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Sturm über Stone Island

Roman

©2018 167 Seiten

Zusammenfassung

Das düstere Geheimnis einer Inselgemeinschaft: Der Abenteuerroman „Sturm über Stone Island“ von Thomas Jeier jetzt als eBook bei jumpbooks.

Die dreizehnjährige Abbie lebt mit ihren Eltern auf der kleinen Leuchtturminsel vor der Küste von Stone Island und liebt das Leben am Meer: malerische Sonnenuntergänge, tägliche Ausflüge auf ihrem kleinen Hummerboot und nette Menschen. Als jedoch eines Tages John Crawford und sein Sohn Ben auf der Insel landen, erkennt Abbie ihre Nachbarn nicht mehr wieder. Nachdem ein Sturm das Boot der Fremden beschädigt hat, begegnen ihnen die Inselbewohner ablehnend. Sie werden bedroht, jede Hilfe wird ihnen verweigert. Abbie ist ratlos – was ist der Grund für diese Abneigung? Als die Feindseligkeiten in offene Gewalt umschlagen, müssen John und Ben die Insel sofort verlassen … doch ein heftiger Sturm bringt sie in größte Gefahr. Abbie muss ihren ganzen Mut zusammennehmen, um sie zu retten. Doch kann ein Mädchen allein gegen die Gewalt der Natur bestehen?

Jetzt als eBook kaufen und genießen: „Sturm über Stone Island“ für Leser ab 12 Jahren von Erfolgsautor Thomas Jeier. Wer liest, hat mehr vom Leben: jumpbooks – der eBook-Verlag für junge Leser.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Über dieses Buch:

Die dreizehnjährige Abbie lebt mit ihren Eltern auf der kleinen Leuchtturminsel vor der Küste von Stone Island und liebt das Leben am Meer: malerische Sonnenuntergänge, tägliche Ausflüge auf ihrem kleinen Hummerboot und nette Menschen. Als jedoch eines Tages John Crawford und sein Sohn Ben auf der Insel landen, erkennt Abbie ihre Nachbarn nicht mehr wieder. Nachdem ein Sturm das Boot der Fremden beschädigt hat, begegnen ihnen die Inselbewohner ablehnend. Sie werden bedroht, jede Hilfe wird ihnen verweigert. Abbie ist ratlos – was ist der Grund für diese Abneigung? Als die Feindseligkeiten in offene Gewalt umschlagen, müssen John und Ben die Insel sofort verlassen … doch ein heftiger Sturm bringt sie in größte Gefahr. Abbie muss ihren ganzen Mut zusammennehmen, um sie zu retten. Doch kann ein Mädchen allein gegen die Gewalt der Natur bestehen?

Über die Autorin:

Thomas Jeier wuchs in Frankfurt am Main auf, lebt heute bei München und „on the road“ in den USA und Kanada. Seit seiner Jugend zieht es ihn nach Nordamerika, immer auf der Suche nach interessanten Begegnungen und neuen Abenteuern, die er in seinen Romanen verarbeitet. Seine über 100 Bücher wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und mehrfach ausgezeichnet.

Bei jumpbooks erscheinen auch:

Die Sterne über Vietnam

Flucht durch die Wildnis

Weitere Titel sind in Vorbereitung.

Die Website des Autors: www.jeier.de

Der Autor im Internet: www.facebook.com/thomas.jeier

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eBook-Neuausgabe März 2018

Copyright © der Originalausgabe 1997 by Verlag Carl Ueberreuter, Wien

Copyright © der Neuausgabe 2018 dotbooks GmbH, München

Copyright © 2018 jumpbooks Verlag. jumpbooks ist ein Imprint der dotbooks GmbH, München.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/donatas 1205 (Steampunk-Maschine), Tithi Luadthong (Mädchen, Junge, Hafen)

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (sh)

ISBN 978-3-96053-241-5

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Thomas Jeier

Sturm über Stone Island

Roman

jumpbooks

Kapitel 1
Der Tod des Portugiesen

»Übermorgen stirbt der Portugiese«, brummte der alte Wincott. So etwas sagte er immer, wenn ein Sturm nahte. Tony Pastagal war schon vor dreißig Jahren gestorben, ein portugiesischer Einwanderer, der nicht auf die Einheimischen gehört hatte und im heftigsten Unwetter umgekommen war, das jemals über Seaport getobt hatte. Damals hatte der Fischer dasselbe gesagt. Der Satz wurde zu seinem Markenzeichen und nicht einmal die jungen Hafenarbeiter lachten, wenn er den toten Portugiesen erwähnte. Wincott spürte, wenn ein Sturm nahte, und er hatte sich noch nie geirrt.

»Bist du sicher, Buddy?«, fragte Abbie Lennox, das Mädchen vom Leuchtturm. Sie wohnte auf Stone Island, einer kleinen Insel vor der Küste, und besuchte den alten Fischer jeden Nachmittag, wenn sie von der Schule kam. Dann fuhr sie in ihrem kleinen Motorboot nach Hause. Ihre Eltern führten das Lighthouse-Restaurant, das im ehemaligen Wirtschaftsgebäude des Leuchtturms untergebracht war und seit dem Labour Day nur noch samstags geöffnet hatte. Die Gäste wurden im Wassertaxi abgeholt und durften auch den Leuchtturm besichtigen, der seit einigen Jahren unter Denkmalschutz stand, obwohl er inzwischen automatisiert war. Abbie sah zur Insel hinüber. »So sonnig war's noch nie im September!«

Der alte Fischer blickte zum wolkenlosen Himmel empor und schüttelte den Kopf. Er war sechzig oder siebzig, so genau wusste das niemand, und in seinem verwitterten Gesicht waren die Spuren vieler Fangfahrten zu erkennen. Er trug eine gelbe Segeljacke, speckige Jeans und eine blaue Wollmütze, unter der einige Strähnen seiner weißen Haare hervorschauten. »Übermorgen«, betonte er, »das spüre ich in allen Knochen! Ich wette, morgen haben wir Sturmwarnung und am Sonntag geht der Schlamassel los! Kein Hurricane, aber eins von diesen Unwettern, die mit Blitz und Donner über das Meer brausen und sogar den großen Kähnen zu schaffen machen! Also, ich würde nicht rausfahren! Nicht mal am Wochenende! Man weiß nie, was diesen blöden Unwettern gerade einfällt, die machen, was sie wollen!«

Abbie winkte ab. »Ich muss sowieso für die Schule büffeln, wir schreiben nächste Woche eine Matheprüfung. Und meine Eltern haben auch 'ne Menge um die Ohren. Mein Vater tapeziert die Wände im Restaurant und meine Mutter liegt krank im Bett.«

»Catherine?« Buddy Wincott schob sich etwas Kautabak in den Mund und blickte das Mädchen besorgt an. Er mochte die Frau des Leuchtturmwärters, weil sie eine wirkliche Dame war, die eigentlich besser in seine Jugendzeit gepasst hätte. Sie ähnelte seiner Mutter, die immer der ruhende Pol in ihrer Familie gewesen war, besonders während des Krieges, als sein Vater im Südpazifik gegen die Japaner gekämpft hatte und gefallen war. »Was hat sie denn?«

»Nichts Ernstes«, antwortete Abbie. Sie war ein hübsches Mädchen von dreizehn Jahren, etwas klein geraten, mit einer guten Figur und blondem Haar. Ihr Urgroßvater war aus Schweden eingewandert. »Nur die Grippe und etwas Fieber. Sie wollte schon aufstehen, aber Daddy macht sich große Sorgen, weil sie letztes Jahr diese blöde Lungenentzündung hatte und ins Krankenhaus musste. Deshalb soll sie im Bett bleiben und er bringt ihr alle paar Minuten einen heißen Schwarztee und legt ihr kühle Wickel um die Waden!«

Der alte Fischer kicherte heiser. »Bob ist ein vorsichtiger Mann, der weiß, was er an deiner Mutter hat!« Er spuckte den Tabak ins Wasser und fragte: »Nimmst du mich zur Fish Exchange mit?«

Das Auktionshaus von Seaport lag nur zweihundert Meter weiter südlich und Buddy Wincott hätte bequem hinlaufen können, aber er fuhr gern zwischen den Fischerbooten umher und Abbie machte immer einen Umweg für ihn. Der alte Fischer tat ihr Leid. Er fuhr schon seit ein paar Jahren nicht mehr aufs Meer hinaus, weil sein Körper von Rheuma geplagt wurde, und wenn er von den alten Zeiten erzählte, spürte sie die Wehmut, die hinter seinen Worten lag. Er vermisste das Meer und war schon froh, wenn er mit ihr durch den Hafen tuckern konnte. Vor dem Auktionshaus, in dem die gefangenen Fische an die Händler versteigert wurden, traf er sich mit anderen Fischern, die zu alt für den harten Job waren und sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser hielten.

