Lade Inhalt...

Der Stein der Wikinger

Roman

©2018 344 Seiten

Zusammenfassung

Aufbruch ins Ungewisse: der Abenteuer-Roman »Der Stein der Wikinger« von Thomas Jeier jetzt als eBook bei jumpbooks.

Eisland im Jahre 1000 nach Christus: Auf einem Raubzug erbeutet der junge Wikinger Hakon ein geheimnisvolles Buch. Darin entdeckt er ein Bild, das eine bisher ungekannte Abenteuerlust in ihm weckt … Mit dem Bildnis in den Händen macht Hakon sich auf die weite Reise in ein sagenumwobenes Land, von dem keiner seiner Männer je gehört hat – doch er ahnt nicht, welche Gefahren ihm auf seinem Weg bevorstehen! Knapp entrinnt der junge Wikinger auf hoher See dem sicheren Tod, nur um dabei in die Hände mächtiger Nordmänner zu fallen, die ihre ganz eigenen Pläne mit ihm haben … Wird Hakon das ferne Ziel seiner Reise jemals erreichen?

Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der Wikinger-Roman »Der Stein der Wikinger« von Thomas Jeier spielt im heutigen Island, Irland und dem Amerika der Indianer. Wer liest, hat mehr vom Leben: jumpbooks – der eBook-Verlag für junge Leser.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Über dieses Buch:

Eisland im Jahre 1000 nach Christus: Auf einem Raubzug erbeutet der junge Wikinger Hakon ein geheimnisvolles Buch. Darin entdeckt er ein Bild, das eine bisher ungekannte Abenteuerlust in ihm weckt … Mit dem Bildnis in den Händen macht Hakon sich auf die weite Reise in ein sagenumwobenes Land, von dem keiner seiner Männer je gehört hat – doch er ahnt nicht, welche Gefahren ihm auf seinem Weg bevorstehen! Knapp entrinnt der junge Wikinger auf hoher See dem sicheren Tod, nur um dabei in die Hände mächtiger Nordmänner zu fallen, die ihre ganz eigenen Pläne mit ihm haben … Wird Hakon das ferne Ziel seiner Reise jemals erreichen?

Über den Autor:

Thomas Jeier wuchs in Frankfurt am Main auf, lebt heute bei München und »on the road« in den USA und Kanada. Seit seiner Jugend zieht es ihn nach Nordamerika, immer auf der Suche nach interessanten Begegnungen und neuen Abenteuern, die er in seinen Romanen verarbeitet. Seine über 100 Bücher wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und mehrfach ausgezeichnet.

Bei jumpbooks erscheint auch:

Die Tochter des Schamanen

Biberfrau

Das Lied der Cheyenne

Die abenteuerliche Reise der Clara Wynn

Sterne über Vietnam

Flucht durch die Wildnis

Flucht vor dem Hurrikan

Die vergessenen Frauen von Greenwich Village

Die Reise zum Ende des Regenbogens

Hinter den Sternen wartet die Freiheit

Solange wir Schwestern sind

Blitzlichtchaos

Die Website des Autors: www.jeier.de

Der Autor im Internet: www.facebook.com/thomas.jeier

***

eBook-Neuausgabe Oktober 2018

Copyright © der Originalausgabe 2009 by Verlag Carl Ueberreuter, Wien

Copyright © der Neuausgabe 2018 dotbooks GmbH, München

Copyright © 2018 jumpbooks Verlag. jumpbooks ist ein Imprint der dotbooks GmbH, München.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Hoika Mikhail, vlastas

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (aks)

ISBN 978-3-96053-233-0

***

Damit der Lesespaß sofort weitergeht, empfehlen wir dir gern weitere Bücher aus unserem Programm. Schick einfach eine eMail mit dem Stichwort Der Stein der Wikinger an: lesetipp@jumpbooks.de (Wir nutzen deine an uns übermittelten Daten nur, um deine Anfrage beantworten zu können – danach werden sie ohne Auswertung, Weitergabe an Dritte oder zeitliche Verzögerung gelöscht.)

Besuch uns im Internet:

www.jumpbooks.de

www.facebook.com/jumpbooks

Thomas Jeier

Der Stein der Wikinger

Roman

jumpbooks

Prolog

Als James F. Hakon und sein Sohn Scott am frühen Morgen des 13. März 1899 ins Freie traten, ahnten sie nicht, dass sie noch vor dem Mittagessen eine Entdeckung von historischer Bedeutung machen würden. Wie alle Farmer hatten sie nur Augen für das Wetter. Im Westen über den Seen waren dunkle Wolken aufgezogen, und ferner Donner kündigte ein Gewitter an.

»Höchste Zeit, dass wir die alte Pappel ausgraben«, sagte James, ein kräftiger Mann mit rotblonder Löwenmähne, die wild nach allen Seiten abstand. Er trug keinen Hut. Seine Augen waren so blau wie der Himmel an einem der seltenen Sommertage in Minnesota. »Da braut sich was zusammen.«

»Bis Mittag sind wir sicher. Soll ich den Wallach mitnehmen?«, fragte Scott.

Sein Vater nickte, die Augen noch immer zum Himmel gewandt. »Ist wohl besser. Ohne den Gaul kommen wir nicht weit. Vergiss die Ketten nicht.«

Scott ging in den Stall und sattelte eines der beiden Arbeitspferde. Er legte ihm die Ketten, die sie für den Baumstumpf brauchen würden, über den Rücken, und führte es nach draußen. Der Wallach schnaubte unwillig, als er das nahende Gewitter spürte. Mit dem Pferd an den Zügeln überquerte Scott den Hof. Sein Vater hatte die Hacken, Pickel und Äxte aus dem Schuppen geholt und war bereits zum Acker unterwegs. Sein Haar leuchtete im Licht der wenigen Sonnenstrahlen, die durch die Wolken drangen.

Sie waren schon seit zwei Tagen damit beschäftigt, den Acker von Bäumen zu befreien, die beim Pflügen störten. An einigen Stellen war die Erde besonders fest, und es bedurfte großer Anstrengungen, die Baumstümpfe mit ihren verzweigten Wurzeln aus dem Boden zu ziehen. Einen besonders alten Baum mit verwitterter Rinde hatten sie sich für zuletzt aufgehoben.

Die Späne flogen nach allen Seiten, als sie ihre Äxte ins Holz trieben. Mit gleichmäßigen Schlägen gruben sie tiefe Keile in die Pappel. Sie waren so in ihre Arbeit vertieft, dass sie gar nicht merkten, wie der Wind auffrischte und die Gewitterwolken über den Himmel jagte. Zufrieden beobachteten sie, wie der Stamm knackend zu Boden fiel.

