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Der Kuss des Anubis

Roman

©2017 381 Seiten

Zusammenfassung

Geheime Verschwörung im Alten Ägypten: „Der Kuss des Anubis“ von Erfolgsautorin Brigitte Riebe jetzt als eBook bei jumpbooks.

Sein Schicksal liegt in ihrer Hand … Unfreiwillig belauscht die junge Miu den perfiden Plan, der nur eines bedeuten kann: den Mord am heiligen Pharao Tutanchamun! Um diesen zu warnen, verschafft sich die Tochter eines angesehenen Balsamierers Zugang zum königlichen Hof – nichtsahnend, dass sie dem Goldenen Prinzen in jungen Jahren bereits begegnet ist. Schon bald erweist sich ihr Verdacht als richtig: Am Hofe häufen sich mysteriöse Todesfälle. Während der Pharao um sein Leben fürchten muss, bleibt Miu an seiner Seite, und schon bald entwickeln sich zwischen ihnen zarte Gefühle. Doch dadurch gerät auch Miu in Gefahr – denn langsam entspinnt sich um sie ein Netz aus Intrigen, das sich immer weiter zuzieht.

„Wer wissen will, wie lebendig Geschichte sein kann, der muss mit Brigitte Riebe reden.“ Brigitte woman

Jetzt als eBook kaufen und genießen: „Der Kuss des Anubis“ von Erfolgsautorin Brigitte Riebe. Wer liest, hat mehr vom Leben: jumpbooks – der eBook-Verlag für junge Leser.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Über dieses Buch:

Sein Schicksal liegt in ihrer Hand … Unfreiwillig belauscht die junge Miu den perfiden Plan, der nur eines bedeuten kann: den Mord am heiligen Pharao Tutanchamun! Um diesen zu warnen, verschafft sich die Tochter eines angesehenen Balsamierers Zugang zum königlichen Hof – nichtsahnend, dass sie dem Goldenen Prinzen in jungen Jahren bereits begegnet ist. Schon bald erweist sich ihr Verdacht als richtig: Am Hofe häufen sich mysteriöse Todesfälle. Während der Pharao um sein Leben fürchten muss, bleibt Miu an seiner Seite und schon bald entwickeln sich zwischen ihnen zarte Gefühle. Doch dadurch gerät auch Miu in Gefahr – denn langsam entspinnt sich um sie ein Netz aus Intrigen, das sich immer weiter zuzieht.

Über die Autorin:

Brigitte Riebe, geboren 1953 in München, ist promovierte Historikerin und arbeitete viele Jahre als Verlagslektorin. 1990 entschloss sie sichschließlich, selbst Bücher zu schreiben, und veröffentlichte seitdem über 30 historische Romane und Krimis. Brigitte Riebe lebt mit ihrem Mann in München.

Brigitte Riebe veröffentlicht bei jumpbooks auch das eBook Die Töchter von Granada.

Die Website der Autorin: www.brigitteriebe.de

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eBook-Neuausgabe August 2017

Copyright © der Originalausgabe 2009 cbj Verlag, München

Copyright © der Neuausgabe 2017 dotbooks GmbH, München

Copyright © 2017 jumpbooks Verlag. jumpbooks ist ein Imprint der dotbooks GmbH, München.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Dmytro Buianskyi und des Gemäldes von David Roberts „Temple Island Philae“

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (mh)

ISBN 978-3-96053-202-6

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Brigitte Riebe

Der Kuss des Anubis

Roman

jumpbooks

PROLOG

Alle schienen nur noch zu rennen, als wäre auf einmal der ganze Palast in Bewegung geraten. Türen schlugen auf und zu, knappe Befehle ertönten. Etwas Fiebriges, Ungutes lag in der Luft.

Jetzt wartete sie schon so lange vor dem Raum, in dem ihr Vater verschwunden war, und noch immer war er nicht herausgekommen!

Längst hatte sie aufgehört, die bunten Wandfresken mit ihren Schmetterlingen und Vögeln zu bewundern, und auch die blauen Äffchen, von Ast zu Ast tanzend, so täuschend echt gemalt, als wären sie lebendig, interessierten sie nicht mehr.

Sie wollte nur noch weg von hier, zurück nach Hause, dorthin, wo sie sich endlich wieder sicher und geborgen fühlen konnte.

»Pass doch auf, Kleine!« Ein dunkelhäutiger Mann mit einem großen Wassergefäß wäre beinahe über sie gestolpert. »Hier bist du allen nur im Weg! Kannst du nicht nach draußen gehen, in den Garten? Dort wärst du besser aufgehoben!«

Etwas in seiner Stimme brachte sie dazu, zu gehorchen. Außerdem stand die Tür offen, die zum Garten führte, und ein leichter Sommerwind hatte zarte Duftwolken hereingeweht. Sie machte ein paar zögerliche Schritte, dann jedoch zog es sie unwiderstehlich weiter.

Es wurde angenehmer und kühler, je weiter sie kam. Über ihr hohe Bäume, deren Blätter leise raschelten, vor ihr Beete, in denen rote, weiße und blaue Blumen wuchsen. Wie groß und herrschaftlich hier alles war, verglichen mit dem Garten zu Hause!

Zwischen den Blumen entdeckte sie plötzlich eine Katze. Ihr Fell schien im Sonnenlicht zu lodern, so rot war es, während Beine und Ohren dunkler gezeichnet waren. Ohne nach links und rechts zu schauen, strebte die Katze einem niedrigen Busch zu.

Das Mädchen konnte gar nicht anders, als ihr zu folgen.

»Das wirst du schön bleiben lassen!« Woher war auf einmal dieser rundliche Junge mit den abstehenden Ohren gekommen, der sich ihr in den Weg stellte? Er war ein Stück größer als sie, trug die Jugendlocke, die seinen ansonsten rasierten Kopf schmückte, und schaute sie empört an. »Man stört keine Katzenmutter und ihre Jungen!«

»Sie hat kleine Kätzchen?«, rief das Mädchen. »Kann ich sie sehen?«

»Meinetwegen«, sagte der Junge und schob den Busch auseinander. Da lag sie, die Feuerkatze, und an ihren Zitzen tranken vier Junge, zwei flammend rot wie die Mutter, zwei so dunkel, als hätten die Flügel der Nacht sie gestreift.

»Die gehören alle dir?« Vor Aufregung konnte das Mädchen kaum noch schlucken.

»Natürlich«, sagte der Junge. »Und bald wird mir auch alles andere hier gehören.«

Sie verstand nicht, was er damit sagen wollte, aber das war ihr in diesem Moment auch egal. Alles, was jetzt zählte, waren diese flauschigen Fellbündel, von denen ihr eines der roten besonders gut gefiel, weil es ein wenig zerzaust und damit noch niedlicher aussah.

Eine Frage kam ihr in den Sinn: »Würdest du vielleicht ...«

Der Junge reckte seinen Hals, legte den Finger auf die Lippen.

»Der Falke ist zum Himmel geflogen!«, hörte sie eine Männerstimme aufgeregt schreien.

»Es ist so weit«, sagte der Junge. »Jetzt ist die Reihe an mir.«

Erst nach einer ganzen Weile schien er sich zu besinnen, dass sie noch immer neben ihm stand.

»Du kannst dir eines aussuchen«, sagte er.

»Ist das dein Ernst?«, fragte sie, beklommen vor Freude. »Darfst du das denn überhaupt?«

»Alles darf ich«, sagte er und in seine Augen kam ein seltsamer Glanz. »Der Falke ist zum Himmel geflogen – und der neue Falke und Pharao von Kemet* bin ich!«

ERSTES KAPITEL

»Der Falke muss zum Himmel fliegen ...«

Was hatte der Mann mit dem messerscharfen Profil da gerade gesagt? Mius Herz machte einen holprigen Satz und schien danach härter gegen die Rippen zu schlagen. Beinahe wäre der Krug mit dem Dattelbier auf dem Boden gelandet, so feucht fühlten ihre Handflächen sich auf einmal an.

Sie hatte diesen Satz niemals vergessen – doch damals hatte er anders geklungen. Und dieser scheinbar winzige Unterschied genügte, um am ganzen Körper Gänsehaut zu bekommen. Trotzdem brachte Miu es fertig, Becher und Krug halbwegs ruhig auf den Tisch zu stellen.

Dann sah sie sich die beiden genauer an.

Die Männer waren mittelgroß und kräftig, mit muskelbepackten Armen und breitem Brustkorb. Soldatentypen, wie sie unwillkürlich dachte, der eine beinahe im Alter ihres Vaters, der andere ihr lediglich ein paar Jahre voraus. Neben dem rechten Nasenflügel des Jüngeren saß eine dunkle Warze, an der er ständig herumfingerte. Man hätte sie ohne Weiteres für Onkel und Neffe halten können, die sich in der Schenke Zum Graureiher ein paar entspannte Stunden gönnten.

»Wollt ihr vielleicht auch etwas zu essen bestellen?«, fragte Miu. Das war das Erstbeste, was ihr einfiel, um sich noch länger in der Nähe der beiden Männer aufzuhalten.

Kopfschütteln. Die Männer sahen sich an. Das Mädchen konnte deren Anspannung fast körperlich spüren.

Irgendetwas trieb Miu zum Weiterreden. »Für Tante Tahebs berühmten Gänsebraten kommen die Gäste sogar von weit her. Sie legt das Fleisch über Nacht in Honig und Kräuter ein und röstet es anschließend auf dem Grill, so kross, dass ...«

»Verzieh dich, Kleine!« Die Stimme des Älteren war schneidend. »Wir haben alles, was wir brauchen.«

Widerstrebend setzten ihre Füße sich in Bewegung. Sie ging, als wäre der Boden klebrig.

»Du kannst mir ruhig vertrauen«, hörte sie nun hinter ihrem Rücken. »Den ersten Schlag hat er bereits einstecken müssen. Und was den zweiten betrifft, so verläuft alles nach Plan. Niemand schöpft bislang auch nur den geringsten Verdacht ...«

»Was ist mit dir, Miu?« Tante Taheb musterte sie besorgt. »Du bist ja auf einmal ganz grün um die Nase! Hast du etwa wieder unreife Feigen genascht?«

Niemand konnte so dreinschauen wie Taheb, vorwitzig und treuherzig zugleich. Miu öffnete den Mund, um ihr das Herz auszuschütten, schloss ihn allerdings sehr schnell wieder.

So einfach lagen die Dinge in der Familie nun mal nicht.

Genau genommen war Taheb gar nicht ihre richtige Tante, sondern die Cousine ihrer Mutter, die sie vor neun Jahren verloren hatte. Außerdem sah Papa es nicht gern, wenn sie im Graureiher aushalf, weil er sich seit einiger Zeit nicht mehr besonders mit Nefer verstand, Tahebs Mann, der, wie Miu aus Erzählungen wusste, früher als Schreiber und Vorlesepriester einen ungleich höheren Rang bekleidet haben musste.

»Hast du auf einmal deine Zunge verschluckt?«, sagte Taheb stirnrunzelnd.

Aus den Augenwinkeln sah das Mädchen, wie der Ältere ein abgeschabtes Kupferstück auf den Tisch legte. Beide schoben ihre Hocker nach hinten. Wenn sie jetzt nicht blitzschnell reagierte, würde sie womöglich gar nichts mehr über den perfiden Plan erfahren, den die beiden Männer offenbar ausheckten.

Miu verzog das Gesicht und presste sich beide Hände auf den Bauch, als ob ihr plötzlich übel geworden wäre.

»Dann sieh zu, dass du nach Hause kommst«, lenkte Taheb ein. »Und werd endlich vernünftig. Du bist schließlich alt genug, um zu wissen, dass eine Bedienung, die in der Mittagszeit schlappmacht, für ein Lokal die reinste Katastrophe ist!«

Sie zeterte noch ein wenig weiter, aber Miu nahm es ihr nicht krumm. Wer Taheb kannte, wusste, dass ihre schlechte Laune so schnell verfliegen würde wie ein Schwarm Ibisse, der sich aus dem Schilf erhebt.

Miu lief den beiden Männern hinterher. Schon nach ein paar Schritten fluchte sie halblaut, denn sie war auf eine gezackte Tonscherbe getreten. Im Graureiher verkehrten viele Schiffer, die nach der Zeche ihre Becher draußen achtlos wegwarfen. Flussgesindel, so nannte Taheb sie, während der sonst so penible Nefer sich in ihrer Gegenwart seltsamerweise wohlzufühlen schien.

Die scharfe Scherbe hatte ihre Sohle geritzt, es brannte, und Miu entdeckte ein paar Tropfen Blut, die sie mit dem Kleidersaum abwischte. Zum Glück ließ der Schmerz rasch nach. Dennoch leistete sie innerlich Abbitte bei ihrem Vater. Er konnte es nicht leiden, wenn sie barfuß herumlief wie ein Bauernmädchen, wo er ihr doch neue Binsensandalen geschenkt hatte. Sie gab sich alle Mühe, ab jetzt auf beides gleichzeitig zu achten: die zwei Männer vor ihr und den staubigen Boden unter ihren Füßen.

Schemu, die Erntezeit, neigte sich dem Ende zu, und ganz Kemet wartete inbrünstig auf die Flut. Niemals waren die Fliegen lästiger als in diesen unendlichen Sommerwochen, bevor die Tränen der Göttin Isis* den Nil endlich über seine Ufer treten lassen und dem ganzen Land Leben und Fruchtbarkeit zurückgeben würden. Heute schienen diese Plagegeister es ganz besonders auf Miu abgesehen zu haben. Wild wedelnd gegen die Attacken ankämpfend, bewegte sie sich vorwärts, hielt sich jedoch, um bloß keinen Verdacht zu erregen, stets ein ganzes Stück hinter den Männern.

Sie trennten sich schon nach Kurzem an einer Weggabelung.

Wem von beiden sollte sie sich nun an die Fersen heften?

Der Ochsenkarren, der den Älteren mitnahm, enthob sie einer Entscheidung. Jetzt also schlich sie dem Warzenkerl hinterher, der selber noch unschlüssig schien, wohin der Weg ihn führen sollte, denn er blieb zwischendrin stehen, kratzte sich am Schädel und schien zu überlegen. Schließlich wandte er seine Schritte zum Markt, was Miu nur recht sein konnte, denn im mittäglichen Gewimmel von Händlern und Käufern würde es um einiges leichter für sie sein, ihm unauffällig zu folgen. Plötzlich schien er es gar nicht mehr besonders eilig zu haben, sondern schlenderte von Stand zu Stand, ließ sich einen Mandelkuchen geben, den er genüsslich verschlang, und schlug danach auch den aufgebrochenen Granatapfel nicht aus, den eine lachende Bauersfrau ihm entgegenhielt. Als der Saft seinen Mund rot färbte, sah er aus wie ein Spitzbube, der heimlich in der Speisekammer nascht, und plötzlich begann Miu zu zweifeln.

Wenn sie sich doch getäuscht hatte?

Denn eigentlich konnte doch gar nicht wahr sein, was Miu in Tahebs Schenke zufällig gehört hatte – dass jemand einen Anschlag gegen Tutanchamun* plante, den göttlichen Pharao*!

Ein sirrendes Geräusch, das beide zusammenzucken ließ.

Es war lediglich ein Händler gewesen, der ein geflochtenes Seil geschickt durch die Luft tanzen ließ, um Käufer anzulocken. Doch der junge Mann, dem sie folgte, war zutiefst erschrocken. Sein Gesicht wirkte plötzlich angespannt, er sah sich nach allen Seiten um.

Instinktiv hatte Miu sich gebückt, als hätte sie etwas auf dem Boden verloren. Dabei zog sie sich das bunte Band aus dem Haar, mit dem Großmama Raia ihre Mähne jeden Morgen im Nacken bändigte, und schob es mit dem Fuß beiseite. Als sie sich wieder erhob, unterschied sie sich in nichts mehr von den meisten anderen hier: ein Mädchen in einem nicht mehr ganz sauberen Kleid, das trotz aller Ermahnungen meist ein wenig krumm ging.

Er spazierte weiter, bis zum Ende des Platzes, und plötzlich wurde Miu klar, zu welchem Stand er wollte.

Ihre Aufregung wuchs.

Der Schlangenbeschwörer hatte seine Flöte sinken lassen. Die Kobra, nicht länger von seinem Gefuchtel gebannt, kringelte sich in ihrem Korb ein, den er rasch verschloss, als drohe Gefahr. Reine Schau, wie sie wusste, denn diesen Tieren waren die Giftzähne gezogen worden, eine schmerzhafte Prozedur, die sie manchmal sogar das Leben kostete.

Der junge Mann beugte sich über die Körbe.

Miu sah, wie der Schlangenbeschwörer einen festen Lederhandschuh überstreifte, bevor er einen anderen Deckel öffnete und wilde Gesten folgen ließ. Augenblicklich schoss eine Schlange aus den geflochtenen Binsen, den Kopf hoch erhoben, den Hals gespreizt. Um den Hals trug sie ein breites, schwarzes Schuppenband, das sich von dem rötlichen Körper abhob.

Jetzt wich der Warzenkerl schnell zurück.

»Da tust du gut daran.« Der Schlangenbeschwörer grinste. »Denn bei ihr ist alles intakt. Man muss sie übrigens ordentlich aushungern, dann sind diese Kobras unschlagbar – wie dieses Schätzchen hier, das nach Beute giert.« Sein Handschuh drückte die Schlange wieder in den Korb zurück. »Hast du genug gesehen?«

Der andere nickte. »Ich komme wieder«, sagte er. »Wie vereinbart.«

Miu vertiefte sich scheinbar in ein reichhaltiges Angebot bemalter Töpfe, das nebenan auf einer Decke ausgebreitet war. Der junge Mann eilte an ihr vorbei und verließ den Markt. Er ging in Richtung Fluss und strebte der Anlegestelle der Fähre zu, die hinüber zum Westufer führte!