»Klar«, erwiderte sie, »wenn du willst, fahren wir bei Eddy vorbei, der hat wieder Muscheln gekocht. Ich riech sie bis hier rüber!« Eddy Courtney gehörte zu der Baukolonne, die an der neuen Straße im Norden arbeitete. Auch er stammte aus einer alten Fischerfamilie und wohnte auf einem Hausboot, weil er wenigstens nachts auf dem Meer sein wollte. Er kochte für sein Leben gern.

»Gute Idee.« Der alte Mann freute sich und zeigte seine gelben Stummelzähne. »Ich wette, er hat einen Brandy für mich!«

Sie gingen am Pier entlang und atmeten die frische Herbstluft, die über dem Hafen von Seaport lag. In der geschützten Bucht, die sichelförmig in das felsige Land hineinreichte, lagen zahlreiche Segelboote und Motorboote, am Pier wartete ein Ausflugsboot auf die wenigen Touristen, die am späten Nachmittag noch auf eine Hafenrundfahrt gehen wollten. Die Jacht von George W. Clarke, eines Schiffsbauers, leuchtete orangefarben in der tiefstehenden Sonne. Der kühle Abendwind verfing sich in den Segeln eines Bootes, das langsam aus dem Hafen fuhr. Weiter südlich waren die Fischkutter und Hummerboote vertäut.

»Hi, Alicia«, rief Abbie, als sie am Informationsstand des Fremdenverkehrsamts vorbeikamen. Alicia Scott stand neben der Bretterbude und rauchte. Seit dem Labor Day waren nur noch wenige Touristen in der Stadt und sie hatte kaum etwas zu tun.

»Hi, Abbie! Hi, Buddy! Schönes Wetter heute, was?« Alicia war an die dreißig und sah in ihren engen Jeans und dem knappen Pullover so sexy aus, dass viele Männer nur am Informationsstand stehen blieben, um mit ihr ins Gespräch zu kommen. Aber keiner konnte bei der blonden Frau landen. Sie war mit einem Arzt verlobt und sie wollten im nächsten Frühjahr heiraten. Die beiden hatten sich auf einem Segelschiff kennen gelernt. Alicia war eine erstklassige Seglerin und steuerte eine der Mietjachten. »Schaut euch die Sonne an, so einen Nachmittag gab's im August nie!«

»Das täuscht«, erwiderte Abbie fröhlich. Sie trug ihren Rucksack über der rechten Schulter und hielt sich am Riemen fest. »Buddy sagt, dass ein großes Unwetter kommt, mit Blitz und Donner, so wie damals, als der Portugiese gestorben ist! Stimmt's, Buddy?«

Der Fischer nickte. »Das spüre ich in allen Knochen, junge Lady. Immer wenn das Rheuma und die Gicht besonders schlimm waren, gab es einen Sturm!« Er griff sich an den Rücken und verzog schmerzhaft das Gesicht. »Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie es vor dreißig Jahren war, als Tony Pastagal mit seinem Kutter unterging, ich glaube, du wurdest ein Jahr später geboren.« Er deutete auf Alicia Scott. »Strahlend blau war der Himmel damals, so wie jetzt, und ein paar Stunden später donnerte und blitzte es, als ginge die Welt unter! Mann, so einen Sturm möchte ich nicht mehr erleben! Nur der Hurricane von zweiundfünfzig war schlimmer, der legte den ganzen Hafen lahm und deckte fast alle Häuser ab!«

»Ich hab Fotos gesehen«, stimmte Alicia zu, »meine Eltern haben die Zeitungen aufgehoben. Muss ziemlich schlimm gewesen sein!« Ihr Lächeln verschwand und sie blickte den alten Fischer erschrocken an. »Meinst du, es wird wieder so böse?«

Buddy Wincott schüttelte kichernd den Kopf. »Glaub ich nicht, Schätzchen! Dann täten meine Beine so weh, dass ich nicht laufen könnte! Nein, das wird ein ausgewachsener Sturm, so wie damals, als ich noch mit diesem Frachter unterwegs war und im Nordatlantik ordentlich durchgeschüttelt wurde! War ein dummes Gefühl, selbst für einen erfahrenen Seebären wie mich!« Er deutete auf die Schiffe, die im Hafen lagen. »Von den Kähnen würde kein einziger bei einem solchen Unwetter überleben, also bleib schön zu Hause und wärm deine Füße vorm offenen Kamin!«

»Das hab ich sowieso vor«, meinte Alicia Scott. »Davy hat irgendeine Prüfung nächste Woche und ich muss ihn abfragen.« Der Informationsstand hatte im September nur von Freitag bis Sonntag geöffnet. »Nächstes Jahr ist er fertig, dann eröffnet er eine Praxis und ich kann wieder als Krankenschwester arbeiten.«

Buddy Wincott lachte verschmitzt. »Dann komm ich öfter mal zur Massage vorbei und lass mir die müden Beine von dir kneten!«

»Das könnte dir so passen, du Lustgreis!« Alicia Scott warf die aufgerauchte Zigarette ins Hafenbecken und verpasste ihm einen spielerischen Boxhieb. »Ich geb dir höchstens 'ne Spritze!«

Jetzt lachten beide und auch Abbie konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Sie mochte den alten Fischer und die junge Frau. Sie waren immer freundlich und nicht so abweisend wie manche Leute, die sie wie eine Fremde behandelten, nur weil sie auf einer kleinen Insel vor der Küste wohnte. Das war immer so, schon damals, als der Leuchtturmwärter und seine Frau noch für das Leuchtfeuer verantwortlich waren, und würde immer so bleiben. Nur Verrückte ließen sich auf Stone Island nieder, so sagten viele, und hörten den ganzen Tag dem Rauschen der Wellen zu.

Abbie und der Fischer verabschiedeten sich von Alicia Scott und kletterten in das Hummerboot. Das Mädchen warf den Rucksack in eine Ecke, kramte den Zündschlüssel aus der Hosentasche und ließ den Motor an. Leise tuckernd startete der Diesel. Sie wartete, bis Buddy Wincott die Leinen gelöst hatte und schob dann den Gashebel langsam nach vorn. Eigentlich war sie noch viel zu jung, um ein solches Boot zu steuern, aber sie war auf einer Insel aufgewachsen und hatte mehr Zeit auf dem Wasser als auf festem Boden verbracht. Das Boot war ihr zweites Zuhause. Auch wenn sie mit ihren Eltern die Hummerfallen abfuhren und die Gitterfallen mit den Schalentieren aus dem Meer zogen, durfte sie ans Ruder.

Sie lenkte das Boot vom Anlegesteg weg. Als sie die leuchtenden Augen des Fischers bemerkte, sagte sie: »He, Buddy! Nimm du das Ruder!« Sie übergab ihm das Lenkrad und lächelte zufrieden, als sie sah, wie sehr er sich darüber freute. Er hatte sein Boot verkaufen müssen und lechzte regelrecht danach, bei anderen mitfahren zu können. Er liebte das Meer, vielleicht noch mehr als seine Frau, die in einem Supermarkt arbeitete, weil seine Versicherung kaum für die Heizkosten reichte.

»Wie geht's deiner Frau?«, fragte Abbie höflich. »Sollte sie nicht operiert werden?«

»Maggie?« Er schüttelte lachend den Kopf. »Eher geht der große Tanker unter, der jeden Dienstag hier vorbeikommt, als dass meine Maggie in ein Krankenhaus geht!« Er winkte ab, ein bisschen zu lässig. »Ist sowieso 'ne harmlose Sache! Diese Quacksalber wollen doch immer gleich herumschnippeln, wenn sie einen in der Mangel haben. Aber nicht mit meiner Maggie, nee!«

Abbie bohrte nicht weiter. In einer kleinen Stadt wie Seaport kursierten viele Gerüchte und manche Leute behaupteten sogar, dass Maggie Wincott an Krebs erkrankt war, aber genauso gut konnte es ein Magengeschwür oder ein entzündetes Bein sein. Es wurde viel geredet und sie wollte die Wahrheit sowieso nicht wissen. Wenn der alte Fischer und seine Frau nicht verraten wollten, was für eine Krankheit sie hatte, war das ihre Sache. Leben und leben lassen, das war der Leitspruch ihrer Familie.