James wischte sich den Schweiß mit dem Hemdsärmel von der Stirn. Stirnrunzelnd betrachtete er den großen Baumstumpf mit seinen kräftigen Wurzeln, die teilweise über der Erde lagen. »Das wird ein hartes Stück Arbeit«, stöhnte er. »Ich wollte, wir hätten einen dieser neuen Motorwagen.«

Mit den Hacken und Schaufeln drangen sie bis zu den tieferen Wurzeln vor. Scott befestigte die Ketten am Sattelhorn des Wallachs und band sie um den freigelegten Baumstumpf. Er feuerte das schwerfällige Pferd an: »Nun mach schon! So ist es gut! Vorwärts, er bewegt sich schon!«

Doch der Baumstumpf löste sich kaum aus seiner Umklammerung. Er saß fest wie ein störrischer Backenzahn. »Halt, so geht es nicht«, hielt ihn sein Vater zurück, »die Wurzeln sitzen zu fest. Wir müssen noch tiefer graben.«

Sie trieben erneut die Hacken in die dunkle Erde und stießen plötzlich auf etwas Hartes. James fluchte wütend, als ihm der Aufprall die Hacke aus den Händen riss. Mit schmerzverzerrtem Gesicht griff er sich ans rechte Handgelenk. »Auch das noch! Als ob wir hier nicht schon genug Ärger hätten!«

Sie beugten sich über das Loch und sahen einen großen Stein aus der Erde ragen. Wie die Fangarme eines riesigen Kraken umschlossen ihn die Wurzeln, als weigerten sie sich, ihn herzugeben. Als Scott in das Loch kletterte und ihn von Erde und Wurzeln befreite, erkannten sie, dass er ungefähr einen Meter hoch und ein Drittel so breit war. »Sieht wie ein Grabstein aus«, sagte Scott.

»Unsinn! Hier draußen gab's keinen Friedhof«, erwiderte sein Vater.

Sie wuchteten den Stein aus dem Loch, mussten mehrmals ansetzen, um ihn über den Rand zu bekommen. Selbst zwei so starke Männer wie James und sein Sohn gerieten dabei ins Schwitzen. Der Stein war zentnerschwer, seine Oberfläche rau, doch er war kaum zu fassen. Es dauerte fast eine halbe Stunde, bis sie ihn endlich neben den umgestürzten Baum geschoben hatten.

»Mann!«, stöhnte James nur, als er den Stein losließ. Er griff nach der Wasserflasche an seinem Gürtel, nahm einen Schluck und reichte sie seinem Sohn. Scott war viel zu erledigt, um etwas zu sagen.

Ein heftiger Donnerschlag ließ den Boden erzittern. Es war dunkler geworden, als wollte die Nacht den Tag zurückerobern, und die ersten Regentropfen fielen vom Himmel. Böiger Wind fegte über den Acker. Die beiden Männer hielten ihre Gesichter in den Regen. Sie waren dankbar für die Dusche, die den Schweiß und den Schmutz von ihrer Haut und ihrer Kleidung wusch.

»Lass uns später weitermachen«, sagte James und schob sich die nassen Haare aus der Stirn. Er wollte gerade zu dem Wallach gehen, als sein Blick auf den Stein fiel. Überrascht blieb er stehen. »He, Scott! Sieh dir das an!«

Der Regen hatte einiges an Dreck von dem Stein gewaschen und eine Inschrift freigelegt, die fast die ganze Oberfläche bedeckte. Wie bei manchen Grabsteinen waren die Schriftzeichen tief in den Stein geschlagen worden.

Scott bückte sich und rieb mit der flachen Hand über die Inschrift. Verwundert betrachtete er die seltsamen Zeichen. Keine Buchstaben, wie er sie kannte, eher keilförmige Einkerbungen, die an die Spur eines Vogels erinnerten. »Seltsam«, wunderte er sich, »so was hab ich noch nie gesehen.«

Sein Vater beugte sich neben ihm über den Stein und betrachtete die Schrift minutenlang, strich immer wieder über die tief in den Stein gehauenen Zeichen, fuhr einzelne Symbole mit dem Finger nach, als würde ihm das helfen, sie zu verstehen. »Mann!«, sagte er dann. »Mann! Weißt du, was das ist? Weißt du das?«

Scott blickte ihn verständnislos an. »Keine Ahnung.«

»Erinnerst du dich an den Farmer in Kensington? Muss ungefähr ein Jahr her sein. Wie hieß er noch? Olof oder so ähnlich. Den Nachnamen hab ich vergessen. Der hat auch so einen Stein gefunden. Ich war damals gerade in Alexandria bei unserem Vetter Raymond. Du weißt schon, von dem wir den Wagen haben. Den Stein hab ich nie gesehen, aber in der Zeitung war ein Bild. Er sah genauso aus wie dieser hier. Die gleichen Schriftzeichen.«

»Bist du sicher?«

»Natürlich bin ich sicher«, sagte er. Der Regen lief ihm übers Gesicht und tropfte auf seine Jacke. Er spürte die schweren Tropfen kaum. »Als ob ein Vogel über den Stein gelaufen wäre. Irgendwas Indianisches, dachten alle.«

»Indianer haben keine Schrift.«

»Eben.« Ein Blitz zuckte über den Himmel und warf gespenstisches Licht auf den Stein, ließ die seltsamen Schriftzeichen noch geheimnisvoller erscheinen. »Sie haben den Stein einer Lehrerin gezeigt, aber die wusste auch nichts damit anzufangen und holte ihren Onkel, einen Professor von der Universität. Der hatte Geschichte studiert und wusste sofort, um was es ging.«

Scott blickte seinen Vater fragend an. »Und?«

»Die Wikinger«, antwortete James. »Er sagt, die Wikinger hätten die Zeichen in den Stein gemeißelt. Runen hat er sie genannt und er konnte sie sogar entziffern. Die Inschrift würde beweisen, dass die Wikinger schon vor vielen hundert Jahren in Amerika gewesen wären. Noch vor Kolumbus.«

»Die Wikinger? Die mit den Drachenbooten?«

»Genau die. Die Wikinger hätten damals in Grönland gelebt und wären mit ihren Booten über den St. Lawrence River und die Großen Seen bis zu uns nach Minnesota vorgestoßen. Ich konnte es auch nicht glauben, aber er sagt, die Schriftzeichen würden das eindeutig beweisen.« Er ließ seine Hand erneut über den Stein gleiten. »Stell dir vor ... die Wikinger ... auf unserer Farm!«

»Und wir sind vielleicht mit ihnen verwandt.«

James lächelte. »Ganz sicher sogar. Meine Eltern kamen damals aus Norwegen rüber und da lebten früher nur Wikinger.«

»Und was machen wir jetzt?«

»Na, was wohl?«, erwiderte sein Vater grinsend. »Wir holen den Professor. Ich will wissen, was auf dem Stein steht.«

Hakon

Kapitel 1

Wie riesige Vögel mit blutigem Gefieder flogen die drei Langschiffe auf die irische Küste zu, elegante Skarfis mit dunkelroten Segeln, die sich im Nordwestwind blähten. Beinahe schwerelos jagten sie über die Wellen, getrieben vom Wind und den Rudern der über hundert zu allem entschlossenen Männer. Jedes der Boote schien zuerst an der nahen Küste anlegen zu wollen.

