich den Kopf an seine Schulter, und das Unbehagen, mit dem ich dem Interview entgegenblickte, wurde etwas gemildert.

Endlich brachte Severin das Gerät in Gang – und ich erstarrte. Ein Kerzenmeer und Berge von Blumen vor der Einfahrt von Xanadu, unserem Gut. Es folgten ein paar Bilder von einer Gedenkveranstaltung an meiner Schule. Dann ein kurzer Schwenk auf den Rathausplatz von Ganborn, wo einer unserer Stadtverordneten in ein Mikrofon sprach und das Vorgehen der Hüter heftig kritisierte. Im Hintergrund hatte sich ein Demonstrationszug versammelt. »Gehetzt, gejagt, in den Tod getrieben«, stand auf einem Transparent zu lesen. Wie gelähmt saß ich da und stierte auf den Bildschirm. Dann blickte mich plötzlich Romilda an.

Das Interview fand in einer Luxussuite statt, eingerichtet mit allem Komfort. Geschmackvolle Aquarelle hingen an den Wänden. Ich sah einen riesigen Wandbildschirm, eine Musikanlage und eine zum Wohnraum hin offene Küche, inklusive mannshohem Kühlschrank und blitzendem Hightech-Herd. Damit war klar, dass sich Romilda bereit erklärt hatte, an den Versuchen teilzunehmen. Lässig saß sie in einem Sessel, die Beine über die Lehne gelegt. Sie sah gesund und hübsch aus und platzte vor Selbstbewusstsein. Ihr Lächeln wirkte entspannt, ihre Gesten waren lebhaft. Auch Juditta, die das Interview führte, kam mir lockerer vor als sonst. Sie strahlte geradezu. Es war dieses Leuchten, das ich schon oft bei Schwangeren gesehen hatte. Der Bauch unter ihrem hoch taillierten Kleid war eine pralle Kugel.

»Schön, Sie wiederzusehen, Romilda.« Juditta klang respektvoll, offensichtlich war sie bemüht, ihr Gegenüber für sich einzunehmen. »Sie waren auf dem Phönix-Kolleg mit Fenja Mobi befreundet. Inzwischen steht ja praktisch fest, dass Fenja in den Katakomben von Helvana zu Tode gekommen ist. Wie geht es Ihnen mit dieser Nachricht?«

»Wie’s mir geht? Super.«

Juditta blinzelte. »Ihre Freundin ist tot, und Ihnen geht es super?«, fragte sie behutsam.

Romilda hob die Hände. »Ich sage nicht, dass sie tot ist. Sie behaupten das. Wollen Sie hören, wovon ich überzeugt bin?«

»Unbedingt.«

»Fenja ist gesund und munter. Wahrscheinlich sitzt sie gerade gemütlich vor einem Fernseher und guckt sich dieses Interview an.«

Merten lachte. »Sie ist gut.«

Romilda winkte in die Kamera. »Ich bin echt stolz auf dich, Fenja. Du machst das toll.«

Juditta lächelte. »Warum sind Sie so sicher, dass Fenja lebt?«

»Ich kenne sie eben. Im Phönix-Kolleg dachten alle, sie sei naiv. Kelvin und Undine und die anderen Idioten. Aber das stimmt nicht. Fenja ist kein bisschen naiv. Okay, sie wusste nicht viel über Farland und so. Doch sie hat was im Kopf. Und sie weiß, wie sie ihren Kopf benutzen muss. Fenja ist eine, die durchkommt.«

»Wie Sie meinen.« Juditta lächelte. »Ehrlich gesagt würde ich auch gern ein bisschen über Sie reden, Romilda.«

»Nur zu.« Romilda lehnte sich entspannt zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf.