Sie trat an die Reling und blickte zum Ufer zurück. Alicia Scott war in ihrer Bretterbude verschwunden und auch auf der Straße war wenig los. Einige Spaziergänger, einige Urlauber, die mit dem Ausflugsschiff fahren wollten, ein Mann, der seinen Hund ausführte. Die Sonne stand tief über den Lagerhäusern, die vor einigen Jahren renoviert und in Kunstgalerien und kleine Souvenirläden aufgeteilt worden waren. Zwischen den Lagerhäusern führten gepflasterte Gassen in die Altstadt. Einige der bunten Holzhäuser hatten schon während des Unabhängigkeitskrieges gestanden und im Seaside Inn, dem alten Gasthof am Latimer Square, sollte sogar George Washington abgestiegen sein. George Washington, der erste Präsident der Vereinigten Staaten.

Sie begegneten einer Urlauberjacht und Abbie winkte dem Mann am Steuer zu. Ein reicher Pinkel mit grauen Schläfen, wahrscheinlich aus New York. Seit Seaport zu einem begehrten Urlaubsort geworden war, kamen diese Typen immer öfter. Die meisten Bewohner freuten sich darüber, reiche Leute förderten den Umsatz, aber Abbie fand, dass sie nicht zu ihrem kleinen Fischerort passten. Bevor man die Lagerhäuser renoviert und die alten Holzhäuser angestrichen hatte, war Seaport ein Fischerdorf wie jedes andere gewesen. Nicht so schön und nicht so blitzsauber wie jetzt, aber irgendwie ehrlicher. Solche Dörfer gehören auf Postkarten und nicht in die Landschaft, sagte ihr Vater immer. Er hatte sein ganzes Leben in New England verbracht und fand, dass man es mit dem Fremdenverkehr übertrieb, obwohl er davon profitierte. Ins Lighthouse-Restaurant kamen viele Touristen.

»Eddy, alter Knabe!«, rief Buddy Wincott, als sie sich dem Hausboot näherten. »Hast du noch ein paar Muscheln für uns übrig?«

Ein stämmiger Bursche mit einem sonnengebräunten Gesicht und kräftigen Oberarmen erschien an Deck und winkte Buddy Wincott und dem Mädchen erfreut zu. »Buddy, du Seeräuber! Abbie! Kommt rauf, ich hab für 'ne ganze Mannschaft gekocht!«

Sie machten auf der Steuerbordseite fest und kletterten auf das Hausboot. Eddy schüttelte ihnen erfreut die Hand. Er holte zwei Teller aus dem Schrank und häufte frische Muscheln darauf. Ohne den Fischer zu fragen, schenkte er ihm ein Glas Wein ein. Abbie bekam heißen Kräutertee. »Ich glaub, ich ruf besser deine Eltern an«, sagte Eddy, »und sag ihnen, dass du bei mir zu Abend isst.« Er ging ans Funkgerät und rief den Leuchtturm. »Bob? Bist du das?« Auch die' Eltern des Mädchens kannten den Bauführer und verhinderten Seemann. Der Bau der Straße zog sich schon ein Jahr hin. »Hör zu! Abbie und Buddy sind bei mir! Sie haben meine Muscheln gerochen und konnten nicht weiterfahren! Ich schicke Abbie, bevor es dunkel wird, okay?«

Aus dem Funkgerät kam ein Lachen. »Schon gut, Eddy. Sag mal, willst du nicht als Koch bei uns anfangen? Ich zahle gut ...«

»Ich arbeite lieber an der frischen Luft«, antwortete Eddy. Er verabschiedete sich von Robert Lennox und kam zum Tisch zurück.

»Die Muscheln sind erste Sahne!«, lobte Abbie höflich.

»Nicht mal der alte Hein kochte bessere«, bestätigte Buddy Wincott, »so hieß der deutsche Koch auf unserem Frachter und der zauberte die besten Muscheln aus dem ganzen Atlantik!«

Sie aßen schweigend und lehnten sich zufrieden zurück, als sie fertig waren. Eddy spülte das Geschirr und unterhielt sich dabei mit Buddy über die bevorstehende Footballsaison und die Chancen der New England Patriots. Immerhin hatten sie vor ein paar Jahren das Superbowl-Finale erreicht. Abbie interessierte sich nicht für den rauen Sport. »Ihr mit eurem Football!«, lästerte sie lachend.

»Über was sollen sich anständige Männer sonst unterhalten?«, erwiderte Eddy. »Football, Mädels und das Meer, mehr gibt es nicht für uns, oder?« Er lachte schallend, weil er diesen Unsinn selber nicht glaubte, und deutete nach draußen. »Und das Wetter natürlich, aber nicht, wenn es so schön ist wie heute Abend.«

Buddy Wincott wurde ernst. »Das kann sich schnell ändern, Eddy! Ich spüre wieder dieses seltsame Ziehen in den Knochen!«

»Wir werden alle nicht jünger, du Seeräuber!«

»Ich weiß, dass es ein schweres Unwetter geben wird, Eddy, und ich hab mich selten getäuscht. Am Wochenende bekommen wir Sturmwarnung und am Montag geht es los, da halte ich jede Wette.« Er räusperte sich. »Hab ich dir mal vom Portugiesen erzählt? Tony Pastagal? Er war einer meiner besten Freunde ...«

Abbie hatte die Geschichte schon ein paarmal gehört und trat nach draußen an die Reling. Sie ließ sich den Abendwind um die Nase wehen und genoss den Geruch von Tang, Fisch und Öl. Sie verstand gar nicht, dass manche Urlauber die Nase rümpften, wenn sie zum Hafen kamen. Für sie gehörte dieser Geruch dazu, er bedeutete, dass sie zu Hause war. Sie kniff die Augen gegen die tiefstehende Sonne zusammen und schmunzelte, als sie die Worte des Fischers durch das angelehnte Fenster vernahm.

»... wir hatten Unabhängigkeitstag«, sagte Buddy Wincott gerade, »und blieben alle zu Hause, weil wir die Parade nicht verpassen wollten. Aber Tony Pastagal, dieser alte Spinner, meinte immer, dass dieser Feiertag nur für Amerikaner galt. Seine beiden Söhne, okay, die sollten ruhig mitfeiern, immerhin waren sie in Amerika geboren worden. Aber er war aus Portugal eingewandert und dort gab es keinen Independence Day, comprende?«

»Er fuhr allein hinaus?«, fragte Eddy verwundert.

»Sein Boot war ziemlich klein, keine dreißig Fuß«, antwortete Buddy Wincott, »und er kam auch ohne seine Söhne zurecht. Also fuhr er raus, um neue Fischgründe zu finden. Als ob der eine Tag was ausgemacht hätte. He, Tony, sagte ich, du bist ein verdammter Amerikaner wie wir, was soll der Blödsinn? Aber er war ein sturer Bursche und wollte nicht mitfeiern! Na schön, sagten wir, dann fahr eben raus und komm heute Abend wieder. Zum Feuerwerk. Wir heben dir was von dem Truthahn auf. Die Sonne schien, es ging kaum Wind und wenn er sich unbedingt allein auf dem Meer rumtreiben wollte, unseren Segen hatte er!«

Abbie wusste, was jetzt kam. Selbst Eddy fiel ein, dass er die Geschichte schon mal gehört hatte, aber das verriet er dem alten Fischer nicht. »Und was passierte dann?«, fragte er scheinbar neugierig.

»Wir waren gerade mittendrin in der Parade, als der Sturm losbrach!«, berichtete Buddy Wincott. »Von einer Sekunde auf die andere wurde es stockdunkel! Der Wind brauste los und die Parade flog wie ein Scherbenhaufen auseinander! Die Frauen und die Kinder rannten in die Häuser und die meisten Männer stürmten zum Hafen, weil sie wussten, dass Tony irgendwo da draußen war. Wir wollten rausfahren und ihm helfen, aber das Unwetter war zu stark. Wir riefen die Küstenwache an und die schickte eines von den größeren Schiffen los, aber als sie das Boot des Portugiesen fanden, war kaum noch was davon übrig und von dem armen Kerl fehlte jede Spur!« Der Fischer seufzte.

