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Die Reise zum Ende des Regenbogens

Roman

©2018 363 Seiten

Zusammenfassung

Eine Odyssee über die Weltmeere: Der Abenteuerroman »Die Reise zum Ende des Regenbogens« von Erfolgsautor Thomas Jeier jetzt als eBook bei jumpbooks.

Frankfurt am Main, 1683: Falsche Anschuldigungen zwingen die 17-jährige Anna und ihren Vater, Hals über Kopf aus ihrer Heimat zu fliehen. Doch auf ihrer atemlosen Flucht nach Amerika werden die beiden getrennt. Um ihren Vater wiederzufinden, beginnt für Anna eine Irrfahrt um die halbe Welt – bis sie eines Tages dem geheimnisvollen Schiffsjungen Nick begegnet. Er bietet ihr seine Hilfe an und schmuggelt sie auf ein Handelsschiff nach Amerika. Doch als Piraten sie auf hoher See angreifen, wird Anna im Chaos von Nick getrennt und muss sich alleine auf einem fremden Kontinent behaupten. Wird sie Nick und ihren Vater jemals wiedersehen?

Jetzt als eBook kaufen und genießen: »Die Reise zum Ende des Regenbogens« von Erfolgsautor Thomas Jeier für junge Leser ab 12 Jahren. Wer liest, hat mehr vom Leben: jumpbooks – der eBook-Verlag für junge Leser.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Über dieses Buch:

Frankfurt am Main, 1683: Falsche Anschuldigungen zwingen die 17-jährige Anna und ihren Vater, Hals über Kopf aus ihrer Heimat zu fliehen. Doch auf ihrer atemlosen Flucht nach Amerika werden die beiden getrennt. Um ihren Vater wiederzufinden, beginnt für Anna eine Irrfahrt um die halbe Welt – bis sie eines Tages dem geheimnisvollen Schiffsjungen Nick begegnet. Er bietet ihr seine Hilfe an und schmuggelt sie auf ein Handelsschiff nach Amerika. Doch als Piraten sie auf hoher See angreifen, wird Anna im Chaos von Nick getrennt und muss sich alleine auf einem fremden Kontinent behaupten. Wird sie Nick und ihren Vater jemals wiedersehen?

Über den Autor:

Thomas Jeier wuchs in Frankfurt am Main auf, lebt heute bei München und »on the road« in den USA und Kanada. Seit seiner Jugend zieht es ihn nach Nordamerika, immer auf der Suche nach interessanten Begegnungen und neuen Abenteuern, die er in seinen Romanen verarbeitet. Seine über 100 Bücher wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und mehrfach ausgezeichnet.

Bei jumpbooks erscheinen auch:

Biberfrau

Die Tochter des Schamanen

Das Lied der Cheyenne

Die abenteuerliche Reise der Clara Wynn

Die Sterne über Vietnam

Flucht durch die Wildnis

Weitere Titel sind in Vorbereitung.

Die Website des Autors: www.jeier.de

Der Autor im Internet: www.facebook.com/thomas.jeier

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eBook-Neuausgabe Juli 2018

Copyright © der Originalausgabe 1999 by Verlag Carl Ueberreuter, Wien

Copyright © der Neuausgabe 2018 dotbooks GmbH, München

Copyright © 2018 jumpbooks Verlag. jumpbooks ist ein Imprint der dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/new_extra, Hunter Bliss und Dark Bird

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (aks)

ISBN 978-3-96053-228-6

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Damit der Lesespaß sofort weitergeht, empfehlen wir dir gern weitere Bücher aus unserem Programm. Schick einfach eine eMail mit dem Stichwort Die Reise zum Ende des Regenbogens an: lesetipp@jumpbooks.de (Wir nutzen deine an uns übermittelten Daten nur, um deine Anfrage beantworten zu können – danach werden sie ohne Auswertung, Weitergabe an Dritte oder zeitliche Verzögerung gelöscht.)

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Thomas Jeier

Die Reise zum Ende des Regenbogens

Roman

jumpbooks

EUROPA (1683)

oder
Wie ich von meinem Vater getrennt wurde und mit zwielichtigen Komödianten den Rhein hinauffuhr

Kapitel 1

Nie werde ich die Worte meines Vaters vergessen, die er während unseres Osterspaziergangs im Jahre 1683 zu mir sagte. Wir standen auf der Mainbrücke, oberhalb der kleinen Insel, und der Blick meines Vaters verlor sich in der untergehenden Sonne über dem Fluss. »Eines Tages fahren wir zum Ende des Regenbogens«, sagte er, »wir gehen an Bord eines großen Schiffes und überqueren den Ozean! In dem fernen Land, das sie Amerika nennen, gründen wir eine neue Existenz! Dort finden wir die Gewissensfreiheit, die uns in der Heimat versagt bleibt!« Ich hatte den sehnsuchtsvollen Ausdruck in seinen Augen oft gesehen und wusste, wie er fortfahren würde: »Jenseits des Meeres gibt es keinen Leopold, dort hat unser Kaiser nichts zu sagen! In der Neuen Welt wird ein Mann nach seinem Charakter und seiner Tatkraft beurteilt! Sein gesellschaftlicher Stand zählt nicht und vor den Augen unseres Gottes hat nur Bestand, was man mit seinen eigenen Händen oder seinem Geist erschaffen hat! Glaube mir, meine liebe Anna, eines Tages werden wir gehen!«

Mein Vater träumte seit einigen Jahren von Amerika. Jeder Gulden, der nicht für das tägliche Leben gebraucht oder von der Steuer vereinnahmt wurde, wanderte in die Ledertasche unter seiner Werkbank, sehr zum Leidwesen meiner Stiefmutter, die für die Träumereien ihres Mannes nichts übrighatte. »Du bist ein Narr«, schalt sie ihn, »nach Amerika gehen nur die Reichen! Patrizier wie dieser von Merlau und die Mitglieder der Frankfurter Kompanie, die genug Geld haben, um Land in den Kolonien zu kaufen! Was willst du dort überhaupt? In Amerika herrscht der englische König, und der soll noch strenger sein als Leopold! Nein, Jakob, ich bin dafür, dass wir hierbleiben! Die Reise ist viel zu gefährlich! Ich habe gehört, dass viele Menschen während der Überfahrt sterben, weil auf den Schiffen ansteckende Krankheiten ausbrechen! Und in Amerika soll es schreckliche Wilde geben, die Frauen und Kinder entführen! Ich will nicht nach Amerika fahren!«

Wenn ich heute darüber nachdenke, muss ich zugeben, dass meine Eltern überhaupt nicht zusammenpassten. Jakob Fromm, mein Vater, war ein unternehmungslustiger Mann, der nach dem blutigen Krieg auf einem einsamen Bauernhof geboren wurde und es schaffte, ein Bürger der Freien Reichsstadt zu werden. In Frankfurt, der großen Stadt am Main, war man nur dem Kaiser unseres Reiches unterstellt und die Kaufleute und Handwerker verdienten besser als die armen Menschen auf dem Lande. Mein Vater verdingte sich bei einem Schmied und wurde zu einem angesehenen Büchsenmacher, der auch bei den ausländischen Händlern während der Messe sehr gefragt war. Katharina Fromm, meine Stiefmutter, war die Tochter eines Tuchhändlers, der nach dem Krieg beinahe Bankrott ging, als unser Reich in viele kleine Fürstentümer aufgeteilt wurde. Sie heiratete meinen Vater vier Jahre nach dem tragischen Tod meiner leiblichen Mutter, die in der Fahrgasse von einem Ochsenwagen überfahren wurde.

Ich habe nie herausbekommen, warum die beiden ein Paar wurden. Mein Vater hatte lange um meine leibliche Mutter getrauert, obwohl böse Zungen wissen wollten, dass sie eine gefährliche Hexe war und ihn verzaubert hatte. »Das geschieht ihr Recht«, lästerte eine Nachbarin, als sie von ihrem Tod erfuhr, »so straft Gott die Ungläubigen!« Ich war damals neun Jahre alt und verstand die Aufregung nicht. Wenn ich meinen Vater fragte, erklärte er mir, dass meine Mutter eine gute Frau gewesen sei. Lediglich die Dummheit der Leute sei an den Gerüchten Schuld. Auch später erfuhr ich nicht die Wahrheit. Angeblich soll sie sich für die Sterndeutung interessiert haben. Als die Pest ein letztes Mal in unserer Stadt zuschlug, machte meine Mutter die Stellung der Sterne für das Unglück verantwortlich und man hätte sie beinahe verhaftet.

Mein Vater bekam die Abneigung der Leute auch nach ihrem Tod zu spüren und sogar ich wurde von einigen Jungen mit Steinen beworfen. Nur weil es keinen besseren Büchsenmacher in der Stadt gab, überlebte mein Vater, und nur weil wir jeden Sonntag die Arbeit ruhen ließen und in die Kirche gingen, konnte mein Vater den Makel abschütteln, eine Hexe geehelicht zu haben. Vielleicht hatte er deshalb meine Stiefmutter geheiratet. Nach der Hochzeit wurde er von allen Bürgern respektiert und selbst ein Vertreter des Rates gratulierte ihm zu seiner neuen Frau. Katharina Fromm freute sich, die Gattin eines angesehenen Handwerkers zu sein, und war glücklich, dem bankrotten Betrieb ihres Vaters entflohen zu sein. Jakob Fromm war ein rechtschaffener Mann und bot ihr ein gutes Auskommen.

Erst mit den Jahren machte sich Unzufriedenheit breit. Meine Stiefmutter litt immer stärker darunter, dass mein Vater ein einfacher Handwerker war und nicht zu der erlauchten Schicht der Kaufleute gehörte. Frankfurt war eine wohlhabende Stadt, und es gab Händler, die ein Vermögen machten. Wer mehr verdiente, zahlte weniger Steuern, so ungerecht das klingen mag, und die meisten Patrizier blickten mitleidig auf die Handwerker herab. Besonders arm dran waren die Bauern, die bis auf den letzten Gulden geschröpft wurden und nur überlebten, wenn sie heimlich ein Schwein oder eine Gans von den Abgaben zurückbehielten und schlachteten. In den Vororten der Stadt lebten Tagelöhner und Bettler und hofften auf Almosen.

Wir konnten zufrieden sein und ich wunderte mich selber, dass Vater immer wieder von Amerika sprach. Er war regelrecht besessen von der Idee, das Ende des Regenbogens zu finden, wie er sich ausdrückte, und er ließ sich auch durch meine Stiefmutter nicht von diesem Plan abbringen. Irgendwann würde ihr nichts anderes übrigbleiben, als mit ihm zu gehen. Ich war mir noch nicht im Klaren darüber, wie ich empfand. Ich war gerade siebzehn geworden, alt genug, um eine Familie zu gründen, und es gab einen jungen Mann, der mich mit schönen Worten umwarb und großes Interesse zeigte, mich zu heiraten. Balthasar Marrel war der Sohn eines wohlhabenden Buchhändlers, der sein Geschäft am Rossmarkt hatte und einen regen Handel mit den reichen Holländern führte. Ich mochte ihn sehr, aber ich dachte nicht daran, ihn zu heiraten. Als ich ihm von den Plänen meines Vaters erzählte, lachte er mich aus: »Nun sag bloß, du willst mit ihm nach Amerika gehen«, neckte er mich. »Willst du, dass dich die Wilden entführen?« Er zeigte mir ein Buch, in dem über die blutrünstigen Wilden berichtet wurde, und mir wurde beim Anblick der Zeichnungen beinahe so übel wie vor einigen Jahren, als ich gesehen hatte, wie einem Mann, der auf der Mainbrücke geflucht hatte, die rechte Hand abgehackt wurde.

Vielleicht wäre mein Vater nie nach Amerika gefahren. Wer vermag schon zu sagen, ob er sich gegen meine Stiefmutter und seine Geschäftspartner durchgesetzt hätte, die ihn ständig davor warnten, im Ausland seinen Geschäften nachzugehen. »Die Engländer und Franzosen haben ihre eigenen Feuerwaffen«, sagten sie. Ich hielt meinen Vater für verrückt genug, ein solches Risiko einzugehen und in Amerika ein neues Geschäft aufzubauen. Wenn es dort gefährliche Wilde gab, brauchte man Feuerwaffen, und er machte bessere Büchsen als die Engländer. Ich konnte nicht beurteilen, wie gut seine Waffen waren, aber ich hatte schon ein paar Mal damit geschossen und immer ins Schwarze getroffen. Ich war eine gute Schützin, besser als die Soldaten an der Hauptwache, und immer wenn mein Vater eine neue Waffe einschoss, durfte ich helfen. Auch etwas, was meine Stiefmutter in Zorn versetzte. »Das gehört sich nicht für ein Mädchen«, sagte sie. Ich glaube, sie konnte mich nicht leiden und wollte, dass ich so schnell wie möglich unter die Haube kam. Als Balthasar mich zu einem Spaziergang abholte, lächelte sie zum ersten Mal seit langer Zeit. »Eine bessere Partie kannst du nicht machen, Anna!«

Aber es kam alles ganz anders. Ein fürchterliches Unglück und die Erinnerung an meine leibliche Mutter sorgten dafür, dass mein Vater schneller als erwartet nach Amerika fuhr und ich seiner Spur zum Ende des Regenbogens folgte. Aber ich will der Reihe nach erzählen. Es begann damit, dass Balthasar mich am Montag nach Ostern zur Buchmesse mitnahm. Er wollte mir einige besonders schöne Werke zeigen, die in der Mainzer Gasse nördlich der Leonhardskirche angeboten wurden. Mein Vater hatte mich rechnen, schreiben und lesen gelehrt. Besonders gut gefielen mir die spöttischen Texte, in denen sich so genannte Satiriker über die Narreteien der verschiedenen Stände lustig machten. Ich bestaunte ein ledergebundenes Buch mit historischen Schriften und den Stadtansichten eines gewissen Merian, der in Frankfurt gelebt hatte, und blätterte in einer kostbaren Bibel, die Kapuzinermönche in Mainz gedruckt hatten.

Ich war zum dritten Mal mit Balthasar unterwegs, hatte die letzten beiden Messen mit meinen Eltern besucht. Ich muss meiner Stiefmutter zugestehen, dass sie sehr gebildet war und sich für die Künste interessierte. Für eine Aufführung der Heidelberger Komödianten, die während der Handelsmesse im Pfuhlhofe aufgetreten waren, hatte sie bereitwillig einen hohen Eintritt bezahlt, und für den Franzosen, der Gedichte in seiner Heimatsprache vorgetragen hatte, war sie durch die halbe Stadt gelaufen. Mein Vater war Handwerker, interessierte sich nur für Bücher, wenn sie von Waffen handelten oder von dem fernen Land am Ende des Regenbogens berichteten. Er arbeitete mit seinen Händen und selbst wenn er von Amerika träumte, baute er keine Luftschlösser. Er sah sich als redlichen Büchsenmacher, der in der fernen Wildnis ein Blockhaus baute und der unwirtlichen Natur und den kriegerischen Wilden trotzte. Er war kein blinder Träumer, der glaubte, dass auf der anderen Seite des Ozeans ein Paradies wartete. Er wusste, dass man sich sein Glück erarbeiten musste, in einer freien Reichsstadt und in der Wildnis.

Ich wusste damals noch nicht, was ich wollte, und ließ das Leben auf mich zukommen. Der liebe Gott würde schon dafür sorgen, dass ich den richtigen Weg wählte. Darum bat ich ihn jeden Sonntag in der Kirche. Ich prüfte das Leben auf die wenigen Möglichkeiten, die es einer jungen Frau bot, und genoss einen Festtag wie den Ostermontag, wenn das Messetreiben seinen Höhepunkt erreichte.

Um die Mittagszeit an jenem schicksalsschweren Tag wusste ich noch nicht, welcher Schrecken mich am späten Nachmittag erwartete, und ich erfreute mich an dem bunten Treiben, das jede Messe mit sich brachte. Wir gingen zur Lotterie vor der neuen Katharinenkirche und ich gewann einen hölzernen Kerzenständer. Später kehrten wir im Nürnberger Hof ein, wo Seltenheiten aus fremden Ländern angeboten wurden. Ein indianisches Pferdchen, kaum größer als ein Hündchen, sprang durch bunte Reifen und auf einem Ast tanzten kleine Äffchen zur Musik eines Geigenspielers. In der Eschenheimer Gasse führte ein junger Franzose fremdartige Tänze vor und lud die Zuschauer ein, mit ihm über das Kopfsteinpflaster zu tanzen. Ein Hanswurst lockte die Spaziergänger in einen Innenhof, wo ein Quacksalber auf dem Kutschbock seines Wagens stand und Schlangenschmalz und gebranntes Hasenhaar verkaufte, das gegen die Pest helfen sollte.

Das größte Gedränge herrschte auf dem Rossmarkt, wo sogar einige Reichsgrafen an einem Pferderennen teilnahmen. Vor lauter Menschen konnte ich kaum etwas sehen und Balthasar hatte die gute Idee, mich auf das Dach des Hauses zu führen, in dem die Buchhandlung seines Vaters untergebracht war. Wir kletterten über eine Wendeltreppe nach oben, stiegen durch eine Luke nach draußen und setzten uns auf das Dach eines Giebelfensters. Vor allem junge Leute hatten sich auf die Ziegeldächer verteilt und verfolgten die spannenden Rennen. Ich ließ mich von der festlichen Stimmung mitreißen, feuerte die bunt gekleideten Teilnehmer an und wettete mit Balthasar um einen Kuss, welcher Reiter das nächste Rennen gewinnen würde. Balthasar gewann und küsste mich, bis ich keine Luft mehr bekam.

»Balthasar!«, flüsterte ich entsetzt. »Wenn du das auf der Mainbrücke getan hättest, hätte man deine rechte Hand abgehackt!«

»Und wenn schon«, erwiderte er fröhlich, »für dich lasse ich mich sogar einen Kopf kürzer machen! Heute ist alles erlaubt!«

»Balthasar!«, sagte ich wieder.