Jetzt begann die Angelegenheit brenzlig zu werden, denn dort drüben begann das Reich des Anubis*. Jenseits des Nils lagen nicht nur das Tal der Könige* und das Dorf der Nekropolenarbeiter, sondern auch die Arbeitshallen und Geschäftsräume ihres Vaters, der als Balsamierer die Menschen für ihre letzte Reise rüstete. Es war Miu nicht ausdrücklich untersagt, ihn dort aufzusuchen, aber sie wusste dennoch, wie sehr es ihm gegen den Strich ging, sollte sie unangemeldet auftauchen. Vermutlich würde Papa dann über kurz oder lang wieder damit anfangen, dass man sie verheiraten müsse, damit er die Verantwortung los sei und endlich ein anderer auf sie aufpasste, was dann wieder tagelang die Stimmung zwischen ihnen vergiften würde. Außerdem gab es dort in den Arbeitshallen ihres Vaters jemand ganz Bestimmtes, dem sie vorerst besser nicht unter die Augen kam, um seine Fantasien nicht noch weiter anzustacheln.

Zögernd betrat sie die schwach besetzte Fähre.

Was, wenn der Kerl misstrauisch wurde und merkte, dass sie ihn verfolgte? Und wenn schon – sie konnte jetzt nicht einfach aufgeben. Nicht nachdem sie ihm bis hierher gefolgt war!

Doch Mius Befürchtungen erwiesen sich als grundlos. Kein einziges Mal drehte er sich nach ihr um, sondern starrte nach vorn, auf die grünliche Wasserfläche, die tief genug stand, um zahllose Sandbänke freizugeben, auf denen sich Krokodile in der Sonne räkelten.

Kaum drüben angekommen, sprang er ans Ufer und rannte los, als wäre ihm ein Rudel bissiger Hunde auf den Fersen. Miu ihm nach. Und plötzlich fiel es ihr wie Schuppen vor den Augen: Sein Ziel war der Palast der leuchtenden Sonne, die Sommerresidenz des Pharaos, ebenfalls auf dem Westufer gelegen, ein riesiges Areal mit zahllosen älteren und neu errichteten Gebäudeteilen, das einen eigenen Hafen besaß sowie einen Park, von dessen legendärer Schönheit ganz Waset* munkelte. Allerdings war es nur wenigen vergönnt, ihn mit eigenen Augen zu betrachten, denn die seltenen Bäume und exotischen Pflanzen, die dort unter sorgfältiger Obhut gediehen, waren allein für die Augen des Königs, seiner Großen Königlichen Gemahlin sowie des Hofstaats bestimmt.

Natürlich gab es eine vielköpfige Dienerschaft, die alles zu bewirtschaften und instand zu halten hatte, und zu jener musste der Warzenkerl gehören, denn er lief zielstrebig zu einer der Nebenpforten, die auf sein Klopfen hin geöffnet wurde.

Wie von Zauberhand war er dahinter verschwunden.

Miu blieb noch eine Weile schwer atmend stehen und spürte den Schweiß, der ihr in Bächen über den Rücken lief, ebenso wie die Wunde in der Sohle, die sie während der Verfolgung vergessen hatte. Wie schön wäre es, jetzt in dem kleinen Lotosteich zu baden, der das Herzstück ihres Gartens bildete! Doch von dieser Erfrischung trennte sie im Augenblick nicht nur das grüne Band des Flusses, sondern vor allem die schwere Last, die ihr auf dem Herzen lag.

Sie würde so gerne mit jemandem darüber reden können.

Papa kam nicht infrage. Sein Lieblingsmotto lautete: Ein kluger Mann verschließt die Augen vor Dingen, die ihn nichts angehen, und kümmert sich stattdessen um sein Geschäft und seine Familie.

Dann lieber doch zurück zu Tante Taheb?

Die Vorstellung, dort Nefer, ihrem Mann, zu begegnen, hielt Miu davon ab. Früher hatte sie es genossen, in seiner Gegenwart Schreiben und Lesen zu üben. In letzter Zeit aber mied sie nach Möglichkeit seine verdrossene Miene, und auch Nefer schien alles andere als erpicht auf ihre Anwesenheit, als würden sie sich in stillschweigender Übereinkunft aus dem Weg gehen.

Und Iset?

Die einstige Herzensfreundin hatte Miu viel zu lange vernachlässigt – auch wenn es auf strikte Anordnung ihres Vaters hin geschehen war –, um plötzlich mit einer Räubergeschichte wieder bei ihr aufzutauchen.

Es machte keinen Sinn, sich unter der stechenden Sonne weiterhin den Kopf zu zerbrechen. Erfrischt und ausgeruht würde ihr vielleicht eher etwas einfallen. Energisch zog Miu los, zur Fähre, die gerade wieder am Ablegen war, sprang mit einem Satz auf die Planken und versuchte beim gleichmäßigen Schlag der Ruder, so etwas wie Ordnung in ihre wirren Gedanken zu bringen.

Auf einmal war ihr, als höre sie Mamas ruhige Stimme.

»Wasser ist nachgiebig und es fließt. Du fühlst keinerlei Widerstand, wenn du hineintauchst, und es wird dich nicht aufhalten. Und dennoch geht es stets dorthin, wo es will, denn am Ende kann ihm nichts und niemand widerstehen ...«

Miu vermisste sie so schrecklich. Und schon den ganzen Vormittag hatte sie den Albtraum von letzter Nacht erfolgreich weggeschoben, doch jetzt überfiel er sie erneut mit aller Macht, jener schreckliche Albtraum, der sie schon seit Jahren verfolgte und stets verstört und nass geschwitzt aufwachen ließ.

Die winzige, dunkle Kammer, in der sie schon viel zu lange eingesperrt ist. Das Johlen und Grölen der Menschen draußen, das immer lauter ansteigt, bis sie Angst bekommt, ihre Ohren könnten platzen. Die Tür, die plötzlich aufspringt und Licht hereinströmen lässt, grelles, hartes Licht, das in den Augen schmerzt. Die große Hand, die sie am Arm packt und hinauszerrt.

»Das musst du sehen, Kleines, mach schon, so etwas darfst du keinesfalls verpassen ...«

Miu wurde speiübel, wie bislang jedes Mal, wenn diese Bilder sie quälten. Sie hielt den Kopf so ruhig wie möglich und versuchte, die bösen Gedanken zu verscheuchen.

»Du wirst mir doch nicht etwa seekrank?« Ein Mann stand auf einmal neben ihr. »Dabei könnte der Fluss gemächlicher gar nicht sein!« Sein mächtiger Bauch wabbelte beim Reden über dem Lendenschurz, den eine breite Borte zierte. Er schwitzte erbärmlich.

Offenbar hielt er Miu für leichte Beute. Sogar ihr ärgerliches Kopfschütteln schien er misszuverstehen.

»Brauchst doch nicht schüchtern sein.« Ein schmieriges Lächeln. Und näher kam er auch noch! »So ein hübsches, junges Ding wie du! Wenn du magst, kann ich dich gern ein bisschen ablenken. Würde dir das keinen Spaß machen?«

Wie konnte so ein widerlicher Kerl denken, dass er in irgendeiner Weise anziehend auf ein junges Mädchen wirkte?

Miu tat das, was Raia ihr für solche Fälle beigebracht hatte, machte Sichelaugen und setzte ihre arroganteste Miene auf. Es schien zu wirken, trotz der Übelkeit, gegen die sie noch immer zu kämpfen hatte. Er murmelte etwas Undefinierbares und zog sich auf die andere Seite der Fähre zurück.

Der kleine Sieg tat gut, und als sie am Ostufer anlegten, ging auch ihr Atem wieder ruhiger, wenngleich Miu plötzlich spürte, wie müde sie war. Steifbeinig wie ein alter Esel schlich sie durch die Straßen, die sich nur allmählich wieder mit Menschen und Karren füllten, weil jeder, der jetzt nicht unbedingt draußen sein musste, bis zu den Abendstunden die Hitze mied.

Erst als die weiße Mauer in Sicht kam, die ihr Haus umgab, atmete sie auf. Viel Zeit dafür blieb allerdings nicht, denn auf der Schwelle hatte sich Anuket aufgebaut, das dunkle Gesicht in besorgte Falten gelegt. Die alte Dienerin war schon so lange im Haus, dass sie dem Mädchen manchmal wie ein vertrautes Möbelstück vorkam.

»Wie siehst du denn schon wieder aus!«, rief sie voller Empörung und versperrte Miu mit ihrer schmächtigen Gestalt den Eingang. »Blutverschmiert und schmutzig wie aus der Gosse!«

»Ist Großmama da?« Am liebsten hätte sie Anuket einfach weggeschubst.

»Nein, aber ...«

»Wann kommt sie wieder?«, unterbrach Miu die Dienerin.

»Woher soll ich das wissen? Ich bin doch wie immer die Letzte, die in diesem Haus etwas erfährt!«

»Mutemwija«, dröhnte es hinter ihr. Es gab nur einen, der sie so nannte, und auch nur, wenn er besonders wütend war – Papa! Die steile Falte zwischen den Brauen verriet seinen Gemütszustand ebenso wie die gefährlich schmal gewordenen Lippen. »Wie oft hab ich dir schon gesagt, dass du besser auf dich achten musst. Wir sind schließlich nicht irgendjemand! Wann nur wirst du das endlich lernen?«

Wieso war er überhaupt zu Hause – mitten am Tag?

»Was machst du denn hier?«, stammelte Miu.

»Als ob ich es nicht im Blut gehabt hätte!« Er kam näher, schnüffelte an ihr und verzog dabei das Gesicht. »Du stinkst ja schlimmer als ein ganzer Trupp Soldaten nach einem strengen Fußmarsch! Ab mit dir in den Teich, und zwar schnell – und danach will ich ein frisches Kleid an dir sehen. Niemand aus meiner Familie lässt sich so gehen, schon gar nicht meine einzige Tochter!«

Miu hatte seinen wundesten Punkt getroffen.

Keiner in Waset achtete mehr auf Ordnung und Sauberkeit als der Balsamierer Ramose; sein unablässiges Bestreben, alles abzuwaschen, was mit seiner Tätigkeit im »Haus der Reinigung« auch nur im Geringsten in Verbindung gebracht werden konnte, grenzte fast schon an Besessenheit. Außerdem liebte er schwere Düfte. Auch jetzt roch er wieder, als hätte er in Moschusöl und Wasserlilienextrakt geradezu gebadet.

»Ist etwas passiert?«, fragte er. Es war ebenso einfach, Papa zum Poltern zu bringen, wie schier unmöglich, ihn auf Dauer hinters Licht zu führen. Er schien einen sechsten Sinn für alles zu besitzen, was hinter seinem Rücken geschah. Irgendetwas an ihrem Ausdruck hatte ihn wohl auch jetzt misstrauisch gemacht. »Hast du etwas angestellt? Dann heraus damit!«

Miu musste schlucken und war einen Augenblick lang versucht, seiner Aufforderung zu folgen und ihm alles zu erzählen. Doch dann wäre ja herausgekommen, dass sie wieder heimlich bei Taheb ausgeholfen hatte, und neuer Streit damit unausweichlich.

Was genau hätte sie ihm auch erzählen sollen?

Dass sie aufgrund eines einzigen Satzes, den sie aufgeschnappt hatte, überzeugt sei, das Leben des Königs sei in Gefahr? Sie, ein Mädchen von noch nicht einmal sechzehn Jahren, wollte so etwas Ungeheuerliches herausgefunden haben?

Stumm schüttelte Miu den Kopf, dann deutete sie auf ihren Fuß.

»Hab mir wehgetan«, sagte sie und schämte sich ein bisschen, wie kindisch das klang.

»Worauf wartest du dann noch? Die Wunde muss sauber werden – und die ganze Miu mit dazu.« Fürs Erste schien der Zorn ihres Vaters verraucht. »Und komm mir erst wieder unter die Augen, wenn du einigermaßen ordentlich aussiehst!«

Plötzlich war es ganz einfach, zu gehorchen.

Miu ging zum Teich, schlüpfte aus ihrem Kleid und spürte, während sie langsam hineinwatete, wie das Wasser bei jedem Schritt höher stieg und ihr erhitzter Körper sich abzukühlen begann. Dann hielt sie die Luft an und tauchte unter, bis sie das Gefühl hatte, alles, was heute passiert war, abgewaschen zu haben. Anschließend wickelte sie sich in ein Tuch, ging in ihr Zimmer und legte sich auf das Bett.

Eigentlich hatte Miu nur für ein paar Momente ausruhen wollen, doch als sie wieder erwachte, hatte die Göttin Nut* bereits ihre schützenden Flügel ausgebreitet und es war draußen stockdunkel geworden. Im Zimmer aber sorgte eine mit Öl gefüllte Tonschale, in der ein Docht schwamm, für gelbliches Licht.

Hell genug, um festzustellen, dass eine fürsorgliche Hand sich um ihr leibliches Wohl gekümmert hatte, wenngleich jemand sich bereits dreist davon bedient hatte. Das Schälchen Linsensuppe und das Fladenbrot auf dem Tablett am Fußende waren unberührt. Daneben jedoch lagen abgenagte Hühnerknochen und ein paar Knorpelreste.

Im ersten Moment glaubte Miu, noch zu träumen, denn das anmutige Wesen, das es sich neben ihrem Bett bequem gemacht hatte, war über Wochen verschwunden gewesen, und sie hatte schon befürchtet, es niemals wiederzusehen.

Miu streckte sich, legte ihre Hand auf den warmen Körper und begann, das weiche Fell zu streicheln, das unter ihrer Berührung vibrierte. Hart ragte der knöcherne Grat der Wirbelsäule heraus; alles Fleisch schien wie weggeschmolzen. Pau hatte keine einfache Zeit hinter sich, das konnte Miu spüren.

»Pau«, flüsterte sie, in unendlicher Erleichterung. »Meine Pau – dass du nur wieder da bist!«

Die Feuerkatze hob den Kopf und stieß ein helles Begrüßungszirpen aus. Ein zweiter Ton folgte, ein hohes, durchdringendes Fiepen.

Sie war nicht allein gekommen!

Da lagen zwei faustgroße, quicklebendige Fellknäuel an ihrem Bauch, die nach verlorenen Zitzen jammerten.

Eines dunkel gestromt, das andere lohfarben wie sie selber.

Irgendwann würde seine Frau sich zu fragen beginnen, warum Nefer jetzt immer freiwillig das nächtliche Aufräumen, Saubermachen und Zuschließen des Graureihers übernahm, zumal sie ja wusste, wie sehr er diese Arbeiten verabscheute. Vielleicht tat sie das ja schon längst, seine Frau, eine Lebenskünstlerin auch in schwierigen Tagen, die ihren wachen Kopf hinter einem kindlichen Blick und einem strahlenden Lächeln zu verstecken wusste. Aber selbst wenn es so war, blieb Nefer nichts anderes übrig, als trotzdem mit diesen verhassten Arbeiten weiterzumachen.

So lange, bis er endlich bekommen hatte, was er so dringend brauchte.

Nefer stellte die Hocker mit den Beinen nach oben auf die Tische, um leichter kehren zu können, und horchte in das Dunkel. Es war schon eine ganze Weile her, dass die Letzten hinausgetorkelt waren, Vater und Sohn, beide volltrunken. Ihre Zeche war trotzdem kaum der Rede wert gewesen. Kein Wunder, denn Taheb und er konnten es sich ja nicht leisten, den Bierpreis vernünftig zu erhöhen. Jedenfalls sofern sie nicht riskieren wollten, ihre Gäste zu verprellen.

Wenigstens hatte die Lage des Graureihers so nah am Wasser gewisse Vorteile, wenngleich Nefer vor neun Jahren noch nicht daran gedacht hatte, als sie die Pacht der kleinen Schenke übernommen hatten. Viel anderes war ihnen auch nicht übrig geblieben, nach der hastigen Flucht aus der Sonnenstadt*, mit nahezu leeren Händen und in ständiger Angst, die Häscher könnten sie jederzeit auch in Waset aufspüren und zur Rechenschaft ziehen.

Ein Dasein dritter Klasse, bestenfalls, das war es, was ihnen nun bevorstand, und vermutlich wäre es ohne große Änderungen bis zum Ende ihrer Tage genauso weitergegangen – hätte es nicht jene geheimen Lagepläne gegeben, die ihm ein unerwarteter Verbündeter kurz vor seinem Tod hatte zukommen lassen. Jemand von früher, als er noch als Schreiber hatte arbeiten dürfen, ein Mann, dem sie damals mindestens so übel mitgespielt hatten wie ihm.

»Tu du es für mich.« Manchmal glaubte Nefer, den rasselnden Atem des Sterbenden noch zu hören. »Ich selbst bin dazu nicht mehr in der Lage. Mach sie fertig, diese miesen Verräter, und bring sie zur Strecke, genauso wie sie uns damals gnadenlos zur Strecke gebracht haben. Verdient haben sie es allemal!«

Ein Hoffnungsschimmer, immerhin.

Und vielleicht sogar mehr als das, falls das Glück ihn nicht für immer vergessen hatte.

Nefer fluchte, weil die nachlässig gebundenen Binsen des Besens sich im feuchten Zustand aufzulösen begannen und den Schmutz auf dem Boden mehr verteilten als zusammenfegten. War das vielleicht die passende Arbeit für einen Mann, der einmal zu den größten Hoffnungen im Lebenshaus* gehört hatte?

Allein an das zu denken, was er für immer verloren hatte, genügte, um alle Kraft aus seinem Körper schwinden zu lassen. Schwach und mutlos fühlte Nefer sich in solchen Augenblicken, vor der Zeit gealtert, beschwert von einer unsichtbaren Bürde, die er auch jetzt noch nicht ablegen konnte, nicht nach all den Jahren, die seit seiner Erniedrigung vergangen waren. Eines nur hielt ihn dann aufrecht, und er versuchte, diese Vision auch jetzt wieder heraufzubeschwören, obwohl es immer schwieriger wurde, je mehr Zeit verstrich: der Gedanke an Rache.