»Verdammt!«, fluchte Eddy. »Leben seine Söhne noch hier?«

Buddy Wincott schüttelte den Kopf. »Die Familie ging nach Portugal zurück. Die Frau mit den beiden Söhnen. Wir haben nie mehr was von ihnen gehört.« Er trank seinen Wein aus und rieb sich mit dem Handrücken über den Mund. »Aber weißt du was? Seit damals merke ich, wenn ein Sturm kommt! Eher als die jungen Burschen mit dem Radar und diesem neumodischen Zeug! Ich spüre den Sturm in den Knochen, bevor die Warnung durchgegeben wird! Ich glaube, der Portugiese schwimmt immer noch im Meer rum und will mich warnen! Ich war sein bester Freund!«

»Und jetzt ist es wieder so weit?«

»Darauf kannst du wetten!«, bekräftigte Buddy Wincott. »Am Sonntag heult dir der Sturm die Bude voll, so wahr ich fünfzig Jahre zur See gefahren bin! Da beißt die Maus keinen Faden ab!«

Eddy schüttelte sich. Er glaubte nur die Hälfte von dem, was Buddy Wincott gesagt hatte, aber ihm war doch unheimlich zumute. »Na, dann lass uns noch einen trinken!«, forderte er den alten Fischer auf. »Wer weiß, wen der Sturm als Nächsten holt?«

Sie lachten beide und Eddy schenkte Wein nach.

Kapitel 2
Nacht über der Insel

Abbie erkannte, dass die Männer den ganzen Abend zusammensitzen würden, und verabschiedete sich. »Bis bald«, meinte sie, »und vielen Dank für die Muscheln! Mach's gut, Buddy!«

Eddy Courtney und Buddy Wincott winkten ihr zu. Sie sprachen wieder über Football und der Fischer hatte längst vergessen, dass er zur Fish Exchange wollte. Er würde den ganzen Abend bei dem Bauführer bleiben, sich ordentlich einen hinter die Binde gießen und viel zu spät an Land klettern. Seine Frau würde ihm wohl die Hölle heiß machen, wenn er nach Hause kam.

Abbie stieg lächelnd in ihr Hummerboot und ließ den Motor an. Leise tuckernd schaukelte es durch den Hafen. Die Sonne war bereits hinter den fernen Wäldern verschwunden, und über den Lagerhäusern am Ufer lag ein dunkelroter Schimmer. Alicia Scott verschloss ihre Bretterbude und stieg auf ihr Fahrrad. Der Wind hatte aufgefrischt und bewegte die Flaggen der vertäuten Boote.

Ein Ausflugsboot kehrte von der Nachmittagstour zurück und kreuzte ihren Kurs. Die Passagiere standen an der Reling und winkten ihr müde zu. Ein Mann rief: »He, das Mädchen fährt ganz allein!« Das geschah öfter und sie reagierte nicht mehr darauf. Manche Leute, die aus New York oder einer anderen großen Stadt nach New England kamen, konnten sich nicht vorstellen, dass dreizehnjährige Mädchen in der Lage waren, ein Boot zu steuern. Nun ja, dachte sie stolz, auch bei uns ist das nicht die Regel, aber ich kenne mich mit Booten aus. Sie winkte lächelnd zurück, steuerte ihr kleines Motorboot durch die schwappenden Wellen und nahm Kurs auf den blinkenden Leuchtturm.

Stone Island lag wie ein dunkler Schatten vor der Küste. In ihrer Wohnung über dem Restaurant brannte Licht, also war ihr Vater mit der Arbeit fertig und kümmerte sich um ihre Mutter. Er hatte sie sehr lieb und sorgte sich ständig um sie. Sie schob den Gashebel nach vorn. Sie hatte die Fahrrinne verlassen, die ins offene Meer hinausführte, und durfte jetzt schneller fahren. Die Positionslichter ihres Bootes tanzten leuchtend über das Wasser. Sie hatte ihre rote Wollmütze aus der Anoraktasche gezogen, über ihre Locken gestülpt und die Handschuhe angezogen.

Auch in der Dunkelheit gelang es ihr, den hölzernen Anlegesteg auszumachen. Dazu brauchte sie nicht einmal den Bugscheinwerfer. Die Flut hatte vor einer Stunde eingesetzt und es gab keine gefährlichen Strömungen. Sie kannte jede einzelne Welle zwischen Seaport und der Insel, wie ein Lotse, der einen Fluss auch nachts lesen konnte, und hätte ihr Zuhause auch mit verbundenen Augen gefunden. Sie drosselte den Motor und vertäute das Boot an der Anlegestelle. Mit ihrem Rucksack kletterte sie das steile Ufer zum Leuchtturm empor. Das drehende Licht huschte über den felsigen Boden und ihren gelben Anorak.

Auf Stone Island gab es kaum Bäume. Ein paar verkrüppelte Kiefern ragten aus den Uferfelsen und hatten sich unter den stürmischen Winden gebeugt. Graue Felsbrocken, von Wind und Wetter glatt gewaschen, bedeckten den Boden. Die Insel war keinen Kilometer lang und nur ein paar hundert Meter breit. Der Leuchtturm, weiß mit roten Streifen, ragte wie ein mahnender Finger aus dem steinigen Boden. Daneben erhoben sich das Wirtschaftsgebäude und das Bootshaus, in dem auch der Generator untergebracht war. Die Maschine versorgte ihr Haus und den Leuchtturm mit Strom. Mitten auf der Insel gab es einen natürlichen Pool, der fast immer mit Regenwasser gefüllt war, und auf dem dunklen Sandstrand am südwestlichen Ende hatten sie im Sommer öfter ein Picknick abgehalten. Auch viele Besucher badeten dort, bevor sie ins Restaurant gingen. Ein verwittertes Schild, das ihr Vater vor vielen Jahren angebracht hatte, wies darauf hin, dass das Baden nur bei Ebbe gestattet war. Mit der Flut schwappten gefährliche Wellen bis zu den Felsen hinauf.

Sie öffnete das niedrige Tor, das in den weißen Palisaden-zaun eingelassen war, der den Leuchtturm und die anderen Gebäude umgab. Mit dem frischen Abendwind kam kühles Sprühwasser. Vor der östlichen Seite der Insel, die dem offenen Meer zugewandt war, hatte ihr Vater sie immer gewarnt. Sobald die Flut das Riff vor der Insel überspülte, wogten meterhohe Brecher gegen die steile Küste. Selbst dann ragte Stone Island beinahe zwanzig Meter aus dem Wasser und die Wellen wurden ihnen nicht gefährlich, aber eine Legende berichtete, dass die Frau eines Leuchtturmwärters im 19. Jahrhundert den schmalen Pfad zum Meer hinuntergeklettert und von den Wellen verschlungen worden war. Auch am Beginn dieses Pfades war ein Warnschild aufgestellt: Lebensgefahr! Betreten des Trails streng verboten!

Sie fragte sich wieder einmal, was die Leute auf diese Insel zog. Warum schipperten gut gekleidete Paare in einem schaukelnden Hummerboot zu einer einsamen Felseninsel, nur um etwas zu essen und sich den Wind um die Nase wehen zu lassen? Die Antwort war dieselbe, die ihre Eltern gaben, wenn sie gefragt wurden, warum sie nicht auf dem Festland wohnten. »Wir lieben diese Insel! Hier draußen ist das Leben noch wild und ursprünglich und wir sind weit genug von der Zivilisation entfernt. Stone Island ist ein geheimnisvoller Ort!«

So ähnlich dachte sie auch. Sie war nicht so wortgewandt wie ihr Vater, der in seiner Jugend viele Gedichte geschrieben hatte, nur für den Hausgebrauch natürlich, aber ihre Gefühle waren dieselben. Sie fühlte sich wohl auf Stone Island und für den Leuchtturm konnte sie sich regelrecht begeistern. Beim Anblick des weißen Turms mit den roten Streifen empfand sie ähnlich wie die Touristen, die im Ausflugsboot daran vorbeifuhren. Dann erinnerte sie sich an die spannenden Geschichten, die ihr Vater erzählte, wenn sie sich vor dem schlechten Wetter verkrochen und vor dem offenen Kamin saßen, an Berichte von gestrandeten Wracks, schiffbrüchigen Piraten und den unheimlichen Gespenstern, die aus dem Nebel krochen und die Leute erschreckten.