Hakon saß neben Gunnar, einem erfahrenen Krieger, dessen Narben von zahlreichen Kämpfen berichteten, und legte sich mit aller Kraft in die Riemen. Jeweils zwei Männer bedienten ein Ruder, mit dem Rücken zum Bug, doch an den leuchtenden Augen des Steuermannes sahen sie, dass es nicht mehr weit bis zur Küste war. Alle waren dankbar, bei diesem Kriegszug dabei zu sein, freuten sich darauf, mit Schätzen beladen zurückkehren oder als glorreiche Krieger ins Reich Odins einziehen zu dürfen.

Für Hakon war es der erste Kriegszug. Er hatte noch keine zwanzig Winter erlebt und bisher nur an kleineren Gefechten teilgenommen. Wie die meisten jungen Krieger, die noch keinen Besitz angehäuft hatten, war er lediglich mit einem Lederwams und einem Lederhelm gegen feindliche Waffen geschützt, und das Schwert an seinem Gürtel war weder mit silbernen Ornamenten verziert noch so stabil wie die Klingen aus dem fernen Franken.

Auch körperlich war er den anderen Männern ein wenig unterlegen. Sein Körper war schlanker, und der Bartwuchs nur zu erkennen, wenn die Sonne auf sein Gesicht fiel. Sein Onkel hatte dröhnend gelacht, als er sich den Kriegern anschließen wollte, und duldete ihn nur an Bord seines Langschiffes, weil der Runenmeister ihm dazu geraten hatte. Der Hüter der magischen Schriftzeichen stand in direkter Verbindung zu Odin, dem mächtigen Gott der Weisheit und der Kriegsführung.

»Schneller, Männer!«, rief Ivar in den Fahrtwind. »Wir wollen den Pfaffen noch vor dem Morgengebet einheizen! Legt euch in die Riemen!«

Hakon zog kraftvoll am Ruder, folgte dem Rhythmus, den die Männer im vorderen Teil des Schiffes vorgaben. Er musste seine ganze Kraft aufwenden, um nicht hinter den anderen zurückzubleiben. Es war früh am Morgen, und die Sonne stand noch weit im Osten, blickte kaum über den Rand der Erdscheibe herüber. Mit jedem Ruderschlag spritzte weiße Gischt über die Reling. Das Meer rauschte unter dem flachen Kiel des schlanken Schiffes.

»Refft die Segel!«, erklang die kraftvolle Stimme seines Onkels hinter seinem Rücken. Ivar war ein Krieger mit verwittertem Gesicht und flachsblondem Bart, ein wahrer Hüne von Mann, der nicht einmal vor den bösen Geistern der Unterwelt in die Knie ging. Die meisten Männer seines Dorfes glaubten, dass er mit Thor im Bunde war, weil er während eines Gewitters geboren worden war und genauso aufbrausend und temperamentvoll wie der Gott des Regens und der Winde sein konnte. Angeblich hatte er nach drei Wintern seinen ersten Met getrunken und nach sieben Wintern einen Jungen erschlagen, der ihn beim Spiel besiegt hatte. Als er in einem Verlies der Engländer an einen Pfahl gebunden war, hatte er sich mit bloßer Muskelkraft befreit und die ledernen Fesseln mit seinen Zähnen durchtrennt. Anschließend hatte er die Feinde getötet und ihre Häuser in Brand gesteckt. So erzählte er jedenfalls, und Hakon hatte keinen Grund, seinem Jarl nicht zu glauben.

Die Anführer auf den anderen Booten gaben denselben Befehl, und jeweils zwei Männer verließen ihre Ruder und holten die roten Segel ein. Kaum lagen sie auf den Gabelstützen, glitten die Boote an Land und blieben im feuchten Ufersand liegen. Die Männer zogen ihre Schwerter und Äxte, griffen nach den runden Schilden und sprangen über die niedrige Reling ins Wasser.

»Zeigt ihnen, wozu Nordmänner fähig sind!«, rief Ivar.

»Tötet die Pfaffen!«, tönte einer der anderen Anführer.

Von den anfeuernden Rufen ihrer Häuptlinge getrieben, stürmten die Männer das Steilufer hinauf, allen voran Bekan, ein gefürchteter Berserkir, der mit einem der anderen Boote gekommen war und sich mit einem scharfen Kräutertrank aufgeputscht hatte. Hakon kannte den wilden Mann schon lange, es wurde erzählt, dass er sich mit bloßen Händen auf ein ganzes Rudel Wildschweine gestürzt haben sollte. Ein Mann aus seinem Dorf berichtete, dass er seine Feinde am liebsten zerfleischte und ihnen die Eingeweide aus dem Körper riss. Der Kräutertrunk, den er vor jedem Kampf zu sich nahm, versetzte ihn in einen Rauschzustand, den Hakon nicht einmal erreichte, wenn er mehrere Hörner süßen Met oder starkes Bier trank.

Bekan rannte den jungen Hirten nach, die mit der Schafherde zu fliehen versuchten, und schlug so lange mit seiner Axt auf sie ein, bis der Boden von Blut getränkt war. Schreiend reckte er die blutverschmierte Waffe, nur um sie im nächsten Augenblick in eines der Schafe zu rammen. Sein Schrei glich dem wütenden Brüllen des Bären, dessen Fell er um die Schultern gebunden hatte. Er gönnte sich keine Pause, entdeckte einen Kuhhirten, der in panischer Angst zu fliehen versuchte, und warf ihm die Axt in den Rücken. Sein nächstes Opfer war ein Mönch, der über die Mauer geklettert kam. Er zerrte ihn herunter und schlug seinen Kopf so lange gegen die Mauer, bis er tot war.

Hakon stürmte mit der Hauptstreitmacht zum Kloster hinauf. Drogheda Abbey war eines der christlichen Anwesen, das noch nicht von Nordmännern erobert worden war, eine Ansammlung von steinernen Giebelhäusern und runden Mönchshütten, umgeben von einer hohen Steinmauer. Ivar war bei den wagemutigen Männern, die sich aus vollem Lauf gegen das breite Holztor warfen und es zum Einsturz brachten. Vor Angriffslust johlend und von wilder Begeisterung getragen, stürmten sie in den großen Klosterhof.