War da nicht draußen ein Geräusch gewesen? Oder spielten ihm bloß seine Ohren einen Streich?

Nefer stellte den Besen beiseite und ging zur Tür. Es dauerte, bis seine Augen sich einigermaßen an das Dunkel gewöhnt hatten; es war Neumond und die Nacht so schwarz wie das Innere eines Grabes.

Niemand zu sehen, weit und breit.

»Hast du noch einen anständigen Schluck für einen guten Freund?« Nefer schrak zusammen, während der andere breit zu grinsen begann. Wie ein Geist stand er plötzlich vor ihm, ein recht korpulenter Geist allerdings, deutlich schwammiger als bei ihrer ersten Begegnung. »Mein Boot hab ich ein ganzes Stück weiter unten am Ufer festgemacht. Ganz nach deinen Wünschen. Musst also nicht gleich wieder loszetern wie beim letzten Mal! Deine Frau ist doch sicherlich nicht mehr hier, oder?«

Der Mann drängte sich dreist an ihm vorbei in die Schenke, packte einen Hocker, stellte ihn zurück auf den Boden und setzte sich. Dann erst ließ er den stoffumwickelten Packen, den er unter dem Arm getragen hatte, auf den Tisch fallen.

»Dass du dich auch mal wieder blicken lässt«, murmelte Nefer und stellte widerwillig Krug und Becher vor ihn hin. Er konnte nur hoffen, dass Taheb bereits schlief. Zum Glück wohnten sie jetzt in dem kleinen, zweistöckigen Haus, das einige Schritte entfernt lag, und nicht mehr in den engen, niedrigen Räumen direkt über der Schenke, wo an Ruhe niemals zu denken gewesen war. »Und spät dran bist du auch, Ipi. Ich war schon am Zuschließen.«

»Hab schließlich noch was anderes zu tun, von Sonnenaufgang bis zum Einbruch der Dunkelheit, falls du dich vielleicht daran erinnerst? Außerdem kann es bei unserem Geschäft doch gar nicht spät genug sein. Oder wäre es dir lieber, ich würde tagsüber hier auftauchen und dein feiner Polizistensohn könnte uns zusammen sehen?«

»Lass gefälligst Ani aus dem Spiel«, zischte Nefer. »Wie oft hab ich dir das schon gesagt?«

»Ach, ich hör es immer wieder gerne.« Sein Spott war beißend. »Ein bisschen Spaß wird wohl noch erlaubt sein, bei der Plackerei, die du von uns erwartest!«

»Du machst dir ja nicht gerade die Hände dabei schmutzig!«

»Einer muss sagen, wo es langgeht. Und du kannst den Göttern danken, dass ich es bin«, entgegnete Ipi.

»Als ob ihr es um meinetwillen tun würdet!«, raunzte Nefer. »Ohne meine kostbaren Lagepläne könntet ihr euer Vorhaben ohnehin vergessen. Aber was bringt mir das? Immer nur warten, warten, warten – ich bin es so leid!«

»Was, wenn wir endlich fündig geworden wären?« Ipi schien jedes einzelne Wort zu genießen.

»Das hast du schon mehrmals behauptet. Und es war immer gelogen. Hör also lieber auf mit deinen fadenscheinigen Versprechungen. Ich glaube nur an das, was ich sehe.« Er deutete auf seinen Kopf. »Mit diesen meinen Augen!«

Ipi steckte seine lange Nase in den Krug, als gäbe es im Augenblick nichts Wichtigeres, wich aber schnell angewidert zurück. »Diese Plörre kannst du selber saufen, du verdammter Geizhals!«, rief er. »Wenn du nicht augenblicklich einen anständigen Wein rausrückst, bist du mich schneller los, als du bis drei zählen kannst.«

Nefer begann, vor sich hin zu grummeln, ging aber doch nach nebenan und kam mit dem Gewünschten zurück. Ipi trank gierig, dann wischte er sich mit dem Handrücken über den Mund.

»Und neugierig bist du gar nicht?« Seine Augen flackerten. »Das wäre mir aber ganz neu!«

»Lass endlich deine Spielchen ...«

»Schon gut, schon gut!« Ipis Hände schossen nach oben und Nefer wich unwillkürlich ein Stück zurück. Den Gestank des Todes wurde sein Besucher niemals ganz los, egal wie sehr er sich wusch oder parfümierte. »Wirst staunen, mein Alter!« Er begann, den Stoff aufzurollen, in Streifen geschnittenes, reichlich verschmutztes Leinen, wie es in Kemet hauptsächlich für das Einwickeln von Mumien in Gebrauch war. »Und?«, sagte er schließlich. »Hat es dir bei diesem Anblick endgültig die Sprache verschlagen?«

»Das ist alles?«, fragte Nefer und starrte ihn an.

»Was soll das heißen? Etwas mehr Begeisterung für mein Mitbringsel hätte ich von einem ehemaligen Schreiber schon erwartet!«

»Du bringst mir Papyrusrollen?«

»Ja, aber welche – direkt aus seinem Grab! Wir haben es gefunden, kapierst du endlich? Obwohl sie es so schlau versteckt hatten. Das ist es doch, was du die ganze Zeit wolltest! Damit hast du mir seit Jahr und Tag in den Ohren gelegen. Und ich hab es den anderen, die die Drecksarbeit erledigen müssen, genauso weitergegeben. Einer von ihnen kennt mehr als die paar jämmerlichen Zeichen, die ich tagtäglich gebrauche. Er sagt, es gebe keinerlei Zweifel. Wir sind genau da, wohin wir immer wollten. Ist das kein Grund zum Feiern, Alter?«

Nefer schüttelte den Kopf, so heftig und anhaltend, als würde es niemals wieder damit aufhören wollen.

»Nichts hast du verstanden! Gar nichts!«, presste er hervor. »Ich hätte ebenso gut zu einem Tauben reden können.«

»Moment mal! Wir haben endlich das Grab des großen Ketzers entdeckt, und du ...«

»Papyrus ist geduldig«, unterbrach Nefer ihn wutentbrannt. »So ein Schriftstück könnte jeder herstellen, der die heiligen Zeichen kennt, und es damit auf allereinfachste Weise fälschen. Damit komme ich nicht weit.« Jetzt schrie er vor Aufregung. »Ihr müsst ihn ganz auswickeln, bis auf die Knochen! Nichts, was ihr bereuen werdet, denn da ist mit Sicherheit noch einiges für euch Gierhälse drin, wenn ihr wirklich die Ersten gewesen sein wollt. Steckt euch meinetwegen die kostbaren Steine in die Backentaschen oder sonst wohin, daran bin ich nicht interessiert. Ich brauche etwas, das es nur ein einziges Mal gibt. Einen unschlagbaren Beweis!«

»Und was sollte das genau sein?« Ipi, der sonst das Maul gern weit aufriss, wirkte plötzlich eingeschüchtert.

»Den Herzskarabäus. Ja, bring mir den Herzskarabäus des Pharaos – und ich kann dir bald deinen größten Wunsch erfüllen!«

Ganz Waset lag in tiefem Schlummer, nur Miu war hellwach, obwohl sie sich inzwischen so müde fühlte, dass sie schon anfing, alles doppelt zu sehen. Immer wieder rief sie sich die Ereignisse des vergangenen Tages in Erinnerung, ließ vor ihrem inneren Auge ablaufen, was sie gesehen und gehört hatte, und zerpflückte jede Einzelheit, in der Hoffnung, sie hätte sich vielleicht doch getäuscht. Aber sosehr sie sich auch anstrengte, die Dinge blieben, wie sie waren.

Selbst der Blick auf Pau und ihre Jungen, im Schlaf eng an den Leib der Mutter geschmiegt, machte sie nicht ruhiger, ganz im Gegenteil. Denn jedes Mal wenn Miu ihre wiedergefundene Katze ansah und das doppelte Geschenk, das sie ihr gemacht hatte, stiegen seltsame Erinnerungen in ihr auf, die ihre Ratlosigkeit nur noch vergrößerten.

Als erstes Rot am Himmel den Morgen ankündigte, fiel Miu schließlich doch in einen traumlosen Schlaf, aus dem sie hochschrak, als sie Anuket im Hof mit dem Frühstücksgeschirr klappern hörte. Jetzt würde es nicht mehr lange dauern bis zu Papas allmorgendlichen Ermahnungen, die heute gewiss besonders streng ausfallen würden. Großmama, die Einzige, die sie ab und zu davor retten konnte, liebte es, lange zu schlafen, und hasste es, dabei gestört zu werden. So blieb Miu nur eines: ein gezwungenes Lächeln aufzusetzen und zu ertragen, was eben nicht zu ändern war.

Sie wusch Gesicht und Hände in der Alabasterschale, die ihr Vater ihr zum letzten Geburtstag geschenkt hatte, zog sich an, kämmte sich, rührte frisches Malachitpulver auf der Schminkpalette an, um die Augen mit sattem Grün zu betonen, genau so, wie er es am liebsten an ihr sah – und machte sich innerlich auf das Schlimmste gefasst.

Aber sie hatte sich getäuscht.

Er schien so tief in Gedanken, dass er offenbar kaum bemerkte, wer ihm gegenübersaß. Er hatte auch keinen großen Appetit, nicht einmal Anukets berühmtes Feigenmus, von dem er sonst nicht genug bekommen konnte, schien ihm heute zu schmecken. Schon nach ein paar Bissen schob er seinen Schemel zurück und stand auf.

»Kann spät werden heute«, sagte er. »Ein Auftrag, der großes Fingerspitzengefühl erfordert.« Er verdrehte die Augen.

Das bedeutete reiche Kunden, wie Miu beizeiten gelernt hatte. Leute, die sich die Ewigkeit etwas kosten lassen.

Miu nickte. Der Blick ihres Vaters wurde streng.

»Und du bleibst bei Raia, verstanden? Ich will nicht wieder von meinen Kunden zu hören bekommen, dass man dich allein in der Stadt herumstromern sieht!«

Ihr zweites Nicken fiel deutlich zögernder aus.

Sie blieb sitzen, bis seine Schritte verklungen waren. Dann atmete sie erleichtert aus, längst entschlossen, ihre Beobachtungen von gestern zu vertiefen. Auf das Westufer würde sie heute allerdings verzichten, denn sie wollte nicht riskieren, dem Warzenkerl vor dem Palast der leuchtenden Sonne in die Arme zu laufen. Doch wer sollte sie schon daran hindern, Besorgungen auf dem Markt zu machen?

Anuket war mit dem schmutzigen Geschirr im Küchenbau verschwunden; die beste Gelegenheit, ihren Plan unverzüglich umzusetzen. Miu sprang auf, schaute vorsichtig nach rechts und links, aber niemand war zu sehen, der sie hätte aufhalten können. Also lief sie los.

Über der Stadt lag noch ein Rest von Morgenfrische, doch die dräuende Hitze, die nicht mehr lange auf sich warten lassen würde, war bereits zu spüren. Trotzdem war der Markt gut besucht, ein Gewimmel von Menschen, Tieren und Waren, deren unterschiedliche Gerüche und Aromen ihr in die Nase stiegen. Jedes Fitzelchen Boden schien belegt; sie musste achtgeben, um auf keine der Binnenmatten zu treten, wo die Bäuerinnen ihr Obst- und Gemüseangebot ausgelegt hatten. Zwischendrin hatten sich die Oasenleute ausgebreitet mit dem gräulichen Salz, das zu jeder Jahreszeit begehrt war. Unter dem Geschnatter von Enten und Gänsen in engen Käfigen hielt Miu Ausschau nach dem Warzenkerl.

Doch leider entdeckte sie ihn nirgendwo.

Weil er gerade Dienst im Palast tun musste?

Weil sie sich doch getäuscht hatte und alles lediglich eine Ausgeburt ihrer Fantasie war?

Oder weil er bereits zugeschlagen hatte?

Ein fürchterlicher Gedanke, der Miu die Nackenhärchen aufstellte und sie umso schneller weitergehen ließ.

Am Stand des Schlangenbeschwörers, den sie als Nächstes ansteuerte, standen zwei Männer, die dessen übliche Vorführung verfolgten. Für Miu nichts Neues: die graubraune, giftlose Kobra, die müde tänzelte, kannte sie ja bereits von gestern. Ihre Augen flogen über die anderen Körbe auf dem wackligen Tisch.

Sechs, zählte sie. Sechs!

Waren es gestern nicht sieben gewesen?

Miu war sich alles andere als sicher, doch jetzt fühlte sie ihn wieder wachsen, jenen hässlichen Klumpen in der Magengrube.

»Ist das alles, was du zu bieten hast?«, sagte sie in forschem Tonfall. »Das arme Tier stirbt ja förmlich an Altersschwäche, so lahm bewegt es sich nur noch!«

Einer der beiden Männer lachte, der andere sah sie verdutzt an. Mit finsterer Miene öffnete der Schlangenbeschwörer einen weiteren Korb.

»Mit der hier im Kornspeicher werdet ihr alle Ratten und Mäuse los«, sagte er zu den Männern gewandt, als bestünde Miu aus Luft. »Die räumt überall gründlich auf!«

Das Tier war dick wie ein Kinderarm und auf dem Rücken strohgelb. Nicht das, wonach Miu Ausschau hielt.

Inzwischen schienen die Männer ebenfalls Lust bekommen zu haben, mehr zu sehen.

»Ja, zeig sie uns, deine gefährlichen Viecher«, rief der eine. »Ich will sie alle in Augenschein nehmen!«

Der Blick, den der Schlangenbeschwörer Miu zuwarf, während er hantierte, war beinahe so giftig wie das Sekret seiner Vipern. Doch sie war ja zum Glück nicht allein. Das machte ihr Mut, einen neuerlichen Vorstoß zu wagen.

»Da war doch noch so eine Rötliche«, sagte sie. »Mit einem breiten schwarzen Band um den Hals ...«

»Halt den Mund!«, fiel ihr der Schlangenbeschwörer ins Wort. »Und hau endlich ab! Hast du dich nicht schon gestern hier herumgetrieben?«

Miu zuckte die Achseln. »Kannst du oder willst du nicht antworten? Vielleicht weil du ...«

Sie konnte nicht weiterreden, so schnell war er bei ihr, umklammerte ihre Arme und begann, sie wie wild zu schütteln.

»Was willst du?«, schrie er. »Was hast du aufdringliches Balg hier zu suchen?« Seine Nägel waren lang wie Krallen und bohrten sich in ihr Fleisch. Er hatte den Mund mit den bräunlichen Zahnstumpen weit aufgerissen, als würde er sie am liebsten verschlingen. Sein Atem roch nach Kraut und Zwiebeln; Spucke rann ihm über das Kinn.

Keiner der beiden Männer machte Anstalten, Miu zu Hilfe zu kommen. Und wenn er als Nächstes seine Reptilien auf sie hetzte?

Sie stieß einen Schrei aus, denn jemand packte sie von hinten, und auch ihr Angreifer wurde von einem untersetzten Mann mit leuchtend blauer Schärpe von ihr weggerissen.

»Raufereien auf dem Markt sind verboten«, hörte sie eine Stimme sagen, die ihr nur allzu vertraut war. »Das dürfte doch jedem bekannt sein!«

Ani, ausgerechnet Ani! Röte schoss in ihr Gesicht und sie wünschte sich nur noch weit, weit weg.

»Was machst du denn hier, Miu?«, rief er.

Mit einem Mal schien ihr Mund sich mit zu vielen Wörtern zu füllen, ein zäher, klebriger Brei, der ihr das Antworten unmöglich machte.

Ani schien es nichts auszumachen. Er wandte sich an den Schlangenbeschwörer.

»So ein großer, starker Kerl wie du gegen ein hilfloses Mädchen – dass du dich nicht in Grund und Boden schämst! Noch ein einziges Mal etwas in dieser Art, und du betrittst den Markt nie wieder, dafür werde ich sorgen, verstanden?«

Der Schlangenbeschwörer nickte hastig. Seine beiden Kunden hatten inzwischen das Weite gesucht.

»Was soll jetzt mit der Kleinen geschehen?« Sein bulliger Kollege, ebenfalls von der Flusspolizei, wie seine blaue Schärpe zeigte, in der ein schmaler Dolch steckte, musterte Miu neugierig. »Wieso setzt du dich eigentlich so für sie ein? Kennst du sie etwa näher?«

»Das will ich meinen. Und lass dein anzügliches Grinsen. Miu gehört zur Familie.« Sein Blick war besorgt. »Ich bringe sie jetzt am besten nach Hause.«

Vorsichtig schaute sie auf zu dem jungen Medjai*, der ihr früher so vertraut wie ein großer Bruder gewesen war. Doch in letzter Zeit wusste sie nicht mehr genau, was sie fühlen sollte, wenn sie ihm begegnete. Manchmal träumte sie sogar von ihm, und es fühlte sich gut an, diese nächtlichen Bilder noch ein Stück weit hinein in den Tag zu tragen, damit Ani wenigstens auf diese Weise ein Weilchen länger bei ihr blieb. Jetzt gerade war es allerdings pure Verlegenheit, die sie in seiner Gegenwart durchflutete.

»Musst du nicht«, stieß sie hervor. »Ich kann ebenso gut allein gehen.«

»Keine besonders gute Idee«, erwiderte Ani. »Komm schon, Miu, ich hab schließlich nicht den ganzen Tag Zeit.«

Es blieb ihr nichts anderes übrig, als neben ihm herzutrotten, erneut wortlos, weil sie sich nun erst recht schämte. Er ging schnell und gab sich Mühe, das linke Bein dabei nicht allzu sehr nachzuziehen, aber sein Hinken fiel ihr dennoch auf. Der Feldzug nach Kusch* im Heer des Pharaos hatte ihn innerlich wie äußerlich verwandelt.