Sie öffnete die Tür und rief: »Hallo, Mom! Hallo, Dad! Seid ihr oben?« Ohne eine Antwort abzuwarten, stieg sie an der dunklen Küche vorbei nach oben. Ihre Eltern waren im Schlafzimmer. Ihr Vater saß auf der Bettkante und hielt das Fieberthermometer in der Hand, ihre Mutter saß beinahe aufrecht im Bett und trank von dem heißen Tee, den ihr Mann gebracht hatte. »Da seid ihr ja!«

Robert Lennox war blass. »Deine Mutter ist krank«, sagte er ernst, »ihr Fieber ist schon wieder gestiegen!« Er war ein großer Mann mit zerfurchten Gesichtszügen, obwohl er gerade erst vierzig geworden war, und einem dunklen Bart, der seinen Mund sehr schmal aussehen ließ. Seine dunkelblonden Haare reichten bis über die Ohren. Er trug eine Cordhose und seinen grauen Lieblingspullover, den er vor einigen Jahren am Moosehead Lake gekauft hatte. Seine Augen glänzten im schwachen Licht der Nachttischlampe. »Ich glaube, wir lassen das Restaurant morgen lieber geschlossen. Ich weiß sowieso nicht, ob Marion kommt.« Marion war Collegestudentin und half als Bedienung aus.

»Das kriegen wir schon hin«, meinte Abbie, »ich bin schließlich auch noch da! Morgen ist Samstag, da kann ich einkaufen, und bedient hab ich oft genug.« Sie nahm ihren Rucksack herunter. »Ich glaub nicht, dass viele Leute kommen. Buddy Wincott meint, dass ein schweres Unwetter auf die Küste zutreibt.«

»Der alte Fischer?« Ihr Vater konnte sich ein leichtes Schmunzeln nicht verkneifen. »Angeblich scheint nach einem solchen Abendrot immer die Sonne.« Er deutete aus dem Fenster, zu den fernen Bergen, über denen es immer noch leuchtete. »Aber Buddy hat sich noch nie geirrt, der hat ein untrügliches Gefühl für einen nahenden Sturm. Wann, hat er gesagt, soll es losgehen?«

»Am Sonntag«, berichtete sie, »und spätestens morgen soll es eine Sturmwarnung geben. Wir sollen auf keinen Fall rausfahren. Sonst geht es uns wie dem Portugiesen, du weißt schon ...«

Robert Lennox winkte ab. »Ich war ja dabei.« Seine Stimme klang angenehm warm. »Stimmt schon, ich war damals noch ziemlich jung, aber er hat mir die Geschichte oft genug erzählt.«

»Wollten wir morgen nicht die Hummerfallen rausholen?«

»Das verschieben wir auf nächste Woche, wenn es Mom etwas besser geht. Wir haben noch reichlich Fisch in der Gefriertruhe.«

»Macht euch meinetwegen keine Sorgen«, meldete sich Catherine Lennox, »mir geht es gut!« Sie trank wieder einen Schluck Tee und versuchte ein Lächeln. »Ich hab mir eine Erkältung geholt, weiter nichts. Morgen bin ich wieder auf dem Damm!« Sie stellte den Becher auf den Nachttisch und drückte den Arm ihres Mannes.

»Aber du hast Fieber, Catherine!«

»Erhöhte Temperatur, halb so schlimm!« Sie ließ sich in die Kissen zurücksinken und entspannte sich. Auch in dem geblümten Nachthemd und der Strickjacke sah sie wie eine Dame aus. Ihr Gesicht war etwas blass und ihre Augen glänzten fiebrig, aber sie gehörte zu den Frauen, die auch ohne Schminke gut aussahen und durch ihre Frische und Natürlichkeit wirkten. Obwohl sie den ganzen Tag im Bett gelegen hatte, stimmte ihre Frisur. Das dunkelblonde Haar war von feinen Grausträhnen durchzogen.

Sie blickte ihre Tochter an und zwinkerte mit beiden Augen. »Daddy macht sich unnötig Sorgen, mein Schatz! Wegen der Lungenentzündung im letzten Jahr. Aber das war was anderes.«

»Es hat keinen Zweck, was zu riskieren.« Robert Lennox war vorsichtig. »Bleib lieber noch ein paar Tage im Bett! Wenn das Fieber bis morgen Mittag nicht runter ist, hole ich Doc Snyder.«

»Unsinn!«

»Keine Widerrede!«, meinte er. Seine Angst, dass Catherine sich wieder eine Lungenentzündung geholt hatte, war größer, als er zugeben wollte. Er merkte, dass er zu streng gewesen war, und lächelte. »Möchtest du noch Tee? Oder was anderes?«

»Nein, danke. Ich bin furchtbar müde.«

»Okay«, erwiderte er verständnisvoll. Er deckte sie wie ein kleines Kind zu und griff nach ihren Händen. Ihre blasse Haut erschreckte ihn. »Dann schlaf gut! Ich komme gleich nach!«

Abbie hielt ihrem Vater die Tür auf, sagte leise Gute Nacht und folgte ihm ins Wohnzimmer nach nebenan. Er ging zum Kamin und legte ein paar Holzscheite nach, Abbie trat an den Wandschrank und schenkte ihm einen Sherry ein. Sie reichte ihm das Glas und sie setzten sich auf das Sofa, angeblich ein Erbstück, das ihre Großmutter aus Schweden mitgebracht hatte.

»Mom sieht blass aus«, meinte Abbie ehrlich.

Ihr Vater nahm einen tiefen Schluck und stellte das Glas auf den Couchtisch. »Sie ist kränker, als sie zugeben will. Ich hab Angst, dass sie sich was Ernsthaftes eingefangen hat. Wieder eine Lungenentzündung oder irgendein Virus. Sie ist so schwach, so zerbrechlich, so wie letztes Jahr, als wir sie nach Boston ins Krankenhaus bringen mussten. Ich mache mir Sorgen.«

Abbie erinnerte sich noch genau an den schrecklichen Tag. Es hatte in Strömen geregnet und ein heftiger Wind hatte die bunten Herbstblätter über die Landstraßen getrieben. Es war an einem Samstag gewesen. Ihre Mutter hatte schon ein paar Tage im Bett gelegen, so wie jetzt, und sie hatten ihre Krankheit für eine hartnäckige Grippe gehalten, aber dann war ihr Fieber plötzlich gestiegen und sie hatten Doc Snyder angerufen. »Lungenentzündung!«, hatte der Arzt festgestellt. »Sie muss so schnell wie möglich in ein Krankenhaus!« Sie hatten sie in Decken gewickelt und in ihrem alten Kombi nach Boston gebracht.

»Ich hab furchtbare Angst, dass wieder so was passiert«, meinte ihr Vater besorgt. Um seine Mundwinkel zuckte es. »Also, wenn das Fieber steigt, lassen wir Doc Snyder kommen!«

»Und wenn es nur eine harmlose Erkältung ist?«

»Dann haben wir jedenfalls alles getan«, antwortete er nervös. Er trank den Sherry aus und griff nach der Fernbedienung. Geistesabwesend schaltete er den Fernseher ein. Die Sieben-Uhr-Nachrichten. Eine hübsche dunkelhaarige Frau, die auch bei den schlechten Neuigkeiten lächelte und dann gut gelaunt an den Wettermann weitergab. »Danke, Eileen! Du hast Recht, das war wirklich ein schöner Tag! Kaum sind die Ferien vorbei, wird das Wetter wieder besser.« Der Mann im hellen Anzug trat vor die große Wetterkarte und zeigte seine makellosen Zähne. Auch sein Lächeln wirkte gekünstelt. »Aber keine Bange, bis zum Wochenende wird es wieder schlechter.«

»Und ich wollte zu einem Picknick fahren«, sagte Eileen.

»Ohne Regenmantel läuft am Wochenende nichts«, erwiderte der Wettermann lachend, »die Sonne lässt sich morgen nur im Süden blicken.« Er deutete auf eine Stelle im Meer, die mit einem großen L und einem Wolkensymbol gekennzeichnet war. »Daran ist Sarah schuld, so heißt dieses Tiefdruckgebiet über dem Atlantik, das langsam nach Westen wandert und viel Regen mitbringt. Im südlichen Maine ziehen heute Nacht die ersten Wolken auf und morgen früh ist überall an der Küste mit Nebel zu rechnen. Mit anderen Worten: typisches Wochenendwetter!« Er lächelte seiner Kollegin zu und rasselte die Temperaturen herunter, bevor er sich verabschiedete und seine aufgesetzte Fröhlichkeit von einem Werbespot für Cornflakes mit Schokolade abgelöst wurde.