Er blickte mich verschmitzt an und ich hatte das unbestimmte Gefühl, dass Balthasar sich für diesen Tag etwas ganz Besonderes vorgenommen hatte. Ich konnte mir auch denken, was es war. Normalerweise war er ein ruhiger Zeitgenosse, eher nachdenklich, so wie man sich einen Buchhändler vorstellte, und es musste schon etwas Außergewöhnliches passieren, wenn er sich so draufgängerisch wie heute gab. Es war mein erster Kuss und ich hatte das sichere Gefühl, dass die Zuschauer auf den anderen Dächern das genau wussten.

Balthasar wurde ernst und schöpfte wohl Mut, um mir zu sagen, dass er mich liebte und heiraten wollte, und ich sah über die Stadt und überlegte verzweifelt, was ich ihm antworten sollte. Tausend Gedanken gingen mir durch den Kopf. Er war ein netter Kerl, aber ich liebte ihn nicht. Mein Vater würde seinen Traum wahr machen und ich würde mit ihm nach Amerika gehen. Lieber Gott, sag mir, was ich dem armen Kerl antworten soll, betete ich und da sah ich die dunklen Rauchwolken, die wie ein drohendes Omen über den Dächern hingen. »Balthasar! Da drüben brennt es!«, stieß ich hervor.

Woher ich wusste, dass die Flammen aus meinem Elternhaus schlugen, kann ich nicht sagen. Ich spürte es einfach, stieg ins Treppenhaus zurück und rannte über die Wendeltreppe nach unten, zwei, drei Stufen auf einmal nehmend. Balthasar blieb dicht hinter mir, rief immer wieder meinen Namen und konnte sich keinen Reim auf meine plötzliche Panik machen. »Da drüben wohnen meine Eltern!«, rief ich, während wir zur Fahrgasse rannten, die ein gutes Stück vom Rossmarkt entfernt zum Flussufer führte. Die Leute blickten uns verwundert nach, konnten nicht wissen, dass es in ihrer Nähe brannte. Ein älterer Herr schüttelte missbilligend den Kopf: »Immer diese Jugend!«

Wir kümmerten uns nicht um ihn und rannten weiter. Mein Herz schlug bis zum Hals und meine Lunge brannte. Ich nahm eine Abkürzung, kletterte über eine Mauer, riss mir den Saum meines Kleides ein und machte mich schnell aus dem Staub, als ich das Bellen eines Hundes hörte. Balthasar hatte weniger Glück, er wurde gebissen und fluchte wie ein Fuhrknecht, während er den lästigen Hund abschüttelte. Ich war zu aufgeregt, um mich um ihn zu kümmern, erreichte die Fahrgasse und blieb entsetzt stehen. Beißender Qualm schlug mir entgegen.

Unser Haus brannte. Die Flammen schlugen aus allen Fenstern und leckten an den verputzten Wänden empor. Funken tanzten im lauen Wind. Die Hitze stand wie eine unsichtbare Wand zwischen dem Haus und mir, ich spürte sie am ganzen Körper. Das Feuer tobte mit mörderischer Kraft, ließ die Fensterscheiben zerspringen und fuhr wie ein Sturmwind durch das Haus, verschlang Möbelstücke und verfärbte die dunklen Balken zwischen den einzelnen Stockwerken. Es hatte sich wie eine böse Macht in unserem Haus eingenistet und zerstörte alles, was mir in meinem Leben etwas bedeutet hatte. Die Flammen tobten, lärmten und knisterten und leuchteten in der Dämmerung.

»Anna! Mein Gott!«, stöhnte Balthasar fassungslos.

Ich war so entsetzt, dass ich eine ganze Weile brauchte, bis ich die dunklen Schatten in dem Flammenmeer erkannte. Männer und Frauen mit Eimern versuchten das Feuer zu löschen und am Übergreifen auf die Nachbarhäuser zu hindern. Sie bewegten sich wie Geister in einem unterirdischen Höllenfeuer und schrien wild durcheinander. »Wasser! Wir brauchen mehr Wasser!«, rief jemand. »Mehr links, sonst greift das Feuer über!«

Balthasar schnappte sich einen Eimer und rannte zum nächsten Brunnen. Ich nahm kaum Notiz davon, blieb wie versteinert vor der Flammenwand stehen und starrte in das Feuer. »Vater!«, flüsterte ich. »Mutter!« Und dann laut und voller Panik: »Vater! Mutter! Wo seid ihr? Helft mir! Meine Eltern sind in dem Feuer! Helft mir doch!« Ich taumelte benommen auf die Flammen zu und starrte entgeistert auf die Schatten hinter den leuchtenden Fenstern. Waren das brennende Möbel? Oder Menschen, die verzweifelt versuchten den tödlichen Flammen zu entkommen?

Eine starke Hand riss mich zurück. Ich spürte den verrußten Rock eines Mannes im Gesicht und blickte weinend auf. »Mein Vater und meine Mutter sind da drin! Wir müssen sie herausholen!«

Ich wollte mich losreißen, aber seine Arme hielten mich fest umklammert. »Anna Fromm?«, rief er in den aufgeregten Lärm, der wie eine Brandung auf uns zurollte. Aus seinem Schnurrbart fiel dunkle Asche. »Sind Sie die Tochter des Büchsenmachers?«

»Wo ist mein Vater? Wir müssen ihn retten!«, rief ich.

»Der Büchsenmacher liegt da drüben«, antwortete er. »Ihm ist nichts passiert! Nur seine Frau ... seine Frau ist immer noch ...«

Ich riss mich los und rannte in die Richtung, in die er gewiesen hatte. Vater lag auf dem Pflaster, den Kopf gegen eine Mauer gelehnt, und blickte fassungslos in das Feuer. »Vater! Du lebst!«, rief ich weinend. »Vater!« Ich fiel auf die Knie und umarmte ihn mit aller Kraft, dachte gar nicht an meine Stiefmutter, die immer noch im Feuer war und qualvoll starb.

Kapitel 2

Unser Haus brannte bis auf die Grundmauern nieder. Der heftige Regen, der noch in derselben Nacht auf die Stadt prasselte, verhinderte ein Übergreifen des Feuers auf die anderen Gebäude, kam aber viel zu spät, um meine Stiefmutter zu retten. Sie starb in den lodernden Flammen. Wir fanden das Amulett, das sie um den Hals getragen hatte, in den rauchenden Trümmern. Sonst waren keine Menschen zu Schaden gekommen. Von unserem Besitz waren einige Werkzeuge, das eiserne Schloss einer Muskete und die Ledertasche mit den Goldmünzen übrig geblieben, die mein Vater in einer eisernen Schatulle unter seiner Werkbank aufbewahrt hatte. Das Gesparte, das für die Reise nach Amerika bestimmt war. »Ist es nicht seltsam, dass ausgerechnet dieses Geld geblieben ist?«, fragte er mit großer Verwunderung.

Wir standen vor den Überresten unseres Hauses und starrten in den beißenden Qualm. Die ganze Nacht harrten wir vor der Unglücksstelle aus. Wir beteten für meine tote Stiefmutter und baten Gott, sie in den Himmel aufzunehmen. Das Gesicht meines Vaters war traurig, aber in seinen Augen standen keine Tränen, auch dann nicht, als einige Männer die verkohlten Knochen meiner Stiefmutter in einem Tuch sammelten und sie auf einen Wagen luden. Die Liebe zu seiner Frau, wenn es sie jemals gegeben hatte, war schon vor langer Zeit erloschen. Ich weinte um sie, aber auch ich fühlte keinen tiefen Schmerz und zupfte nur verlegen am Ärmel meines Vaters, als ihre sterblichen Überreste vorbeigetragen wurden. Sie war nie meine Mutter gewesen und zwischen uns hatte es kein ernsthaftes Gefühl gegeben.

Mein Vater hatte mit den Vertretern des Rates gesprochen und zu Protokoll gegeben, wie das Unglück geschehen war. Eine Öllampe war im ersten Stock zu Boden gefallen und ein Luftstoß, der durch das angelehnte Fenster hereingekommen war, hatte das Feuer in Windeseile durch das ganze Haus getrieben. Mein Vater hatte die Flammen zu spät bemerkt. Er war in seiner Werkstatt gewesen und hatte an einer neuen Muskete gearbeitet, als die Flammen das Erdgeschoss erreicht hatten. Er hatte noch versucht, meine Mutter aus dem ersten Stock zu holen, aber die Treppe brannte bereits lichterloh und war vor seinen Augen zusammengebrochen. Er hatte nur sich selber retten können.

Am frühen Morgen lösten wir uns von dem traurigen Anblick. Balthasar kam zu uns und überbrachte uns das Beileid seiner Familie. Er führte uns zu einem nahen Gasthof und sagte: »Meine Eltern lassen ausrichten, dass sie euch gern etwas leihen würden, falls ihr euer Erspartes in den Flammen verloren habt!«

Mein Vater bedankte sich und sagte, das sei nicht nötig. Er wisse die Freundlichkeit der Eltern zu schätzen, aber er habe genug Geld, um durch diese schwere Zeit zu kommen. »Ich danke dir für dein Beileid, mein Junge! Möchtest du mit uns essen?«

Balthasar lehnte dankend ab. »Die Geschäfte«, entschuldigte er sich, »meine Eltern brauchen mich in der Buchhandlung. Nach der Messe kaufen die Leute besonders viele Bücher!« Er lüftete den Hut und verbeugte sich höflich. »Lebt wohl! Ich muss gehen!«

Wir betraten den Gasthof und mieteten ein Zimmer. Nachdem wir uns gesäubert und die Asche aus den Kleidern geschlagen hatten, gingen wir in die Gaststube und bestellten etwas zu essen. Wir hatten keinen großen Hunger und ich hätte mich am liebsten im Bett verkrochen, aber mein Vater erinnerte mich daran, dass wir am Abend des Unglücks nichts gegessen hatten und auch das Frühstück hatten ausfallen lassen. »Weißt du noch, als deine richtige Mutter starb?«, erinnerte er mich. »Damals hast du nichts gegessen und bist sehr krank geworden!«

Ich dachte an den Tag zurück, als sie von dem Fuhrwerk überfahren wurde, und spürte Tränen in meinen Augen. Der Tod meiner leiblichen Mutter hatte mich sehr mitgenommen. Ich war so krank gewesen, dass mein Vater einen Arzt holen musste. »Das war etwas anderes«, räumte ich ein. Wir bestellten Bohnengemüse und ich stocherte darin herum, hing meinen Gedanken nach und achtete nicht auf das Getuschel der anderen Gäste, die verstohlen in unsere Richtung blickten. Die Kunde von dem Brand war durch die ganze Stadt gegangen und man sprach überall von dem Büchsenmacher und seiner Tochter, die den grausamen Tod von Ehefrau und Mutter zu beklagen hatten.

Ich war froh, dass Balthasar die Einladung meines Vaters ausgeschlagen hatte, ich hätte es nicht ertragen können, wenn er dieses Unglück zum Anlass genommen hätte, meinen Vater um meine Hand zu bitten. Obwohl es weit verbreitete Sitte war, dass Väter ihre Töchter standesgemäß verheirateten, dachte mein Vater nicht daran, einen Mann für mich auszusuchen. »Wenn es so weit ist, erkenne ich, wem dein Herz gehört«, sagte er schmunzelnd.

An diesem Abend wollte ich allein sein und auch nach der Beerdigung der verkohlten Überreste meiner Mutter schlug ich die Einladung von Balthasar aus. Ich spazierte lieber mit meinem Vater am Main entlang und atmete die würzige Luft, die nach dem Regen von den fernen Bergen kam. Mein Vater sagte nicht viel und auch ich schwieg die meiste Zeit. Ich kannte die Gefühle, die ihn beschäftigten, und er wusste, worüber ich nachdachte. Obwohl wir nichts sagten, waren wir uns sehr nahe. Wir genossen den jungen Frühling und versuchten das Prasseln des Feuers und die Schreie meiner sterbenden Stiefmutter zu vergessen. Obwohl wir sie nicht geliebt hatten, würde es einige Zeit dauern, bis wir über ihren Tod hinweg waren. Wir hatten immerhin viele Jahre zusammengelebt und es tat weh, ihre Überreste auf dem Friedhof zu wissen. Immer wenn ich an ihrem Grab stand und frisch gepflückte Blumen darauf legte, musste ich daran denken, dass nur ein paar verkohlte Knochen unter der Erde lagen.

Wir blieben in dem kleinen Gasthof wohnen. Man würde uns eine Nachricht senden, wenn die Trümmer unseres niedergebrannten Hauses zur Seite geräumt waren und wir mit dem Neuaufbau beginnen konnten. Mein Vater hatte beschlossen, mit der Arbeit auszusetzen, und verbrachte viel Zeit mit mir. Wir hatten eine Goldmünze angebrochen und uns neue Kleider gekauft. Als ich mich im Spiegel betrachtete, war ich selber erstaunt, eine junge Dame zu sehen. Das dunkelbraune Kleid machte mich erwachsener, aber vielleicht lag es auch daran, dass meine honigblonden Haare zu einem Knoten aufgesteckt waren. Meine weiche Haut war von der Frühlingssonne gebräunt und über den leicht hervorstehenden Backenknochen waren nur noch wenige Sommersprossen zu sehen. Meine dunklen Augen leuchteten. In der Gaststube drehten sich fast alle Männer nach mir um, und das nicht nur, weil ich die Tochter des Büchsenmachers war. Sie bewunderten meine schlanke Figur und meine Rundungen, die sich deutlich unter dem Mieder abzeichneten. Ich lachte darüber.

Die tragischen Ereignisse, die meinen Vater und mich bewogen, Hals über Kopf die Stadt zu verlassen und nach dem Ende des Regenbogens zu suchen, wurden durch dieselbe Nachbarin ausgelöst, die meine leibliche Mutter eine Hexe genannt hatte. Während des Kirchgangs deutete sie mit dem Finger auf uns und nach dem Gottesdienst hetzte sie ihre Bekannten gegen uns auf. »Die Hexe ist aus ihrem Grab gestiegen«, sagte sie so laut, dass es alle hören konnten, »sie ist eifersüchtig, weil ihr Mann eine andere geheiratet hat! Sie ist in seinen Körper gefahren und hat das Feuer gelegt! Er trägt die Schuld an dem Brand!« Ihre Stimme war schrill geworden und in ihren Augen stand der blanke Hass. Ich weiß bis heute nicht, was sie gegen meinen Vater hatte. »Wir müssen ihn töten, sonst lebt die Hexe weiter!«

Ich hatte nicht den Eindruck, dass ihr jemand glaubte. Die meisten Kirchgänger lachten, als sie meinen Vater beschimpfte, und der Pfarrer ging zu ihr und sprach beruhigend auf sie ein. Sie verschwand in einer Seitengasse. »Sie ist verrückt«, sagte mein Vater, »sie weiß genau, dass meine Frau keine Hexe war! Sie war eine Träumerin und versuchte die Sterne zu deuten, aber das tun andere Menschen auch und niemand verurteilt sie! Was hat die Frau gegen mich?«

Ich griff nach seiner Hand und zog ihn von der Kirche weg. Es hatte keinen Zweck, mit der Nachbarin zu streiten oder über ihre Anschuldigungen zu reden, das hätte alles nur noch schlimmer gemacht. Das Volk war sehr wankelmütig und richtete viel zu leicht über einen Menschen, der nicht in sein Weltbild passte. Obwohl ich nie darüber gesprochen hatte, war ich fest davon überzeugt, dass einige der Frauen, die als Hexen hingerichtet worden waren, kein Verbrechen begangen hatten. Wenige Tage nach meinem vierten Geburtstag, so erfuhr ich später, entging die Frau eines bekannten Mannes dem Galgen nur, weil Philip Jakob Spener sich für sie einsetzte und ihre Ankläger davon überzeugte, dass sie nicht vom Teufel getauft worden war. Der Geistliche hatte es sich zur Aufgabe gemacht, die verdorbene Welt zu verbessern, und setzte sich öffentlich für eine gottgefällige Besserung der wahren evangelischen Kirche ein. Er war ein bekannter, aber auch sehr umstrittener Mann in Frankfurt.

Meinem Vater und mir konnte er nicht helfen. Er war nicht in der Nähe, als wir in den Gasthof kamen und von einem Mann beschimpft wurden, der behauptete, dass Gott schon wisse, wer das Feuer gelegt habe. Was er damit meinte, war jedem klar. Ein anderer Mann stellte meinem Vater ein Bein, sodass er beinahe zu Boden stürzte, und ein junger Mann, der zu viel getrunken hatte, forderte den Wirt auf, die ungebetenen Gäste aus seinem Haus zu weisen. Der Wirt hielt zu uns und wir blieben, aber wir taten in dieser Nacht kein Auge zu und hatten große Angst, dass die Männer in der Gaststube sich Mut antranken und die Treppe heraufkamen, um uns zu verprügeln und davonzujagen. Ich begann zu weinen und drängte mich an meinen Vater. »Von morgen ab wird es besser«, sagte er. »Das verspreche ich dir!«

Doch am nächsten Tag wurde alles noch viel schlimmer. Schon beim Frühstück tuschelten die Leute über uns, und als wir über die Mainbrücke gingen, hörte ich, wie jemand sagte, dass man uns am anderen Ufer die Hände abschlagen würde. Wir kehrten rasch um und blieben neben dem Brückenturm stehen, blickten über den Fluss, der in der hellen Frühlingssonne glitzerte.