Wie erwachsen er binnen Kurzem geworden war!

Raia sagte, der kalte Atem des Anubis habe ihn gestreift. Auch wenn Ani niemals darüber redete – von dem großen, unbekümmerten Jungen, der heimlich von zu Hause fortgelaufen war, um Soldat zu werden, war jedenfalls nicht mehr viel übrig.

»Willst du mir nicht endlich sagen, was wirklich los war?«, fragte er nach einer Weile. »Du bist doch sonst nicht auf den Mund gefallen. Was hattest du auf dem Markt zu suchen, in aller Früh und auch noch mutterseelenallein?«

Sie schielte schräg nach oben, was ihm natürlich nicht entging. Genauso hatte sie ihn immer angeblinzelt, wenn sie ihn zu etwas herumkriegen wollte, früher, als sie beide noch Kinder gewesen waren. In seine Augen kam ein winziges Lächeln, und Miu begann, sich ein wenig zu entspannen. Schließlich war Ani Polizist – und vielleicht genau der Zuhörer, den sie so dringend brauchte!

»Ich hab da zufällig etwas gehört, nein, eher aufgeschnappt«, sagte sie. »Sie wollen den Pharao töten. Zwei Männer, aber vielleicht sind es ja sogar noch mehr.«

»Das haben sie gesagt?« Sein Lächeln war verschwunden.

»Natürlich nicht. So unvorsichtig würde doch niemand sein. Sie haben es umschrieben, aber so, dass man es sofort versteht, wenn man sich einigermaßen auskennt.« Miu runzelte die Stirn und strengte sich an, den Tonfall des Gehörten so exakt wie möglich wiederzugeben: »Der Falke ist zum Himmel geflogen ...«

Er reagierte kaum, jedenfalls nicht so, wie sie es erwartet hatte. Und plötzlich wusste sie auch, weshalb. Bei den Krallen des Seth* – aus schierer Aufregung hatte sie sich versprochen!

»Der Falke muss zum Himmel fliegen.« Ja, so war es richtig! »Genau das haben die beiden Männer gesagt.«

Anis schmales, glatt rasiertes Gesicht blieb höflich und unbeteiligt.

»Du bist ihnen auf der Straße begegnet?«, fragte er weiter. »Wo genau?«

»Nein, es war bei euch im Graureiher. Als ich ihnen Bier serviert habe.«

Er blieb abrupt stehen. Die wulstige Narbe auf seiner Stirn, ebenfalls eine unschöne Erinnerung an den Feldzug nach Kusch, schien plötzlich dunkler geworden zu sein.

»Im Graureiher, bei meiner Mutter? Wenn das eine Art Spiel sein soll, Miu, dann ist es ein sehr dummes.« Ani sagte das so ruhig und flüssig wie einen Vers, den er vor langer Zeit auswendig gelernt hatte. »Und du solltest auf der Stelle damit aufhören.«

Er glaubte ihr kein Wort. Miu wurde heiß.

»Das ist kein Spiel«, sagte sie. »Was glaubst du denn, warum ich noch einmal hierher zurückgekommen bin? Die beiden planen einen Anschlag, oder was sonst sollte das deiner Meinung nach heißen? Deshalb hab ich sie ja auch verfolgt.«

»Du hast – was?«

»Na ja, wenigstens einen der beiden«, räumte sie ein. »Den mit der Warze am Nasenflügel. Der Ältere mit dem Geierprofil hatte sich beizeiten mit einem Ochsenkarren davongemacht, da bin ich eben dem jüngeren Warzenkerl nach, erst auf den Markt, wo er sich bei diesem Schlangenbeschwörer von vorhin herumgetrieben hat, später weiter auf die Fähre und dann hinüber bis zum Palast auf dem Westufer ...« Sie stieß einen tiefen Seufzer aus. »Plötzlich war er verschwunden. Ich wette, er gehört zur Dienerschaft des Pharaos!«

Anis lange Beine setzten sich in Bewegung. Es war, als wäre sie gar nicht mehr vorhanden.

»Was hast du denn auf einmal?« Miu gab sich Mühe, ihn wieder einzuholen. »Du kannst doch jetzt nicht einfach so davonrennen! Dabei weißt du noch nicht einmal alles ...«

Er hielt inne, sah sie eindringlich an.

»Und du musst endlich lernen, Fantasie von Wahrheit zu unterscheiden, Miu, sonst wirst du über kurz oder lang in allergrößte Schwierigkeiten geraten. Du oder die Menschen, die es gut mit dir meinen.« Noch nie zuvor hatte sie ihn derart ernst gesehen.

Er behandelte sie wie ein unreifes Gör, das sich irgendetwas ausgedacht hatte! Dabei spürte Miu seit diesem Morgen noch deutlicher, wie real die Gefahr war, in der der König schwebte.

Sie biss die Zähne zusammen, um ihre Enttäuschung nicht zu zeigen, und ging einfach weiter.

Schweigend erreichten sie das Haus ihres Vaters.

Anuket öffnete und zeigte ihre breitestes Lächeln, als sie Ani erblickte. Und auch Raia, ihre Großmutter, die gleich hinter der Dienerin erschien und Miu in Empfang nahm, schien über den unerwarteten Besuch höchst erfreut.

»Ich habe Miu auf dem Markt getroffen«, sagte Ani, bevor Raia ihn löchern konnte. »Ganz zufällig. Und da dachte ich, ich bringe sie besser nach Hause, jetzt, wo sich kurz vor dem Jahreswechsel immer mehr Gesindel von sonst woher auf den Straßen Wasets herumtreibt.«

Raia und er tauschten beredte Blicke.

Wieso fühlte Miu sich eigentlich immer ausgeschlossen, wenn die Verwandten ihrer toten Mutter zusammenkamen?

»Wie klug von dir. Ganz in meinem Sinn«, sagte Raia. »Hast du schon gefrühstückt, Ani?«

»Längst.« Er hatte es plötzlich sehr eilig. »Und zurück in die Wache muss ich auch. Bis bald!«

Miu sah ihm nach, wie er davonging, das linke Bein leicht nachgezogen.

»Was für ein Jammer!«, hörte sie Großmama neben sich murmeln. »Wo er doch so ehrgeizige Pläne hatte! Aber er macht es gut, der Junge, trotz allem. Das muss man ihm lassen!« Ihr Tonfall veränderte sich. »Und jetzt zu dir. Du siehst aus, als wolltest du mir dringend etwas erzählen.«

Miu folgte ihr auf der schmalen Treppe nach oben in ihr Allerheiligstes, in das die Familie nur äußerst selten gebeten wurde. Allein schon dort einzutreten, empfand sie als Auszeichnung. Die kleinen, hoch gelegenen Fenster verbannten die Hitze; jeder einzelne Gegenstand verriet Raias erlesenen Geschmack. Es mochte noch so drückend sein, niemals hatte sie Großmama verschwitzt oder nachlässig gekleidet gesehen.

Manchmal kam es ihr vor, als wäre Raia ganz aus Licht gemacht. Das mochte an ihren silbernen Haaren liegen, die so gut zu den weißen Kleidern passten, die sie am liebsten trug. Bis auf ein paar tiefere Falten um Augen und Mund war ihr bräunliches Gesicht stets heiter und entspannt, und es umgab sie lediglich ein Hauch von frischem Zyperngras, ganz anders als Papa, dessen betäubende Geruchswolken ihn stets schon von Weitem ankündigten.

»Das alles gab es bei Hof zu lernen«, hatte sie einmal lächelnd gesagt, als Miu sie nach ihrem Geheimnis gefragt hatte. »Und zwar ziemlich schnell, wenn man seinen Verstand einigermaßen beieinanderhatte. Dort war es lebensnotwendig, sich eine zweite Haut zuzulegen, sonst wäre man über kurz oder lang zugrunde gegangen.«

Jetzt redete sie wieder von der Sonnenstadt, die ein ganzes Stück nilabwärts lag und in der seit Langem niemand mehr wohnte. Papa wurde schon ungehalten, wenn man das Wort nur in den Mund nahm, und daher ließ sie es in seiner Gegenwart lieber blieben. Dabei erschien Miu alles, was damit zu tun hatte, wie eines von Raias Märchen, von denen sie früher nicht genug bekommen konnte. Sie hatte jedes Wort davon in sich aufgesogen, so lange, bis diese Geschichten ein Teil von ihr geworden waren.

Miu ließ sich auf einem der niedrigen Hocker nieder, streckte die Beine aus und genoss die Kühle der glasierten Fliesen auf ihrer Haut.

»Nun, mein Mädchen?«, hörte sie Großmama sagen. Sie hatte eine außergewöhnliche Stimme, kräftig und weich zugleich, die auch für große Räume taugte.

Miu begann zu erzählen, stockend zunächst und mit zahlreichen Pausen, doch allmählich begannen ihre Worte zu fließen. Sie gab sich Mühe, so nah wie möglich bei ihren Beobachtungen zu bleiben, fügte nichts hinzu und ließ auch nichts aus. Als sie bei ihrem zweiten Besuch auf dem Markt und der Attacke des Schlangenbeschwörers angelangt war, spürte sie, wie der alten Frau schier der Atem stockte.

»Du warst mutig, Miu«, sagte sie schließlich, ohne sie bis dahin auch nur ein einziges Mal unterbrochen zu haben. »Aber leider auch sehr unvorsichtig, was sich oftmals als äußerst unheilvolle Kombination erweisen kann. Als Erstes musst du mir versprechen, in Zukunft die Hände von solch hirnrissigen Unternehmungen zu lassen.«

»Aber der Pharao«, rief Miu. »Er ist doch in Gefahr! Glaubst du mir denn wenigstens?«

»Wir werden uns um eine Audienz bei Hof bemühen müssen.« Raias feingliedrige Hände unterstrichen jedes ihrer Worte. »Daran führt kein Weg vorbei.«

»Bei Hof? Hier in Waset? Aber wie sollen wir denn da jemals vorgelassen werden?«, sagte Miu. Begann Großmama nicht gerade, etwas zu vermischen, was nicht zusammenpasste – die Geschichten über die versunkene Sonnenstadt und das, was sich ganz real abspielte?

»Das lass nur meine Sorge sein. Es gibt da gewisse alte Verbindungen ...« Ihr Blick glitt zum Fenster.

»Du kennst jemanden am hiesigen Königshof?« Miu kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. »Wen? Und wieso hast du noch nie davon erzählt?«

»Es sind die Mütter, die den Ausschlag geben«, erwiderte Großmama leise. »Sie ziehen im Hintergrund die Fäden, auch wenn es nach außen vielleicht anders aussehen mag. Das solltest du dir merken, mein Mädchen. Denn es könnte eines Tages sehr wichtig für dich werden.«

Diese Worte, so sanft sie auch ausgesprochen waren, trafen Miu wie ein Hieb in die Magengrube. Und bevor sie noch recht wusste, wie ihr geschah, liefen ihr bereits Tränen über die Wangen.

ZWEITES KAPITEL

Bei jeder Bewegung spürte Miu das leichte Gewicht der Keramikperlen auf ihrem Brustkorb und den Widerstand des steifen Leinens, das gegen Brust und Schenkel rieb. Zum Glück hatte Raia darauf verzichtet, dass sie eine Perücke tragen musste, was bei der Hitze schier unerträglich gewesen wäre.

»Dafür bist du noch ein ganzes Stück zu jung – und ich bereits zu alt.« Ihr Lachen war ungewohnt schrill gewesen. »Sie werden uns auch so empfangen, das ist gewiss.«

Was machte sie nur derart sicher?

In den vergangenen Tagen hatte Miu immer wieder versucht, weiter in Großmama zu dringen, doch je neugieriger ihre Fragen ausfielen, desto weniger wollte diese preisgeben. Das schloss auch die Boten mit ein, die zu den seltsamsten Zeiten das Haus mit neuen Nachrichten betraten und wieder verließen, so lange, bis Raia endlich halbwegs zufrieden schien.

»Warte einfach ab, Miu, dann wirst du schon sehen, was geschieht. Aber lass uns bis dahin keine Zeit verlieren!«

Es traf sich günstig, dass ihr Vater Ramose mit zweien seiner Gehilfen gerade jetzt nach Abju* hatte aufbrechen müssen, um in der Stadt des Gottes Osiris* die Vorräte an Zedernöl, Weihrauch und Harzen aufzufüllen, ohne die seine Werkstatt nicht auskam. Natürlich hätte er sich auch mit dem hiesigen Warenangebot begnügen können, doch dem stand sein unbeugsamer Qualitätsanspruch entgegen.

»Man darf nie nachlassen, niemals«, sagte er oft. »Merk dir das, Tochter! Sonst kann man gleich einpacken und das Feld für die Konkurrenten räumen.«

Der Balsamierer hatte seine Reise so lange aufgeschoben, dass er nun die Unbilden des Wassertiefststandes auf sich nehmen und bei der Rückkehr sogar den strapaziösen Landweg ins Auge fassen musste. Schweren Herzens und unter endlosen Ermahnungen hatte er sich bei Miu und der Schwiegermutter verabschiedet, die, kaum war er aus dem Haus, als Erstes eine Näherin einbestellt hatte.

»Wir weihen ihn ein, sobald er zurück ist«, hatte sie Mius Einwände beiseitegefegt. »Das ist immer noch früh genug. Inzwischen wollen wir überlegen, was wir für dich tun können!«

Das Ergebnis dieser Bemühungen trug Miu nun am Leib, und sie fühlte sich in der ungewohnten Aufmachung derartig herausgeputzt, dass sie zu spüren glaubte, wie halb Waset sie anglotzte. Dabei lag das glutheiße Straßengewirr in seinen verblassenden Beige- und Ockertönen längst hinter ihnen und auf der Fähre zum Westufer verteilte sich gerade mal ein gutes Dutzend Passagiere. Um ihre Unsicherheit zu überspielen, starrte Miu auf die Reflexe der Sonnenstrahlen, die auf dem Wasser wie ein goldenes Netz flimmerten.

»Was soll nur aus diesem Land werden, wenn Kemets großer Fluss austrocknet, weil die Götter sich von uns Menschen abgewandt haben?«

Die Stimme klang, als gehörte sie der Mutter aller Klageweiber, doch als Miu sich umdrehte, erblickte sie keineswegs eine der berufsmäßig Trauernden, die gegen Bezahlung scharenweise den Leichenzügen folgten. Stattdessen schaute sie in das gerötete Gesicht einer mageren Frau in einem schmuddeligen blauen Trägerkleid, die mit Spinnenfingern auf die immer breiteren Sandbänke wies.

»Noch nie war der Nil so seicht.« Ihre Stimme drohte zu kippen. »Nicht seitdem meine liebe Mutter mir das Leben geschenkt hat!«

»Du wirst dich mit dem Jammern etwas gedulden müssen«, hörte sie Großmamas gelassene Antwort. »Denn noch hat das neue Jahr ja nicht begonnen!«

Wie elegant sie war in ihrem plissierten weißen Gewand, das mit dem kunstvoll geflochtenen Silberhaar um die Wette zu strahlen schien! Ihre aufrechte Haltung erschien Miu geradezu königlich, und die silberne Armspange mit dem großen Türkis, die sie heute zum ersten Mal an ihr sah, verstärkte diesen Eindruck noch.

»Was, wenn der Hapi* nicht dick und lebendig werden will und die Flut wieder so gering ausfällt wie die beiden vergangenen Jahre? Dreizehn magere Ellen, das bedeutet doch nichts anderes als Hunger und Mangel!« Die genuschelte Sprechweise verriet, dass die Frau alles andere als nüchtern war. »Ich rechne sogar fest damit. Und wisst ihr auch, weshalb? Ich will es euch verraten.«

Sie breitete die zaundünnen Arme aus, als wolle sie eine Ansprache halten, und schien dabei zu taumeln. Im letzten Moment gelang es ihr, sich auf den staksigen Beinen zu halten.

»Das liegt einzig und allein an ihm, dem Sohn des großen Ketzers. Weil dessen verbrecherisches Blut in seinen Adern kreist. Ihn bestrafen sie – und damit auch uns!«

»Halt den Mund!«, rief ein Mann erbost. »Schlaf lieber erst deinen Rausch aus, Weib, bevor du öffentlich solchen Unsinn daherbrabbelst.«

Doch die Worte der Betrunkenen hatten ihre Wirkung nicht verfehlt. Viele der Gesichter ringsum wirkten auf einmal betreten, manche sogar ängstlich. Für Miu war es nichts Neues. Mehrmals hatte sie Anuket Ähnliches flüstern hören, meist in Gegenwart von Menna, der sich regelmäßig um ihren Garten kümmerte. Freilich wagten sie es nur, wenn Raia nicht in der Nähe war, denn Großmama wusste die beiden mit strengem Blick zum Schweigen zu bringen.

Es traf zu, dass die Nilflut nun schon zwei aufeinanderfolgende Jahre weit hinter den Erwartungen zurückgeblieben war. Noch musste niemand im Land hungern, weil Pharao Tutanchamun die Speicher der großen Tempel öffnen und reichlich bemessene Sonderzuteilungen an Getreide hatte ausgeben lassen, aber auch diese Vorräte waren, wie alle wussten, keineswegs unbegrenzt. Es gärte unter der Bevölkerung und gleichzeitig wuchs der Druck auf den Pharao: War seine Beziehung zu den Göttern stark genug?

»Nur ein guter König schenkt dem Land auch eine gute Überschwemmung.« Jetzt klang die dürre Betrunkene wie ein trotziges Kind. »Er muss in der Lage sein ...«

»Hör einfach nicht mehr hin, Miu!«, befahl Großmama. »Solchen Menschen, die Manieren wie ein Baumstumpf haben, wirst du leider immer wieder begegnen. Denk lieber an das, was ich dir eingeschärft habe, und pass beim Aussteigen auf dein Kleid auf!«

Als ob sie dazu eigens angehalten werden müsste!