»Sie leben nun seit mehreren Monaten in Eden. Bestimmt wissen Sie, dass es Gerüchte über diesen Ort gibt. Finstere Gerüchte.« Juditta blickte sich in der palastartigen Suite um. »Es sieht doch eigentlich sehr nett hier aus.«

»Ich schätze, die Gerüchte beziehen sich nicht auf die Zimmereinrichtung. Wussten Sie, dass man in Eden Versuche mit uns macht?«

»Ja, das ist allgemein bekannt. Es wird in den Medien immer wieder heftig diskutiert.«

»Hm-m«, machte Romilda. »Im Diskutieren sind die Farländer richtig gut.« Sie machte eine Pause. »Aber kann man da wirklich von Gerüchten sprechen?«, fuhr sie im Plauderton fort. »Ich meine: wenn jeder von den Versuchen weiß. Soziologische Versuche. Psychologische Versuche. Und ein paar medizinische Experimente. Weiß das auch jeder, Juditta?«

»Zumindest könnte es jeder wissen. Wenn sich jeder ein wenig informiert.«

»Wie sind Sie denn so informiert?«

»Nun, ich weiß zum Beispiel, dass die Medizin ohne Humanversuche niemals so weit gekommen wäre. Die Geschichte der Medizin ist untrennbar mit solchen Versuchen verbunden.«

»Ja, das haben sie mir hier auch erklärt.« Romilda lächelte, doch das Lächeln erreichte ihre Augen nicht. »Wenn ein neues Medikament zugelassen wird, spielen klinische Studien eine wichtige Rolle. Das ist heute so, das war früher so. Aber einen Unterschied gibt’s: Diese Versuche wurden in der Vergangenheit nicht nur an Freiwilligen durchgeführt.« Sie blickte sich in ihrer Suite um. »Freiwillige«, sagte sie versonnen, griff in die Obstschale auf dem Tisch und nahm sich eine Aprikose. »Wollen Sie auch? Das Essen ist hier echt zum Niederknien. Besser als alles, was meine Mutter mir je aufgetischt hat. In Eden krieg ich, was ich will und wie viel ich will. Die lesen mir jeden Wunsch von den Augen ab. Weil ich freiwillig mitmache. Wissen Sie, was ich echt interessant finde? Früher waren das vor allem arme Leute, die sich für solche Versuche zur Verfügung gestellt haben. Ein moralisches Problem, finden Sie nicht auch? Nur die Armen wollten ihre Gesundheit freiwillig aufs Spiel setzen. Ohne finanziellen Köder hätte man nie genug Leute zusammengekriegt. Aus purem Idealismus machen das nur wenige. Bei den Organspenden war das früher so. Darum gab’s auch nie genug Nieren.«

»Nun, das ist vielleicht eine Spur übertrieben, Romilda«, sagte Juditta ruhig. »Immerhin musste ja auch früher niemand seinen Lebensunterhalt damit verdienen, dass er an medizinischen Versuchen teilnahm. Aber wenn man sich einen gewissen Luxus leisten wollte, waren die Versuche natürlich eine Option. Oder sehen Sie das anders?«

Romilda schaute sich in ihrer Suite um. Dann zuckte sie die Schultern, spuckte den Aprikosenkern in ihre Hand und legte ihn auf den Tisch. »Haben Sie schon mal von den Versuchen der ersten Kategorie gehört, Juditta? Die sind was ganz Exklusives. Daran nehmen nur ausgewählte FIP teil.« Sie machte die Augen schmal. »Gestern hat mich einer von den Ärzten auf die erste Kategorie angesprochen. Weil ich möglicherweise eine ideale Kandidatin bin. Sie prüfen das noch. Was meinen Sie? Soll ich mich freuen?«

»Ich wüsste nicht, was dagegenspricht.«

Romilda lachte spöttisch. »Nichts. Alle wollen an diesen Versuchen teilnehmen. Weil es danach auf die A geht.«

Juditta lächelte in die Kamera. »Zur Erklärung für unsere Zuschauer: Es gibt drei Stationen in Eden. Die A, die B und die C. Sie waren eine Zeitlang auf Station C untergebracht, nicht wahr?«