»Ich habe die ganze Nacht darüber nachgedacht«, sagte mein Vater, »ich glaube, es ist besser, wenn wir die Stadt verlassen. Der Pöbel will, dass ich hänge, und es wird nicht mehr lange dauern, bis die Ratsherren mich festnehmen lassen. Auch du bist in Gefahr, Anna! Wir müssen weg, bevor wir dem gottlosen Gesindel in die Hände fallen!« Er blickte mich hoffnungsvoll an. »Wer kann uns daran hindern, schon jetzt nach dem Ende des Regenbogens zu suchen? Ich habe einen Beutel voller Goldmünzen und es gibt nichts, was uns noch in dieser Stadt hält. Was meinst du, Anna? Bist du bereit, ein neues Leben zu beginnen?«

Ich brauchte nicht lange zu überlegen. »Ja, Vater, ich will mit dir gehen! Du bist der einzige Mensch, den ich liebe, und ich will immer in deiner Nähe sein! Aber wie willst du an den Wachen vorbeikommen, wenn die Ratsherren dich festnehmen wollen?«

Auch darüber hatte mein Vater schon nachgedacht. Nach dem Frühstück hatte er mit einem Händler gesprochen, der ihm noch Geld schuldete, und ihm versprochen, die Summe zu erlassen und eine Goldmünze draufzulegen, wenn er uns in seinem Wagen aus der Stadt schmuggelte. Georg Hess, so hieß der Mann, fuhr alle paar Tage nach Westen und die Wachen hatten es längst aufgegeben, seinen Wagen zu durchsuchen. Der Händler hatte mit kleinen Geschenken dafür gesorgt, dass sie ihm wohlgesonnen waren. Er hatte versprochen, uns in seinem Wagen zu verstecken und uns ein Stück weit nach Westen zu bringen.

Wir packten einige Vorräte in einen Beutel und suchten den Mann auf. Er wohnte in einer engen Gasse in der Nähe des Eschenheimer Turms. Es bedeutete ein großes Risiko, sich auf den Händler zu verlassen, aber es war die einzige Möglichkeit, die uns geblieben war. Obwohl wir durch abgelegene Gassen gingen, begegneten wir immer wieder Leuten, die uns erkannten und mit Spazierstöcken oder Fingern auf uns zeigten. Das böse Gerücht, dass mein Vater im Auftrag einer toten Hexe gehandelt und sein Haus selber angezündet habe, hatte sich in der ganzen Stadt verbreitet. Mein Vater vermutete, dass einige Schuldner dafür gesorgt hatten.

Georg Hess war ein griesgrämiger Mann mit glanzlosen Augen und einem schmalen Mund. Seine Zähne waren gelb vom vielen Pfeiferauchen. Er würdigte uns kaum eines Blickes, als wir in seinem Hof auftauchten, und fragte nach dem Goldstück, kaum dass wir ihn begrüßt hatten. »Eigentlich ist das viel zu wenig«, schimpfte er, »ich habe mich in der Stadt umgehört und weiß, dass die Obrigkeit nach euch sucht! Und wenn ihr gehängt werdet, brauche ich meine Schulden sowieso nicht zu bezahlen!«

Mein Vater legte wortlos ein zweites Goldstück dazu und kümmerte sich nicht um das höhnische Grinsen des Händlers, der sich darüber freute, ein gutes Geschäft zu machen. Für die Schulden und die beiden Goldstücke hätte er ein Jahr lang arbeiten müssen. Aber wenn die Ratsherren bereits ihre Truppen ausgesandt hatten, um uns festzunehmen, blieb uns gar nichts anderes übrig, als auf seine überzogenen Forderungen einzugehen. Wir mussten so schnell wie möglich verschwinden, wenn wir dem Kerker oder dem Galgen entkommen wollten. Vielleicht richtete sich ihr Zorn nur gegen meinen Vater, aber selbst wenn nur er verhaftet wurde, drohten mir das Armenhaus oder die Verbannung, und das war beinahe noch schlimmer. Ich wollte bei meinem Vater bleiben und eine neue Zukunft mit ihm aufbauen.

Wir warteten nervös, bis der Händler die beiden Ackergäule vor den Wagen gespannt hatte, und krochen unter die Plane. Hinter einigen Kisten und Säcken versteckten wir uns. »Und haltet euren Mund!«, warnte Georg Hess. »Wenn sie den Wagen durchsuchen und euch finden, weiß ich von nichts. Dann behaupte ich, ihr wärt heimlich auf den Wagen geklettert.« Er warf eine Decke über uns und wir hörten, wie er auf den Kutschbock stieg. Der Wagen ächzte und knarrte, als wir den Hof verließen und quer durch die Stadt zur Bockenheimer Warte fuhren. Die Pferdehufe klapperten über das Kopfsteinpflaster. Ein Mann rief: »Morgen, Georg, schon wieder auf Achse?« Und der Händler antwortete: »Ich muss nach Rödelheim, einige Waren abholen.«

Es war sehr unbequem in unserem Versteck. Der Wagen holperte und schwankte und ich stieß immer wieder gegen eine Kiste und das raue Bodenbrett und holte mir einen blauen Fleck nach dem anderen. Georg Hess kümmerte sich nicht um uns. Er hockte wortlos auf seinem Kutschbock und paffte an seiner Pfeife. Der Rauch zog bis in unser Versteck. Alle paar Meter rief er den Ackergäulen etwas zu oder knallte mit der Peitsche, damit sie nicht stehen blieben, aber er machte keine Anstalten, sie zu einer schnelleren Gangart anzutreiben. Es wäre nur aufgefallen, wenn er die Stadt überhastet verlassen hätte.

Nach einer ganzen Weile erst steckte er den Kopf durch die Plane. »Kein Wort«, warnte er, »da vorn steht die Wache!«

Ich suchte nach der Hand meines Vaters und hielt vor lauter Angst die Luft an. Als der Wagen stehen blieb und die Stimmen der Wachsoldaten zu hören waren, atmete ich leise weiter und fürchtete, dass meine Atemzüge und mein Herzschlag mich verraten würden. Die Hand meines Vaters drückte fester zu und ich wurde ruhiger. Es gibt keinen Grund, sich Sorgen zu machen, sagte ich mir, der Händler fährt alle paar Tage aus der Stadt und wird kaum kontrolliert. Die Wache wird ihm einen guten Tag wünschen und ihn durchwinken. Ich wartete ungeduldig auf das Knarren des Stadttores.

»Da hast du aber Glück gehabt«, hörte ich die Stimme eines Wachsoldaten, »die anderen Stadttore sind alle geschlossen!«

»Was gibt's denn? Haben wir die Pest?«

»Die Franzosen kommen über den Main«, antwortete der Soldat ernst. »Es geht das Gerücht um, dass sie uns abkassieren wollen!«

»Ich denke, der Krieg ist lange vorbei?«

»Sie versuchen es immer wieder. Solange Händler wie du das große Geld machen, gibt es in Frankfurt viel zu holen!«

Ich hörte, wie er an den Wagen trat. »Was hast du denn heute geladen?«

»Nichts Besonderes«, antwortete Georg Hess, »ein paar Kisten und Säcke vom Porzellanhof. Seit die Holländer ihre Fabrik eröffnet haben, gibt es viel für mich zu tun. Ich will nach Rödelheim.«

Der Wachsoldat lachte. »Na, dann pass mal auf, dass die Franzosen nicht von deinen Tellern essen!« Ich hörte, wie die Plane hochgezogen wurde. »Oder hast du den Hexer versteckt?«

Ich spürte, wie der Händedruck meines Vaters noch fester wurde, und kämpfte gegen den Drang an, aus meinem Versteck zu springen und wegzulaufen. Zum Glück ließ sich der Händler nichts anmerken. »Was für ein Hexer?«, fragte er scheinheilig.

»Hast du nicht gehört?«, wunderte sich der Soldat. »Der Büchsenmacher soll sein Haus selber angezündet haben! Die Leute sagen, dass seine tote Ehefrau ihn verhext hat! Jetzt sucht ihn der Rat! Vielleicht wurden die Tore auch deshalb geschlossen?«

»Damit habe ich nichts zu tun«, meinte Georg Hess.

»Sei froh«, erwiderte der Soldat fröhlich. »Ich hab keine Lust, dich am Galgen zu sehen!« Seine Schritte entfernten sich und ich hörte, wie er zu einem Kameraden sagte: »Öffnet das Tor!«

Der Wagen setzte sich knarrend in Bewegung und wir rollten durch das offene Tor in die Freiheit. Ich weinte vor Glück und vergaß, dass der größte Teil des langen Weges noch vor uns lag.

Kapitel 3

Außerhalb der Stadt, in einer waldbestandenen Senke, forderte der Händler uns auf, vom Wagen zu springen. Wir fügten uns widerwillig. Über den Hügelrändern waren noch die Türme der Stadtmauer zu sehen und wir wären gern noch länger in unserem Versteck geblieben, aber der Mann kannte kein Pardon. Er wollte kein unnötiges Risiko eingehen und uns so schnell wie möglich loswerden. »Weiter reicht euer Geld nicht«, meinte er unfreundlich, »jetzt müsst ihr selber sehen, wie ihr weiterkommt!«

Er trieb die Ackergäule an und verschwand zwischen den Bäumen. Wir blickten ihm nach, bis sich der Staub gelegt hatte, und folgten den Wagenspuren. Nach einer Weile wurde uns bewusst, dass wir kaiserlichen Truppen oder einer Abordnung des Frankfurter Rates in die Arme laufen konnten, wenn wir auf der Straße blieben, und wir schlugen uns seitlich in die Büsche. »Wir müssen vorsichtig sein«, sagte mein Vater, »ich weiß nicht, ob sich die Kunde von unserer Flucht schon verbreitet hat! Wir bleiben lieber in Deckung, bis wir den Rhein erreicht haben. Auf einem Boot sind wir sicher. Sie vermuten bestimmt nicht, dass wir zum Meer wollen. Ich habe niemandem verraten, dass ich davon träume, nach Amerika zu gehen. Wenn sie uns hier erwischen, bringen sie uns in die Stadt zurück und dann gnade uns Gott!«

»Warum tun sie das, Vater?«, fragte ich besorgt. »Warum erzählen sie diese Lügen über dich? Sie wissen doch, dass Mutter keine Hexe war. Wie kommen sie auf die Idee, dass du von ihr besessen bist? Warum verdächtigen sie dich als Brandstifter?«

»So sind die Menschen«, antwortete er, »wenn jemand ein böses Gerücht verbreitet, sind sie schnell dabei, einen Unschuldigen zu verurteilen. Denke daran, was sie mit den Unglücklichen angestellt haben, die sich gegen die Steuergesetze aufgelehnt haben! Auch damals mussten Unschuldige am Galgen sterben!«

Ich erinnerte mich an den Aufstand. Einige Bürger hatten öffentlich angeprangert, dass die Großverdiener kaum Steuern zahlen mussten, und wurden nach einer blutigen Schlägerei auf dem Römerberg in den Kerker geworfen. Die wenigen Aufständischen, die auch in den dunklen Verliesen auf ihrem Standpunkt beharrten, wurden zum Tode verurteilt und während einer öffentlichen Hinrichtung auf dem Rossmarkt geköpft. Sogar einige Ratsherren waren der Meinung, dass damals auch Unschuldige bestraft wurden. »Wo gehobelt wird, fallen Späne«, war aus dem gemeinen Volk zu hören, »es ist einem gewöhnlichen Bürger noch niemals bekommen, gegen die Obrigkeit vorzugehen!«

Mein Vater hatte immer nach den Gesetzen gelebt, obwohl auch er auf den Kaiser und seine strengen Erlasse geschimpft hatte. Aber das taten fast alle Bürger in den eigenen vier Wänden. Es gab wenige Städter, außer den reichen Patriziern, die mit der Vorgehensweise der Ratsherren einverstanden waren. Die meisten Gesetze waren ungerecht und begünstigten die wohlhabende Schicht. »Aber nicht allein deshalb gehen wir nach Amerika«, erklärte mein Vater, als wir nach einem anstrengenden Fußmarsch zwischen einigen Bäumen rasteten, »mich reizt vor allem das fremde Land, weil es dort kaum Grenzen gibt und jeder gewöhnliche Bürger eigenes Land besitzen kann. Die Wildnis ist unermesslich und ein tapferer Mann, der sich auf sein Handwerk versteht, kann ein Vermögen machen! Ich habe gehört, dass in Amerika die Freiheit der Rede herrscht, und wenn ich die Berichte richtig gedeutet habe, soll selbst der englische König dort kaum etwas zu sagen haben. Amerika ist ein freies Land und jenseits der Kolonien erstrecken sich unberührte Wälder und Täler bis zum Horizont.« Er lächelte. »In einer solchen Wildnis sind gute Büchsenmacher sicher gefragt. Dort liegt unsere Zukunft.«

Ich glaubte ihm und konnte es gar nicht erwarten, die Neue Welt zu betreten. Natürlich hatte ich Angst. Ich hatte Angst, meine vertraute Heimat gegen eine ungewisse Zukunft in einem fernen Land einzutauschen. Ich fürchtete mich vor den blutrünstigen Wilden, von denen man sagte, dass sie selbst Frauen und Kinder massakrierten. Mein Vater- hatte diesem William Penn zugehört, der vor einigen Jahren in Frankfurt gewesen war und von der Neuen Welt berichtet hatte, und er hatte mit den Mitgliedern der Frankfurter Kompanie gesprochen, die wertvollen Grund in Germantown gekauft hatten. So wurde die kleine Stadt genannt, die William Penn in seinem Teil der englischen Kolonien gegründet hatte. Aber selbst er wusste nicht alles über Amerika, und es war immerhin möglich, dass er einige Schönfärberei betrieben hatte, um möglichst viele Käufer zu finden. »Dieses Risiko nehme ich auf mich«, sagte mein Vater, »dieses neue Leben ist eine Herausforderung und ich bin bereit, sie anzunehmen!«

Ich will ehrlich sein. Wenn ich damals gewusst hätte, welche Herausforderungen auf mich warteten, hätte ich wahrscheinlich aufgegeben. Ich wäre nach Frankfurt zurückgegangen und hätte mich in die Hände der Ratsherren gegeben. Im Armenhaus und selbst im Kerker herrschten bessere Bedingungen als in den Herbergen, die ich während der Überfahrt und in der Fremde zu sehen bekam. Aber so ist das ganze Leben. Wenn man wüsste, wohin der Wind einen treibt, würde man schon nach der Geburt die Segel streichen. Man wächst mit seiner Aufgabe, bekam ich in den folgenden Jahren noch öfter zu hören, und ich kann ohne Einschränkung behaupten, dass ich durch die zahlreichen Abenteuer, die ich in der Fremde bestand, zu einer mutigen und selbstbewussten Frau heranwuchs. Aber davon später.

Im Augenblick war uns vor allem daran gelegen, so schnell wie möglich zum Rhein zu kommen. Bevor die Kunde von unserer Flucht das Kurfürstentum erreichte, wollten wir an Bord eines Frachtseglers sein. »Dies ist der gefährlichste Abschnitt unserer Reise«, versuchte mein Vater mich zu beruhigen. Später mussten wir uns eingestehen, damals sehr naiv gewesen zu sein. Natürlich schwebten wir auf den Frachtstraßen, die nach Frankfurt führten, in ständiger Gefahr. Die Truppen konnten uns jederzeit aufstöbern und in die Stadt zurückbringen. Aber die lange Reise über den Ozean und die fremden Länder, die mich jenseits des Meeres erwarteten, bargen ein größeres Risiko und warteten mit tausend Gefahren.

Wir erreichten den Rand des Wäldchens und ich blickte sorgenvoll zum Himmel empor. Von Westen waren dunkle Wolken aufgezogen. Sie hingen tief über dem welligen Land, das sich bis zum Rheinufer erstreckte. Ein böiger Wind knickte das Getreide, das auf den Feldern wuchs, und zerrte an unseren Kleidern, als wir den Schutz der Bäume verließen. Einige der Wolken waren pechschwarz und warfen dunkle Schatten auf die fruchtbare Erde. Die letzten Sonnenstrahlen beleuchteten die Straße, die wie ein braunes Band von einem Dorf zum anderen führte.

»Wie weit ist es noch bis zum Fluss?«, wollte ich wissen.

»Ungefähr sieben Stunden«, antwortete mein Vater, »wenn wir keine Rast einlegen, sind wir gegen Mitternacht in Mainz. Aber die Gefahr, dass sie dort über uns Bescheid wissen, ist zu groß. Es ist besser, wenn wir irgendwo in einer Scheune übernachten und erst am frühen Morgen in Mainz eintreffen. Dann ist die Möglichkeit größer, dass wir einen Frachtsegler erwischen.« Er blickte misstrauisch zum Himmel empor. »Wir sollten noch etwas laufen, bis es zu regnen anfängt. Nur wenn wir weit genug von Frankfurt weg sind, können wir vor den Truppen sicher sein.«

Vor uns lagen weite Felder und die Gefahr war groß, dass uns eine Abteilung der kaiserlichen Truppen entgegenkam. Wenn die Franzosen durch den Main geritten waren, bestand immer eine Chance, dass sich Soldaten in der Nähe aufhielten. Wir gingen am Rand der Felder entlang, um rechtzeitig hinter vereinzelt stehenden Bäumen verschwinden zu können, falls sie auftauchten. Ich hoffte, dass sie sich mit lauten Trommelwirbeln ankündigten und wir genügend Zeit hatten, um uns zu verstecken.

Wir hatten Glück. Obwohl wir fast zwei Stunden über ebenes Land marschierten, bekamen wir keinen einzigen Soldaten zu sehen. Gefahr drohte uns bloß von den Bauern eines kleinen Dorfes, die mit erhobenen Mistgabeln über die Felder kamen, als sie uns entdeckten. Zuerst glaubten wir, dass sie uns feindlich gesinnt waren, aber dann hörten wir ihre Rufe: »Bleibt weg! Bleibt weg!«, und erkannten, dass eine Krankheit in ihrem Dorf wütete. Sie hatten Angst, dass wir uns ansteckten.