Das Kleid saß so eng, dass sie ohnehin nur winzige Schritte machen konnte, und ohne die Hilfe des Ruderers, der ihr die Hand reichte und sie auf den Steg hinüberzog, hätte sie womöglich auf der Fähre zurückbleiben müssen.

»Sind wir nicht schon viel zu spät?«, murmelte Miu, als sie Raia nachtippelte, die ein erstaunlich zügiges Tempo angeschlagen hatte.

»Wir sind genau richtig. Vorausgesetzt, du hörst endlich auf, hinter mir herzuwatscheln wie eine fußlahme Ente.«

Die Mauer, die das riesige Palastareal umgab, erschien Miu höher als bei ihrem letzten Besuch, ein uneinnehmbares Bollwerk, das jeden ausschloss, der nicht hierher gehörte – vor allem Leute wie sie. Plötzlich wünschte sie sich, sie hätte den Mund gehalten. Nein, besser noch, sie hätte von Anfang an auf Papa hören und Taheb erst gar nicht heimlich besuchen sollen, dann wäre ihr all das jetzt erspart geblieben: der Kloß im Hals, der harte Klumpen im Magen, die unsicheren Beine, die sich bei jedem Schritt zittriger anfühlten.

»Aber doch nicht hier«, protestierte sie matt, als Großmama zielstrebig das Haupttor ansteuerte. »Wollen wir nicht lieber dort drüben ...«

»Wir sind schließlich keine Bettler, sondern kommen mit einer wichtigen Nachricht für den Pharao, möge er leben, heil und gesund sein! Und jetzt halte dich gerade, mein Mädchen. Zum Umkehren ist es ohnehin zu spät.«

Sie hatte tatsächlich an das Tor geschlagen!

Miu hörte nicht genau, was der Mann der Palastwache fragte, der ihnen schließlich öffnete, dazu war das Rauschen in ihren Ohren inzwischen viel zu laut. Und auch Großmamas Antwort bekam sie nur als leichte Luftbewegung mit, so aufgeregt schlug ihr Herz. Was auch immer es gewesen sein mochte – sie wurden tatsächlich eingelassen, passierten das mächtige Tor und fanden sich jenseits der Mauer wieder.

»Wartet hier!« Der Wächter eilte davon, ein anderer blieb neben ihnen stehen, die Hand am Dolch, als befürchte er im nächsten Augenblick Übles.

Jetzt hätte Miu am liebsten nach Raias schützender Hand gegriffen, so verloren fühlte sie sich auf einmal. Sie kniff die Augen zusammen, um nicht geblendet zu werden, und schluckte die aufsteigende Enttäuschung hinunter.

Von wegen riesiger Park mit exotischen Pflanzen!

Alles gelb, grau und leblos. Was vor ihnen im strahlenden Sonnenlicht lag, musste der Hauptflügel des Palastes sein, zur Überraschung des Mädchens allerdings nicht aus Stein erbaut wie der große Tempel in Waset, sondern aus getrockneten Nilziegeln errichtet wie ihr eigenes Haus, wenngleich ungleich höher und viel, viel größer. Südlich und nördlich davon sah sie andere mehrstöckige Gebäude, hinter denen immer neue Bauwerke auftauchten. Eine ganze Stadt, ja, so kam es Miu vor, bereits zur Regierungszeit des königlichen Großvaters als Sommerwohnsitz für den nun lebenden Sohn der Götter erbaut ...

Schwere Schritte rissen sie aus ihren Gedanken. Jetzt umstellte sie ein ganzer Trupp bewaffneter Männer – die Leibgarde des Pharaos, wie Raia ihr zuflüsterte.

»Die Amme des Königs erwartet euch?«, bellte der diensthabende Offizier und es klang alles andere als freundlich.

»So ist es.« Raia nickte leicht. »Mayet, die den Horus* im Nest nährte, hat sich persönlich für unsere Audienz eingesetzt.«

»Beweise es!«

Großmama tippte auf die silberne Spange. »Ein Geschenk, das die Königsamme mir vor vielen Jahren gemacht hat. Sie trägt die gleiche Spange an ihrem Arm.«

»Metall ist geduldig. Das Passwort!«

»Der Kleine in der Küchengrube.« Sie rezitierte den seltsamen Satz so klar und selbstverständlich wie einen kunstvollen Vers.

»Das ist richtig!«, rief plötzlich eine fremde Stimme.

Bevor der Offizier noch etwas entgegnen konnte, hatte ihn schon eine Frau energisch zur Seite geschoben. Sie war klein und füllig, mit üppigen Hüften, die sich unter dem dünnen Kleiderstoff abzeichneten. Ihr pausbäckiges Gesicht strahlte vor Freude.

»Raia!«, rief sie. »Dass ich dich endlich wiedersehe! Und das Mädchen neben dir muss Miu sein. Wie ähnlich sie ihrer Mutter geworden ist!« Ihr Tonfall veränderte sich, wurde geradezu hochfahrend, als sie sich nun an die Leibgardisten wandte. »Wieso umringt ihr die beiden, als wären sie Verbrecherinnen? Sie sind mehr als willkommen. Der Haushofmeister erwartet uns bereits!«

Die Männer traten zurück und Mayet nickte den Besucherinnen aufmunternd zu.

»So kommt! Ich werde euch zu ihm bringen.«

Raia und Miu gingen mit ihr zum Haupttrakt, Großmama kerzengerade, mit hocherhobenem Haupt, Miu eher unbeholfen, weil sie die Blicke der Leibgardisten, die ihnen in gewissem Abstand folgten, wie Nadelstiche im Rücken zu spüren glaubte.

»Der Haushofmeister?«, sagte Großmama leise. »Ich hatte gehofft, wir würden gleich ...«

»Noch immer dieses Ungestüm!« Mayet war stehen geblieben, wiegte bedenklich den Kopf. »Man spürt, dass du lange nicht mehr bei Hofe warst, Raia. So manches mag sich inzwischen geändert haben. Anderes dagegen ändert sich niemals, daran solltest sogar du dich gewöhnen. Von Sepi empfangen zu werden, ist bereits eine große Auszeichnung!«

Der Mann, der sie in einem großen Raum mit schönen Wandmalereien empfing, war feingliedrig und auffallend gepflegt. Blendend weiß sein plissierter Schurz; die Wangen so sorgfältig geschabt, dass seine Haut wie dunkles Gold schimmerte. Mayets aufgeregtes Geschnatter unterbrach er mit einem kühlen Nicken.

»Das ist das betreffende Mädchen?«, sagte er, an Raia gewandt, als wäre sie die Einzige, von der er sich einigermaßen klare Auskünfte erwartete. »Was genau will sie gehört haben?«

»Das soll sie dir am besten selber sagen.« Raia versetzte ihrer Enkelin einen aufmunternden Stups.

Miu atmete tief aus und begann mit ihrer Geschichte. Sepi schloss die Lider, während er zuhörte – ob aus Konzentration oder eher aus Widerwillen, das vermochte sie nicht zu sagen, denn seine Züge verzerrten sich, je weiter sie in ihrem Bericht gelangte.

»Warte!«, unterbrach er sie, als sie bei ihrem zweiten Besuch auf dem Markt angelangt war. »Das müssen andere Ohren als meine zu hören bekommen.«

Er lief hinaus, ließ die drei für einige Zeit allein.

»Er wird Maja holen gehen«, sagte die Amme in das entstandene Schweigen hinein. Sie schnalzte mit der Zunge und legte den Kopf vielsagend zur Seite. »Worauf ich bereits von Anfang an gesetzt hatte. Mein Namensvetter steht als Schatzmeister und Verwalter des Hauses der Ewigkeit* dem Pharao näher als sonst einer bei Hof.«

»Hoffentlich ist er auch weniger voreingenommen«, rief Miu. »Hat dieser Sepi mir überhaupt geglaubt? Ich hatte nicht den Eindruck!«

»Du erzählst eben noch einmal von vorn«, erwiderte Großmama ungerührt. »Man wird dir glauben müssen, mein Mädchen!«

»Hoffentlich ist es bis dahin nicht schon zu spät ...«

Zwei dunkelhäutige Diener, die einen Mann begleiteten, der so schlaksig und langbeinig war, wie es meist nur die Bewohner der großen Oasen sind. Er befahl ihnen, draußen zu warten, bevor er die Türe schloss und sich den Besucherinnen zuwandte.

»Du also bist die Kleine, die Sepi aus der Fassung gebracht hat.« Maja musterte das Mädchen eingehend. »Dann lass mal hören, was du zu sagen hast.«

Irgendetwas an seinem Tonfall störte sie. Oder war es die Art, wie er auf sie herabschaute, als wäre sie ein lästiges Insekt? Miu begann noch einmal von vorn, äußerlich ruhig, aber sie spürte, wie Ärger in ihr aufstieg, und obwohl sie sich fest vorgenommen hatte, an ihrem Bericht nichts zu verändern, geschah es doch. Hier ein Wort mehr, dort ein Halbsatz weggelassen – plötzlich klang es anders in ihren Ohren. Anders, als sie eigentlich gewollt hatte.

Sie hielt inne, presste die Hand auf das Herz.

»Was ist los?« Majas Augen ruhten auf ihr. »Das ist doch noch nicht das Ende.«

»Geschichten werden nicht dadurch wahrer, dass man sie wieder und wieder erzählt. Ich weiß, dass der Pharao in großer Gefahr schwebt. Nur deshalb bin ich hier.« Sie zog die Stirn kraus. »Wieso kann ich ihm das eigentlich nicht selber sagen?«

»Weil ein Königshof ein Gebilde mit komplizierten Regeln ist, beinahe so etwas wie ein Lebewesen, das eigenen Gesetzen gehorcht.« Majas Stimme klang gereizt. »Wo kämen wir denn hin, wenn jeder zum Pharao vorgelassen würde?«

»Aber ist dieses Beinah-Lebewesen nicht dem Untergang geweiht, sobald der König tot ist?«

Hatte sie das wirklich gerade gesagt?

Es war ihr einfach so herausgerutscht. Eine heiße Welle aus Verlegenheit und Zorn schoss in Miu empor. Sie spürte, wie ihre Lippen bebten.

»In gewisser Weise, ja.« Jetzt besaß sie Majas uneingeschränkte Aufmerksamkeit, das konnte Miu spüren. »Zumindest so lange, bis die Trauerzeit vorüber ist und der neue Pharao den Thron bestiegen hat.«

»Das klingt ja, als spiele es gar keine entscheidende Rolle, wer Herrscher der beiden Länder ist. Ist es so?«

»Miu!«, sagte Großmama scharf. »Es reicht! Du wirst dich sofort bei dem verehrten Herrn Schatzmeister entschul...

»Alle in Kemet haben dem Einzig-Einen zu dienen, möge er leben, heil und gesund sein!«

Eine Stimme wie Donnerhall, die jeden im Raum plötzlich kleiner erscheinen ließ. Sie kam von einem Mann, der unbemerkt eingetreten war. Hakennase. Borstige graue Brauen. Energische Lippen, gewohnt zu befehlen. Ein von kräftigen Adern durchzogener Hals. Der Brustkorb unter seinem bis an die Knöchel reichenden Gewand, das von zwei Bändern um den Hals gehalten wurde, war breit. Den Rücken jedoch hatte das Alter bereits leicht gebeugt.

»Schließlich ist Tutanchamun nicht nur Pharao, sondern auch Gott«, fuhr er fort. »Alles gehört ihm. Sogar die Luft, die wir atmen. Ohne ihn wären wir nichts, weniger als ein Sandkorn in der unendlichen Wüste. Ist deine Frage damit beantwortet, Mädchen?«

Miu nickte beklommen.

Ein Löwe, dachte sie. Kraftvoll. Unerschrocken. Jemand, den nichts und niemand aufzuhalten vermag.

Wer nur war dieser Ehrfurcht gebietende Mann?

Raia war in eine tiefe Verneigung gesunken, in der sie regungslos verharrte, und auch Mayet tat es ihr nach.

»Du gibst uns persönlich die Ehre, Göttervater Eje?« Sogar der Schatzmeister klang mit einem Mal nicht mehr ganz so selbstbewusst.

»Weshalb bin ich nicht von Anfang an in Kenntnis gesetzt worden?«, erhielt er als barsche Antwort. »Alles, was den Pharao betrifft, betrifft auch mich. Oder lassen meine diesbezüglichen Anordnungen an Klarheit vermissen?«

»Natürlich nicht, Wesir*. Wir wollten lediglich zunächst sicherstellen, dass die Aussagen der Kleinen auch Hand und Fuß haben, nicht mehr und nicht weniger ...«

»Wie heißt du, Mädchen?«, unterbrach Eje ihn.

»Mutemwija. Aber alle nennen mich Miu.«

»Dann erzähl mir, was geschehen ist, Miu«, sagte Eje, als wären nur noch sie beide im Raum.

Sie hielt seinem strengen Blick stand, obwohl es sie größte Anstrengung kostete.

»Alles?«, fragte sie schließlich.

»Alles«, antwortete er.

Und so begann Miu noch einmal ganz von vorn.

Hatte sie als Erstes das Kläffen gehört – oder war es doch dieses helle, überraschend scharfe Lachen gewesen, das sie nicht mehr vergessen würde?

Auf jeden Fall stand Miu nun vor Pharao Tutanchamun und seiner Großen Königlichen Gemahlin, die anmutig auf einem Thronsessel saß, flankiert von zwei schwarzen, schlanken Hunden mit spitzen Ohren, die das Mädchen inzwischen neugierig beschnüffelten. Sie hielt ganz still, während alle anderen im Raum sich zu Boden geworfen hatten, mit Ausnahme von Eje, der das hohe Paar mit einer Verneigung begrüßte. Erst als ein Pfiff die Tiere zu ihrer Herrin zurückbefahl, wagte Miu, sich zu bewegen. Jetzt berührte endlich auch ihre Stirn die bemalten Fliesen, wie es das Protokoll gebot.

Noch immer erschien ihr alles wie ein Traum, wenngleich ihre allmählich schmerzenden Knie ein untrüglicher Beweis dafür waren, dass sie nicht träumte. Der Wesir hatte sie durch endlose Korridore und immer neue freskengeschmückte Hallen geschleppt, gefolgt von Raia, die lauthals dagegen protestiert hatte, ihre Enkelin allein mit ihm gehen zu lassen. Schließlich hatte sich auch Mayet ihnen angeschlossen.

»Erhebe dich«, hörte sie den König nun sagen. »Und schau mich an. Ich möchte sehen, wer mich da unbedingt sprechen will!«

Miu gehorchte, was in dem ungewohnt engen Kleid allerdings nicht ganz einfach war, leicht verdutzt, weil er so unerwartet freundlich klang.

Was für abstehende Ohren er hatte!

Das linke bildete sogar einen noch kühneren Winkel als das rechte und hätte sie beinahe zum Lachen gereizt. Als schön konnte man ihn nicht gerade bezeichnen, dafür waren seine Lippen für ihren Geschmack zu breit und die Nase war zu knollig. Immerhin hatte er einen Charakterkopf, für den er sich nicht zu schämen schien, denn er trug sein Haupthaar militärisch kurz geschoren. Dass er dennoch sehr anziehend wirkte, lag an seinen Augen.

Nein, eigentlich lag es eher daran, wie er sie ansah.

Tutanchamun lächelte und erinnerte Miu dabei an einen kleinen Jungen, der ihr schon einmal früher begegnet war.

Heute allerdings waren seine Brauen frisch rasiert. Was ihr sofort verriet, welche Art von schmerzlichem Verlust er gerade erlitten haben musste.

»Deine Katze, Herr der beiden Länder«, entfuhr es ihr. »Sie ist tot und du bist in tiefer Trauer.«

»Ja, die Katze«, rief er. »Das musst du doch noch wissen! Ich hab dich sofort wiedererkannt. Du warst das kleine Mädchen im königlichen Garten der Sonnenstadt, erinnerst du dich? Du warst so verweint und durcheinander, da hab ich dir den Wurf gezeigt, um dich zu trösten, und dir schließlich sogar eines der Jungen geschenkt.«

Der Falke ist zum Himmel geflogen ...

Der Satz, der damals ihr ganzes Leben mit einem Schlag verändern sollte!

»Der Pharao war gerade gestorben«, murmelte Miu, während die Erinnerung an jenen merkwürdigen Abend langsam zurückkehrte. »Alle Erwachsenen um mich herum waren in heller Aufregung und ich konnte Papa nirgendwo finden. Ich hatte mich verlaufen und habe überall vergeblich nach ihm gerufen, bis mich schließlich dieser freundliche Junge ...«

»Das war ich!«, unterbrach er sie. »Damals noch eines der Kinder im Harim* und schon wenig später der neue König Kemets.«

Seine Augen ruhten auf ihr, warm und so dunkel, dass man sich sehr leicht in ihnen verlieren konnte.

»Sag, lebt das Kätzchen von damals noch? Meine geliebte Ta-Mau ist leider tot. Wie sehr sie mir fehlt! Überall im Palast sehe ich sie sitzen, an all ihren Lieblingsplätzen. Und nachts, im Halbschlaf, glaube ich ihre leisen Pfoten zu hören. Doch später wird sie wieder bei mir sein. In meinem Haus der Ewigkeit soll einmal ihr kleiner Sarg neben meinem stehen!«

Eine eisige Hand griff nach Mius Herz.

Den ersten Schlag hat er schon einstecken müssen ...

»Wie ist sie denn gestorben?«, fragte sie beklommen.