Auch ohne Kommandos wussten die Männer, was sie zu tun hatten. Drogheda Abbey war nicht das erste Kloster, das sie überfielen. In jedem gab es eine Kirche mit wertvollen Schätzen, manchmal sogar einen Keller, in dem Gold, Silber und Edelsteine gehortet wurden, ein Schulhaus und zwei oder drei Häuser, in denen sich die Familien aus der näheren Umgebung verschanzt hatten, und die armseligen Hütten der Mönche, die meist betend auf dem Boden hockten und sich abschlachten ließen. Auch diesmal leisteten nur wenige Bewohner Gegenwehr. Es flogen ihnen kaum Pfeile entgegen, und die wenigen prallten wirkungslos an den Schilden der Krieger ab.

Hakon blieb im Schatten von Ivar, dort war er stets im Mittelpunkt des Geschehens und konnte sich am besten beweisen. Sein Onkel war ein Mann, der keinem Kampf aus dem Weg ging und immer die größte Gefahr suchte. »Jetzt zeig, dass du kein kleiner Junge mehr bist!«, rief Ivar ihm zu.

Mit erhobenem Schwert stürzte sich Hakon auf das erste Opfer, einen unbewaffneten Bauern, der in panischer Angst aus einem der Häuser gerannt kam. Er schlug ihn mit dem Schwert nieder, hörte verwundert, wie der Sterbende es fertigbrachte, ihn wortreich zu verfluchen, bevor er die Augen schloss. Hakon stieg über ihn hinweg und folgte Ivar, der sein zweischneidiges Schwert mit beiden Händen führte und reiche Ernte unter den Feinden hielt. Er machte keinen Unterschied zwischen Männern, Frauen und Kindern, tötete jeden, der sich ihm in den Weg stellte. Selbst einigen Gänsen, die laut schnatternd hinter einem der steinernen Kreuze hervorkamen, schlug er ins Gefieder.

Hakon ließ sich von der Mordlust seiner Mitstreiter anstecken. Mit wüstem Geschrei stürzte er sich auf die Feinde, die jetzt aus den Häusern kamen und nach allen Seiten davonrannten. Sein Schwert machte auch vor Schwachen und Hilflosen nicht halt. Jahrelang hatte man ihm beigebracht, dass ein Nordmann seine Feinde entweder vernichtete oder als Sklaven nahm, und dafür kamen nur kräftige Jünglinge und gesunde Mädchen oder Kinder in Betracht. Doch als er zwei junge Mädchen zur Mauer treiben wollte, versperrte Ivar ihm den Weg und tötete sie mit zwei wuchtigen Schwerthieben. »So viel Platz haben wir nicht in unserem Boot!«, rief er.

Ein Messer bohrte sich in Hakons Schild und erinnerte ihn daran, dass er nicht unverwundbar war. Er war kein Sagaheld wie Sigurd, dem die Götter einen unsterblichen Körper geschenkt hatten. Hastig riss er den Schild hoch, wehrte den Bauern ab, der das Messer geworfen hatte, und trieb ihn mit dem Schwert vor sich her. Er rammte ihn mit dem Schild gegen die Mauer und stieß ihm die Waffe in den Leib. Im selben Augenblick fuhr er herum und tötete einen Mann, der sich mit bloßen Händen auf ihn gestürzt hatte. Er sah, wie zwei Bauern mit Speeren auf einen Nordmann am Boden einstachen, schlug ihnen die Waffen aus den Händen und tötete sie jeweils mit einem einzigen Hieb. Von dem Krieger am Boden erntete er bloß ein wütendes Schnauben.

Vor Anstrengung keuchend drehte er sich zu den Mönchshütten um. Einige Krieger hatten Fackeln auf die Strohdächer geworfen und beißender Rauch zog über den Klosterhof. Die begeisterten Schreie der anderen Nordmänner vermischten sich mit den Hilferufen und den Todesschreien der Klosterbewohner. Das Prasseln der Flammen wurde immer lauter, brennende Strohbündel fielen von den Hütten und zerstoben in einem Funkenregen. Unberührt von dem Chaos kniete ein Mönch in seinem weißen Umhang auf dem Boden, beide Hände zum Himmel erhoben, und rief: »Habe ich es nicht gesagt? Aus dem Norden wird Böses hereinbrechen über alle Einwohner des Landes. So sprach Jeremias in seinen Prophezeiungen.« Und lateinisch fügte er hinzu: »A furore Normannorum libera nos, Domine! Herr, errette uns vor der Raserei der Nordmänner!«

Hakon verstand weder die eine noch die andere Sprache und beobachtete teilnahmslos, wie Gunnar aus dem dunklen Rauch auftauchte und den betenden Mönch mit seinem Schwert tötete. Eine Frau, die sich vor ihm auf den Boden warf und um Gnade flehte, beachtete Hakon gar nicht. Er hatte sich einen solchen Angriff anders vorgestellt, mit mehr Widerstand gerechnet. Es machte wenig Spaß, gegen Menschen zu kämpfen, die kaum Waffen besaßen.

Er beobachtete, wie Gunnar und einige andere Männer zur Kirche rannten und den Mönch, der sich ihnen vor der Tür in den Weg stellte, gnadenlos niedermetzelten. Mit blutigen Schwertern rannten sie in das halbrunde Gebäude hinein. Die Kirche lag dicht an der Klostermauer und war von blühenden Bäumen umgeben. Mit ihrem klobigen Turm ragte sie über die anderen Häuser empor. Neben dem Eingang erhob sich ein steinernes Kreuz, das mit eingemeißelten Zeichen versehen war und Hakon an Thors Hammer erinnerte.

Nachdem er den anderen in die Kirche gefolgt war, blieb er neugierig stehen. Für einen Nordmann wie ihn, der nur wenig über das Christentum wusste, war eine Kirche ein Haus wie jedes andere. Hier brauchte man weder Ehrfurcht noch Demut zu zeigen. Eher verwundert blickte er auf den Altar mit dem Kreuz und den goldenen Kelchen und die vergoldeten Figuren zu beiden Seiten. Gunnar stopfte die wertvollen Stücke in den mitgebrachten Sack und deutete auf den verschlossenen Raum rechts vom Altar. Die stärksten Männer traten die Tür ein und zerrten johlend einen Mönch nach draußen. »Das ist ihr Häuptling«, rief Gunnar. Seine Worte wurden von der gewölbten Decke als Echo zurückgeworfen. Er riss dem Mann eine silberne Kette vom Hals und warf sie in den Sack. »Ich habe mir sagen lassen, dass die Christen ihre Schulden im Feuer bezahlen.« Er deutete zum Ausgang. »Da draußen gibt es genug Feuer. Werft ihn in die Flammen!«

Zu Hakons großer Verwunderung gab der Anführer der Mönche keinen Laut von sich, als ihn zwei Krieger aus der Kirche schleppten. Hakon erkannte nicht mal Angst in seinen Augen. Er betete zu seinem Gott, als vertraute er immer noch darauf, dass der ihn und seine Glaubensbrüder vor dem Tod bewahrte, obwohl bereits alle Mönchshütten brannten und kaum noch einer der weiß gekleideten Pfaffen am Leben war.