Wir winkten ihnen zu und machten, dass wir weiterkamen. Von einem Hügel blickten wir auf eine lang gestreckte Ebene hinab. »Wenn die Wolken nicht so tief stünden, könnten wir den Rhein sehen«, sagte mein Vater hoffnungsvoll. Er reichte mir die Wasserflasche und ließ mich trinken, dann nahm er selbst einen Schluck. Wir gingen abseits der Frachtstraße über Wiesen und Felder und mussten uns mehr anstrengen als ein Wanderer, der keine Angst vor den Soldaten zu haben brauchte.

Der Regen überraschte uns zwischen einigen Rübenfeldern, ungefähr fünf Stunden vom Fluss entfernt. Er kam so plötzlich, dass wir keine Zeit mehr fanden, uns unterzustellen. Wir waren dem Unwetter hilflos ausgeliefert und lediglich durch unsere sommerlichen Umhänge gegen den plätschernden Regen geschützt. Die Erde unter unseren Stiefeln verwandelte sich innerhalb weniger Minuten in zähen Morast und wir kamen kaum noch voran. Ein greller Blitz zuckte vom Himmel herab, gefolgt von einem tosenden Donnerschlag, der den Boden zum Zittern brachte. Die Wolken hatten sich zu einem schwarzen Meer vereinigt, das vom böigen Wind über den Himmel getrieben wurde.

»Da drüben ist eine Scheune«, rief mein Vater in das Heulen des Windes, »bei den Bäumen am kleinen Fluss!« Er deutete in den strömenden Regen und ich erkannte die schemenhaften Umrisse eines Bauernhofes, die sich düster gegen den vom Blitz erhellten Himmel abzeichneten. Die Scheune stand etwas abseits vom Hauptgebäude. Mein Vater wies auf die kleine Hütte hinab. »Komm! Dort können wir uns unterstellen!«

Ich folgte ihm durch das Unwetter, griff nach seiner Hand, als ich zu fallen drohte, und hatte nur noch den Wunsch, ein Dach über dem Kopf zu haben. Der Regen hatte mich bis auf die Haut durchnässt, mein Knoten war aufgegangen, und die Haare hingen nass und strähnig unter meiner Kopfbedeckung hervor. An meinen Stiefeln klebte der Dreck in dicken Brocken. Ich hatte das Gefühl, durch einen schmutzigen Fluss geschwommen zu sein, und dankte dem lieben Gott auf den Knien, als wir die Scheune erreichten und ich dem Gewitter endlich entkommen war. Ich ließ mich ins Stroh fallen und schnappte keuchend nach Luft.

»Alles in Ordnung?«, fragte mein Vater nach einer Weile.

Ich hatte keine Kraft zu sprechen und nickte nur. »Was ist, wenn uns der Bauer entdeckt?«, fragte ich dann. Es brannte kein Licht im Gehöft am anderen Ufer, aber ich war sicher, dass der Bauer mit seiner Familie in der Küche saß und sich am Ofen wärmte. »Meinst du, er weiß, dass sie nach uns suchen?«

»Das glaube ich nicht«, antwortete mein Vater. Auch er rang nach Atem. »Hier ist es ziemlich einsam. So weit ist die Kunde bestimmt noch nicht gedrungen.« Er wrang den Regen aus seinem Umhang und blickte sich suchend um. Es war so dunkel in der Scheune, dass wir kaum etwas sahen. Nur wenn es blitzte, tanzten helle Flecken über den Boden. »Zu dumm, dass wir kein Feuer machen können«, meinte er, »deck dich mit dem Stroh zu, sonst erkältest du dich noch! Wir dürfen nicht krank werden, Anna!«

Ich tat, was er mir aufgetragen hatte, und fragte mich, warum wir nicht an die Tür des Bauernhauses klopften. Wenn sie nicht wussten, dass wir gesucht wurden, bestand doch keine Gefahr. Aber ich verstand meinen Vater. Er wollte kein unnötiges Risiko eingehen und es bestand immerhin die Möglichkeit, dass ein versprengter Reiter bei dem Bauern gerastet und von uns erzählt hatte. Mein Vater erriet meine Gedanken. »Es ist besser, wenn wir hier bleiben! Sobald der Regen aufhört, ziehen wir weiter. Ich kenne eine kleine Herberge am Rhein, dort können wir uns waschen und umziehen! Der Wirt ist mir noch einiges schuldig!«

Ich war froh, dass es Menschen gab, die bei meinem Vater in der Kreide standen, und seufzte leise, als ich an ein gemütliches Bett in einer ordentlichen Herberge dachte. Mein Kleid und die Unterwäsche klebten an meinem Körper und ich hätte am liebsten alles ausgezogen und mich an einem Feuer gewärmt. Aber das war nicht möglich. Also deckte ich mich mit dem Stroh zu und versuchte nicht an die Kälte zu denken. Durch die lose zusammengefügten Bretter drang der Wind und selbst der Regen fand einen Weg in unser Versteck. Ich grub mich bis zum Hals in das lose Stroh und versuchte etwas zu schlafen. Heftiger Donner rollte über das Land und ich rechnete jeden Augenblick damit, dass das Dach über mir zusammenbrach, trotzdem wartete ich mit geschlossen Augen darauf, dass mich ein angenehmer Traum umfing.

Irgendwann übermannte mich der Schlaf. Ich träumte davon, wie mein Vater und ich an der Reling eines großen Segelschiffes standen und in der Ferne die Küste von Amerika auftauchen sahen. Es war ein erhebendes Gefühl und ich verstand plötzlich die Gefühle meines Vaters, der immer davon geträumt hatte, den Ozean zu überqueren und nach dem Ende des Regenbogens zu suchen. Ich sah den Regenbogen nicht, bekam lediglich eine dunkle Wolke zu sehen, die sich bedrohlich vor die Sonne schob und einen kalten Windstoß auf das Schiff sandte. Die Segel blähten sich und ich beobachtete, wie der Mast knickte und wie ein gefällter Baum ins Meer fiel. Das Getöse riss mich aus dem Schlaf und ich fuhr erschrocken aus dem wärmenden Stroh.

In der offenen Tür waren die Umrisse eines Mannes zu sehen. Er hielt uns eine brennende Laterne entgegen und bedrohte uns mit einem schweren Knüppel. Im flackernden Kerzenschein erkannte ich, dass auch mein Vater aufgewacht war. »Wer seid ihr?«, fragte der Bauer. Weil mich das Licht blendete, konnte ich sein Gesicht nicht sehen. Seine Stimme klang laut und unfreundlich.

»Arme Wanderer, die Schutz vor dem Regen gesucht haben«, antwortete mein Vater ruhig. »Verzeih, dass wir nicht gefragt haben! Es brannte kein Licht im Haus und wir wollten nicht stören.«

Der Bauer kam vorsichtig ein paar Schritte näher und ließ den Schein der Lampe über meinen Vater und mich wandern. Misstrauisch musterte er unsere notdürftig getrockneten Kleider. »Ihr seid keine armen Leute«, erkannte er, »ihr kommt aus der Stadt!«

»Ich kann dich bezahlen«, bot mein Vater an. »Ich biete dir einen Goldgulden für eine Nacht am Ofen und etwas zu essen!«

»Ihr werdet mir alles Geld geben und dann verschwinden«, erwiderte der Bauer. Ich konnte sein Gesicht noch immer nicht sehen, aber ich stellte mir vor, wie er schadenfroh grinste. »Gebt mir das Geld und euch wird nichts geschehen! Sonst ...« Er hob die Hand mit dem Knüppel und jetzt sah ich sein faltiges Gesicht und die funkelnden Augen. »Gebt mir den Beutel, Fremder!«

Selbst heute grübele ich noch darüber nach, wie unser Leben wohl verlaufen wäre, wenn mein Vater nicht so schnell reagiert hätte. Hätte uns der Bauer erschlagen? Wären mein Vater und ich am Leben geblieben und zusammen nach Amerika gefahren? Es ist müßig, darüber nachzudenken. Der Faustschlag, den mein Vater dem Bauern versetzte, und die überstürzte Flucht änderten unser Leben und bestimmten die Ereignisse der folgenden Jahre. Ist es nicht seltsam, wie das Leben zweier Menschen durch scheinbare Belanglosigkeiten entschieden werden kann?

Der Bauer stürzte zu Boden und wir rannten durch die offene Tür in die dunkle Nacht hinaus. Das Unwetter war weitergezogen und es regnete nicht mehr, aber am Himmel hingen immer noch schwere Wolken und der Mond war nicht zu sehen. Wir stolperten am schmalen Fluss entlang und liefen über die Wiese zum Waldrand. Im Regen hatten wir gesehen, dass ein dichter Wald die Hänge auf der anderen Seite des Tales bedeckte.

»Bleib dicht hinter mir!«, rief mein Vater.

Wir rannten um unser Leben, stolperten wie zwei Blinde über die dunkle Wiese, sahen den Wald nur als dunklen Schatten. Ich fiel hin, rappelte mich wieder auf und hetzte hinter meinem Vater her, der verzweifelt versuchte, den Waldrand zu erreichen. Dort waren wir sicher, so glaubten wir jedenfalls, zwischen den Bäumen konnten wir uns verstecken, bis unser Verfolger aufgegeben hatte. Der Wald war groß und dunkel, und wenn wir es geschickt anstellten, würden wir dem Bauern entkommen und das Rheinufer bald erreichen.

»Glaubt bloß nicht, dass ihr mir entwischen könnt!«, hörten wir da den Bauern wütend rufen. Er hatte sich schneller von dem Faustschlag erholt, als ich vermutet hatte. »Ich kriege euch, verdammt!«

Seine Stimme war bedrohlich nahe und ich beschleunigte meine Schritte. Ich war einmal gefallen und mein Vater hatte einen Vorsprung, war ungefähr zehn Schritte vor mir. Ich nahm meine ganze Kraft zusammen, rannte hinter ihm in den Wald hinein und merkte viel zu spät, dass mich pechschwarze Dunkelheit umfing. Ich muss wohl gegen einen Baum geprallt sein, denn plötzlich spürte ich einen heftigen Schmerz und sank in eine bodenlose Tiefe.

Kapitel 4

Alles war schwarz um mich herum. Ich war in eine Grube gefallen, das Versteck eines Tieres oder die Falle eines menschlichen Jägers, und lag im tiefen Morast unter Ästen und Zweigen, die der heftige Wind von den Bäumen gerissen hatte. Mein ganzer Körper war mit Dreck beschmiert und ich war besser getarnt als ein Wolf in seinem Bau. Ich musste wohl das Bewusstsein verloren haben, denn die Erinnerung an die letzten Ereignisse kehrte erst nach und nach zurück. Da hörte ich die Stimmen eines Mannes und eines Jungen und sah tanzende Lichter in der Dunkelheit. Ihre Schritte kamen bedrohlich nahe. Ich bildete mir ein, ihren Atem zu hören.

»Das ist der Büchsenmacher aus Frankfurt, nach dem die Soldaten gesucht haben.« Ich erkannte die Stimme des Bauern. »Der Kerl, der sein Haus angezündet hat. Er hat seine eigene Frau umgebracht. Er ist vom Teufel besessen. Wenn wir den Kerl schnappen, bekommen wir den Beutel mit den Goldmünzen und eine Belohnung dazu!«

»Meinst du wirklich, er ist noch in der Nähe?«, fragte die jüngere Stimme. Wahrscheinlich ein Sohn des Bauern. »Wir suchen schon seit zwei Stunden! Der ist doch längst über alle Berge!«

»Und das Mädchen?« Der Bauer war schlechter Laune. »Ich hab gehört, wie sie geschrien hat! Die ist gegen einen Baum gelaufen und ohnmächtig geworden! Sie muss hier irgendwo liegen!«

»Es ist zu dunkel. So finden wir sie nicht!«

»Dann streng deine Augen an«, schimpfte der Bauer, »sie kann nicht weit sein! Denk an den Beutel mit den Goldmünzen! Wenn wir die Tochter haben, kommt der Büchsenmacher von allein!«

So ging es eine ganze Weile lang. Die beiden Männer stapften mit ihren flackernden Laternen durch den Wald und suchten nach meinem Vater und mir. Sie wurden immer wütender und stießen wilde Flüche aus. Ich war froh, in einem sicheren Versteck zu liegen, und dankte dem lieben Gott dafür. Einmal blieben die Lichtflecken direkt über meiner Grube hängen, aber ich blieb ruhig liegen und die Männer fanden mich nicht.

Ein kalter Wind wehte und von den Bäumen tropfte der Regen. Ich war durch die Äste und Zweige gegen die Kälte geschützt und konnte sogar dem feuchten Morast etwas Gutes abgewinnen. Er hielt meinen Körper warm. Mein Kopf brummte von dem Aufprall und ich spürte ein dumpfes Pochen in meiner linken Schulter. Mein Vater hatte wohl nicht gemerkt, dass ich gestürzt war. Würde er umkehren, um nach mir zu suchen? Ich war sicher, dass er mich nicht im Stich lassen würde, und hoffte nur, dass er nicht dem Bauern und seinem Sohn in die Arme lief. Die Männer waren fest entschlossen, ihm das Gold abzunehmen und ihn in die Stadt zurückzubringen.

Es dauerte einige Zeit, bis ich den stechenden Schmerz in meiner Schulter spürte. Ich bildete mir ein, immer noch Schritte zu hören, nur die tanzenden Lichtflecken waren verschwunden und auch die Stimmen der beiden Männer waren nicht mehr zu hören. War mein Vater zurückgekommen, um nach mir zu suchen? Hatten der Bauer und sein Sohn die Suche aufgegeben oder lauerten sie hinter einigen Bäumen? Ich beschloss, das Risiko einzugehen, und schob die Zweige von meinem Gesicht. Ich versuchte mich zu bewegen, aber mein Körper versagte den Dienst und ich blieb liegen und wurde von einer bleiernen Müdigkeit übermannt. Ich schloss die Augen und versank in tiefen Schlaf.

Als ich wieder erwachte, dämmerte es bereits. Zwischen den Bäumen waren helle Streifen zu sehen und Nebelschwaden zogen durch den Wald. Ich kam mir wie in einem Albtraum vor, fühlte mich in eine Welt versetzt, die keine Farben und keine Wärme kannte. Um mich herum war es still, ich hörte auch keine Schritte mehr. Die Vögel zwitscherten noch nicht und das einzige Lebewesen, das sich regte, war eine Eidechse, die über mein linkes Bein kroch, züngelnd den Kopf hob und im Laub verschwand. Einige Tropfen fielen von den Ästen über mir und plätscherten in den Morast.

Ich wusste, dass ich nur wenig Zeit hatte. Der Bauer und sein Sohn konnten jeden Augenblick zurückkommen, um bei Tageslicht nach mir zu suchen. In der Ferne kündigte mir das Bellen eines Hundes an, dass der Hof zum Leben erwacht war. Ich kroch aus meinem Versteck und blieb ächzend im Laub liegen, bis ich genügend Kräfte gesammelt hatte, um mich notdürftig zu säubern. Ich befreite mich von dem gröbsten Schmutz, wusch Gesicht und Hände in einem nahen Bach und reckte mich in der morgendlichen Frische. Mein Kopf brummte nicht mehr so stark und die Schulter war nur geprellt. Ich war kräftig genug, einen Fuß vor den anderen zu setzen, aber die Nacht in meinem feuchten Versteck war nicht spurlos an mir vorübergegangen und ich sehnte mich nach einem wärmenden Feuer und heißem Tee.

Beides lag in unerreichbarer Ferne. Ein erschöpftes Mädchen, das allein unterwegs war und in einem dreckverschmierten Kleid steckte, erregte überall Aufsehen. Mit meinen zerzausten Haaren sah ich wie eine Bettlerin aus. Aber auch ohne einen Haftbefehl würde man mich festhalten und den Soldaten ausliefern, wenn ich irgendwo klopfte. Die Kunde von unserer Flucht hatte bereits die Runde gemacht, war wohl von den Soldaten in jeden Winkel der Umgebung getragen worden. Die Ratsversammlung hatte keine Zeit verloren und unsere Flucht als Beweis gewertet, dass mein Vater vom Teufel besessen war. Ob sie mich als Hexe gebrandmarkt hatten? Ich durfte mich auf keinen Fall erwischen lassen, sonst landete ich im Armenhaus oder am Galgen. Ich musste versuchen, meinen Vater so schnell wie möglich zu erreichen.

Der Boden war feucht und ich kam nur langsam voran. Ich stolperte benommen durch den Wald und hoffte, dass ich den richtigen Weg eingeschlagen hatte. Feuchte Nebelschwaden hingen wie Schleier zwischen den Bäumen und erschwerten die Orientierung. Die wenigen Sonnenstrahlen, die durch das Laub der Baumkronen fielen, waren nur ein kleiner Lichtblick. Mir war elend zumute. Die nächtliche Kälte war immer noch in meinem Körper und wenn ich eine ruckhafte Bewegung machte, schmerzte meine Schulter. Ich hoffte, dass mein Vater irgendwo in der Nähe auf mich wartete. Er wusste, dass ich kein Geld hatte und den Beutel mit der Verpflegung in der Scheune zurückgelassen hatte. Ohne ihn war ich hoffnungslos verloren.

Am Waldrand atmete ich tief durch. Die Sonnenstrahlen hatten den Nebel von den Feldern und Wiesen vertrieben und am Himmel war kaum eine Wolke zu sehen. Doch meine Freude währte nicht lange. Auf dem Acker bei der Wagenstraße arbeiteten die Bauern eines nahen Hofes, die mich auf keinen Fall sehen durften. Ich zog mich in den Schutz der Bäume zurück und beobachtete die Gegend. Wenn ich es schaffte, ungesehen über die Wiese zu kommen, konnte ich mich zwischen den Bäumen verstecken, die am Ufer eines Baches wuchsen. Von dort waren es nur wenige Schritte bis zu einem Laubwald, der sich bis zu den Niederungen des Rheins hinabzog.