»Man hat sie vor Kurzem aus einem der Teiche gezogen. Aber an einen Unfall glaube ich nicht, so geschickt und klug, wie sie stets war. Sollte jemand tatsächlich seine verbrecherischen Hände dabei im Spiel gehabt haben, so werde ich sie ihm abschneiden lassen, und danach wird er bei lebendigem Leibe viergeteilt, das schwöre ich bei den Krallen des Seth!« Seine Stimme war plötzlich schneidend.

Einen Schlag hat er schon einstecken müssen – das also hatten die beiden Männer im Graureiher gemeint!

Wenn Miu bislang noch den Schatten eines Zweifels an ihrem Verdacht gehabt hatte, dann war er in diesem Moment verflogen. In ihrem Bauch zog sich etwas zusammen. Unwillkürlich verlagerte sie ihr Gewicht von einem Bein auf das andere.

Plötzlich lag Spannung in der Luft.

Einer der schwarzen Hunde knurrte, der andere hatte sich jäh erhoben.

»Aus, Tjesem!«, rief Anchesenamun* ungnädig. »Platz, Tjesmet, aber schnell!« Sie drehte sich zum König und setzte ein Lächeln auf. »Wollen wir nicht endlich zum Wesentlichen kommen, Goldhorus*?«, sagte sie schleppend.

Miu mochte sie nicht, das spürte sie sofort. Obwohl die Große Königliche Gemahlin perfekt gekleidet war, mit Gold und Edelsteinen überreich geschmückt. Und geradezu unerträglich schön. Doch trotz der sorgfältig aufgetragenen Schminke war nicht zu übersehen, dass sie einige Jahre älter sein musste als ihr Gatte, kein Mädchen mehr, sondern eine junge Frau mit zartem Knochenbau, Rundungen an den richtigen Stellen und einem grazilen, langen Hals. Allerdings lag um die vollen Lippen ein herablassender Zug, und die halb geschlossenen Lider ließen sie aussehen, als sei sie müde oder gelangweilt.

»Wir sind beim Wesentlichen.« Tutanchamuns Tonfall war ruhig, doch es war eine gewisse Schärfe herauszuhören, die Miu sofort als Warnung verstand. Er mochte es nicht, wenn jemand ihm die Dinge aus der Hand nehmen wollte.

Nicht einmal wenn es seine Große Königliche Gemahlin war.

»Das will ich meinen«, sagte Eje, der bislang geschwiegen hatte, und bei ihm erhob Tutanchamun keinerlei Einwand. »Dieses Mädchen hat zwei Schurken belauscht, die offenbar einen Anschlag auf dich planen, Einzig-Einer. Wobei einer von ihnen zur hiesigen Dienerschaft gehören könnte, denn sie sah ihn im Palast verschwinden. Sie hat ihn als ›Warzenkerl‹ beschrieben, ein junger Mann um die zwanzig. Dürfte also nicht weiter schwierig sein, ihn zu identifizieren und unschädlich zu machen.«

Er runzelte die Stirn.

»Wir werden gleich anschließend ein ausführliches Protokoll aufsetzen lassen, um alles zu dokumentieren und um weitere Schritte einzuleiten. Ich glaube der Kleinen jedes Wort.« Ein knappes Nicken in Mius Richtung.

Sie fasste es als Aufforderung auf und sprudelte einfach los.

»Der Falke muss zum Himmel fliegen«, sagte sie. »Genau das habe ich die beiden sagen hören. Wobei der Ältere mit dem Geierprofil mir irgendwie gefährlicher erschien. Aber der hat sich ja frühzeitig abgesetzt. Ich habe dann den anderen verfolgt, den Warzenkerl. Er hat auf dem Markt Verhandlungen mit dem Schlangenbeschwörer geführt, der dort die giftigsten Kobras verkauft. Als ich am nächsten Tag noch einmal nachschauen war, hat eine davon gefehlt, eine rötliche mit einem breiten schwarzen Schuppenband. Es sieht also ganz so aus, als wollten die beiden nicht mehr lange warten.«

Sie nahm all ihren Mut zusammen und sah ihn fest an.

»Ich habe große Angst um dich. Deshalb bin ich hier. Du solltest dich vorsehen, mein König, mögest du leben, heil und gesund sein!«

Hatte sie das alles wirklich gesagt? Nicht einmal Mius Herz schlug schneller als gewöhnlich. Dabei stand sie im Thronsaal – und sprach mit dem Pharao!

Tutanchamun hatte sich leicht zur Seite gewandt, als hätte er einen Schlag abbekommen. Als er wieder zu sprechen begann, zitterte seine Stimme.

»Meine Mutter ist durch Schlangengift aus dem Weg geräumt worden«, sagte er. »Und nun soll ich ihr auf die gleiche niederträchtige Weise nachfolgen müssen?« Er ballte die Faust und schlug damit so fest auf die Sessellehne, dass Miu Angst bekam, das Holz könnte splittern. »Aber sie haben sich verrechnet!«, rief er. »Wer auch immer dahinterstecken mag. Nein, meine Zeit ist noch nicht gekommen – und das werde ich sie alle spüren lassen!«

Dann erst schien er sich zu besinnen, dass er nicht allein war. Sein Blick glitt zu Anchesenamun, die plötzlich betreten wirkte und ihre Hunde zu kraulen begann, als brauche sie die Berührung der warmen Tierkörper.

Schließlich sah er wieder Miu an und schien sie mit seinem Lächeln zu umarmen.

Ihre Handflächen begannen zu glühen, als wäre sie aus Versehen zu nah an ein prasselndes Feuer gekommen.

»Du bist hier, um mich zu warnen, und ich weiß noch nicht einmal deinen Namen«, sagte er. »Wie heißt du?«

»Miu«, erwiderte sie. »Und das Kätzchen von damals ist noch am Leben.«

»Sie ist die wahre Tochter ihrer Mutter!«, murmelte Raia, als sie auf dem Heimweg waren. »Und das nicht nur äußerlich. Wie sie dich angefunkelt hat! Als ob sie dir am liebsten den Hals umdrehen würde!«

»Du magst sie auch nicht?«, sagte Miu.

»Ganz Waset tuschelt darüber, wie verzweifelt Anchesenamun sich eine Schwangerschaft wünscht. Dazu sei ihr jedes Mittel recht. Manche behaupten sogar, sie verwende geheimen Zauber, um dem Pharao endlich einen Sohn zu schenken. Keine der Nebenfrauen im Harim sei vor ihr sicher. Sobald der Pharao an einer zu viel Gefallen findet, gerate deren Leben in Gefahr.«

»Woher weißt du das alles?«

Großmama zuckte die Achseln. Die Linien um ihren Mund schienen plötzlich tiefer.

»Nofretete* hat unserer Familie einst großen Schaden zugefügt«, sagte sie. »Ebenso wie ihr Gatte, König Echnaton*. Da scheint es mir angebracht, bei ihrer einzigen noch lebenden Tochter besonders aufmerksam zu sein.«

Es klang so abschließend, dass Miu nicht weiter zu fragen wagte, und eigentlich war sie ja auch mit dem Wirrwarr ihrer eigenen Gefühle und Gedanken genug beschäftigt. Schweigend erreichten sie am späten Nachmittag das Haus, wo Raia sich sofort in ihr Zimmer zurückzog, um sich auszuruhen.

Miu befreite sich als Erstes aus dem engen Gewand, dann schaute sie nach den Katzen. Pau erteilte im Küchenhof ihren beiden Kleinen gerade eine Lektion im Fangen und Erlegen der Beute. Das dunkel gestromte Katzenjunge hatte sich nah an eine winzige Maus herangepirscht, dabei duckte es sich so tief, dass sein Bauchfell beinahe den Boden streifte.

Wild zuckende Schwanzspitze. Abgespreizte Schnurhaare. Aufgestellte Ohren. Die Hinterbeine traten mehrfach auf der Stelle, der Katzenkörper spannte sich und schoss nach vorn.

Die Maus machte einen Satz und war außer Sichtweite.

Verdutzt schaute sich das Junge um, begann sich dann aus Verlegenheit das Fell zu lecken, während Pau das Beutetier mit einem gezielten Pfotenhieb erneut in Stellung brachte.

Jetzt kam das lohfarbene Geschwisterchen an die Reihe, gleiche Bewegungsabfolge, dann erneut der Sprung – es stellte sich geschickter an oder hatte einfach mehr Glück. Seine spitzen kleinen Zähne bohrten sich in den Nacken der Maus und bissen zu.

Die Maus rührte sich nicht mehr.

Die kleine Katze schien zu zögern, schaute zu Pau, die statuengleich danebensaß, dann erst begann sie zu fressen.

Ein Weibchen, wie Miu zu erkennen glaubte, als es mit hoch erhobenem Schwanz davonstolzierte, um sich einen ruhigen Platz für die Fellpflege zu suchen.

Bei diesem Anblick begann eine Idee in ihr zu keimen, die ihr ein Lächeln aufs Gesicht zauberte. Dann jedoch verwarf Miu sie gleich wieder, denn sie hatte Tutanchamun in diesem einzigen Punkt nicht die ganze Wahrheit gesagt. Pau war nicht die Feuerkatze von damals, sondern eine ihrer zahlreichen Töchter. Die kleine Lüge war ihr so einfach und leicht über die Lippen geflossen, bevor sie sich dagegen wehren konnte.

Und wenn schon! Denn was bildete sie sich überhaupt ein? Nur ein einziges Mal war sie bei Hof empfangen worden, und das hatte sie allein Raias alten Beziehungen zur Königsamme zu verdanken. Es würde keine weiteren Besuche im Palast geben, so viel stand fest. Miu hatte ihre Pflicht erfüllt. Tutanchamun und sein grimmiger Wesir wussten nun Bescheid und würden die Attentäter zur Strecke bringen.

»Mein Herr, mögest du leben, heil und gesund sein«, begann sie, vor sich hin zu summen. »Noch tausend glückliche Jahre wünsche ich dir!«

Miu hielt inne, begann grundlos zu kichern.

Was war nur mit ihr los? Hatte Tutanchamun sie verzaubert? Oder einen Schatten auf sie gelegt? Oder warum sonst rollte plötzlich sein Name unablässig wie eine glatte, sorgfältig polierte Kugel in ihrem Kopf hin und her?

Sie hielt es plötzlich nicht mehr alleine aus. Sagte Raia nicht immer, dass eine Frau eine Frau brauche, um gewisse Dinge zu bereden?

Es gab nur eine Einzige, die dafür infrage kam.

Und bevor Anuket, die gerade mit ihren Gerätschaften zum Brotbacken den Hof betrat, noch den Mund aufmachen und erneut loszetern konnte, war Miu schon nach draußen geschlüpft.

Sie lief, so schnell sie konnte, allein schon, um sich selber vom Nachdenken abzuhalten. Der Nil kam bald in Sicht und mit ihm all die Trupps von Arbeitern, die mit den abschließenden Vorbereitungen für die jährliche Überschwemmung befasst waren. Jetzt wurde letzte Hand an die Verstärkung der Dämme gelegt, in der Hoffnung auf eine reichliche Flut. Andere Männer reinigten die Bewässerungsbecken, wieder andere hoben Auffanggruben aus, in die das Wasser später abfließen konnte.

Natürlich fiel ihr auf, dass die Häuser hier einfacher und kleiner waren als in ihrem Viertel, aber das konnte nicht der Grund sein, warum Papa ihr von heute auf morgen den Kontakt zu Iset untersagt hatte.

»Sie ist nun mal kein Umgang für dich.« Mehr war trotz allem Schmollen und Schmeicheln nicht aus ihm herauszubekommen gewesen. »Du tust jetzt einfach, was dein Vater von dir verlangt. Schließlich bin ich ein ganzes Stück älter als du und kenne das Leben. Und sei ganz sicher, Miu: Alles geschieht einzig zu deinem Besten!«

Ihr Bestes – pah!

Erst als Miu mit klopfendem Herzen vor dem Eingang des niedrigen Lehmziegelhauses stand, spürte sie, wie sehr sie die Freundin vermisst hatte. Ich lass mir nicht alles wegnehmen, dachte sie. Nicht einmal von ihm.

Sie klopfte an und war froh, dass es Iset war, die ihr öffnete.

»Miu!« Freudige Überraschung rötete ihr Gesicht. »Du bist so ziemlich die Allerletzte, mit der ich jetzt gerechnet hätte.«

»Darf ich trotzdem reinkommen?«

»Na ja, viel Zeit haben wir nicht gerade«, sagte Iset mit einem verlegenen Lächeln. »Wir stecken nämlich mitten ...« Sie biss sich auf die Lippen. »Du wirst ja selber sehen. Komm!«

Sie ging voraus in den Küchenhof, auch er ein ganzes Stück kleiner und enger als bei ihnen zu Hause, wie Miu unwillkürlich registrierte. Die Herdstelle schien ihre besten Zeiten schon hinter sich zu haben. Trotzdem war sie mit Töpfen und Schalen geradezu überfüllt. Überall saßen Frauen, die nähten und stichelten, schnippelten und hackten, Nachbarinnen, Verwandte, Freundinnen, eine fröhliche, sichtlich gut gelaunte Gesellschaft. Dazwischen wuselten Isets kleine Brüder herum, die immer wieder einen Leckerbissen zugesteckt bekamen.

»Bereitet ihr ein Fest vor?«, fragte Miu.

»Das will ich meinen.« Sheribin, Isets Mutter, hielt beim Teigkneten inne und lächelte Miu an. »Schön, dass wir dich auch mal wieder zu Gesicht bekommen«, sagte sie. »Jetzt, wo uns bald eine Hochzeit ins Haus steht.«

»Du willst wieder heiraten?«, fragte Miu überrascht.

Isets Mutter war die untröstlichste Witwe, die sie jemals erlebt hatte. Vor mehr als zwei Jahren war ihr Mann Pached nach längerer Krankheit verstorben. Woran genau er gelitten hatte, wusste Miu bis heute nicht. Die gesamte Familie schien entschlossen, ein großes Geheimnis daraus zu machen.

»Ich doch nicht!« Beim Lachen kerbten jene zwei tiefen Grübchen Sheribins Wangen, die sie auch ihrer Tochter vererbt hatte. »Meine Große – Iset. Deine alte Freundin.«

Für Miu fühlte es sich an, als würde ein schwerer Gegenstand in tiefes Wasser fallen. Kein Schmerz, nicht ganz, aber doch mehr als eine Ahnung davon. Wie drohender unwiderruflicher Verlust fühlte es sich an. Aber hatte sie die Freundin eigentlich nicht schon längst verloren?

»Wen denn?«, brachte sie gerade noch heraus. »Kenne ich ihn?«

»Kenamun. Beim Neujahrsfest wird es so weit sein«, sagte Iset und sah so glücklich dabei aus, dass Miu den Blick erneut senken musste. »Nein, du kennst ihn noch nicht. Sag, was ist eigentlich mit dir und Ani?«

»Nichts – was sollte schon sein? Er ist ein entfernter Verwandter, der jetzt Dienst bei der Polizei schiebt, was ihm zu gefallen scheint, und damit hat es sich auch schon. Aber du eine Ehefrau? Bist du dafür nicht noch viel zu jung?« Jetzt klang sie schon wie Anuket!

»Iset ist fast siebzehn«, mischte sich nun die Mutter ein. »Und du müsstest doch auch bald sechzehn werden, habe ich recht? Andere in eurem Alter sind da längst verheiratet. Geh mir doch mal das Honigfässchen aus dem Keller holen, Iset! Dann kann ich den Kuchen nachher gleich bestreichen.«

Iset gehorchte und Sheribin beschäftigte sich wieder mit ihrem Teig.

»Mach ihr die Heirat bloß nicht madig, Miu!«, sagte sie plötzlich. »Ich hab schließlich noch zwei kleine Buben zu versorgen und bin mehr als froh über diese Verbindung. Du musst bei unserer Feier unbedingt dabei sein. Und dein Vater und deine Großmutter natürlich auch! Ich hab die beiden schon seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen. Es geht ihnen doch hoffentlich gut?«

Ach, Sheribin hatte ja keine Ahnung! Wenn sie wüsste, wie wenig Papa von ihr und der ganzen Familie hielt, würde sie bestimmt sehr viel weniger gastfreundlich sein.

»Ja, alles in Ordnung. Papa ist allerdings viel unterwegs«, sagte Miu schnell. »Zurzeit auf Geschäftsreise in Abju. Es kann dauern, bis er wieder zurück ist.«

»Seltsam«, sagte Sheribin. »Meine Nachbarin hat mir gerade erzählt, dass sie ihn erst heute in der Stadt gesehen hat. Da muss sie sich wohl getäuscht haben!« Eine weite Geste, die den ganzen Hof umschloss. »Weißt du übrigens, von wem das meiste hier stammt? Ohne unseren freigiebigen Gönner müssten wir uns sehr viel mehr einschränken.«

Miu zog die Brauen hoch.

»Na, von Nefer, deinem Onkel. Er hat sich rührend um Pached gekümmert. Bis zu dessen Ende. Hat mich bei dem Begräbnis unterstützt und dafür gesorgt, dass mein Mann eine würdige Wohnstatt für die Ewigkeit erhalten hat. Und selbst jetzt, zwei Jahre danach, lässt er uns nicht im Stich. Ein feiner Zug von ihm, das muss ich schon sagen! Natürlich wird er unser Ehrengast sein. Zusammen mit deiner reizenden Tante. Und vielleicht kommt der Sohn ja auch mit.«

Miu war zu überrascht, um etwas zu antworten.

Nefer, der jeden Deben* mindestens dreimal umdrehte und bereits die Brauen runzelte, wenn Taheb ihr für ihre Dienste etwas zustecken wollte? Wie in aller Welt passte das zusammen?

»Ich wusste gar nicht, dass die beiden sich kannten«, sagte sie vorsichtig.