»Hast du gehört?«, fragte Abbie nervös. »Sieht ganz so aus, als käme es tatsächlich zu einem Unwetter. Dieses Tiefdruckgebiet, das ist der Sturm, vor dem Buddy Wincott uns gewarnt hat!«

Robert Lennox schaltete den Fernseher ab. Er legte die Fernbedienung auf den Tisch, ging zum Wandschrank und schenkte sich einen zweiten Sherry ein. Er war nervöser, als er zugeben wollte. Was machten sie, wenn Catherine wirklich eine Lungenentzündung bekam? Was passierte, wenn Doc Snyder nicht mehr nach Stone Island kam, weil ein Sturm über dem Hafen heulte? Er leerte das Glas und schüttelte sich. »Mal den Teufel nicht an die Wand!«, beruhigte er sich selber. »Ist ja noch gar nicht sicher, ob das Tiefdruckgebiet zu uns kommt. Die Wetterleute irren sich andauernd und Buddy Wincott wird auch langsam älter. Vielleicht hat er einen Brandy zu viel getrunken ...«

Sie blieben eine Weile stumm sitzen und starrten in das Feuer. Jeder hing seinen Gedanken nach. Sie hatten beide ein ungutes Gefühl, als hätte Buddy Wincott mit seiner Warnung eine Lawine ausgelöst, die nicht mehr aufzuhalten war. Dabei hatte er doch nur von einem Sturm gesprochen, von einem gewöhnlichen Unwetter, wie es alle paar Wochen über ihrer Stadt niederging. Kein Grund, sich Sorgen zu machen. Aber das nervöse Kribbeln blieb.

»Wird Zeit, dass wir ins Bett gehen«, sagte Robert Lennox nach einer Weile. »Ich hab sowieso keine Ruhe, solange Mom krank ist.« Sie gingen aus dem Zimmer und er küsste Abbie auf den Kopf. »Gute Nacht, mein Schatz, und träum was Schönes!«

»Gute Nacht, Daddy.« Sie nahm ihren Rucksack und stieg über die steile Wendeltreppe zu ihrem Zimmer empor. Die gemütliche Kammer lag direkt unter dem Dach. Abbie ließ den Rucksack fallen und trat nachdenklich ans Fenster. Wenn sie ihre Nase gegen die kühle Scheibe presste, sah sie die Umrisse des Leuchtturms. Der Lichtschein flackerte in regelmäßigen Abständen über die Felsen. Im Meer schwamm ein schmutziger Mond. Sein blasses Licht ließ die schäumenden Kämme der Wellen leuchten und verschmolz mit dem feinen Dunst, der über dem Wasser hing.

Sie dachte an das Gedicht ihres Vaters, das sie in einem alten Fotoalbum gefunden hatte. Mit dunkler Tinte geschriebene Zeilen, die sie damals sehr berührt hatten. Im Meer der Liebe suche ich nach einer Insel, im blassen Mondlicht seh ich dich vor mir, die Wellen tragen mich nach Süden, immer weiter fort von dir. Mein Schiff kennt keinen Hafen mehr, die Wasservögel kreischen laut, doch nachts berührt mich deine Seele und ich spüre deine weiche Haut. Ein bisschen kitschig vielleicht, aber romantisch.

Sie musste lächeln. So war ihr Vater eben, ein romantischer Kerl, der seine Frau über alles liebte und nur in dieser Einsamkeit leben konnte, weil er mit den meisten Menschen nicht zurechtkam. Selbst das Leben in Seaport war ihm zu hektisch, besonders wenn die Touristen kamen. Auch im Restaurant ließ er sich selten blicken, er stand lieber am Herd und kochte frischen Hummer oder Clam Chowder, seinen berühmten Muscheleintopf. So sind sie, die Leute in New England, sagten manche Gäste, wenn sie ihm über den Weg liefen, knorrige Seebären, die am liebsten allein waren und die Einsamkeit des Meeres genossen.

Ihre Mutter benahm sich anders. Sie hatte als junge Frau in Boston gelebt, mochte das Theater und klassische Konzerte. Manchmal überredete sie ihren Mann, mit ihr nach Boston zu fahren und eine Aufführung zu besuchen, aber er fuhr nur ihr zuliebe mit und war froh, wenn er wieder auf seiner Insel war. Catherine Lennox ließ es geschehen. Auch sie mochte Stone Island und die Liebe zu ihrem Mann machte die Einsamkeit wett.

Abbie entdeckte einen Schatten auf dem Meer. Zuerst glaubte sie an eine Sinnestäuschung, an das Flackern des Leuchtturms, dessen Licht über die schwarze Brandung gezuckt war. Dann kam der Mond hinter einer Wolke hervor und blasses Licht floss über die dunklen Wellen. Ein Piratenschiff! Wie in einem dieser Mantel-und-Degen-Filme, die nachts auf den Kabelsendern liefen! Die legendäre Totenkopfflagge wehte am Hauptmast der kleinen Segeljacht, die mit zerfetzten Segeln nach Westen fuhr.

»Das gibt's doch nicht!«, flüsterte Abbie erschrocken. Sie drückte ihre Nase fest gegen das Fenster und hielt die Luft an, damit die Scheibe nicht beschlug. Tatsächlich! Ein Piratenschiff, da gab es keinen Zweifel! Die Segel hingen traurig von den beiden Masten und es wurde nur noch vom Hilfsmotor angetrieben, das war selbst aus der Ferne zu erkennen. Auch der Rumpf war beschädigt. Die Jacht drehte in den frischen Wind und fuhr in die mit Bojen markierte Fahrrinne, die in den Hafen von Seaport führte.

Abbie wollte nach unten laufen und ihre Eltern wecken, blieb aber schon nach wenigen Schritten stehen. Ihre Mutter war krank und brauchte Schlaf. Es hatte keinen Zweck, die beiden zu stören. Wegen eines Piratenschiffes! Sie lief zum Fenster zurück und starrte erneut auf das dunkle Meer hinaus. Das Schiff war verschwunden! Das Meer lag dunkel und geheimnisvoll unter dem Himmel und das Spritzen des Wassers, wenn die Brandung auf das Riff traf, war die einzige Bewegung auf dem Ozean.

»Ich habe mich bestimmt getäuscht«, flüsterte sie. Aber die Angst blieb, als sie sich auszog und mit ihrem armlosen Teddy ins Bett kroch. Sie blieb noch lange wach und stellte sich vor, wie das Schiff auf der anderen Seite der Insel anlegte und blutgierige Piraten über den schmalen Pfad zum Leuchtturm emporstiegen. Sie schwangen ihre Säbel und riefen laut ihren Namen.

Dann schlief sie ein und ein traumloser Schlaf erlöste sie von ihren Gedanken. Der Teddy lag fest in ihrem Arm.

Kapitel 3
Die Ankunft der Piraten

Abbie erwachte früh am nächsten Morgen. Sie ging zum Fenster und sah die ersten hellen Streifen am Horizont. Es war noch nicht halb sieben. Am Himmel hingen dunkle Wolken und Nebelschwaden zogen über das Meer. Ein Fischkutter durchpflügte die Wellen und hielt auf die Fischgründe im Norden zu. Dort sollte es den besten Kabeljau geben, erzählten die Fischer in Seaport.

Sie dachte an das Piratenschiff und drückte ihre Nase gegen die Scheibe. Nichts. Außer dem Fischkutter war kein Schiff zu sehen. Ein Albtraum, beruhigte sie sich, Schiffe mit der Totenkopfflagge gibt es nur noch in Disneyland, in den »Pirates of the Caribbean«. Dort waren sie im letzten Sommer gewesen. Natürlich hatte sie von modernen Piraten gehört, die einsame Jachten überfielen, aber die schipperten in der Karibik rum und hatten keinen Jolly Roger am Mast wehen. Die benutzten Schnellboote.

Beruhigt lief sie ins Bad. Sie duschte sich und zog sich an, Jeans und das dunkelblaue Sweatshirt mit den weißen Segelschiffen. Als sie die Treppe hinunterstieg, hörte sie ihre Eltern reden und klopfte an die Schlafzimmertür.

»Komm rein, mein Schatz!«, rief ihre Mutter fröhlich.