Ich rannte los. Die Hoffnung, bald wieder mit meinem Vater zusammen zu sein, verlieh mir neue Kräfte. Vielleicht nahm er an, dass ich ihn überholt hatte und am Fluss wartete. Wir hätten einen Treffpunkt ausmachen sollen, für alle Fälle, dachte ich, während ich über die nasse Wiese lief. Auf halbem Weg stolperte ich. Ich verfing mich in einer Wurzel und fiel mit einem Aufschrei in das feuchte Gras.

Der plötzliche Schmerz trieb mir die Tränen in die Augen. Ich hatte mir den Fuß verstaucht, das spürte ich sofort, und lag wie ein hilfloser Käfer auf dem Boden. Mit verzerrtem Gesicht stützte ich mich auf die Unterarme. Ich belastete den verletzten Fuß, schrie vor Schmerzen auf und sank ins Gras zurück. Mein Weg war zu Ende. Die Bauern waren auf mich aufmerksam geworden, ließen ihren Pflug im Stich und kamen auf mich zu. »Vater«, flüsterte ich verzweifelt, »hilf mir!« Aber mein Vater war nirgendwo zu sehen und ich war noch schlimmer dran als in der vergangenen Nacht. Diesmal konnte ich mich nicht verstecken.

Drei Bauern standen über mich gebeugt, armselig gekleidet und mit wettergegerbten Gesichtern. Sie betrachteten mich wie ein fremdartiges Wesen, und es dauerte eine ganze Weile, bis einer von ihnen sagte: »Das ist ein Mädchen! Sie ist verletzt!«

»Ein Mädchen? Allein?«

»Eine Städterin«, sagte der dritte.

Ich war viel zu angespannt, um Angst zu haben, und verspürte etwas Hoffnung, weil sie nicht auf den Haftbefehl zu sprechen kamen. Konnte es sein, dass sie nicht davon wussten? Ich verzog das Gesicht und jammerte: »Ich hab mir den Fuß verstaucht!«

Der Bauer, der zuerst gesprochen hatte, ein alter Mann mit einem zerbeulten Filzhut und einem Stock in der rechten Hand, beugte sich zu mir herunter. »Wer seid Ihr? Was tut Ihr hier?«, fragte er neugierig. Er berührte meinen wehen Fuß und zog die Hand schnell zurück, als ich vor Schmerzen aufschrie.

»Ich bin Anna Fromm«, nannte ich meinen richtigen Namen. Ein Risiko, das sich lohnte. So erfuhr ich, dass ihnen der Name nichts sagte und sie nichts von meinem Vater und dem Haftbefehl wussten. »Ich habe meine Eltern in dem Unwetter verloren.«

»Ihr wart zu Fuß unterwegs?«, wunderte sich der Bauer.

»Ein Wagenrad ist gebrochen«, log ich weiter. »Wir wollten gerade Hilfe holen, als das Gewitter anfing!« Ich griff mir an den verletzten Fuß und rieb vorsichtig über den Knöchel. »Meine Eltern denken bestimmt, dass ich nach Mainz weitergewandert bin.«

Einer der Bauern, ein junger Mann mit strohblonden Haaren, betrachtete misstrauisch mein schmutziges Kleid und fragte: »Habt Ihr im Freien geschlafen? Ihr seht erschöpft aus!«

»Ich bin gegen einen Baum gelaufen und ohnmächtig geworden.« Ich deutete auf die Beule an meinem Kopf. »Als ich aufgewacht bin, war es dunkel. Ich habe meine Eltern nicht gefunden.«

»Und sie sind nicht mehr in der Nähe?«

»Ich weiß es nicht.«

»Wo steht euer Wagen?«

»Auf der anderen Seite des Hügels«, sagte ich. Mir wurde klar, dass mich die Lüge in die Klemme bringen würde, aber ich wusste nicht, was ich sonst sagen sollte. Ich blickte den alten Bauern an. »Wenn du mir einen Stock wie deinen gibst, komme ich schon allein weiter. Die Verletzung ist gar nicht so schlimm.« Ich stützte mich vom Boden hoch und verlor beinahe das Bewusstsein, als ich den Schmerz in meinem Fuß spürte. Ich sank zurück und begann zu schluchzen. Es gab keinen Ausweg mehr.

»Ich fahre Euch zum Wagen«, sagte der Bauer. »Vielleicht kann ich ihn reparieren. Wenn Ihr Glück habt, sind Eure Eltern dort. Sonst fällt uns schon ein, wie wir Euch nach Hause bringen.« Er grinste. »Ich bin sicher, Eure Leute machen einen Gulden für Euch locker. Uns geht es ziemlich dreckig, müsst Ihr wissen!«

Mir geht es noch dreckiger, hätte ich am liebsten geantwortet, mein Vater ist weg und ich habe kein Geld und nichts zu essen und gleich werdet ihr wissen, dass ich gelogen habe, und mich nach Frankfurt bringen. Ich werde als Hexe verurteilt werden und meinen Vater nie wieder sehen. Stattdessen sagte ich: »Ich schulde dir großen Dank!«

Die Männer halfen mir auf und brachten mich zu einem Pferdewagen. Sie legten mich auf einige Decken und der alte Bauer stieg auf den Kutschbock und fuhr nach Osten zurück. »Bleib nicht zu lange!«, riefen die anderen Männer. »Wir haben noch viel Arbeit!« Der Mann auf dem Kutschbock drehte sich grinsend um. »Ich bin gleich zurück! Vielleicht lohnt es sich ja!«

Ich lag auf dem Rücken und starrte zum blauen Himmel empor, während der Wagen über die breite Sandstraße holperte. Lieber Gott, betete ich in Gedanken, verzeih mir, dass ich gelogen habe, aber ich wusste keinen anderen Ausweg! Du weißt, dass mein Vater das Haus nicht angezündet hat, und du weißt, dass ich keine Hexe bin! Hilf mir, zum Fluss zu kommen und meinen Vater einzuholen! Es muss doch einen Ausweg geben!

Der liebe Gott erhörte mein Gebet und ich danke ihm noch heute dafür, dass er mich damals nicht im Stich ließ. Selbst wenn ich dem Galgen entkommen und im Armenhaus gelandet wäre, hätte ich nicht mehr den Mut gefunden, die Stadt zu verlassen und meinem Vater nach Amerika zu folgen. Ich hätte es niemals verwunden, wenn alle Anstrengungen des letzten Tages und der letzten Nacht umsonst gewesen wären.

Auf der Hügelkuppe griff der Bauer dem Pferd in die Zügel. »Da kommt ein Wagen«, sagte er, »ein reicher Händler aus Frankfurt! Vielleicht weiß der, wo Eure Eltern sind. Wenn er mit mir spricht ...«

Ich stützte mich auf einen Ellbogen und wollte etwas sagen, fand aber nicht den Mut. Wenn ich die Wahrheit sagte, wurde alles noch schlimmer, und eine weitere Lüge fiel mir nicht ein. Mir blieb nichts anderes übrig als abzuwarten, wie der Händler reagierte. Etwas Gutes hatte ich nicht zu erwarten. Er wusste bestimmt von dem Haftbefehl und würde dafür sorgen, dass ich nach Frankfurt zurückgebracht wurde. Oder der Bauer witterte eine größere Belohnung und lieferte mich selber aus. Den Menschen auf dem Lande ging es sehr schlecht und sie waren selbst auf kleine Geldsummen angewiesen.

Der Händler hielt und ich hörte, wie der Bauer sagte: »Entschuldigt, mein Herr, ich habe ein verletztes Mädchen auf dem Wagen, das seine Eltern sucht. Ihr Wagen ist verunglückt und muss irgendwo an der Straße liegen. Habt Ihr etwas gesehen?«

»Nein«, antwortete eine mir sehr bekannte Stimme. »Ein Mädchen, sagst du?« Der Mann stieg vom Kutschbock und beugte sich über unseren Wagen. Mein Herz machte einen Sprung, als ich Balthasar erkannte. »Anna!«, rief er. »Ich habe dich gesucht!«

»Balthasar!«, stieß ich erleichtert hervor. »Unser Wagen hatte einen Unfall! Ich wollte mit meinen Eltern nach Mainz fahren, du weißt schon, wegen der Waren!« Ich blickte ihn verzweifelt an, hoffte, dass er auf meine Lüge einging. »Wir haben uns im Gewitter verloren, als wir Hilfe holen wollten! Nimmst du mich mit?«

»Natürlich«, reagierte er so, wie ich gehofft hatte. Er wandte sich an den Bauern. »Ich nehme das Mädchen mit.« Er gab ihm einige Münzen. »Vielen Dank, dass du dich um sie gekümmert hast!«

Der Bauer zählte die Münzen und war zufrieden. So viel Geld hatte er sicher seit Monaten nicht mehr in den Händen gehabt und er brauchte nicht mal Steuern dafür zu zahlen. Er half Balthasar sogar, mich auf den Kutschbock des anderen Wagens zu heben. Dann zog er die Pferde herum. »Lebt wohl!«, rief er, während er nach Westen fuhr.

Wir folgten ihm in angemessener Entfernung. »Vielen Dank, dass du mir geholfen hast«, sagte ich verlegen. »Wenn du nicht gewesen wärst, hätte er mich nach Frankfurt zurückgebracht.«

»Dort ist man nicht gut auf euch zu sprechen«, erwiderte er.

»Mein Vater hat das Haus nicht angezündet!«, widersprach ich heftig. »Und ich bin keine Hexe! Eine Frau aus unserer Straße wollte meinen Vater anschwärzen und hat seine Schuldner gegen ihn aufgehetzt! Bitte glaub mir, Balthasar! Wir mussten fliehen, sonst hätten sie uns an den Galgen gebracht!«

»Du hast dich nicht verabschiedet!«

»Dazu war keine Zeit mehr! Du hast doch gehört, was in der Stadt geredet wurde! Wir mussten weg!« Ich erzählte ihm, wie wir Frankfurt verlassen hatten und was in der Scheune und in dem dunklen Wald geschehen war. »Ich muss meinen Vater finden! Wir wollen nach Amerika! Ich bin sicher, er wartet am Fluss auf mich!« Ich sah ihn an. »Bringst du mich nach Mainz, Balthasar?«

»Ich weiß nicht, Anna! Die Truppen ...«

»Ich falle dir nicht zur Last!«

Er griff nach meiner Hand und drückte sie. »Nach Amerika, sagst du? Ich hatte immer gehofft, dass wir einmal heiraten, Anna! Du und ich, wir passen gut zusammen. Ich könnte mich dafür einsetzen, dass sie die Anklage gegen dich fallen lassen, oder wir ziehen nach Holland und eröffnen dort eine Buchhandlung.«

»Du weißt, dass mir das nicht möglich ist, Balthasar«, erwiderte ich ehrlich. »Ich habe dich immer gemocht, und wenn wir in Frankfurt geblieben wären, wer weiß, was aus uns geworden wäre.« Jetzt drückte ich seine Hand. »Aber mein Vater wartet auf mich! Er hat zwei Frauen verloren und er verlässt sich auf mich!«

»Ich bringe dich zu ihm«, versprach er feierlich. »Aber zuerst gehen wir in eine Herberge und ich besorge dir neue Kleider. Ich hätte dich beinahe nicht erkannt!« Er lächelte und trieb die Pferde an. »Sonst glaube ich doch noch, dass du eine Hexe bist ...«

Kapitel 5

Ich hege keinen Groll gegen Balthasar. Ich habe ihn als tüchtigen und fröhlichen Mann in Erinnerung und glaube, dass er es in seinem Beruf weit gebracht hat. In meiner neuen Heimat hört man wenig über Deutschland, und wenn, dann geht es um die leidige Politik, aber ich erinnere mich, seinen Namen in Verbindung mit der Frankfurter Buchmesse gelesen zu haben. Seine Liebe war aufrichtig, sonst wäre er mir nicht nachgefahren, und ich bin fest davon überzeugt, dass auch sein Verrat aus Liebe geschah. Er wollte mich heiraten und glaubte unsere gemeinsame Zukunft zu sichern, indem er mich in der Herberge einschloss und nach Frankfurt zurückfuhr. Mir wird heute noch schwindlig, wenn ich an diese Nacht zurückdenke. Ich hatte mich auf der Flucht erkältet, mein Fuß war verstaucht und ich stürzte beinahe zu Tode, als ich versuchte, dem Wirt zu entkommen.

Doch ich greife den Ereignissen wieder voraus. Denn bevor wir die Herberge erreichten, wurden wir von italienischen Wegelagerern überfallen, und es war nur dem schnellen Eingreifen von Balthasar zu verdanken, dass wir nicht zu Schaden kamen. Sie lauerten uns am Waldrand auf, drei Männer und eine in Lumpen gekleidete Frau, die mich wie eine Wahnsinnige ansah und ihre Begleiter durch schrille Zurufe aufhetzte, uns die Kehlen durchzuschneiden. Sie sprach Italienisch und ich verstand sie nicht, aber ihre Gesten waren unmissverständlich und auch das Küchenmesser in ihrer Hand sprach eine deutliche Sprache.

Wegelagerer waren ein vertrauter Anblick auf den Straßen unseres Landes. Darüber wurde selbst in einer reichen Stadt wie Frankfurt geredet und vor allem die Händler bedrängten den Rat, auf den Kaiser einzuwirken und Truppen gegen die Diebe und Mörder loszuschicken. »Dieses Gesindel ist zu einer Landplage geworden!«, hatte ich einen reichen Kaufmann während der Messe gehört. Seit dem Krieg, der große Teile unseres Landes verwüstet und viele Menschen entwurzelt hatte, trieben sich Strauchdiebe, Brandstifter und Bettler auf den Landstraßen herum und bestahlen ehrbare Männer, die mit ihren Wagen von einem Ort zum anderen fuhren. Auch Frauen waren darunter, verarmte Witwen und Prostituierte, wie die Italienerin eine sein mochte, die uns mit dem Messer bedrohte. »Viele dieser Menschen können nichts dafür«, hatte mein Vater mich aufgeklärt, »sie sind durch den Krieg zu Schaden gekommen und wären am Verhungern, wenn sie nicht betteln oder stehlen würden. Selbst einigen Bauern bleibt nichts anderes übrig. Seitdem die Kirche verkündet hat, dass man nichts Gutes mehr tut, wenn man Almosen an Bettler verteilt, ist es auf den Landstraßen noch gefährlicher geworden.«

Auch die meisten anderen Bürger dachten so, aber niemand wagte sich gegen die Obrigkeit aufzulehnen. Wer öffentlich Kritik äußerte, wurde sofort verhaftet. Es wäre niemandem in den Sinn gekommen, den Kaiser oder einen Fürsten zu kritisieren. Selbst ein Adeliger war über jede Kritik erhaben. Die Aufständischen, die gegen die Steuergesetze vorgegangen waren, hatten auf dramatische Weise zu spüren bekommen, wie die Obrigkeit mit einem Untertanen umsprang, der nicht alles guthieß, was seine Regierung beschloss. Erst viele Monate später, auf hoher See, auf den Westindischen Inseln und in der Neuen Welt, lernte ich, dass jenseits des Horizonts andere Gesetze herrschten und dass es auch Menschen gab, die bereit waren, für ihre Freiheit zu kämpfen. Die Herrschaft des europäischen Adels, so sagten sie, war ein Relikt aus der Vergangenheit, und es war höchste Zeit, diese Willkür zu bekämpfen.

Die italienischen Wegelagerer hatten keine hehren Ziele. Ihnen ging es nur darum, sich an den wohlhabenden Bürgern zu bereichern. »Steigt vom Wagen!«, rief ihr Anführer und Balthasar wusste nur zu gut, dass sie uns umbringen würden, wenn wir ihrem Befehl folgten. Er griff nach der Peitsche, ließ sie mit einem lauten Schnalzen über den Wegelagerern knallen und schleuderte der Frau das Messer aus der Hand. Mit einem derben Schrei, der einem Kutscher zur Ehre gereicht hätte, trieb er die Pferde an. Der Wagen rumpelte an den Strauchdieben vorbei und ihnen blieb nichts anderes übrig, als zur Seite zu springen und mit anzusehen, wie wir im Wäldchen verschwanden. Sie besaßen keine Pferde und hatten keine Chance, uns einzuholen.

»Das war mutig, Balthasar«, lobte ich meinen Retter, »jetzt hast du mir schon zum zweiten Mal das Leben gerettet!« Ich schenkte ihm ein dankbares Lächeln und ahnte nicht, dass er nicht beabsichtigte, mich nach Norden zu bringen. Er wollte alles daran setzen, mich zu heiraten. Als Sohn eines respektablen Kaufmanns hoffte er die Ratsherren von meiner Unschuld überzeugen zu können. In der Zwischenzeit wollte er mich in einer Herberge verstecken. Jede andere Frau wäre dankbar gewesen, von einem Mann auf diese Weise umworben zu werden, und hätte sich willig in ihr Schicksal gefügt. Sie hätte darauf vertraut, von den Mitgliedern der Frankfurter Kompanie zu erfahren, was aus ihrem Vater geworden war. Aber ich spürte längst dieselbe Sehnsucht, die meinen Vater zum Ende des Regenbogens trieb. Eine seltsame Unrast hatte mich befallen und ich wollte nur noch zur Küste.