»Worauf wartest du noch, Hakon?«, rief Gunnar. »Hilf uns, die Schätze in einen Sack zu packen und zum Schiff zu tragen. Der ganze Raum ist voll.«

Tatsächlich war der Raum, in dem sich der Anführer der Mönche versteckt hatte, voller wertvoller Schätze. Aus kostbaren Stoffen gefertigte und mit Seide durchwirkte Wandbehänge, mit Juwelen besetzte Kästchen und Gefäße, Figuren aus Gold und Silber, kostbare Becher und Teller und ein funkelndes, mit Edelsteinen verziertes Kreuz lagen in der schweren Holzkiste, hinter der sich der Mönch verschanzt hatte. Sogar ein mit eingelegten Rubinen und silbernen Ornamenten versehenes Schwert war dabei. Warum sich der Anführer damit nicht verteidigt hatte, verstand Hakon nicht. Ein Nordmann würde niemals kampflos in den Tod gehen.

Mit den prall gefüllten Säcken stürmten Gunnar und die anderen Männer nach draußen. Hakon blieb zurück, ließ sich durch eine flüchtige Bewegung ablenken, die er auf der anderen Seite des Altars wahrnahm. Ein Mönch, der geduckt eine kaum sichtbare Treppe hinunterlief. In dem Lichtstrahl, der durch die offene Tür hereinfiel, erkannte Hakon, dass der Mann einen rechteckigen Gegenstand wie etwas sehr Wertvolles mit beiden Händen an seine Brust gepresst hielt. Einen Schatz, den er in Sicherheit bringen wollte?

Hakon folgte ihm, den Schild in der linken, das Schwert in der rechten Hand. Als er die Treppe erreichte, sah er gerade noch, wie der Mönch um die Ecke verschwand. Er hatte einen Umhang über seine Schultern geworfen.

Hastig folgte Hakon ihm in den Keller der Kirche. Modriger Geruch und der beißende Rauch einer Öllampe erwarteten ihn. Ein eisiger Luftzug wehte ihm entgegen, gab ihm das Gefühl, von einer unsichtbaren Hand berührt zu werden. Er blieb am Fuß der Treppe stehen und blickte vorsichtig nach links. Der Mönch rannte durch einen schmalen Gang davon. Den geheimnisvollen Gegenstand hielt er in den Armen wie eine Mutter ihr neugeborenes Baby.

Fest entschlossen, den wertvollen Schatz in seinen Besitz zu bringen, rannte Hakon hinter ihm her. Sie waren hier, um reiche Beute zu machen und den Reichtum ihrer Sippe zu mehren. So hatte Ivar gesprochen, als sie mit ihrem Schiff in See gestochen waren.

Am Ende des Ganges führte eine Treppe ins Freie, nur wenige Schritte von der Klostermauer entfernt. Die Stelle war durch einige Bäume und Sträucher geschützt und vom Klosterhof nicht einsehbar. Hakon kam gerade noch zurecht, um den Mönch über die Mauer klettern zu sehen, die Augen voller Angst.

Hakon schlug mit dem Schwert nach ihm, traf aber nur die mit Mörtel zusammengefügten Steine. Durch den Aufprall sprühten Funken. Er kletterte an der Mauer empor, spähte vorsichtig darüber, um nicht in einen Hinterhalt bewaffneter Bauern zu laufen und lächelte grimmig, als er den Mönch durch die feuchte Erde eines frisch gepflügten Ackers stapfen sah. Die wenigen Sonnenstrahlen, die sich durch die Wolken kämpften, ließen das geheimnisvolle Etwas in seinen Armen in verlockenden Farben leuchten.

Siegessicher folgte ihm Hakon. Jenseits des Ackers waren weitere Felder zu sehen, die sich bis zu einem fernen Waldrand erstreckten und keine Möglichkeiten für ein Versteck boten. Der Flüchtende würde ihm nicht entkommen. Die schwache Sonne zauberte eine seltsam friedliche Stimmung auf die hügelige Landschaft, ließ die Erde in satten Brauntönen leuchten und passte so gar nicht zu dem schauerlichen Siegesgeheul, das hinter ihm im Kloster erscholl. Die Nordmänner hatten fast alle Einwohner getötet und feierten ihren Erfolg mit deftigen Kampfgesängen.

Als der Mönch stolperte und zu Boden fiel, wurde ihm klar, dass es keine Hoffnung mehr für ihn gab. Er war seinem Verfolger hilflos ausgeliefert und gab auf. Ohne den Gegenstand in seinen Armen loszulassen, sank er auf die Knie und begann zu beten. Er hielt die Augen geschlossen, wollte nicht zusehen, wie Hakon das Schwert zum tödlichen Schlag erhob und auf ihn niedersausen ließ. Er betete in einer seltsamen Mischung aus Latein und seiner Landessprache und versuchte so tapfer wie möglich zu sterben.

Doch Hakon tötete ihn nicht. Wie von einer unsichtbaren Macht gebannt blieb er stehen, das Schwert nur halb erhoben, und starrte auf den Schatz in den Armen des knienden Mönchs. Ein Buch, so viel konnte er nun erkennen. Eines dieser wertvollen Bücher, wie sie Ivar auch von einem anderen Raubzug nach Hause gebracht hatte. Einige seiner Verwandten hatten sie für wertloses und mit sinnlosen Symbolen verziertes Pergament gehalten und wollten sie ins Feuer werfen, aber Ivar erkannte den großen Wert der Bücher und verkaufte sie für schweres Silber an einen Händler aus Franken. Obwohl nur ein kleiner Teil des Buches unter den Armen des Mönchs hervorlugte, sah Hakon die goldenen Zeichen und das in allen Farben strahlende Bild auf der Vorderseite.

Hakon spürte, wie der Anblick des geheimnisvollen Buches seine Muskeln lähmte. Von dem bemalten Pergament schien eine magische Kraft auszugehen, die ihn daran hinderte, den Mönch zu töten. Oder hatte er nur Angst, mit seinem Hieb das Buch zu zerstören und es mit Blut zu besudeln? Er ließ die Hand mit dem Schwert sinken und wartete, bis der Mönch die Augen öffnete und ihn mit einer Mischung aus Furcht und Verwunderung anblickte. »Gib es mir!«, forderte Hakon ihn auf. Er unterstrich die barschen Worte, die der Mönch nicht verstand, mit einer eindeutigen Geste.

Der Mönch hatte bei seinem Anblick zu zittern begonnen, und selbst seine Gebete waren verstummt. Mit bebenden Lippen und purer Verzweiflung in den Augen reichte er Hakon das Buch. Dann senkte er den Kopf und wartete auf den Schlag, der seiner Meinung nach unweigerlich kommen musste.

Doch Hakon hatte sich längst abgewandt und kehrte zum Kloster zurück.