»Doch, aber das reicht lange zurück.« Sheribins Gesicht war plötzlich traurig geworden. »Auch wir haben einmal bessere Zeiten gekannt, damals in der Sonnenstadt, wo wir alle so glücklich gewesen sind. Iset und du, ihr seid dort ja zur Welt gekommen und die ersten Jahre aufgewachsen, aber natürlich könnt ihr euch nicht mehr daran erinnern. Ihr wart noch zu klein, als wir ...«

Sie brach ab, als Iset mit dem Fässchen zurückkam.

»Alte Geschichten«, sagte sie mit bemühter Fröhlichkeit. »Die heute keinem mehr was nützen. Was vorbei ist, ist vorbei. Wir leben und sind gesund. Allein das zählt!«

»Soll ich dir von Kenamun erzählen?«, sagte Iset leise. »Du wirst ihn mögen, das weiß ich genau. Er ist nämlich der netteste Mann, den du dir nur vorstellen kannst!«

Was sollte sie darauf noch sagen? Iset klang so begeistert, dass Miu sich zum Zuhören entschloss. Was hätte sie der Freundin auch von sich erzählen sollen?

Die Audienz bei Hof kam ihr inzwischen doch selber wieder so unwirklich wie ein Traum vor!

Miu behielt also für sich, was sie auf dem Herzen gehabt hätte, und lauschte Isets schwärmerischen Tiraden, die kein Ende nehmen wollten.

Es war kein Kerl zu finden, der eine Warze am rechten Nasenflügel hatte, im ganzen Palast nicht, obwohl man ausnahmslos jeden, der hier beschäftigt war, hatte antreten lassen. Jede Ecke, jeder Winkel war durchkämmt worden – ergebnislos.

Gab es irgendeinen Grund, Eje zu misstrauen, der die Untersuchungen geleitet hatte?

Obwohl Tutanchamun sich aus frühen Kindheitstagen ein gesundes Misstrauen bewahrt hatte, sah er dazu keinerlei Anlass. Der Alte war sehr viel mehr als nur sein Wesir, der mit den wichtigsten Aufgaben im Reich betraut war. Er war außerdem eine Art Vater für Tutanchamun, weil er seinen eigenen ja kaum gekannt hatte.

Ob Eje bei seinen Nachforschungen vielleicht zu viele Wellen geschlagen und damit den Verdächtigen in die Flucht getrieben hatte?

Einige junge Männer, die im Palast arbeiteten, waren dem Pharao tatsächlich vorgeführt worden, aber einer hatte eine Warze am Mund, der andere ein ganzes Warzennest am Arm, ein dritter eine hässlich wuchernde Ausbeulung an der Stirn. Zitternd vor Angst waren sie nach dem Verhör schließlich wieder abgetreten - und die Suche nach einem Attentäter hatte zu keinerlei greifbarem Ergebnis geführt.

Und wenn das Mädchen doch gelogen hatte, einfach nur, um sich wichtig zu machen?

Der Gedanke brachte Mius Bild in sein Gedächtnis zurück, ihre schlanke Gestalt in dem hellen Kleid, das dreieckige Gesicht, die schmalen grünlichen Augen. Wie eine Katze hatte sie ihn angeblinzelt; vielleicht trug sie ja ihren Kosenamen zu Recht. »Miu« bedeutete »Katze« und Katzen jagen Mäuse und haben Geheimnisse. Katzen schmeicheln, aber sie verstellen sich nicht, dazu sind sie zu unabhängig und zu stolz.

Nein, er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass Miu ihn absichtlich hinters Licht geführt hatte!

Seine innere Unruhe wuchs.

Nach der Gesellschaft von Anchesenamun war ihm jetzt nicht, obwohl er ganz genau wusste, wie inständig die Große Königliche Gemahlin seine nächtlichen Besuche erwartete. Ob er sich stattdessen ein paar entspannte Stunden im Harim machen sollte?

Auch das erschien ihm jetzt nur als Anstrengung, nicht als Erlösung.

»Mein Herr?« Die schmale, leicht gebeugte Silhouette seines Leibdieners Bata schien im diffusen Licht der Öllampen zu zerfließen. »Was kann ich noch für dich tun?«

»Lass mich allein«, sagte Tutanchamun aus einer plötzlichen Laune heraus. »Und meinen Schmuck lege ich auch selber ab. Manchmal braucht ein Pharao nichts als Ruhe.«

Er trat nach draußen, wo die sanfte Kühle des nächtlichen Gartens ihn umfing. Doch nicht danach sehnte er sich, sondern nach der kompromisslosen Klarheit und strengen Einsamkeit der Wüste, wo es nichts anderes mehr geben würde als das Pfeifen des Windes, das Knirschen des Sands unter den Rädern seines Streitwagens, das Schnauben der Pferde. Sollten doch alle die Wüste als das rote Reich des grausamen Gottes Seth schmähen – für ihn gehörte sie unabdingbar dazu, zu Kemet, der schwarzen, fruchtbaren Erde, die bald wieder zu neuem Leben erwachen würde!

Ganz allein, inmitten von Wind und Sand, das waren die Momente, in denen er sich stets am meisten bei sich selbst fühlte: Dann war er kein König mehr, kein Herrscher, der über Leben und Tod zu entscheiden hatte, sondern nur noch ein junger Mann mit einem unbeugsamen Willen und großen Plänen, die er alle umsetzen würde – Tutanchamun.

Nach einer Weile hielt er es nicht länger aus unter all den Palmen und Sykomoren, die ihre Pracht einzig und allein sorgfältiger, dauerhafter Bewässerung verdankten, und kehrte zurück in seine Gemächer. Dass Kemets kostbarstes Gut das Wasser war, wusste niemand besser als er, und die niedrigen Nilstände der vergangenen beiden Jahre lasteten schwer auf seiner Seele.

Nur ein guter Pharao schenkt seinem Volk auch eine gute Flut – auch ohne seine Spitzel, die durch die Städte streiften und ihm wiedergaben, was sie erlauscht hatten, wusste er genau, was die Leute dachten. Er diente den Göttern, hatte dafür sogar die leuchtende Vision seines Vaters aufgegeben und seinen Namen geändert, alles einzig und allein, um dem Land wieder Frieden und Fruchtbarkeit zu schenken.

Und wenn genau das sein größter Fehler gewesen wäre, für den er und alle anderen nun bitter büßen mussten?

Plötzlich war ihm das massive Pektorale auf seiner Brust lästig, ebenso wie die Ringe, die seine Finger schmückten. Tutanchamun streifte die schwere Kette ab und legte sie auf das Tischchen neben dem Bett. Es war ein neues Stück, das er heute zum ersten Mal getragen hatte, meisterhaft gearbeitet aus feinem Gold und fünf Reihen verschiedenfarbiger Perlen aus Türkisen und Karneolen, das seitlich in zwei Falkenköpfe aus massivem Gold auslief.

Der Falke muss zum Himmel fliegen – da war er schon wieder, jener verfluchte Satz, der sich in seinem Herzen eingebrannt hatte!

Wer waren die wirklichen Drahtzieher? Wem würde sein Tod am meisten gelegen kommen?

Die Gedanken in seinem Kopf flogen wild durcheinander, während er seine Ringe nacheinander abzog.

Das Blut des Vaters, das in ihm floss, war Segen und Fluch zugleich. Er war der Sohn des großen Ketzers, wie die Leute Pharao Echnaton inzwischen ungeniert nannten.

Der einzige Sohn, der ihm jemals geboren worden war.

Allein dieser Tatsache verdankte er den Thron. Aber genau diese Tatsache war es auch, die ihn das Leben kosten konnte.

Tutanchamun trank einen Schluck Wein, dann legte er sich auf sein Bett mit den geschnitzten Löwenpfoten und schloss die Augen. Manchmal kam Ruhe über ihn, wenn er nur lang genug stillhielt, doch heute wollte nicht einmal dieser einfache Trick funktionieren.

Nach einer Weile erhob er sich wieder.

Die nachlässig abgelegten Schmuckstücke schimmerten im Licht der zahlreichen Öllampen.

Welch ein Schatz!, würde Bata respektvoll murmeln, wenn er sie morgen wieder aufräumen musste. Das kostbare Fleisch der Götter, das wahrlich andere Behandlung verdiente. Er sah sich um, doch die vertraute Ebenholztruhe, in die sein Diener sonst das königliche Geschmeide nach dem Tragen einsortierte, konnte er nirgendwo entdecken.

Stattdessen fiel ihm ein neues Gefäß auf, das offensichtlich dem gleichen Zweck dienen sollte, ein mehrstöckiges Kästchen in Kartuschenform, aus rötlichem Holz gezimmert. Die Ränder wie auch der Deckel waren aus Elfenbein. Oben war sein Name eingeritzt, mit Onyx eingelassen. Drei geräumige Schubfächer befanden sich auf der Vorderseite.

Das oberste war leer, was ihn erstaunte. Aus dem Holz kam ein strenger Geruch, der eine längst vergessen geglaubte Saite in ihm anschlug. Tutanchamun wartete, bis er die nächste Schublade aufzog, langsam, mit einer Vorsicht, die ihn selber erstaunte.

Kaum stand sie einen Spaltbreit offen, hörte er ein Zischen, das ihn erstarren ließ. Doch seine Hände waren schneller gewesen als seine Erinnerung, denn nun schoss eine Schlange züngelnd empor.

Rötlicher Leib, schwarzer Schuppenkranz. Genau die Kobra, vor der Miu ihn so eindringlich gewarnt hatte!

Der Falke muss zum Himmel fliegen – plötzlich war es, als dröhnte der Satz überlaut in der Einsamkeit seines Gemachs. Er griff neben sich, packte den nächsten Gegenstand, der ihm in die Finger kam, ein schweres Salbgefäß aus Alabaster, das schon seit Ewigkeiten neben seinem Bett stand, und holte aus.

Die Kobra schien bereit zum Zustoßen, da traf sie die Wucht seines ersten Hiebes. Er hatte gut gezielt, und dennoch lebte sie noch, was ihn überraschte. Zischend hob sie noch einmal den Kopf, um vieles langsamer allerdings, und er schlug erneut zu, wieder und wieder, so lange, bis sie sich nicht mehr bewegte.

Es war nicht einmal mehr nötig, noch mit dem Fuß nach ihr zu treten.

Die Kobra war tot.

Der Pharao sank auf sein Bett, den Kopf in den Händen vergraben. Für das zerschmetterte Reptil, das ihm den Tod hatte bringen sollen, hatte er keinen Blick mehr. Stattdessen bemühte er sich, den Sturm der Gefühle, der in ihm tobte, zum Schweigen zu bringen. Nichts fürchtete er mehr als den Todesbiss einer Kobra, die ihm die Mutter genommen hatte. Ausgerechnet darauf hatten die Attentäter gesetzt. Folglich mussten sie bestens instruiert sein, mussten viel zu viel über ihn wissen. Was bedeutete, dass sie über Informanten am Hof verfügten.

Allmählich wurde sein Atem ruhiger; die Hände zitterten nicht mehr. Nach einer Weile stand er auf. Seine Beine trugen ihn, er konnte die Arme wieder bewegen.

Er lebte.

Und er würde sie in die Knie zwingen, wer immer sie auch sein mochten, das schwor er sich in diesem Augenblick.

Langsam ging er nach draußen in den Garten, sog die Nachtluft tief in seine Lungen. Ein wunderbares, köstliches Gefühl, das er noch lange, lange genießen wollte.

Tutanchamun hob den Kopf, schnupperte.

Es schien auf einmal feuchter geworden zu sein, das meinte er mit allen Sinnen zu erspüren – oder war das lediglich eine Einbildung seiner überreizten Fantasie?

Dann hörte er das Geräusch, das ihn jedes Mal an das Quieken junger Schweine erinnerte.

Ein durchdringender, ganz und gar nicht harmonischer Ton, für ihn jedoch Musik in den Ohren.

Die Ibisse, stets dem steigenden Wasser ein Weilchen voraus, waren zurück!

Die Flut war nah. Und sein Königsheil gerettet.

DRITTES KAPITEL

Das Licht ist so gleißend hell, dass sie die Augen zu Schlitzen zusammenkneifen muss. Jetzt sehnt sie sich auf einmal zurück nach der Dunkelheit, die sie zuvor geängstigt hat.

Sie wehrt sich, aber es gibt kein Erbarmen.

Der Mann, der sie gepackt hält, schleift sie einfach weiter, ohne sich um ihr wütendes Treten und Strampeln zu kümmern.

»Hör auf dich zu wehren, Kleines. Damit machst du alles nur noch schlimmer!«

Oh, wie sehr sie seine Stimme hasst, dieses hohe, scharfe Flüstern, das ihr in den Ohren sticht! Wäre sie groß, sie würde ihn zwingen, sie endlich freizugeben. Aber sie ist klein, viel zu klein, um wirklich etwas gegen ihn ausrichten zu können.

Doch eines kann sie sehr wohl tun: schreien. Sie öffnet den Mund ...

»Miu, wach auf? Was hast du denn nur? Dein Schrei eben ging mir durch und durch.«

Raias Gesicht schwebte über ihr und Miu las die Besorgnis in ihren Augen.

»Es ist nichts«, murmelte sie, heilfroh, wieder in der wirklichen Welt angekommen zu sein. »Ich hab nur schlecht geträumt.«

»Schon wieder? Wir werden uns etwas dagegen einfallen lassen müssen. Jetzt aber erst einmal aus dem Bett mit dir! Man erwartet uns im Haus der Reinigung*!«

»Wer erwartet uns?« Es fiel ihr schwerer als gewöhnlich, auf die Beine zu kommen, doch Raias Drängen ließ keinerlei Widerrede zu. »Ist Papa denn schon wieder zurück?« Hatte nicht Sheribin etwas in dieser Richtung angedeutet?

»Nein«, sagte Großmama. »Die Botschaft kam von Ani. Wir sollen uns beeilen!«

Nach ein paar Bissen Brot und einem Becher Wasser verließen sie gemeinsam das Haus. Die Luft auf dem Weg zur Fähre war schwül und feucht, doch niemand kam auf die Idee, sich darüber zu beschweren. Der Fluss stieg – und ganz Kemet seufzte auf vor Erleichterung. Binnen kurzer Zeit würde auch die letzte Sandbank verschwunden sein und das Hochwasser über die Ufer treten, um auf den durstigen Feldern seinen fruchtbaren, sehnlich erwarteten Schlamm abzulagern. Überall im Land wurde jetzt dem Nilgott Hapi geopfert, damit die Überschwemmung auch üppig genug ausfiel.

»Rechne lieber damit, dass uns kein schöner Anblick erwartet«, sagte Großmama kurz vor dem Anlegen auf dem Westufer. »Dann stellst du dir am besten vor, zwei unsichtbare Hände würden dein Herz schützen. So haben selbst schreckliche Bilder keine Möglichkeit einzudringen.«

Damit verstummte sie erneut.

Miu warf ihr einen überraschten Blick zu, fragte aber nicht weiter nach. Ihr war schon jetzt ziemlich mulmig zumute. Außerdem machte sie die Vorstellung unruhig, Ani wiederzusehen. Natürlich hätte sie ihn am liebsten gefragt, ob er zu Isets Hochzeit kommen würde.

Allein?

Darauf konnte sie nicht zählen. Vielleicht gab es ja längst ein Mädchen oder eine junge Frau, an die er sein Herz verloren hatte, auch wenn Miu nichts davon wusste. Dann würde die ihn sicherlich zu dem Fest begleiten. Aber was ging sie das alles eigentlich an, wo Papa ihr doch ohnehin jeglichen Kontakt zur Freundin strengstens untersagt hatte?

Schweigend legten sie auch den Rest des Weges zur Werkstatt zurück, die nahe dem Nilufer lag und in den letzten Jahren wegen der stark steigenden Auftragslage ständig vergrößert worden war. Seitdem der Handel in Waset wieder florierte, konnten sich immer mehr seiner Bewohner auch die kostspielige Balsamierung leisten, um ihre Angehörigen auf die beste Weise für die Reise in die Ewigkeit zu rüsten. Das ehemalige Reinigungszelt, in früheren Jahren eine wacklige Konstruktion aus Holzpfählen und Schilfmatten, in dem die neu angelieferten Leichen mit einer Mischung aus Nilwasser und Natron gesäubert worden waren, war längst verschwunden und durch ein lang gestrecktes gemauertes Gebäude ersetzt worden.

Davor erwartete sie Ipi, Papas rechte Hand, das fleischige Gesicht vor Aufregung schweißnass. Bei Mius Anblick begann er zu lächeln, was bei ihm allerdings eher wie Zähnefletschen aussah. Dann aber wurde er schnell wieder ernst und zeigte unverhüllt seinen Unmut.

»Da seid ihr ja«, rief er. »Endlich! Hätte es nicht ein bisschen eher sein können? Der übereifrige Polizist bringt mir nämlich schon den ganzen Morgen alles durcheinander. In diesen drückenden Tagen sterben die Leute wie die Fliegen. Und natürlich soll alles immer ganz schnell gehen, als ob wir hier zaubern könnten! Aber der Meister kann sich auf mich verlassen, in allem, das kannst du ihm bei Gelegenheit gerne ausrichten!«

»Wo ist Ani?« Großmama gab sich keinerlei Mühe, ihre Abneigung gegen diesen Wichtigtuer zu verbergen.

»Drinnen.« Ipi machte eine knappe Kopfbewegung. »Er wollte sich unbedingt allein umsehen. Obwohl ich ihm ausdrücklich gesagt habe, dass ...«

»Du wartest hier«, sagte Raia zu Miu. »Ich gehe ihn holen.«

Ipi nutzte die günstige Gelegenheit, um sie ungeniert anzustarren. Früher hatte Miu ihn ganz in Ordnung gefunden. Das heißt, eigentlich hatte sie ihn nicht weiter beachtet, weil er ihr herzlich gleichgültig gewesen war, aber sie hatte sich von seinen Blicken auch nicht gestört gefühlt. Doch diese Zeiten waren leider vorbei, denn jetzt ahnte sie, welche Gedanken in seinem breiten Schädel kreisen mochten.