Ich war Balthasar dankbar, dass er sich meiner angenommen hatte, und vertraute seinem Versprechen, mich zu meinem Vater zu bringen. Er würde in der Herberge warten, die er erwähnt hatte, bei dem Wirt, der ihm noch Geld schuldete. Das sagte ich Balthasar und er glaubte zu wissen, welche Herberge mein Vater meinte. »Direkt am Flussufer liegt ein Gasthof, der sehr beliebt bei den Rheinschiffern ist. Dort übernachten die meisten Reisenden, die mit einem Frachtsegler nach Holland fahren wollen.« Als Büchsenmacher war mein Vater sehr oft in Rotterdam gewesen, um dort mit holländischen Kaufleuten zu verhandeln. Deshalb wusste er auch, wie man nach Amerika kam. Die wenigen Auswanderer, die Frankfurt verlassen hatten, um in Germantown eine neue Zukunft zu beginnen, waren nach Rotterdam gefahren und hatten dort ein Schiff nach England und Amerika bestiegen. Die britische Navigationsakte schrieb vor, dass alle holländischen Schiffe in England vor Anker gingen, bevor sie den Atlantik überquerten.

Mir kam nicht in den Sinn, wie oft Balthasar nach Holland fuhr, um dort Bücher einzukaufen, und dass er noch öfter als mein Vater in der Herberge abgestiegen sein musste. Und wenn ich darauf gekommen wäre, hätte ich nicht vermutet, dass mir dieser Umstand einen Nachteil brachte. Ich baute fest darauf, dass er mich vor den Soldaten versteckte und mir half, meinen Vater aufzuspüren. Er würde es als seine Kavalierspflicht betrachten, mich wohlbehalten bei ihm abzuliefern. So glaubte ich, aber ich hatte wohl zu viele Romane gelesen und stellte ihn mir als noblen Charakter vor, dem das Glück seiner Angebeteten wichtiger war als die Erfüllung seiner Liebe. Ein Trugschluss, wie sich schon bald herausstellte. Nur die Helden eines Romans waren so edel. Balthasar dachte nicht daran, auf mich zu verzichten, und war mir nur nachgefahren, um mich nach Frankfurt zurückzubringen.

Die Herberge stand inmitten der sanften Hügel am Rheinufer, keine hundert Meter von einer Anlegestelle entfernt. Ein verwitterter Steinbau, von Weinreben umrankt, mit einem gemütlichen Innenhof, der abends von bunten Laternen beleuchtet wurde. Die hölzernen Tore wiesen noch die Kerben der Söldner auf, die während des Krieges mit ihren Säbeln darauf eingeschlagen hatten. Und die dunklen Flecken an der Außenmauer stammten von dem Blut der unglücklichen Weinbauern, die unter den Hieben der wütenden Soldaten gestorben waren. Es roch nach gebratenem Schweinefleisch, und als wir in den Hof rollten, hörten wir einen Ausrufer, der den Besuch einer englischen Komödiantengruppe ankündigte. »Leute, hört mich an«, rief er, »heute Abend treten englische Possenreißer in diesem Gasthof auf! Wer eine schöne Comödiam sehen will, ist herzlich eingeladen! Der Eintritt beträgt drei Kreuzer!«

Ich mochte die schönen Künste, hörte dem Ausrufer jedoch kaum zu. Ich dachte bloß daran, meinen Vater zu finden. Ohne ihn war es beinahe aussichtslos, nach Amerika zu kommen. In Europa war jede alleinreisende Dame verdächtig, selbst wenn es keinen Haftbefehl gegen sie gab. Es schickte sich nicht, allein zu reisen, und ich wäre schon an der ersten Zollstation aufgehalten worden. Ich war arm wie eine Bettlerin und besaß keinen einzigen Kreuzer. Ohne Balthasar hätte man mich aus jeder Herberge und jedem Gasthof verjagt und es wäre mir gar nichts anderes übriggeblieben, als nach Frankfurt zurückzukehren.

Balthasar half mir vom Kutschbock und ich humpelte an seiner Seite in den Gasthof. Der Wirt war ein stämmiger Mann mit feuerroten Haaren und heller Haut. Sein Blick war falsch und der Klang seiner Stimme bereitete mir Unbehagen. Sie war viel zu glatt, wie bei einem dieser Händler, die ihre Stände vor der Messe aufbauten und unverschämte Preise verlangten. »Womit kann ich dienen, meine Herrschaften?«, fragte er huldvoll. Er hatte längst erkannt, dass wir aus der Stadt kamen und der besseren Schicht angehörten, auch wenn mein Kleid immer noch schmutzig war und meine Haare nicht den besten Eindruck machten. »Wünschen die Herrschaften ein Zimmer? Heute Abend treten englische Komödianten auf, und wenn sich die Herrschaften die Vorstellung ansehen wollen, kann ich Euch ein sehr gutes Angebot machen!« Er nannte einen unverschämten Preis, der Balthasar verwundert die Augenbrauen heben ließ.

»Nur das Zimmer«, erwiderte er, sichtlich um Fassung bemüht, »die Dame hat sich den Fuß verstaucht und braucht Ruhe. Ich muss nach Mainz hinüber und komme erst am frühen Morgen zurück.« Davon hatte er mir nichts erzählt. Ich blickte ihn neugierig an und er erklärte: »Wichtige Geschäfte!«

Die Erklärung hätte mir zu denken geben müssen, denn warum sollten Geschäfte warten, wenn er gar nicht die Absicht gehabt hatte, nach Mainz zu fahren? Hatte er Frankfurt denn nicht verlassen, um nach mir zu suchen? Ich beschloss, ihn danach zu fragen, vergaß mein Vorhaben aber schon im nächsten Augenblick, als ich den Wirt nach meinem Vater fragte. »Jakob Fromm, der Büchsenmacher!«, sagte ich leise, aber eindringlich. »War er hier? Hat er eine Nachricht für mich hinterlassen?« Ich kümmerte mich nicht darum, dass der Wirt längst von dem Haftbefehl wissen musste. Wenn er wirklich Schulden bei meinem Vater hatte, würde er genauso schweigsam sein wie der Händler, der uns aus der Stadt gebracht hatte.

Der Wirt lächelte schief und griff unter den Tresen. Obwohl es ein kühler Tag war, lief ihm der Schweiß über die Wangen. »Er war hier«, antwortete er zu meiner großen Freude, »er hat diesen Brief für Euch dagelassen! Und das hier!« Er legte einen Beutel mit drei Goldmünzen auf den Tisch. Ich war sicher, dass mehr Geld in dem Beutel gewesen war und er die Gelegenheit genützt hatte, sich unverschämt zu bereichern.

Liebste Anna, stand in dem Brief, ich habe lange nach dir gesucht und dich nicht gefunden! Ich weiß, dass sie dich nicht verhaftet haben! Wenn du die Herberge erreicht hast, werden dir die beiliegenden Münzen helfen. Schiffe dich auf einem Frachtsegler ein und fahre nach Rotterdam! Ich warte dort, solange ich kann! Frag den Hafenmeister nach mir! Ich vertraue der Gnade unseres Herrn und wünsche mir, dass du bald nachkommst!

Ich wartete, bis der Wirt mir eine Kammer zugewiesen hatte, dann verriet ich Balthasar, was in dem Brief stand. Er schien sich zu freuen und sagte: »Ich wusste, dass er diese Herberge meinte! Hier steigt jeder ab, der über den Rhein fährt.« Er wartete, bis ich mich gesetzt hatte, und fuhr fort: »Verzeih mir, aber ich habe diesem Verleger in Mainz versprochen, ihn heute Abend zu besuchen. Ich sage dem Wirt, dass er dir heißen Tee und etwas zu essen bringen soll! Ich bin spätestens morgen früh zurück!«

Bevor ich antworten konnte, war er verschwunden. Ich blickte aus dem Fenster, aber das lag zum Innenhof, und ich konnte nicht sehen, wie er den Wagen zur Fähre steuerte. Ich nehme an, dass er das Zimmer aus diesem Grund für mich ausgesucht hatte. Er steckte mit dem Wirt unter einer Decke und bezahlte ihn, um mich so lange wie möglich im Ungewissen zu halten. Erst eine Stunde später, als der Wirt mir das Essen und den Tee brachte, erfuhr ich die Wahrheit. Neben dem Teller lag ein hastig geschriebener Brief meines Verehrers.

Ich wartete, bis sich die Tür hinter dem Wirt geschlossen hatte, und begann zu lesen: Meine liebste Anna, verzeih mir, dass ich dich belogen habe, aber ich musste es tun! Während du dich von deinen Strapazen erholst, fahre ich nach Frankfurt zurück und erwirke ein Gnadengesuch für dich! Ich habe keinen Zweifel daran, dass man die Anklage gegen dich fallen lassen wird! Ich liebe dich, Anna, und ich werde dich heiraten! Allein dieser Wunsch wird den Rat davon überzeugen, dass du keine Hexe bist, denn welcher angesehene Kaufmann würde eine Hexe heiraten? Bald fahren wir nach Hause, Anna. Verzeih mir, es ist alles zu deinem Besten!

Balthasar verfolgte lautere Absichten, das weiß ich heute, aber damals hielt ich ihn für einen üblen Verräter und sprang auf. Ich rannte zur Tür, aber der Wirt hatte sie abgeschlossen. Zuerst wollte ich es nicht glauben. Ich rüttelte an dem eisernen Griff, schrie verzweifelt um Hilfe und schlug mit beiden Fäusten gegen das Holz. Weinend kehrte ich zu dem kleinen Tisch zurück. Ich las den Brief noch einmal, zerknüllte ihn und warf ihn auf das Bett. Allmählich dämmerte mir, was Balthasar vorhatte. Er hatte dem Wirt befohlen, mich festzuhalten, bis er aus Frankfurt zurückgekehrt war. Wie konnte er annehmen, dass ich ihn nach diesem Verrat heiraten würde? Was bildete sich dieser elende Kerl ein?

Ich setzte mich auf den Stuhl und wartete, bis meine Wut verraucht war. Dann überlegte ich. Es musste irgendeine Möglichkeit geben, aus dem Zimmer zu entkommen. Ich besaß drei Goldstücke, genug Geld, um einen Rheinschiffer dazu zu bringen, mich nach Rotterdam mitzunehmen. Ich ließ die Goldstücke durch meine Hände gleiten und konnte schon wieder lächeln. Noch war nichts verloren. Ich brauchte Balthasar nicht! Ich würde mein Schicksal in die eigenen Hände nehmen und meinem Vater nachfahren! Wenn mein verräterischer Verehrer zurückkehrte, war ich längst auf dem Rhein und hatte die ersten Zollstationen passiert. Dann gab es keine Möglichkeit, mich zurückzuholen.

Wenn ich die Ruhe bewahrte, konnte ich es schaffen. Es kam darauf an, möglichst unbemerkt aus der Herberge zu entkommen und einen Frachtschiffer zu finden, der mich nach Norden mitnahm. Ich trank von dem heißen Tee und trat an das einzige Fenster des Zimmers. Ein Flügel war geöffnet und ich blickte in den Innenhof hinab. Einige Männer waren damit beschäftigt, die Bühne für die Komödianten aufzubauen. Ihre Hammerschläge wurden als vielfaches Echo von den Steinwänden zurückgeworfen. Ich dachte daran, sie um Hilfe zu rufen, verwarf den Gedanken aber gleich wieder. Sie würden mir bestimmt nicht glauben und der Wirt würde ihnen erzählen, dass ich schwer krank war und deshalb auf meinem Zimmer bleiben musste. Auf fremde Hilfe konnte ich nicht zählen. Es musste einen anderen Weg geben.

Mein Blick schweifte an der Hauswand nach unten und ich sah den Wein, der sich an einem hölzernen Gittergerüst nach oben rankte. Ein rascher Griff überzeugte mich davon, dass es stark genug war, um ein Leichtgewicht wie mich zu tragen. Wenn es dunkel war und die Komödianten gegangen waren, schaffte ich es vielleicht, an dem Gerüst nach unten zu klettern und zum Fluss zu entkommen. Das Kleid würde mir im Weg sein, aber ich konnte das Wagnis schlecht in Unterwäsche angehen. Ich beschloss, die Nacht abzuwarten. Eine andere Möglichkeit, das Zimmer unbemerkt zu verlassen, gab es nicht. Gegen den Wirt hätte selbst mein Vater einen schlechten Stand gehabt.

Es kam jetzt vor allem darauf an, den richtigen Zeitpunkt abzuwarten. Erst nach Ende der Vorstellung durfte ich aus dem Fenster klettern. So lange musste ich mich in mein Schicksal fügen. Ich zwang mich dazu, die fette Kartoffelsuppe zu essen, damit ich wieder zu Kräften kam, trank den heißen Tee und legte mich ins Bett, um meinen verstauchten Fuß zu schonen und die Erkältung zu lindern. Es kostete mich einige Überwindung, die Kleider abzulegen und so zu tun, als wäre ich freiwillig im Zimmer, doch mein Verstand sagte mir, dass es keinen Sinn machte, Gott unnötig herauszufordern. Ich musste ausgeschlafen und halbwegs gesund sein, wenn ich Balthasar entkommen wollte. Also machte ich es mir auf meinem Lager bequem. Wider Erwarten war ich so erschöpft, dass ich sofort einschlief und nicht einmal merkte, wie eine Magd ins Zimmer schlich und eine Schüssel mit Wasser auf den Tisch stellte und den leeren Teller abräumte. Draußen wartete der Wirt und schloss ab, nachdem sie gegangen war.

Kapitel 6

Dumpfer Trommelwirbel weckte mich aus einem bösen Traum. Ich hatte gesehen, wie mein Vater nach Frankfurt gebracht und vor meinen Augen zum Galgen geführt worden war. Die Wachsoldaten standen stramm und das versammelte Volk wartete mit angehaltenem Atem darauf, dass der Henker seine Arbeit vollendete. Ich sah meinen Vater nicht sterben, doch als ich aufwachte, blieb der Trommelwirbel, und ich humpelte erschrocken zum Fenster und blickte in den Innenhof hinab. Erleichtert stellte ich fest, dass der Trommler zu der englischen Komödiantengruppe gehörte, die durch das offene Tor zur Bühne marschierte.

Der Abend war längst hereingebrochen und die Fackeln an den Hauswänden verbreiteten einen hellen Schein. Ich holte meinen Umhang, öffnete das Fenster und hörte die lauten Stimmen und das Gelächter der Gäste, die sich an den langen Holztischen drängten. Zwei Mägde räumten die Essensreste ab und brachten gefüllte Krüge, wichen geschickt den Händen der Männer aus, die schon zu viel von dem kühlen Wein getrunken hatten. In der Küchentür stand der Wirt und grinste zufrieden. Sein Gasthof war bis auf den letzten Platz gefüllt und die Leute aßen und tranken, als hätte es den großen Krieg nie gegeben.

Ich duckte mich, um nicht gesehen zu werden, und zog meinen Umhang fester um den Hals. Ich hatte das Fieber abgewehrt und wollte den lieben Gott nicht herausfordern. Frischer Wind wehte vom Rhein herauf, ließ die strohbedeckten Dächer knistern und trocknete den Schweiß auf meinem Gesicht. »Ein herzliches Willkommen unseren Gästen aus England!«, rief der Wirt in den Trommelwirbel und prostete den Gästen mit einem vollen Weinglas zu. Ich hätte ihn am liebsten laut beschimpft. Er hatte einen Teil der Goldmünzen gestohlen, da war ich ganz sicher, und er hatte einen schmutzigen Handel mit Balthasar geschlossen. Er gehörte zu den Männern, die im Leben nur möglichst großen Reichtum ansammeln wollten und dabei vergaßen, dass es auch andere Freuden gab.

Die Komödianten hatten die Bühne erreicht und eine kräftige Frau in Männerkleidern und weißer Perücke verbeugte sich und hieß die Gäste willkommen. Sie sprach mit einem starken Akzent. Neben ihr standen die anderen Mitglieder der Truppe. Ein buckliger Mann, der wie ein Ungeheuer aussah und wie ein Toter geschminkt war, ein junger Hanswurst mit knallroten Lippen und einem Äffchen auf der Schulter und zwei junge Artisten, ein Mann und eine Frau, die trotz des kühlen Wetters nur knapp bekleidet waren und brennende Keulen in den Händen hielten. Die kräftige Frau, die sich als »Miss Penny« vorstellte, begann die Vorstellung mit einigen Scherzen und kündigte die Artisten an.

Die Komödianten aus England und Italien, die auf flachen Booten über den Rhein fuhren, beschränkten sich nicht darauf, bloß ein Theaterstück zu spielen. Meist nahm der andere Teil mit unterhaltsamen und komischen Darbietungen einen größeren Raum ein. Artisten und Komödianten waren gern gesehene Gäste, lenkten von den schweren Zeiten ab, die in einigen Teilen unseres Landes auch viele Jahre nach dem großen Krieg noch herrschten. Ich war in einem bürgerlichen Haus aufgewachsen und es war mir in einer reichen Stadt wie Frankfurt immer gut gegangen, aber ich hatte gesehen, welche Not auf dem Land herrschte, wo die Bauern von ungerechten Fürsten und Adligen geknechtet wurden. Die Scherze einer Komödiantentruppe ließen sie die harte Arbeit für einige Stunden vergessen.

Ich sah den Artisten zu, die ein Hochseil über die Bühne gespannt hatten und darauf balancierten, und bewunderte ihre Jonglierkunst, als sie die brennenden Keulen kreisen ließen. Die Leute klatschten begeistert und tanzten ausgelassen zur Musik von Miss Penny, die eine Geige aus ihrem Kostüm gezaubert hatte und eine fröhliche Melodie spielte. Es roch nach Wein und Dünnbier, und der Tabakqualm zog bis zu meinem Fenster herauf. Ich zog mich in mein Zimmer zurück. Es würde bestimmt noch einige Stunden dauern, bis die Vorstellung vorüber war und die letzten Gäste gegangen waren, aber an Schlaf war nicht mehr zu denken und ich stellte die Schüssel auf den Ofen neben der Tür und wartete, bis das Wasser warm genug war. Ich wusch mich am ganzen Körper und tauchte auch meine langen Haare in das Wasser. Es gab keine Seife und ich musste kräftig reiben, bis sich der Schmutz gelöst hatte. Ich trocknete mich ab und schlüpfte in mein Kleid, das ich ebenfalls gesäubert hatte. Über den Ofen gebeugt trocknete ich meine Haare.