Kapitel 2

Das Buch in seinen Armen schien zu leben. Eine unerklärliche Energie floss von dem Pergament in seinen Körper, in sein Blut und ließ ihn wie der Anblick einer verlockenden Frau erschauern. Wie Feuer brannte es an seinem Körper, es schien sich zu bewegen, als verlangte es mit aller Macht danach, von ihm aufgeschlagen zu werden.

Vor der Mauer gab Hakon dem Drängen nach. Er setzte sich auf einen Grenzstein am Rande des Ackers, legte den erbeuteten Schatz auf seine Knie und strich beinahe ehrfurchtsvoll mit der flachen Hand über die bemalten Seiten. Eine eigenartige Wärme ging von den Zeichen und Bildern aus, obwohl das Pergament kalt war und ihm der frische Morgenwind ins Gesicht blies.

Er verstand die Zeichen nicht, hatte nie gelernt, die Schrift seiner Feinde zu entziffern. Sie interessierte ihn auch nicht besonders. Er bewunderte lediglich das handwerkliche Geschick, das der Schreiber bewiesen hatte. Die meisten Zeichen hatte er mit schwarzer Farbe auf das Pergament gemalt. In kunstvollen Bögen und scharfen Kanten schwangen sie sich über die getrocknete Tierhaut. Einige besonders große Zeichen waren mit leuchtender Farbe ausgemalt, strahlten rot, blau und grün und erinnerten ihn an die Muster auf königlichen Schwertern.

Was ihn dazu trieb, das Buch bis zur letzten Seite durchzublättern, wusste Hakon nicht. Er folgte einem unwiderstehlichen Drang, als würde Odin seine Hand führen und ein persönliches Interesse daran haben, dass er sich so eingehend mit dem Werk beschäftigte. Um ihn herum verblasste alles, die warmen Farben des Ackers, die Sonne zwischen den Wolken, selbst das Siegesgeheul hinter den Klostermauern. Wichtig war nur noch dieses seltsame Buch, dessen Kräfte einen so starken Zauber auf ihn ausübten, dass er kaum noch einen klaren Gedanken fassen konnte.

Er betrachtete die Bilder eingehend. Meist farbige Darstellungen des Gottes, zu dem die Christen beteten, ein blasser Mann mit schmächtigem Körper, den seine Feinde an ein Holzkreuz genagelt hatten. Dann seltsame Gestalten in farbigen Gewändern, die beinahe so aussahen wie die Araber, von denen einige Männer seiner Sippe erzählt hatten, die auf dem großen Markt in Haithabu gewesen waren. Doch auf einigen Seiten waren auch Landkarten zu sehen, wie sie Ivar manchmal in den Sand oder den Schnee malte. Linien und Zeichen, die bestimmte Länder und Städte darstellten. Ivar besaß eine solche Karte, ein Pergament mit ungelenken schwarzen Strichen, die ihm ein Händler in Haithabu als Zugabe gegeben hatte, und die ihre Heimat Eisland zeigte. Ähnliche Umrisse erkannte Hakon auf einer der Karten in dem kostbaren Buch, dazu eine rote Linie, die bis zum linken Rand des Buches führte.

Er blätterte ruhig weiter, als gäbe es nur noch dieses Buch auf der Welt. Der Mann vom Kreuz als lebender Prediger, ein farbiges Kreuz und viele schwarze Zeichen, bis auf die farbig ausgemalten alle gleich groß und säuberlich auf einer Linie stehend. Erst als er die vorletzte Seite aufschlug, erkannte er, warum er dieses Buch so gründlich studiert hatte.

Dabei war das Bild, das die ganze Seite bedeckte, nicht so bunt und auch nicht so eindrucksvoll wie die anderen. Aber die unwiderstehliche Kraft und der Zauber, die von ihm ausgingen, berührten Hakon stärker als alles, was er bisher erlebt hatte. Von einer seltsamen Wärme erfüllt blickte er auf das Gesicht einer jungen Frau, eines Mädchens noch, das ihn tief in seinem Inneren berührte. Obwohl es nur mit einfachen Strichen angedeutet und wenigen Farben ausgemalt war, glaubte er es körperlich vor sich zu sehen: die dunklen Augen, schwarz wie Torf und von der unergründlichen Tiefe eines Vulkansees im heimatlichen Eisland, die feinen Gesichtszüge und die hervorstehenden Wangenknochen, die leicht gebogene Nase und die anmutig geschwungenen Lippen. Er glaubte sogar ihr Lächeln zu sehen und ihre sanfte Stimme zu vernehmen.

»Odin, steh mir bei!«, flüsterte er ehrfürchtig. Niemals zuvor hatte er ein so eindrucksvolles Gesicht gesehen, das so starke Gefühle in ihm auslöste. Ein Bild nur und doch lebendig, ein wahres Kunstwerk. Hakon hatte einige Frauen in seinem Leben gekannt, Sklavinnen oder Mägde von niedrigem Stand, und bei keiner dieser Begegnungen hatte er so empfunden.

Er fühlte sich von dem zauberhaften Wesen gerufen, angelockt, und das sanfte Lächeln, das auf dem Pergament zu sehen war, schien sich zu verstärken und ihn zu umfangen. Eines Tages würde er die Frau kennenlernen, das wusste er in diesem Augenblick, eines Tages würde Odin dieses Bild zum Leben erwecken.

Er löste sich von dem Anblick und klappte das Buch zu, blickte prüfend an der Mauer empor, um festzustellen, ob ihn jemand beobachtet hatte. Ohne lange zu überlegen, verbarg er das Buch unter seinem Lederwams. Dieses Beutestück war nur für ihn bestimmt, kein anderer sollte das Bild zu Gesicht bekommen. Um sicherzugehen, dass es nicht unter seinem Wams hervorrutschte, schnallte er seinen Ledergürtel enger. Er war sich im Klaren darüber, wie gefährlich es war, ein wertvolles Beutestück vor dem Jarl zu verbergen, doch es kümmerte ihn nicht, denn seine Gedanken wurden noch von der jungen Frau beherrscht, die ein Unbekannter in dem Buch verewigt hatte.

Entschlossen kletterte er über die Mauer. Dabei achtete er darauf, das Buch nicht zu beschädigen. Er wischte sein blutiges Schwert im Gras sauber und kehrte zu den anderen Nordmännern im Klosterhof zurück. Sie hatten die Schätze zu den Schiffen gebracht und waren bereits dabei, das Kloster zu verlassen. Im schwarzen Rauch, der aus den Häusern und Hütten drang, folgte ihnen Hakon. Er stieg über tote Mönche hinweg, glaubte die verkohlte Leiche des Anführers zu erkennen und ließ das brennende Kloster hinter sich.