Abbie öffnete die Tür und wünschte ihren Eltern einen Guten Morgen. »He, dir geht es besser!«, freute sie sich, als sie ihre Mutter aufrecht im Bett sitzen sah. Ihr Mann hatte einen Arm um sie gelegt und sah erleichtert drein. »Was macht das Fieber?«

»Nicht der Rede wert«, antwortete sie, »dein Daddy hat mich gut gepflegt!« Sie kuschelte sich lachend an seine Schulter und seufzte zufrieden. »Ich glaube, ich kann wieder aufstehen!«

»Bleib lieber im Bett«, warnte ihr Mann, »wenigstens noch einen Tag! Du weißt doch, wie schnell man einen Rückfall bekommt!«

»Ich bin okay, Bob. Ganz bestimmt.«

»Sei vorsichtig!«

»Keine Bange, ich bin zäh!«

Abbie wandte sich zum Gehen. »Ich mach das Frühstück, okay? Wenn ihr fertig seid, steht alles auf dem Tisch! Rührei mit Räucherlachs, das isst du doch so gern, Mama! Stimmt's?«

»Es gibt nichts Besseres, mein Schatz!«

Das Mädchen ging in die Küche und band sich eine Schürze um. Das war der Vorteil, wenn man ein Restaurant führte, es lagen immer gute Sachen im Kühlschrank. Sie schlug sechs Eier in eine Schüssel, verfeinerte sie mit Dosenmilch und schnipselte den Räucherlachs hinein. In der gusseisernen Pfanne wendete sie das Omelette mehrmals, damit es nicht zu trocken wurde. Sie hatte das Talent zum Kochen von ihrem Vater geerbt und wollte nach dem College im Restaurant mitarbeiten. Noch ging sie auf die High School und sie wäre am liebsten schon nächstes Jahr von der Schule abgegangen, aber ihre Eltern wollten unbedingt, dass sie etwas von Management und Buchführung verstand.

»Wenn Mama gesund ist«, sagte sie beim Frühstück, »könnten wir doch die Hummerfallen raufholen. Was meinst du, Daddy?«

Robert Lennox griff sich an den Bart. »Ich hab einen harten Tag vor mir, Schatz. Ich muss noch den Dreck vom Tapezieren wegräumen und die Tische und Stühle zurückstellen. Auch in der Küche gibt's noch viel zu tun.« Er lächelte. »Aber ich habe eine Idee. Du könntest die Hummerfallen allein aus dem Meer ziehen und weiter in die Stadt fahren und einkaufen. Was hältst du davon?«

»Du willst mich allein fahren lassen?«, fragte sie strahlend. Bisher hatten sie die Fallen immer zusammen gecheckt und er hatte ihr nie erlaubt, allein auf das offene Meer zu fahren. »Das ist die beste Idee, die du je hattest! Bis Mittag bin ich zurück, okay?«

Sie räumte ihr Geschirr weg und rannte in den Flur. »Bis später«, rief sie aufgeregt, während sie sich die Gummistiefel anzog und den Anorak überstreifte. Ihre Eltern lachten vergnügt, als sie Tür aufriss und nach draußen rannte. »Vielen Dank, Daddy!«

Sie lief zum Anlegesteg hinunter und kletterte in das Hummerboot. Ein frischer Wind wehte ihr entgegen und sie stülpte die Wollmütze über den Kopf, bevor sie den Motor startete. Die Positionslampen brannten, als sie das Boot um die Insel steuerte. Die Wellen schäumten weiß und die Maschine brummte unruhig.

Mit stolzer Miene steuerte sie das Boot um die Felsen herum. Sie war tausendmal zwischen Stone Island und dem Hafen von Seaport gependelt, fuhr jeden Tag mit dem Boot zur Schule, aber das hier war etwas ganz anderes. Sie fuhr zum ersten Mal allein auf das Meer hinaus. Draußen hatte ihr Vater sie schon oft fahren lassen und sie kannte jeden Quadratzoll der Küstengewässer, aber sie war noch nie allein auf dem offenen Meer unterwegs gewesen. Ihre Bojen lagen ein paar Meilen von der Insel entfernt.

Sie war aufgeregt, wäre beinahe auf das Riff aufgelaufen, das sich östlich von Stone Island durch den Atlantik zog, bemerkte es aber noch rechtzeitig. In einer scharfen Rechtskurve trieb sie von den gefährlichen Korallen weg. Sie blickte ängstlich zur Insel zurück und hoffte, dass ihr Vater nicht zugesehen hatte. Als sie an dem Riff vorbei war, genoss sie die Einsamkeit des offenen Meeres, das Schreien der Möwen, die über ihr flatterten, das Glucksen der Wellen, die von dem auffrischenden Wind angetrieben wurden.

Vor einer weißen Boje mit roten Streifen drosselte sie den Motor. Jeder Hummerfänger markierte seine Bojen mit einem anderen Muster und ihre zeigten dieselben Farben wie der Leuchtturm auf Stone Island. Sie zog die Falle aus dem Meer und schob einen Anderthalbpfünder aus dem Gitterkäfig. Ein prächtiger Hummer, der heute Abend auf dem Teller eines Restaurantgastes landen würde. Sie warf ihn ins Salzwasserbecken, legte einen neuen Köder in die Falle und senkte sie auf den Meeresgrund. Der Atlantik war an dieser Stelle keine zehn Meter tief.

Sie überprüfte die anderen Fallen und fuhr mit fünf Hummern zurück. Die Arbeit war anstrengender, als sie gedacht hatte, weil das Meer unruhig war und es ihr schwer fiel, das Boot ruhig im Wasser zu halten. Mit gerötetem Gesicht nahm sie Kurs auf den Hafen. Der Wind blies ihr in den Nacken. Sie blickte nervös nach oben, aber das Wetter hatte sich nicht verändert. Der Himmel leuchtete in einem schmutzigen Grau und aus Südosten trieben kräftige Böen heran. Auf den Wellen tanzten Schaumkronen. Sie dachte an die Worte des alten Fischers und schüttelte sich.

In der Fahrrinne zum Hafen verlangsamte sie ihre Fahrt. Sie winkte zum Leuchtturm hinüber und hoffte, dass ihre Eltern aus dem Fenster sahen. Dann fiel ihr das Funkgerät ein. Sie zog es aus der Halterung und rief: »Stone Island Lighthouse, hier Catherine zwei!« So hatten sie das kleine Boot getauft. »Bitte melden!«

Im Lautsprecher knackte es. »Catherine zwei, hier Stone Island Lighthouse! Abbie, wie ist es dir ergangen? Lief alles glatt? Hast du alle Fallen gecheckt? Wie viele Hummer haben wir?«

»Drei Anderthalbpfünder, zwei Einpfünder«, antwortete Abbie stolz. »Du kannst schon mal das Wasser aufsetzen!« Sie lachte kurz und fügte hinzu: »Das Meer ist ziemlich unruhig, Daddy!«

»Wir bekommen Regen«, stimmte ihr Vater zu. »Aber vor heute Abend tut sich nichts. Sei bis spätestens drei zu Hause, ja?«

»Roger, Daddy! Bis später!«

Sie hängte das Mikrofon zurück und fuhr an der großen Jacht von George W. Clarke vorbei. Ein weißes Prachtschiff mit luxuriösen Aufbauten und viel Messing, das mindestens drei Millionen Dollar gekostet hatte. Der Jachtbauer war der mächtigste Mann der Stadt. Außer seiner Werft gehörten ihm das Seaside Inn und zwei große Supermärkte. Sogar der Bürgermeister und der Sheriff tanzten nach seiner Pfeife, das erzählten zumindest seine Gegner. Abbie mochte den Mann nicht, weil er sich immer so hochnäsig benahm und für Kinder nur wenig übrig hatte. Er war nicht verheiratet, ließ sich alle paar Wochen mit einer anderen Freundin sehen und war wohl viel zu geizig, um sein Geld mit einer Familie zu teilen. Dabei hatte er ein riesiges Vermögen.

»Guten Morgen, Abbie!«, riefen zwei heisere Stimmen.

Sie blickte nach rechts und erkannte Eddy Courtney und Buddy Wincott. Sie standen an der Reling des Hausbootes, beide mit einem Becher Kaffee in der Hand, und winkten zu ihr herüber.