Jetzt fühlte ich mich schon viel wohler. Ich band meine Haare zu einem Knoten und hüllte mich in meinen Umhang. Die Schwellung an meinem Fuß war stark zurückgegangen und ich spürte sie kaum mehr. Ich hatte Glück im Unglück. Hoffnungsvoll öffnete ich das Fenster, nur einen Spalt, damit der kühle Wind mir nicht ins Gesicht blies. Wenn ich mir die Vorstellung weiter ansah, würde die Zeit schneller vergehen und ich wurde nicht so von quälenden Gedanken geplagt.

Lächelnd beobachtete ich, wie der blass geschminkte Mann mit dem Buckel auf die Bühne kam und die Leute mit seinem Schabernack erschreckte. Später erfuhr ich, dass er Frankie St. John hieß, gar keinen Buckel hatte und ein recht umgänglicher Bursche war. Er wollte ein großer Schauspieler werden und träumte davon, an den großen Bühnen in London aufzutreten. Seine Stimme dröhnte durch den ganzen Hof, und obwohl er kein Deutsch sprach, konnte man sich vorstellen, was er ausdrücken wollte.

Die Vorstellung war sehr abwechslungsreich, die Kunststücke der Artisten wechselten mit den Darbietungen des Buckligen, den unterhaltsamen Possen von Miss Penny und ihrer rhythmischen Geigenmusik ab. Die Melodien wurden von kräftigen Trommelschlägen begleitet. Um äußerste Ruhe wurde für die Szenen gebeten, die das eigentliche Anliegen der Komödianten waren. Kurze Theaterszenen über einen fremdländischen Prinzen, der seine Liebste aus den Fängen eines gefährlichen Räubers befreit, und einen weit gereisten Seemann, der nach vielen Jahren auf hoher See in seine Heimat zurückkehrt und seine Ehefrau in den Armen seines besten Freundes vorfindet. Beim Anblick des Seemanns musste ich an meinen Vater denken, der unterwegs nach Rotterdam war.

Miss Penny beendete die Vorstellung mit einem heiteren Geigenstück. Die Gäste tanzten ausgelassen zu der Musik und verbrüderten sich mit den Komödianten, die von der Bühne stiegen und zwischen den Holztischen tanzten und sangen. Außer dem jungen Artisten, der einen bedrohlichen Eindruck auf mich machte, war mir die Truppe äußerst sympathisch. Am besten gefiel mir die Frau, die Miss Penny genannt wurde und die Geige wie eine Meisterin spielte. Ihre gute Laune strahlte bis zu mir herauf. Ich beobachtete, wie die Komödianten aus dem Innenhof zogen, und wurde mir meiner ernsten Lage erst wieder bewusst, als die fröhliche Geigenmusik verstummte.

Es dauerte fast eine Stunde, bis die letzten Gäste den Hof verließen und die Mägde die letzten Krüge und Becher von den Tischen räumten. Der Wirt beschimpfte sie, weil sie nicht schnell genug arbeiteten, und drohte, ihnen den Lohn zu kürzen. Die Komödianten räumten ihre Habe von der Bühne und trugen sie zum Fluss hinunter. Es sah ganz so aus, als wollten sie noch in dieser Nacht weiterfahren. Der Wirt hatte ihnen wohl nicht erlaubt, in der Herberge zu übernachten. Ich sah, wie Miss Penny den kargen Lohn abholte, sich verbeugte und ihren Kollegen folgte. Das Leben eines Komödianten war wenig einträglich, so hatte ich schon vor einigen Jahren erfahren, und ich hätte gern gewusst, warum die Engländer ihre Heimat verlassen hatten, um in einem fremden Land ihr Geld zu verdienen. Gab es in England keine Möglichkeit, ihre Kunst zu zeigen? Ich wartete, bis Miss Penny verschwunden war und der Wirt in seine Küche zurückging.

Die Fackeln waren erloschen und der Innenhof lag dunkel und leer unter dem mondlosen Himmel. Nicht einmal die Sterne waren zu sehen. Dunkle Wolken wurden vom böigen Wind nach Süden getrieben und das einzige Licht kam von einem Fenster der Herberge. Es dauerte eine Weile, bis es erloschen war. Es wurde noch stiller und mir lief ein kalter Schauer über den Rücken, als ich in der Ferne ein Käuzchen rufen hörte. Ich war in der Stadt aufgewachsen und das Leben auf dem Lande nicht gewohnt. Hinter den steinernen Mauern, die Frankfurt wie ein Bollwerk umgaben, hatte ich mich sicher gefühlt. Hier draußen war ich verwundbar, und das nicht nur, weil ein Haftbefehl auf mich ausgestellt war.

Ich verstaute den Beutel mit den verbliebenen Goldmünzen in meinem Kleid und öffnete das Fenster. Es hatte keinen Sinn, länger zu warten. Während die Komödianten ihre Habe zusammengepackt hatten, hatte ich einen Plan geschmiedet und der klappte nur, wenn ich so schnell wie möglich die Herberge verließ. Ich schickte ein Stoßgebet zum Himmel und kletterte aus dem Fenster. »Lieber Gott, lass das Gerüst stark genug sein!«, sagte ich leise. Ich packte die hölzernen Streben mit beiden Händen, setzte einen Fuß darunter und atmete erleichtert auf, als das Gerüst hielt. Langsam kletterte ich nach unten. Es war stockdunkel und ich tastete mich wie eine Blinde vor, war froh, dass ich mir meinen Fluchtweg während der Aufführung genau eingeprägt hatte. Das Gerüst schwankte und ächzte und ich zwang mich, nicht daran zu denken, wie hoch ich über dem Boden schwebte.

Einige Monate später musste ich sogar lachen, wenn ich an jene denkwürdige Nacht dachte. Wie eine Spinne hing ich an dem Gerüst, umgeben von wild wucherndem Efeu, in dem sich mein langes Kleid verfing. Einmal knackte eine Sprosse und ich hatte Angst, dass sie brechen würde, aber es geschah nichts und ich kletterte unbehelligt weiter. Erst als ich ungefähr die Hälfte meines Weges zurückgelegt hatte, wurde es gefährlich. In der Küche wurde ein Licht angezündet und ich sah die Umrisse des Wirts hinter dem Fenster. Ich erstarrte und wagte nicht einmal zu atmen, bis das Licht erlosch und der Wirt verschwand. Erleichtert setzte ich meinen Weg fort. Ich kümmerte mich nicht um die Zweige, die mir ins Gesicht schlugen, und erreichte schnaufend den sicheren Boden, blieb abwartend stehen, während der kühle Wind unter mein Kleid fuhr und an meinen Haaren zerrte.

Alles blieb ruhig und ich schlich auf leisen Sohlen zur Tür. Sie war verriegelt und ich brauchte meine ganze Kraft, um den schweren Holzbalken zur Seite zu schieben. Ein Türflügel schwang quietschend nach innen und ich hielt ihn rasch fest, um mich nicht in letzter Minute zu verraten. Ich huschte nach draußen und zog die Tür hinter mir zu. An dem schief stehenden Planwagen eines Händlers vorbei rannte ich zum Fluss hinunter. Ich wollte die Komödianten erreichen, bevor sie vom Ufer abgelegt hatten.

Ich hatte Glück. Die Schauspieler waren noch damit beschäftigt, ihre Habseligkeiten auf den Frachtkahn zu laden. Ich ging mutig auf sie zu und wandte mich an Miss Penny, die gerade ihre Geige in einem Kasten verstaute. »Entschuldigt, wenn ich Euch mitten in der Nacht anspreche«, sagte ich, »ich muss unbedingt nach Rotterdam und würde mich freuen, wenn ich mit Euch fahren dürfte!« Ich sprach so, wie ich es von meinem Vater gelernt hatte, merkte jedoch, dass meine gewählte Ausdrucksweise für sie fremd war. »Ich kann bezahlen«, fügte ich hinzu und holte den Beutel mit den Goldstücken hervor. »Ich gebe Euch zwei Goldgulden!«

Miss Penny klappte den Geigenkasten zu, ohne etwas zu sagen, und drehte sich dann ganz zu mir herum. Auch die anderen Komödianten blickten mich an. Der Bucklige, der seinen Buckel in einem Beutel verstaut hatte, und die beiden Artisten, ein junges Paar, das mich misstrauisch musterte. Der junge Hanswurst hatte sich abgeschminkt und machte sich an den Segeln zu schaffen.

»Wer bist du?«, fragte der Artist. Er hatte beide Hände in die Hüften gestemmt und machte einen hochnäsigen Eindruck. »Du siehst wie die Tochter eines reichen Bürgers aus! Bist du gekommen, um bei uns zu spionieren? Ich habe gehört, dass die Leute in den großen Städten keine Komödianten mehr haben wollen!« Sein Akzent klang lustig, aber er war leicht zu verstehen.

»Ich bin keine Spionin«, wehrte ich mich, »ich bin die Tochter eines Handwerkers, der immer redlich gearbeitet hat! Mein Vater wartet in Rotterdam auf mich. Würdet ihr mich mitnehmen?« Ich warf einen schnellen Blick nach hinten und überzeugte mich davon, dass niemand in der Herberge etwas gemerkt hatte. Zu Miss Penny sagte ich: »Ich mag Komödianten. Ich habe die Aufführung gesehen und mich sehr amüsiert. Ich habe nichts gegen euch!«

»Du bist auf der Flucht, nicht wahr?«

Ich war verwirrt. Wie konnte sie wissen, dass ich aus der Herberge geflohen war? Sah man mir schon an, dass ich vom Gesetz gesucht wurde? Ich beschloss, Miss Penny die Wahrheit zu sagen. Vielleicht weil ich annahm, dass sie diese sowieso herausbekommen würde.

»Ich mag Hexen«, antwortete sie, nachdem ich in kurzen Sätzen geschildert hatte, was geschehen war, »und diesen Wirt kann ich sowieso nicht leiden! Er hat uns die niedrigste Gage gegeben und hatte nicht mal ein Nachtlager für uns. Kannst du kochen?«

»Kochen?« Ich verstand, was sie sagen wollte, und nickte. Mir war jedes Mittel recht, an Bord zu kommen. »Natürlich! Meine Stiefmutter war eine gute Köchin. Ich habe viel von ihr gelernt.«

»Das ist gut«, erwiderte sie lächelnd, »dann bekommen wir endlich mal was anderes zu essen! Das Rübengemüse von Oliver kommt mir schon zu den Ohren raus!« Sie deutete auf den Hanswurst, der uns scheinbar beleidigt den Rücken zudrehte.

»Eine Veränderung des Speiseplans wäre nicht zu verachten«, meldete sich der Bucklige, der kein Buckliger war. Frankie St. John sprach Englisch, aber ich verstand auch so, was er sagte. Er war jünger, als ich vermutet hatte, etwa dreißig, und bewegte sich auch im Alltag, als wäre das Leben eine Bühne. »Ich würde mich jedenfalls freuen, die Lady an Bord begrüßen zu dürfen!« Er verbeugte sich, ergriff meinen Arm und deutete einen Handkuss an.

»Und wenn sie doch eine Spionin ist?«, gab der junge Artist zu bedenken. Obwohl ich ihn nicht mochte, musste ich zugeben, dass er gut aussah, sein Körper war schlank und sehnig und seine dunklen Augen blitzten, während er sprach. »Wir handeln uns nur Ärger ein, wenn wir sie an Bord nehmen! Selbst wenn alles stimmt, was sie sagt, können wir Ärger bekommen!«

Das stimmte zwar, aber Miss Penny kümmerte sich nicht darum. »Komm an Bord!«, forderte sie mich auf. »Gib mir eines der Goldstücke und wir sind quitt!« Sie half mir über die Reling und legte mir beide Hände auf die Schultern. »Und mach dir keine Sorgen wegen unseres Italieners! Der kann keinen Menschen leiden!«

Ich begrüßte die Komödianten der Reihe nach und schüttelte auch den beiden Artisten, Romero und seiner Braut Gina, die Hand. Die junge Frau hatte kein Wort gesagt, aber ihr Blick verriet mir, dass sie ähnlich dachte wie ihr Freund. Sie konnte mich nicht leiden und hätte mich am liebsten zum Teufel gejagt. Was sie wirklich bewegte, erfuhr ich erst, als es beinahe zu spät war und ich mich in großer Gefahr befand.

Das Schiff der Komödianten war erstaunlich groß, ungefähr zwanzig Meter lang und eigentlich für den Transport schwerer Frachten gebaut worden. Zwei Masten ragten aus dem klobigen Rumpf. Vorn lag der Frachtraum mit zwei großen Ladeklappen, hinten waren die Quartiere der Passagiere untergebracht. In den Kabinen war genug Platz für die Komödianten. Die holländischen Händler, die normalerweise mit einem solchen Schiff den Rhein befuhren, hatten immer ihre Familien dabei. Die Komödianten hatten das Schiff von einer holländischen Reederei gemietet und versprochen, dafür kostenlose Vorstellungen in Rotterdam zu geben.

»Du hast Glück«, sagte Miss Penny, als sie mich in den Raum führte, der mir für die nächsten zwei Wochen als Quartier dienen würde, »wir segeln nach Holland und haben keine Vorstellung mehr.« Sie sah mich freundlich an und deutete in die Kabine. Sie war klein, aber gemütlich eingerichtet. Das Bett sah bequem aus. »Ich hoffe, du findest deinen Vater! Du hast ihn gern, nicht wahr?«

»Sehr«, erwiderte ich, »wir wollen nach Amerika!« Ich gab ihr die Goldmünze und sie bedankte sich lächelnd. »Dort wollen wir ein neues Leben anfangen! Warst du mal in Amerika? Dort gibt es keinen Kaiser und keine so strengen Gesetze wie bei uns und alle Menschen sind frei!«

»Das klingt verlockend!«

Natürlich war Amerika nicht so, wie William Penn und andere Reisende es geschildert hatten, und Freiheit gab es auch dort nur für Menschen, die viel Geld besaßen. Die Armen, die Sklaven und vor allem die Indianer litten unter der Herrschaft einiger Männer, die ebenso willkürlich herrschten wie unser Kaiser oder der englische König drüben. Aber das wusste ich damals nicht, und selbst als ich nach Amerika kam und feststellte, wie es wirklich war, bereute ich meinen Aufbruch nicht. Denn in der Wildnis, jenseits der befestigten Siedlungen, war das Land wirklich frei.

Noch wusste ich nicht, auf welchen Umwegen mich meine Reise in die Neue Welt führen würde. Ich war froh, dass ich es bis an den Rhein geschafft hatte, und blickte glücklich aus dem Fenster, als der Hanswurst die Segel setzte und der Frachtkahn vom Wind und der Strömung ergriffen wurde. Die Laternen an der Reling und der Mond, der sich durch die Wolken gekämpft hatte, wiesen uns den Weg. Ich blickte zurück und sah, dass ein Mann mit einer Fackel aus der Herberge gerannt kam, aber wir waren schon zu weit weg und seine Rufe waren kaum zu hören.

Ich sprach ein Dankgebet, legte den Beutel mit den beiden Goldmünzen unter mein Kopfkissen und sank müde auf das Bett. Schon nach wenigen Minuten war ich eingeschlafen. Das Gurgeln des Rheinwassers verfolgte mich bis in meine Träume.

Kapitel 7

Auf Regen folgt Sonnenschein. Diese Binsenweisheit wurde mir während der nächsten zwei Wochen bewusst, denn so lange dauerte unsere Reise nach Rotterdam. Die dunklen Wolken verschwanden und ein strahlend blauer Himmel spannte sich über dem Fluss. Ich hatte keine Erkältung bekommen und mein Fuß behinderte mich nicht mehr. Bis zu jenem Augenblick, als ich beinahe mein Leben verlor, war es eine angenehme Reise, und wenn ich an der Reling stand und mein Gesicht in die laue Frühlingsluft hielt, war ich wieder von jener tiefen Sehnsucht erfüllt, die meinen Vater in die Ferne gelockt hatte. Der Wind rief nach mir und ich freute mich auf die große Reise, die uns zum Horizont und in die Neue Welt bringen würde. Bald würde ich neben meinem Vater an der Reling eines Segelschiffes stehen und der Sonne zum Ende des Regenbogens folgen.