Aus dem Westen, von einem nahen Bauernhof, wie Hakon erfuhr, kehrten Bekan und einige seiner Getreuen auf Pferden zurück. Der Berserkir hatte die Tiere gestohlen und die Gelegenheit genützt, um einen eigenen Krieg zu führen. Seine Grausamkeit beeindruckte sogar Ivar, der für blutige Kriegszüge und unnachgiebiges Vorgehen gegenüber Feinden und Freunden berüchtigt war. Ein Blick auf die blutverschmierten Waffen und die menschlichen Trophäen des Berserkirs verrieten jedem, wie rücksichtslos er auf dem einsamen Gehöft gewütet hatte.

Die Wirkung seines Zaubertranks war bereits abgeklungen und er wirkte fröhlich und beinahe entspannt. Hakon hatte noch keinen Mann gesehen, dem das Töten solche Freude bereitete. Er präsentierte stolz seine Beute, vor allem Lebensmittel und lebende Tiere, die seine Begleiter auf einem Wagen mitführten, und sprang vor Ivar aus dem Sattel: »So einen guten Kampf hatte ich schon lange nicht mehr, mein Freund! Was für ein Leben, Ivar!«

Sie schoben die schmalen Schiffe ins Wasser und gingen an Bord. Ivar stand am Vordersteven, das Wams mit dem Blut der getöteten Mönche und Bauern beschmutzt, und rief Befehle, ließ die Rahe mit dem quadratischen Segel am Mast hochziehen und feuerte seine Männer an, so schnell wie möglich vom Ufer wegzurudern. So war seine Taktik bei allen Kriegszügen, die er unternahm: überraschend an der Küste auftauchen, so viele Feinde wie möglich töten und mit reicher Beute verschwinden, bevor ein zufällig Überlebender auf die Idee kommen könnte, Hilfe zu holen. Auf dem offenen Meer waren die Nordmänner zu Hause, dort brauchten sie keinen Feind zu fürchten.

Erst als die Küste nicht mehr zu sehen war, ließ er die Ruder einziehen und überließ es den Elementen, sie nach Eisland zu treiben. Die roten Segel wölbten sich knarrend im Wind, wurden von den kräftigen Tauen nur mühsam im Zaum gehalten, und der flache Kiel hielt das Schiff in der starken Strömung, die das Meer vor dem Feindesland aufwühlte. Der Vorder- und der Achtersteven tanzten im stetigen Rhythmus über die schäumenden Wellen.

»Odin, wir danken dir!«, rief Ivar so laut in den Wind, dass man es auch auf den anderen Schiffen hören musste. »Du bist mit Sleipnir, deinem achtbeinigen Hengst, an unserer Seite geritten und hast uns zu einem großen Sieg verholfen! Mögest du uns sicher in unsere Heimat nach Eisland geleiten!«

Hakon saß still auf einer Kiste, seine Gedanken weilten bei der jungen Frau, deren Bild an seinem Herzen lag. Bei jeder Welle, die das Schiff traf, spürte er die Berührung des Buches unter seinem Lederwams. Was war an dem erbeuteten Schatz, dass er kaum noch an etwas anderes denken konnte? Wer war die geheimnisvolle Frau, die ein unbekannter Künstler in das Buch gemalt hatte?

Er schloss die Augen und glaubte sie dicht vor sich zu sehen. Sie war anders als die Menschen, die er bisher gesehen hatte. Ihre Haut war rötlich braun, und ihre glutvollen Augen erinnerten ihn an die Sklavin, die Ivar im letzten Winter aus dem Süden mitgebracht und nach einem Streit getötet hatte. Ihre hohen Wangenknochen gaben ihr ein königliches Aussehen. Sie war eine Edelfrau, nahm er an, die königliche Vertreterin eines fremden Volkes, das er noch nicht kannte. Eine Prinzessin, die sich einem einfachen Mann wie ihm niemals schenken würde. Und doch glaubte er ihre Stimme zu hören: »Komm zu mir!«

»Wo bist du die ganze Zeit gewesen?«, fragte ihn Gunnar. Er zupfte an seinem rotblonden Bart. »In der Kirche warst du plötzlich weg. Hast du dir eins von den Mädchen geschnappt und ihr gezeigt, was für ein toller Hengst du bist?«

Hakon öffnete die Augen und blickte ihn an. Er brauchte einige Zeit, um die Worte seines Rudernachbarn zu verarbeiten. »Das viele Töten strengt an.«

Gunnar grinste. »Du gewöhnst dich daran. Wenn du so lange dabei bist wie ich, macht es dir nichts mehr aus. Nicht alle lassen sich so abschlachten wie diese Pfaffen. Wenn sie sich wehren, macht es mehr Spaß.« Er kratzte sich unterm Kinn. »Wir haben reiche Beute gemacht, nicht wahr? Sieh dir die Säcke an, sie sind alle prall gefüllt. Es geht uns prächtig!«

Hakon teilte die gute Laune seines Rudernachbarn nicht. Die Kräfte des Buches zogen ihn in eine Traumwelt, die sich mit spiegelklaren Seen und rauschenden Bäumen vor ihm auftat. Die junge Frau tauchte am Ufer eines dieser Seen auf, lächelte ihm aus der Entfernung zu und hob die Hand zu einem schüchternen Gruß.

Was hatten diese Bilder zu bedeuten? War er zum Opfer eines geheimnisvollen Zaubers geworden, der ihn in eine andere Welt zog? Gaukelte ihm Loki, der Vater aller Lügen, berauschende Trugbilder vor, um ihn in die dunklen Abgründe der Unterwelt von Hel zu locken? Hatte Freya, die Göttin der Fruchtbarkeit, seine Sinne verwirrt und ihn zum Sklaven einer jungen Frau gemacht, der er noch niemals begegnet war?

Die festen Schritte seines Onkels rissen ihn aus seinen Gedanken. Er öffnete die Augen und sah, wie der Schatten des gefürchteten Jarls über ihn fiel. »Was hast du unter deinem Wams?«, fragte der, die Hand am Schwert.

Die lauten Worte brachten jede Unterhaltung auf dem Schiff zum Erliegen. Nur das Rauschen des Windes und der Wellen, das Knarren des Segels und das Ächzen der Planken waren noch zu hören.

Hakon griff sich erschrocken an die Brust. Das Buch unter seinem Wams hatte sich verschoben und drückte das Leder nach außen. Er rückte es rasch zurecht, tat so, als hätte sich nur seine Kleidung aufgebauscht. »Nichts, Onkel«, erwiderte er, während ihm das Blut ins Gesicht schoss, »das ist nur der Wind.« Doch sein schuldbewusster Blick sagte etwas anderes.