Er war heftigst entflammt.

Und offensichtlich war ausgerechnet sie das Objekt seiner Begierde. Dass sie die Tochter des Mannes war, dem hier alles gehörte, machte die Angelegenheit nur noch vertrackter. Sie als Ehefrau zu gewinnen und eines Tages die florierende Werkstatt noch obendrauf – so und nicht anders sahen Ipis kühnste Pläne aus.

»Wir müssen dringend reden, du und ich«, hörte sie ihn flüstern. »Ungestört! Es ist nicht so, wie du glaubst. Vielleicht denkst du ja, ich sei nur ein dahergelaufener Niemand, aber da täuschst du dich ...«

»Miu?« Raias ruhige Stimme – die Erlösung! »Kommst du? Ani möchte dir etwas zeigen.«

Mit hochgezogenen Schultern ging Miu hinein. Schon an der Schwelle hielt sie vorsorglich den Atem an, das hatte sie sich bei ihrem letzten Aufenthalt geschworen. Der Kuss des Anubis, der die Menschen ins Totenreich zwang, ließ sie schon nach einigen Stunden nicht gerade duften wie ein Blumenbukett. Garantiert war das der Grund für Papas strenge Ordnungs- und Sauberkeitsgebote, von denen er niemals abrückte. Deren Einhaltung verlangte er auch von den Menschen, die für ihn tätig waren.

Wer nicht parierte, flog. Und zwar unverzüglich.

Der Tote lag auf einem der steinernen Tische; ein verblichenes, mehrfach geflicktes Leintuch über ihn gebreitet, das ihn von oben bis unten verhüllte. Am Kopfende des Tisches stand Ani, mit dunklem Bartschatten und Augenringen, und sah so erschöpft aus, dass er Miu auf Anhieb leidtat.

»Ich hätte es dir gern erspart«, sagte er anstatt einer Begrüßung. »Aber es geht leider nicht anders. Ich fürchte nämlich, du hast doch recht gehabt. Halte dir das hier vor die Nase und komm näher!«

Miu nahm das vorbereitete Tuch und tat, was er verlangt hatte. Raia, ebenfalls mit einem provisorischen Schutz vor Mund und Nase, nickte ihr aufmunternd zu.

»Schau ihn dir ganz genau an«, fuhr Ani fort. »Und dann sag mir, ob du ihn kennst. Es ist wichtig, dass du dir ganz sicher bist. Also lass dir ruhig Zeit.«

Er schlug die Bedeckung zurück.

Mius Blick flog über den Toten und eine eisige Hand griff nach ihrem Herzen. Sein Gesicht war gedunsen und fleckig, die Haut teilweise grünbräunlich verfärbt. Tiefe Kratzspuren zogen sich über die linke Wange. Er wirkte fremd und um Jahre gealtert – aber da war sie, ganz eindeutig, die Warze neben dem rechten Nasenflügel, an der sie ihn immer und überall wiedererkannt hätte!

»Das ist er«, sagte sie mit ihrer winzigsten Stimme. »Der Warzenkerl. Ich bin mir ganz sicher.«

Ani begann, die Leiche wieder zuzudecken. Allerdings geriet ihm das große Tuch zu weit nach links, verfing sich, rutschte nach unten und entblößte dabei den oberen Teil der rechten Körperhälfte.

Miu stieß einen Laut des Erschreckens aus.

Der Warzenkerl hatte keine Hand mehr. Da, wo sie einmal gewesen war, gab es nur noch ein hässliches Durcheinander aus zerfetzter Haut, freiliegenden Sehnen, Muskeln und Knochensplittern!

Sollte jemand seine verbrecherischen Hände dabei im Spiel gehabt haben, so werde ich sie ihm abschneiden lassen ...

Plötzlich glaubte sie, die zornige Stimme des jungen Pharaos zu hören, so klar und deutlich, als stünde er neben ihr!

Ani hatte seinen Fehler bemerkt und die Leiche rasch wieder verhüllt.

»Die hungrigen Kinder Sobeks*«, sagte er mit einem Schulterzucken. »Sie müssen ihn so zugerichtet haben. Der ganze Fluss wimmelt von Krokodilen, jetzt wo die Flut kommt und mit ihr alle Wesen, die sich im Wasser tummeln. Wir haben ihn heute in der Morgendämmerung herausgefischt. Vielleicht ist er ertrunken, für wahrscheinlicher aber halte ich, dass er bereits tot war und man ihn im Wasser lediglich entsorgt hat.«

Eine müde Geste. Man sah ihm an, dass er seit Langem auf den Beinen war.

»An der Leiche konnte ich weder Würgemale noch Stiche feststellen. Daher tippe ich auf Gift.« Er hielt kurz inne. »Vielleicht Schlangengift«, setzte er dann hinzu.

Plötzlich schien die ganze Luft geschwängert vom lauen, unerträglich süßlichen Leichengeruch. Miu schluckte und schluckte, weil ihr auf einmal entsetzlich flau zumute wurde, dann streckte sie ihre Hand aus und suchte vergeblich nach einem Halt.

»Miu!«, hörte sie Großmama noch aufgeregt rufen, während der Fußboden schon viel zu schnell näher kam. »Du wirst uns doch jetzt nicht ...«

Mehr hörte sie nicht, denn etwas großes Schwarzes schoss auf sie zu, riss sie mit und verschluckte sie.

Als sie wieder zu sich kam, verhüllte etwas Zartes ihr Gesicht, das die Sonne abhielt. Der Untergrund, auf dem ihr Rücken lag, war hart, und dennoch lag sie einigermaßen bequem, den Kopf auf etwas Festes gebettet, das sich gut anfühlte.

Anis Unterarme!

Miu rückte verlegen ein Stück zur Seite. Sie schob das dünne Tuch von ihrem Gesicht und musste blinzeln, so hell war es auf einmal wieder. Jetzt kehrte auch der widerliche Geruch von vorhin zurück, wenngleich in abgeschwächter Form.

Ihr Magen zog sich abwehrend zusammen.

»Nur nicht so hastig!« Ipi, der sich über sie gebeugt hatte, klang besorgt. »Sie sollte sich noch eine ganze Weile vorsichtig bewegen. Vielleicht hättest du ihr den toten Kerl besser doch nicht zeigen sollen, Polizist ...«

»Unsinn!« Miu setzte sich auf, um diesem widerlichen Aroma zu entgehen. Dann berührte sie ihren Schädel. Am Hinterkopf ertastete sie eine stattliche Beule, von der sie schnell wieder die Finger ließ, aber sonst schien alles in Ordnung. »Mir fehlt nichts. Vorausgesetzt, du lässt mich endlich in Frieden, Ipi!«

Beleidigt verzog er sich.

»Wenigstens weißt du jetzt, dass ich neulich die Wahrheit gesagt habe«, fuhr Miu fort, an Ani gerichtet. Sie war heilfroh, dass dieser Widerling Ipi endlich weg war. »Obwohl du sie ja nicht hören wolltest. Ich blute doch nicht etwa?«, sagte sie gepresst.

»Nein, nirgendwo. Du hast großes Glück gehabt«, erwiderte Großmama. »Aber uns solch einen Schrecken einzujagen, mein Mädchen!«

»Wir müssen zum Palast.« Der junge Polizist hatte sich ebenfalls erhoben und versuchte, seinen zerknitterten Schurz halbwegs glatt zu streichen. »Pharao Tutanchamun, er möge leben, heil und gesund sein, soll auf der Stelle erfahren, was ihm droht. Er muss uns anhören! Ich weiß nur noch nicht genau, wie wir das anstellen sollen.«

»Da waren wir schon«, sagte Miu. »Großmama und ich. Der Pharao hat uns empfangen und ich habe ihm alles erzählt – persönlich.« Außerdem hat er mich sofort wiedererkannt, fügte sie stumm hinzu. Weil uns beide nämlich eine alte Geschichte verbindet. Sein Blick hat mich gewärmt. Und seine Ohren gefallen mir eigentlich sogar ganz gut. Aber das werde ich ausgerechnet dir nicht verraten!

»Du warst bei Hof und hast mit dem Pharao gesprochen?«, sagte Ani ungläubig.

»Du hast ganz richtig gehört«, sagte Raia: »Glücklicherweise hat man uns dort sehr ernst genommen, so jedenfalls mein Eindruck.«

Ani schien gar nicht richtig zuzuhören.

»Aber wie ist euch das nur gelungen?«, sagte er kopfschüttelnd. »Eine Audienz zu bekommen, ist ein Ding der Unmöglich ...«

»Der Pharao hat mir geglaubt«, fiel Miu ihm ins Wort. »Das weiß ich genau.« Es fiel ihr nicht leicht, mit Ani darüber zu sprechen, weil sie alles am liebsten ganz für sich behalten hätte. »Aber jetzt hat die Lage sich verändert. Der Warzenkerl ist tot, während der andere noch irgendwo lebendig herumläuft. Wir müssen überlegen, was das zu bedeuten hat: dass der Warzenkerl seinen schändlichen Auftrag bereits erledigt hat und der König ...« Sie konnte plötzlich nicht mehr weiterreden. Die Angst um Tutanchamun überwältigte sie.

»Oder man hat sich seiner entledigt, weil er versagt hat, und stattdessen einen neuen Attentäter beauftragt«, wandte Ani ein, der sich langsam wieder zu fassen schien. »Viele Verbrecher verschwinden im Nil. Kein Hahn kräht jemals mehr nach ihnen.«

Er kratzte sich am Kinn.

»Der Pharao muss jedenfalls umgehend über diesen Fund informiert werden. Ich werde mit meinem Vorgesetzten reden. Userkaf ist ein kluger, besonnener Polizist mit langjähriger Erfahrung, die er nicht nur in Waset, sondern früher auch in Mennefer* sammeln konnte. Er wird wissen, was zu tun ist.«

Seine Hand war unwillkürlich zum Dolch gefahren, was Miu beklommen machte. Dem Schlachtgetümmel in Kusch war Ani entronnen, doch auch hier lauerten Tag für Tag Gefahren auf ihn, das wurde ihr mit einem Mal bewusst.

»Was wird nun aus ihm?«, sagte sie und deutete auf das Gebäude, wo die entstellte Leiche lag, neben der sie ohnmächtig geworden war.

»Ich lasse ihn im Wüstensand verscharren«, mischte Ipi sich ungebeten ein. »Für einen wie ihn wäre selbst der Einsatz von Zedernöl, das ihm die inneren Organe zersetzt, um den Körper dauerhaft haltbar zu machen, die reinste Verschwendung«, sagte er mit einem fetten Lachen. »Kann mir schwerlich vorstellen, dass jemand bereit wäre, für diesen räudigen Köter auch nur die Kosten einer Balsamierung dritter Klasse zu übernehmen!«

»Und seine Seele?« Es war Miu einfach so entschlüpft.

»Überlass das ruhig dem Totengericht*«, sagte Großmama. »Die Waage der Maat* trifft die rechte Entscheidung. Das Herz eines Mannes, der so große Schuld auf sich geladen hat, wiegt schwerer als ein Felsbrocken. Auf ihn wartet die Totenfresserin*.«

Sie klang mit einem Mal so unerbittlich, dass sowohl Ani als auch Miu sie erstaunt anstarrten. Als Raia das spürte, schien sie sich einen Ruck zu geben und wie aus weiter Ferne zurückzukommen.

»Wir sollten uns angenehmeren Themen zuwenden«, sagte sie mit einem kleinen Lächeln. »Außerdem sterbe ich vor Hunger. Willst du nicht mit uns Mittag essen, Ani, bevor du zur Wache zurückkehrst?«

»Keine Zeit, leider«, sagte er rasch, ohne Miu anzusehen. »Ich will Userkaf so schnell wie möglich über den Stand meiner Ermittlungen in Kenntnis setzen. Ein anderes Mal vielleicht.«

Raias Blicke gingen zwischen ihm und Miu hin und her. Miu versuchte, ein Gesicht zu machen, als ob es ihr leidtäte.

»Dann begleite unsere Kleine doch wenigstens zu Isets Hochzeit«, sagte sie und schien sich nicht darum zu kümmern, dass Miu plötzlich zu Boden stierte. »Sie möchte so gerne dorthin, das hat sie mir gestanden. Übermorgen. Am späten Vormittag. Passt dir das? Am Neujahrstag hast du doch bestimmt frei.«

»Meinetwegen. Es sei denn, es käme etwas dazwischen. Womit man in meinem Beruf leider immer rechnen muss.« Seine unbewegte Miene verriet nichts über seine Empfindungen.

Ipis Gesicht dagegen wurde aschfahl, weil ihm ganz und gar nicht zu gefallen schien, was er soeben gehört hatte, während Miu und Großmama sich zum Gehen wandten.

»Und jener Kerl dort unter dem Tuch?«, stieß er hervor. »Der uns nicht einen Deben einbringen wird, dafür aber jede Menge Scherereien? Können wir ihn endlich loswerden? Ich hab nämlich Wichtigeres zu erledigen, bevor der Meister zurückkommt!«

»Nicht so eilig!« Anis Stimme war kalt. »Der Pharao wird ganz genau wissen wollen, wer dieser Kerl ist. Du rührst ihn mir nicht an, bis Userkaf hier war, verstanden? Sonst könntest du selber das Segel der nächtlichen Barke schneller zu sehen bekommen, als dir lieb ist!«

»Du drohst mir?«, sagte Ipi lauernd. »Das solltest du dir noch mal gut überlegen!«

»Ich mache nur meine Arbeit. Das ist alles«, erwiderte Ani.

Er sah so grimmig dabei aus, dass Miu ihn erstaunt musterte. Sie wusste ja, dass er Ipi nicht mochte. Doch seine Abneigung gegen den Gehilfen ihres Vaters schien in letzter Zeit noch beträchtlich gewachsen zu sein.

Die Braut trug ein neues weißes Kleid, das breite Streifen auf der linken Schulter zusammenhielten. Ihren Hals schmückte ein Blütenkragen, Hände und Füße waren mit Hennaornamenten bemalt. Ihre Haut glänzte, denn man hatte sie sorgfältig eingeölt. Bunte Bänder zierten das schwarze Haar. Sie strahlte über das ganze Gesicht und ihre Augen leuchteten vor Freude.

Mius Hals wurde eng, als sie die Freundin erblickte.

Inzwischen wusste sie, welcher Tätigkeit Kenamun nachging, ein stattlicher junger Mann mit kräftiger Nase und einem warmen Lächeln, der ihr auf Anhieb gefallen hatte.

»Ich bin einer aus dem Wüstendorf«, hatte er ihr erklärt und mit unüberhörbarem Stolz hinzugefügt: »Familientradition. Wie meinen Vater, so zählt man auch mich zu den Spezialisten im Tunnelbau. Gibt so leicht kein Gestein, das mir auf Dauer widerstehen könnte.«

Iset würde auf das Westufer ziehen, in das Wüstendorf, wo alle Handwerker lebten, die im Tal der Könige arbeiteten!

»Was sind schon ein paar Steine gegen unsere Freundschaft?«, murmelte Iset, die Mius Bestürzung sehr wohl mitbekommen hatte, ihr im Vorübergehen zu. »Du kannst mich doch jederzeit besuchen! Dann machen wir uns einen schönen Tag und erzählen uns gegenseitig, was jede in der Zwischenzeit alles erlebt hat.« Sie lächelte leicht abwesend und war schon beim nächsten Gast angelangt.

»Sie wird dir fehlen«, sagte Ani, der plötzlich neben Miu stand. »Deshalb bist du traurig, was ich gut verstehen kann. Und sie macht sich Illusionen hinsichtlich der Zukunft, aber wer wollte ihr das ausgerechnet heute sagen?«

»Was meinst du damit?« Wie lange mochte er Miu schon beobachtet haben?

»Die Arbeiter am Ort der Weisheit, wie man die Nekropole auch nennt, werden gut entlohnt und üppig versorgt mit allem, was sie zum Leben brauchen. Allerdings umschließt das Wüstendorf eine hohe Mauer mit zahlreichen Kontrollstellen. Und es ist ebenso kompliziert, hinaus- wie hineinzugelangen. Ein goldener Käfig, wenn du so willst. Allerdings einer mit sehr engen Stäben.«

»Dann wird Iset ab heute eine Art Gefangene sein?«, fragte Miu und schaute mit leiser Beklommenheit zu ihm auf.

Es gab offenbar kein Mädchen und keine Frau, der Anis Herz gehörte, sonst hätte er sich wohl kaum mit ihrer Begleitung begnügt. Dabei war es bis zum letzten Moment ungewiss gewesen, ob sie überhaupt würde gehen können. Ohne Raias tatkräftige Unterstützung säße sie garantiert noch immer in ihrem Zimmer fest. Großmama hatte Papas Wiederkehr zum Anlass genommen hatte, ihm alles, was in seiner Abwesenheit geschehen war, auf so dramatische Weise zu erzählen, dass er augenblicklich zur Werkstatt aufgebrochen war, um dort selber nach dem Rechten zu sehen. So war er also gar nicht im Haus gewesen, als Ani gekommen war, um Miu abzuholen.

»Zwei Tage bleiben ihr noch«, sagte Ani jetzt. »Dann soll Kenamuns neues Haus endlich fertig sein. Sonst hätten sie sicherlich schon heute dort gefeiert.«

Details

Seiten
Erscheinungsform
Neuausgabe
Jahr
2017
ISBN (eBook)
9783960532026
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (August)
Schlagworte
eBooks Aegypten Pharao Tutanchamun 14. Jahrhundert Liebe Freundschaft Spannung Verfolgung Mord
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Titel: Der Kuss des Anubis