Mit den Komödianten verband mich schon nach wenigen Tagen eine lockere Freundschaft. Miss Penny war eine unkomplizierte Frau, nicht besonders hübsch und von beinahe männlicher Statur, aber herzensgut und sehr hilfsbereit. Ich erinnerte sie an ihre Tochter, die von einem durchgehenden Fuhrwerk überfahren worden und noch auf der Straße gestorben war. Sie war fünfzehn gewesen, eine aufstrebende Schauspielerin, die auch an einer großen Bühne den Durchbruch geschafft hätte, ein Glück, das Penny versagt geblieben war. »Ich war nie verheiratet«, gestand sie mir, »deshalb nennt mich jeder ›Miss Penny‹. Der Vater meiner Tochter war ein Possenreißer, ein Hanswurst wie unser Jack, und war längst verschwunden, als sie geboren wurde.« Ihre Augen waren traurig, als sie davon erzählte, aber die meiste Zeit sprühten sie vor Lebensfreude und nicht einmal die kargen Gagen und beschwerliche Reisen konnten ihr etwas anhaben. »Solange ich auf einer Bühne stehen kann, bin ich zufrieden«, sagte sie. »Ich will spielen und die Menschen glücklich machen!«

Während der langen Fahrt nach Norden saßen wir oft in meiner Kammer zusammen, besonders abends, wenn das trübe Licht der Laternen kaum unsre Umgebung erhellte und nur das Rauschen des Wassers und das Knattern der Segel zu hören waren. Beim Schein der flackernden Lampen sprachen wir über unsere Träume und ich hörte interessiert zu, wenn Miss Penny von den Tagen schwärmte, als sie zu den hoffnungsvollen Schauspielern einer jungen Truppe gehört hatte und sogar auf einer Bühne in London aufgetreten war. In einem kleinen Theater in einem der abgelegenen Vororte hatte sie eine junge Liebhaberin gespielt. Die unglückliche Liebe zu dem Hanswurst hatte sie aus der Bahn geworfen. »Seitdem gehöre ich zum fahrenden Volk«, berichtete sie ohne Bitterkeit, »und ich kann mich nicht beklagen. Ich habe viele interessante Länder und Menschen kennen gelernt.«

Ihre Kollegen hatte sie auf der Straße angeworben. Frankie St. John, den alle nur den »Buckligen« nannten, war in den Hafenkneipen von London als Possenreißer aufgetreten und beinahe auf der Straße gelandet, als Miss Penny ihn aufgelesen hatte, und der Hanswurst hatte mit seinem Äffchen auf dem Marktplatz gestanden. Romero und seine junge Braut hatten zu einer italienischen Komödiantentruppe aus Florenz gehört, die unterwegs Streit bekommen und sich aufgelöst hatte. Miss Penny wusste wenig von den beiden, mochte sie auch nicht besonders, musste aber eingestehen, dass sie erstklassige Artisten waren. »Und ohne Artisten brauchen wir gar nicht auf die Bühne zu gehen«, sagte sie.

Miss Penny war die Leiterin des Unternehmens, hielt das Geld zusammen und sprach die Auftritte in den Städten und Dörfern ab, ein Unterfangen, das immer schwieriger wurde, weil Komödianten in den Städten einen schweren Stand hatten und beinahe wie Bettler angesehen wurden. »In Mainz wollte man uns nicht sehen, und auch in Köln werden wir nicht geduldet. Die reichen Leute mögen uns nicht«, berichtete sie traurig. »Dabei wollen sich die Menschen bei Theater und Musik amüsieren! Der Krieg ist längst vorbei und wir brauchen die schönen Künste zur Erheiterung!«

Manchmal staunte ich über die Gespräche, die Miss Penny mit mir führte. Sie war ernster und nachdenklicher, als ihr fröhliches Auftreten glauben machte. »Ich bin froh, dass du nach Amerika gehen willst«, sagte sie. »Reisen in fremde Länder erweitern den Horizont und lehren dich, die Welt mit anderen Augen zu sehen. Schau dir die Menschen in den Städten an! Sie verschanzen sich hinter dicken Mauern, schaffen ihre eigenen Gesetze und prägen ihr eigenes Geld. Was macht das für einen Sinn? Sie verlieren den Blick für das Ganze! Die Welt ist groß und voller Wunder und hätte ich mein Leben noch vor mir, würde ich dir in die Neue Welt folgen und eine neue Zukunft beginnen!«

»Du hast ein aufregendes Leben«, erwiderte ich, »viele Menschen träumen davon, unabhängig und nicht mehr strengen Gesetzen unterworfen zu sein. Du hast viel mehr gesehen, als die meisten Menschen jemals kennen lernen werden! Du bist eine große Schauspielerin, Penny! Du hast ein erfülltes Leben! Wer weiß, was mich in der Fremde erwartet?«

»Das ist es ja gerade«, meinte sie, »diese Ungewissheit, die in einem fernen Land auf uns wartet! Die Möglichkeit, alles zu gewinnen, und die Gefahr, alles zu verlieren! Die meisten Menschen verzweifeln bei diesem Gedanken, aber du und ich, wir gehören zu den Auserwählten, die das Abenteuer suchen! Ich sehe es in deinen Augen! Selbst wenn du an meinen Worten zweifelst und nur die Geborgenheit bei deinem Vater suchst, du würdest auch allein in die Fremde ziehen und dein Leben gegen eine ungewisse Zukunft jenseits des Meeres eintauschen!«

Wir ahnten nicht, wie bald ich vor dieser Entscheidung stehen würde, und rechneten fest damit, dass mein Vater im Hafen von Rotterdam auf mich wartete. Mit jedem Tag kamen wir der holländischen Hafenstadt näher. Unser Frachtsegler glitt mit geblähten Segeln an den Burgen und Dörfern am Rheinufer vorbei und ich lehnte oft den ganzen Nachmittag an der Reling und ließ meinen Blick über die grünen Weinberge gleiten. Wie dunkle Geschwüre ragten die mächtigen Burgen aus dem leuchtenden Grün empor, uneinnehmbare Festungen aus der Zeit der Ritter, die inzwischen reichen Fürsten und Adligen gehörten. Ähnlich bedrohlich wirkten die Klöster auf mich. Ich bedauerte die Mönche, die sich hinter die Mauern zurückgezogen hatten, und fragte mich, ob der liebe Gott wollte, dass sie dem Leben entsagten.

Unser Schiff kam rasch voran. Die Segel waren prall gefüllt, und wenn der Wind einmal abflaute, ließen wir uns von der starken Strömung treiben. Der Rhein war ein großer Fluss. Nur ein geübter Schwimmer schaffte es von einem Ufer zum anderen, und es war genug Platz für die langen Frachtkähne, die zwischen Holland und unserem Land verkehrten. Wir führten Butter, Käse und seltene Stoffe ein und schickten Wein, Holz und Kohle nach Norden. Der Hanswurst, der die meiste Zeit am Ruder stand, wich geschickt den anderen Schiffen aus und hielt den Segler immer genau auf Kurs.

Der Hanswurst war ein seltsamer Mensch. Wie ausgelassen und fröhlich hatte er auf der Bühne gewirkt, als er die Leute mit seinen Späßen erheitert hatte und pfeifend durch das Publikum marschiert war. Ohne die Schminke und seine knallroten Lippen war er ein ernster und nachdenklicher Mann, der am liebsten allein war und oft stundenlang am Ruder stand und keinen Ton von sich gab. Er pfiff nicht mal. Nur sein Äffchen ließ sich die Laune nicht verderben und kletterte ausgelassen auf dem Schiff herum. Es war mit einer langen Leine an den Mast gebunden und trieb seine Späße besonders dann, wenn wir einem anderen Komödiantenschiff begegneten. Selbst nachts gab es keine Ruhe. Seine schrillen Laute störten oft unseren Schlaf und der missmutige Romero drohte beinahe jeden Morgen, das kleine Tier ins Wasser zu werfen. »Untersteh dich«, warnte Miss Penny den italienischen Artisten, »wenn du das tust, werfe ich dich hinterher!«

Der Besitzer des Äffchens sagte gar nichts und nur sein finsterer Blick verriet seine Gefühle, wenn er den Italiener anblickte. Ich war davon überzeugt, dass er Miss Penny zuvorkommen würde, wenn Romero seine Drohung wahrmachte. Der Artist war mir unsympathisch. Schon bei der ersten Begegnung hatte ich ja seine Feindseligkeit zu spüren bekommen. Er war keinem Mitglied der Truppe freundlich gesinnt. Tagsüber lehnte er stumm an der Reling und beobachtete uns mit finsteren Blicken und abends verkroch er sich in seiner Kammer, ohne mit uns anzustoßen oder mit den anderen Schauspielern am Ufer zu proben. Wenn wir anlegten, spielten die Komödianten einige Szenen aus ihrem Programm und lockten damit Zuschauer aus den nahen Dörfern an. Die bezahlten mit ihrem Applaus oder brachten Fleisch, Eier, Gemüse und Wein.

An Bord des Frachtseglers war ich relativ sicher. Auf dem Fluss fragte keiner nach mir und an den Zollstationen kam kein Inspektor auf die Idee, in mir eine verdächtige Hexe zu sehen. Ich trug inzwischen lederne Männerkleider, die Miss Penny aus einer Truhe geholt hatte, und einen schwarzen Filzhut, der mein geknotetes Haar verdeckte und mich aus der Ferne wie einen Handwerker auf der Wanderschaft aussehen ließ. Oder wie einen Komödianten, besonders dann, wenn ich mir eine der bunten Masken vor das Gesicht band.

Trotzdem hielt ich mich vom Ufer fern, wollte nicht Gefahr laufen, von einem zufällig vorbeikommenden Reisenden erkannt zu werden. Es bestand immer die Möglichkeit, dass er den kaiserlichen Truppen verriet, wo ich mich befand, oder die Bewohner eines nahen Dorfes gegen mich aufhetzte. Die Zeit der Hexen war längst vorbei, aber es gab genügend Menschen, die dem alten Glauben verhaftet waren und einem Eiferer folgten, der eine vermeintliche Hexe an den Galgen bringen wollte. Sogar in einer großen Stadt wie Frankfurt! Ich war froh, meinen Häschern entkommen zu sein, und sehnte den Tag herbei, an dem ich meinen Vater in die Arme schloss und ihm an Bord des großen Segelschiffes folgte. Wenn ich den Wind der fernen Meere um die Nase spürte, war ich in Sicherheit, dann zählte nur die Zukunft.

Ich hatte Miss Penny meine vorletzte Goldmünze gegeben und damit alle Zölle abgedeckt, die auf der langen Fahrt nach Norden erhoben wurden. Über dreißig Zollstationen behinderten den Schiffsverkehr zwischen Mainz und Rotterdam und manche Inspektoren waren erst zufrieden, wenn man ihnen ein Bestechungsgeld zahlte. Auch dann war noch Geld für Lebensmittel und neue Kostüme übrig. Ich hatte zu viel für meine Passage bezahlt, glaubte aber, dass mein Vater damit einverstanden wäre. Wenn die Komödianten nicht gewesen wären, hätte Balthasar mich nach Frankfurt zurückgebracht und ich wäre, wenn man mich nicht verurteilt hätte, gezwungen gewesen, die Ehe mit einem ungeliebten Mann einzugehen.

Mit meiner Kochkunst waren alle Passagiere zufrieden. Besonders gelungen waren die Fische, die wir eines Abends im Rhein fingen und über einem offenen Feuer brieten. Ich hatte ein Wurzelgemüse zubereitet und mit Kräutern gewürzt und servierte selbst gebackenes Brot mit einer knusprigen Kruste. Selbst ich wagte mich an diesem Abend ans Ufer und beteiligte mich an dem Austausch von lustigen Geschichten. Miss Penny erzählte von einem jungen Schauspieler, der während einer Liebesszene auf der Bühne gestolpert war, der Bucklige mimte einen Zollinspektor, der immer mehr Geld haben wollte, und ich berichtete von dem lustigen Treiben während der Buchmesse. Sogar der Hanswurst machte seinem Beruf alle Ehre und führte Kunststücke mit seinem Äffchen vor. Die Artisten setzten sich sogar ans Feuer und zogen sich erst zurück, als Miss Penny auf ihrer Geige musizierte und wir um das lodernde Feuer tanzten. Es war einer der schönsten Abende meines Lebens und ich erinnerte mich nicht, jemals so ausgelassen und fröhlich gewesen zu sein. Im Kreis der Komödianten verlor auch ich die Hemmungen, die ein Mädchen meines Standes im alltäglichen Leben behinderten. Wir ankerten weit genug von der nächsten Siedlung entfernt, und es gab niemanden, der uns bei unserer nächtlichen Feier störte.

Und doch hätte ich in dieser Nacht beinahe mein Leben verloren! Ich ging früher als die anderen zu Bett, machte es mir auf meinem Lager bequem und schaute aus dem Fenster, das mir den Mond und einige Sterne zeigte. Der Himmel war klar und schwarz. Vom Ufer drangen die fröhlichen Melodien von Miss Pennys Geige über den Fluss, und ich hörte die jauchzenden Schreie des Hanswurst, der in seine Verkleidung geschlüpft war und die schlechte Laune an Bord gelassen hatte. Ich war nach der ausgelassenen Stimmung am Abend eher nachdenklich, dachte an meinen Vater, der schon in Rotterdam sein musste und irgendwo im Hafen auf mich wartete. Ich stellte mir seine Ungewissheit vor, die quälenden Gedanken, ob ich dem Bauern entkommen war und mich bereits auf einen Frachtsegler nach Norden befand, und ich hätte am liebsten in die Nacht hinausgerufen: »Mach dir keine Sorgen, Vater! Ich habe Freunde gefunden und ich bin bald dir!«

Einige Monate später, bei den Freibeutern, und dann in der Wildnis der amerikanischen Wälder lernte ich, niemals unaufmerksam zu sein und besonders nachts auf jedes Geräusch zu achten. Aber damals war ich noch viel zu unerfahren und gutgläubig, um hinter dem leisen Knarren des Holzes eine Gefahr zu vermuten. Ich dachte, dass einer der Komödianten müde geworden war und zu Bett gehen wollte, und achtete nicht auf die Schritte. Erst als meine Kammertür aufging und ein Messer in der Hand einer dunklen Gestalt aufblitzte, erkannte ich den Ernst der Lage. Ich wollte schreien, laut um Hilfe rufen, aber meine Kehle war wie zugeschnürt und ich war unfähig mich zur Wehr zu setzen. Ich erlebte hilflos, wie die Gestalt sich näherte.

Gina, die italienische Artistin! Sie blieb mit dem erhobenen Messer vor meinem Lager stehen und machte den Fehler, ihren Triumph zu genießen, bevor sie zustach. »Ich habe gesehen, wie du meinem Mann schöne Augen gemacht hast!«, sagte sie in meiner Sprache. »Dafür bringe ich dich um!« Das gab mir die Zeit, mich von meinem Schrecken zu erholen und blitzschnell von meinem Lager zu springen. Ich spürte einen brennenden Schmerz, als das Messer meinen Oberarm verletzte, und rannte an der wütenden Artistin vorbei, empört über ihre Anschuldigung. Ich verabscheute ihren Mann und hatte ihr nie eine Gelegenheit zur Eifersucht gegeben. Nicht mal angelächelt hatte ich ihn! »Eifersucht ist eine Krankheit«, erklärte Miss Penny später, »wer davon befallen ist, sieht Gespenster.«

Ich stürmte an Deck und stolperte über ein gerolltes Tau, das neben dem Hauptmast lag. Schreiend stürzte ich zu Boden. Ich stemmte mich vom Boden hoch, schaffte es bis zur Heckreling und wurde von der wütenden Artistin eingeholt. Das Messer blitzte silbern im Mondlicht auf und sauste auf mich herab. Ich betete zum lieben Gott und schloss die Augen, wartete auf den tödlichen Stoß. Ein Aufschrei, ein dumpfes Geräusch und das Ausbleiben des tödlichen Hiebes verrieten mir, dass der Tod noch einmal an mir vorübergegangen war. Ich öffnete zögernd die Augen und sah, dass die Artistin stöhnend auf dem Boden lag. Ein faustgroßer Stein hatte sie an der Schläfe getroffen und verhindert, dass sie mich ermordete. Sie blutete aus einer Platzwunde.

Miss Penny blieb mit funkelnden Augen vor ihr stehen, hob das Messer auf und warf es in den Fluss. Sie wandte sich an Romero, der sich im Hintergrund hielt, und sagte: »Ich möchte, dass ihr verschwindet! Packt eure Sachen und lasst euch nie mehr blicken!« Sie gestattete dem Italiener widerwillig, die Wunde seiner Braut zu verarzten, und wartete mit verschränkten Armen, bis sie das Schiff verlassen hatten und über den Hügeln verschwunden waren. »Soweit kommt es noch, dass wir uns gegenseitig das Leben schwer machen«, meinte sie grimmig. »Als ob die arroganten Pfeffersäcke nicht genug Unheil anrichteten!«

Sie säuberte meinen blutigen Kratzer, band ein sauberes Tuch um meinen Oberarm und führte mich in meine Kammer zurück. »Keine Angst!«, beruhigte sie mich. Mein ängstlicher Blick verriet ihr wohl, dass ich mich vor der Rückkehr der eifersüchtigen Gina fürchtete. »Wir stellen eine Wache aus und fahren mit dem ersten Tageslicht weiter. In ein paar Tagen sind wir in Rotterdam. Dir geschieht nichts, dafür lege ich meine Hand ins Feuer!«

Die letzten Tage meiner Fahrt nach Norden verliefen ohne Zwischenfälle. Unsere Stimmung hatte etwas gelitten, immerhin war ich nur knapp dem Tod entgangen, aber wir waren alle erleichtert, die Artisten endlich los zu sein. Wir hatten sie schon beinahe vergessen, als wir kurz vor der holländischen Grenze neben einem anderen Komödiantenschiff festmachten und von einem Possenreißer hörten, dass Romero und seine Braut wegen Mordes festgenommen worden waren. »Die beiden waren lang gesuchte Verbrecher«, erfuhren wir, »sie haben vor zwei Jahren einen Kaufmann in Venedig umgebracht! Jetzt kommen sie an den Galgen!«

Die Kunde verschaffte mir keine Genugtuung, löste eher Unbehagen aus, auch bei den Komödianten. Sie waren wochenlang mit ihnen unterwegs gewesen und hatten die Bühne mit ihnen geteilt. »Ach was!«, beendete Miss Penny die ernste Stimmung. »Sind wir Komödianten oder armselige Bauern? Lasst uns feiern und zur Fiedel tanzen! Unter Deck liegen noch zehn Flaschen Wein und so hell scheint der Mond in diesem Jahr nicht mehr!«

Und so kam es, dass wir noch einmal feierten und erst spät in der Nacht in unsere Kammern krochen. Diesmal wurde ich nicht gestört und schlief tief und fest einem neuen Tag entgegen.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Neuausgabe
Jahr
2018
ISBN (eBook)
9783960532286
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Juli)
Schlagworte
Jugendbuch Abenteuer Roman 17. Jahrhundert Auswanderung Sklaverei Piraterie Menschenrechte Liebe ab 12 Jahren eBooks
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Titel: Die Reise zum Ende des Regenbogens