»Ja. Weil ich keine Lust auf Versuche hatte. War nicht schön auf der C. Also habe ich’s mir anders überlegt. Die B ist was Feines. Aber die A, die ist das Paradies. Da gibt’s keine Versuche mehr. Da erfüllen sie dir jeden Traum. Also, Juditta: Soll ich mich freuen?«

»Ich finde, es klingt gut.«

Romilda straffte sich. »Jedenfalls klingt es wie etwas, das richtig nützlich für die Gesellschaft sein könnte. Ich kann meinen Beitrag leisten. Das ist wichtig, oder? Ihr alle da draußen«, sie blickte jetzt direkt in die Kamera, »seid doch nur auf der anderen Seite des Zauns, weil ihr nützlich seid. Darum geht’s. Wer bringt es und wer nicht?«

Romilda hatte sich in Rage geredet, und Juditta schien ganz erpicht darauf, das Interview am Laufen zu halten. »Ich glaube nicht, dass es nur darum geht, ob man es bringt«, forderte sie Romilda heraus.

»Hühnerscheiße. Es geht um nichts anderes. In Farland gibt’s zwei Mannschaften. Die einen sind die Guten. Die, die es bringen. Die anderen, das sind die Versager, die Loser, die Störenfriede. Die gehören inzwischen zu einer echt gefährdeten Art. Meine Meinung.«

»Sie glauben, die FIP würden stören?«, fragte Juditta traurig. »Würden wir uns so viel Mühe mit euch geben, wenn ihr nur stören würdet?«

»Ihr gebt euch Mühe, weil ihr uns braucht. Wir sind Leute, die es nicht bringenund trotzdem braucht ihr uns. Was würde Farland ohne uns machen? Da bräuchtet ihr ganz schnell einen neuen Schwarzen Peter. Irgendwen, dem ihr die Schuld an dem Scheiß geben könnt, der so passiert. Männer mit roten Haaren vielleicht. Oder Frauen ohne Kinder. Oder wie wär’s mit einem Elysium für Leute, die Fleisch essen? Ein Elysium für Dicke? Für Dünne? Für die, die keinen Sport treiben? Oder Leute, die schnarchen?«

»Aber das ist doch nicht der Sinn von Elysium«, sagte Juditta besänftigend. »Es geht doch nicht darum, eine Gruppe von Menschen zu bestrafen. Elysium soll helfen. Fördern. Chancen eröffnen.«

»Da muss ich was nicht mitbekommen haben«, erwiderte Romilda.

»Romilda, unsere Sendezeit ist leider um. Ich danke Ihnen für dieses sehr … erhellende Gespräch«, sagte Juditta.

Es folgte eine weitere Folge von Love Hunters. Severin schaltete den Fernseher ab. Niemand sagte ein Wort. Bis Nick mit einem kleinen Lachen meinte: »Diese Romilda würde unseren Laden ganz schön aufmischen. In den Arsch treten würde sie uns. Weil wir noch immer hier rumsitzen und Däumchen drehen.«

Mitten in der Nacht klopfte es an unsere Tür.

»Fenja?«, rief Zoe von draußen. »Merten? Ihr müsst in den Keller.«

Hastig warfen wir unsere Bademäntel über, stolperten die Treppe hinunter, schoben den Schrank beiseite und kletterten in unser Verlies.

Und da saßen wir dann. Eine Stunde. Zwei. Anfangs sprachen wir flüsternd über das Interview und darüber, ob das, was Romilda gesagt hatte, gut oder schlecht für den Widerstand sei. Dann versuchte Merten die Deckenlampe zu reparieren, während ich ein paar Dehnübungen machte. Danach mummelte ich mich auf der Campingliege ein und döste weg.

Details

Seiten
Erscheinungsform
eBook-Lizenz
Jahr
2016
ISBN (eBook)
9783960531999
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (Oktober)
Schlagworte
eBooks Dystopie Orakel Zukunft Liebe Abenteuer Tribute von Panem Gerechtigkeit Trilogie
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Titel: Das Orakel von Farland - Band 3: Eden
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