»He, Eddy! He, Buddy! Seid ihr wieder nüchtern?«

»Wer sagt denn, dass wir einen Schwips hatten?«, rief der Bauarbeiter fröhlich. »Wir haben Wein getrunken und ein bisschen über die alten Zeiten geredet, die goldenen Jahre, verstehst du? Als es sich noch lohnte, ein Fischer zu sein, und die Fortyniners noch den Superbowl gewannen. Das waren noch Zeiten, Mann!«

»Montana war der beste Quarterback aller Zeiten«, erwiderte Abbie. Sie hatte keine Ahnung von Football, aber ihr Vater hatte oft genug von dem legendären Spieler der Fortyniners erzählt.

Die beiden Männer waren sprachlos.

»Hast du das gehört?«, staunte Eddy Courtney, als das Mädchen schon fast vorbei war. Er starrte ihr mit offenem Mund hinterher und rief: »He, Abbie! Ich denke, du hast keine Ahnung von Football!«

»Montana kennt doch jeder!«, antwortete sie lässig.

Die Männer kehrten in ihr Hausboot zurück und Abbie lenkte das Boot zwischen den Jachten hindurch zum Anlegesteg. Erst jetzt sah sie das fremde Schiff am Ufer liegen. Eine große Jacht, nicht so modern und teuer wie das Prachtschiff von Clarke und von einem heftigen Sturm zerzaust. Die schmutzigen Segel hingen in Fetzen herunter und auch der Rumpf hatte etliche Kratzer. Der Name war deutlich zu erkennen: Edna Green.

Abbie blickte zögernd am Mast empor und hätte vor Schreck beinahe das große Ausflugsboot gerammt. Am Hauptmast flatterte die Totenkopfflagge. Sie riss das Ruder herum und legte den Gashebel zurück. Der Motor des Hummerbootes verstummte. Sie starrte entsetzt auf das gestrandete Piratenschiff, bis irgendjemand am Ufer einen Warnschrei ausstieß und sie merkte, dass sie erneut auf Rammkurs war. Sie startete den Motor und lenkte ihr Boot neben die beschädigte Jacht. Immer noch sprachlos schaltete sie den Motor aus und verknotete die Leinen am Ufer.

Am Pier standen zahlreiche Schaulustige. Sie erkannte Alicia Scott vom Informationsstand und Alan Bagley, einen Jungen aus der High School. Ein kurzhaariger Angeber, der ständig im Trainingsanzug herumlief und seine starken Muskeln spielen ließ. Er gehörte zum Footballteam und glaubte, sich alles herausnehmen zu können. Die hübschesten Mädchen hatte er schon rumgekriegt und auch an sie hatte er sich vor einigen Wochen herangemacht, aber sie war eisern geblieben und hatte sich nicht mal den Rucksack tragen lassen. Sie mochte ihn nicht.

»Was ist denn hier los?«, fragte Abbie erstaunt.

»Das Piratenschiff muss heute Nacht gekommen sein«, erwiderte Alicia Scott. Sie hielt die unvermeidliche Zigarette in der Hand. »Als ich meine Bretterbude aufschloss, war es schon da!«

»Ich hab es gestern Abend gesehen.«

»Ehrlich?«

»Von meinem Zimmer aus«, berichtete Abbie, »ich dachte, ich hätte schlecht geträumt. Piratenschiffe gibt es doch nur in alten Filmen!« Sie zögerte. »Meinst du, das sind moderne Piraten?«

»Glaub ich nicht. Ist bestimmt nur ein Gag.«

»Ein Gag?«

»Die Leute haben sich einen Spaß erlaubt«, meinte Alicia Scott, »wollen wir wetten? Die haben Cutthroat Island gesehen oder einen anderen Piratenfilm. Die sind wieder in Mode, weißt du?«

»Und wo sind die Passagiere?«

»Keine Ahnung.«

»Hat niemand nachgesehen?«

»Auf einem fremden Boot?« Sie schüttelte den Kopf und warf die Zigarette ins Hafenbecken. »Aber wir haben Musik gehört, irgendwas von Madonna. Das dröhnte durch den ganzen Hafen!«

»Das hätte ich doch hören müssen.«

»Du warst noch weit draußen.«

»Und es ist niemand rausgekommen?«

»Wir warten noch«, sagte die junge Frau. »Ein paar Leute haben nach dem Käptn gerufen und Alan wollte rübersteigen, du weißt schon, dieser Typ von der High School, aber der Mann vom Bootsverleih hat ihn zurückgehalten. Das wäre Hausfriedensbruch, hat er gesagt, und es wären schon Leute erschossen worden, weil sie ohne zu fragen irgendwo eingedrungen wären.«

Abbie sah sich um. Über hundert Leute hatten sich auf dem Pier versammelt, meist Bootsverleiher und Ladenbesitzer aus der Hafengegend und ein paar Halbwüchsige wie Alan Bagley, die mit zwei Mädchen von der High School geflirtet hatten. Sie begegnete dem herausfordernden Blick des Footballspielers und ärgerte sich, weil ihr das Blut ins Gesicht schoss. Sie ballte eine Faust. Irgendwann würde sie dem Mistkerl klarmachen, dass er ein Nichtsnutz war, der gerade mal einen Ball werfen konnte.

Von der Jacht drang ein Geräusch herüber. Ein dumpfes Pochen, als ob sich jemand den Kopf gestoßen hätte. Ein Schatten flackerte über den Niedergang und ein Mann kletterte herauf.

»Da ist jemand!«, rief ein Ladenbesitzer.

»Der Pirat!«, flüsterte ein junges Mädchen.

Zuerst waren nur eine dunkelblaue Baseballmütze und eine gelbe Segeljacke zu sehen, gleich darauf ölverschmierte Jeans und Gummistiefel. Dann zeigte der Mann sein Gesicht und ein Aufstöhnen ging durch die Menge. Er hatte keine Ohren mehr und seine Nase war seltsam verformt. Um seine dunklen Augen spannte sich die Haut. Wie bei diesem österreichischen Rennfahrer, den ich neulich im Fernsehen gesehen habe, dachte Abbie verstört, der beinahe in seinem Ferrari verbrannt wäre.

Die Schaulustigen auf dem Pier erschraken. Zwei kleine Mädchen rannten davon und ein Junge begann zu weinen. »He, der kommt wie ein Zombie daher!«, war jemand zu hören. – »Der sieht wirklich aus wie ein Pirat!«, sagte ein anderer. – »Was will denn der hier?«, fragte eine Frau vorwurfsvoll. Die anderen Leute starrten den Fremden einfach nur an, verwirrt und verlegen oder in einer Mischung aus Furcht und Abscheu. Nur Alan Bagley riskierte eine große Lippe und rief frech: »He, Alter! Kommst du vom Mars?«

Der Mann hielt schützend eine Hand vor sein gerötetes Gesicht. Er wusste, wie er auf andere Menschen wirkte, aber er hatte noch nicht gelernt, damit umzugehen. »Ich bin John Crawford«, stellte er sich vor. Er griff sich vorsichtig an die Nase und zeigte ein verlegenes Lächeln. »Das ist Benjamin, mein Sohn.«

Erst jetzt sah Abbie den dunkelhaarigen Jungen, der hinter seinem Vater den Niedergang heraufgekommen war. Fr mochte ungefähr fünfzehn sein. Sein Haar reichte über die Ohren und war ungekämmt. In seinem blassen Gesicht leuchteten dunkle Augen. Er wirkte verschüchtert und bewegte sich beinahe linkisch. Er war genauso gekleidet wie sein Vater, bis auf die Baseballmütze, und wäre wohl am liebsten davongelaufen, als er die vielen Menschen auf dem Pier entdeckte. Abbie mochte ihn sofort. Irgendwie erinnerte er sie an die junge Möwe, die sie im letzten Sommer auf Stone Island gefunden und gepflegt hatte.

»Was wollen Sie hier?«, fragte Mike Colvin, ein grimmiger Bursche mit geröteten Wangen. Er führte den Eisenwarenladen, litt unter hohem Blutdruck und war als Hitzkopf bekannt. »Was soll die blöde Piratenflagge? Wollten Sie uns erschrecken?«

Details

Seiten
Erscheinungsform
Neuausgabe
Jahr
2018
ISBN (eBook)
9783960532415
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (März)
Schlagworte
Spannung Action Amerika Mädchen und Jungen Freundschaft erste Liebe Abenteuer ab 10 Jahren Gary Paulsen eBooks
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Titel: Sturm über Stone Island