»Du lügst!«, fuhr Ivar ihn mit funkelnden Augen an. Er riss ihn von der Seekiste hoch und zog das Buch unter seinem Wams hervor. »Und was ist das?« Er hielt die wertvolle Beute wie eine Trophäe empor. »Dein Proviant?«

Hakon versuchte dem spöttischen Blick des Jarls mit Stärke zu begegnen. »Ich brauche das Buch«, erwiderte er fest. »Ich habe es einem Mönch abgenommen. Es ist wichtig für mich. Die Götter haben es mir geschenkt, um mir die Richtung zu zeigen, in die ich gehen muss. Ich wollte es nicht verkaufen.«

»So, du wolltest es nicht verkaufen.« Der beißende Sarkasmus des Anführers zwang Hakon beinahe in die Knie. »Weißt du überhaupt, was du da sagst?« Er blätterte in dem Buch, warf einen raschen Blick hinein, und schlug es angewidert wieder zu. »Das hier ist ein Pfaffenbuch! Da stehen die albernen Gebete und Lieder drin, die sie von sich geben! Oder hast du dir die Bilder nicht angesehen?« Er schlug das Buch erneut auf und hielt seinem Neffen ein Bild des gekreuzigten Christus hin. »Siehst du diese jämmerliche Gestalt? Das ist ihr Gott, ein schwacher Gott, fürwahr! Er ließ sich an ein Holzkreuz nageln und wie ein Sklave hinrichten, anstatt zur Waffe zu greifen und sich zu wehren. Und dieses Buch sollen dir die Götter geschenkt haben? Willst du dich über mich lustig machen?« Er warf das Buch einem anderen Mann zu und forderte ihn auf, es zu der übrigen Beute in einen der Säcke zu stecken. »Du wolltest das Buch verkaufen! Du wusstest, dass manche dieser Christen viel Silber für das Buch bezahlen würden. Du hast mich und alle deine Verwandten betrogen!«

Hakon wagte nicht, die anderen Männer anzublicken. Er wusste selbst, wie unglaubhaft seine Worte geklungen haben mussten. »Das stimmt nicht«, erwiderte er dennoch. »Du musst mir glauben, Onkel! Ich brauche das Buch!«

»Ein Christenbuch?«, fauchte Ivar. Er war außer sich vor Wut.

Hakon blieb standhaft. »Es war nicht meine Absicht, euch zu betrügen. Und es ist wahr: Ich wollte das Buch nicht verkaufen. Ich lüge nicht. Habe ich nicht tapfer gekämpft und dem Namen unserer Sippe Ehre gemacht?«

»Du bist geflohen«, sagte ein junger Mann zwei Reihen vor ihm. Er hieß Ingolf und war wie alle Männer der Sippe mit ihm verwandt, wenn auch nur sehr entfernt. Anscheinend war er mit Gunnar in der Kirche gewesen. Hakon erinnerte sich daran, ihm im letzten Sommer ein Mädchen ausgespannt zu haben.

Er blickte Ingolf überrascht an. Bisher war er der Meinung gewesen, dass man ein Mitglied der eigenen Sippe nicht verriet, selbst wenn man den Mann oder die Frau nicht leiden konnte. »Warum sagst du so etwas?«, fragte Hakon.

»Als wir aus der Kirche gingen, bist du verschwunden«, ließ Ingolf sich nicht beirren. »Ich bin dir gefolgt und habe gesehen, wie du über die Klostermauer geklettert bist. Nur Feiglinge laufen vor einem Kampf davon.«

Hakon beherrschte sich. »Es ist wahr, ich bin über die Mauer geklettert«, sagte er zu seinem Onkel. »Aber nur, um den Mönch zu fangen, der mit dem Buch fliehen wollte. Ich habe ihn getötet und ihm das Buch abgenommen.«

»Du hast ihn nicht getötet«, sagte Ingolf, »du hast ihn verschont.«

Ingolfs Worte trafen ihn wie Peitschenhiebe. Also hatte doch jemand beobachtet, wie er dem Mönch das Buch weggenommen hatte. Ausgerechnet Ingolf, der Mann, der ihn am wenigsten leiden konnte. Wollte er, dass man ihn auspeitschte oder über Bord warf? Wollte er sich an seinen Qualen erfreuen?

»Ist das wahr?«, fragte Ivar scharf.

Eine Weile war nur das Knarren der Segel zu hören. Der Wind, der über den Wellen sang, das rauschende Meer. »Es ist wahr«, sagte Hakon scheinbar furchtlos, »ich habe ihn am Leben gelassen. Ich weiß auch nicht warum.«

Ivar packte ihn am Wams und zog ihn zu sich heran. In seinen funkelnden Augen erkannte Hakon, dass ihm eine schlimme Strafe bevorstand.

»Du hast ihn am Leben gelassen?«, schrie Ivar. »Du hast einen Pfaffen verschont? Du hast sein Buch genommen und kniest vor dem Gott dieses Christenvolkes?«

»Ich habe dir gesagt, warum ich das Buch wollte.«

»Du hast mich angelogen!«, schrie Ivar. »Du hast uns alle betrogen! Und ich brauche kein Thing und keinen König, um zu erfahren, welche Strafe du verdient hast! Lassen wir die Götter entscheiden, wie lange du noch auf dieser Welt verweilen darfst. Grüß mir die Fische, du verlogener Pfaffenanbeter!«

Mit diesen Worten packte er den entsetzten Hakon und warf ihn über Bord.

Kapitel 3

Hakon tauchte prustend aus dem Wasser, drehte verstört den Kopf und sah gerade noch, wie eine der Seekisten, auf denen sonst die Ruderer saßen, über Bord gestoßen wurde. Sie schaukelte verlockend auf den Wellen. Gunnar wollte ihm wohl helfen und ihm wenigstens eine kleine Chance lassen, in dem aufgewühlten Meer zu überleben.

Er schwamm mit kräftigen Zügen zu der Kiste und klammerte sich mit beiden Händen an einen der eisernen Griffe. Das Schiff entfernte sich rasch und verschwand im bleifarbenen Zwielicht, nur noch das blutrote Segel hob sich gegen den verwaschenen Horizont ab. Entsetzt beobachtete er, wie auch das Segel immer kleiner wurde und sich schließlich ganz in Luft auflöste.

Dennoch starrte er weiter nach Norden, in die Richtung, in der seine Heimat lag, Eisland mit seinen rauchenden Bergen, heißen Quellen und sattgrünen Weiden. Er würde die Insel wohl niemals wiedersehen, konnte von Glück sagen, wenn er mit dem nackten Leben davonkam.

Wie lange er durchhalten würde, wusste er nicht. Sein Glück war, dass er in einem der warmen Ströme trieb, die selbst so weit im Norden noch für erträgliche Wassertemperaturen sorgten. Doch wohin trieb ihn diese Strömung? Hinaus in die Weite des Meeres, ohne jegliche Hoffnung, jemals wieder Land zu sehen? An die rettende Küste eines fremden Landes? Zu einem Schiff, das ihn aufnahm?

Er blickte sich suchend um. Selbst für einen Nordmann wie ihn, der das Meer seine zweite Heimat nannte, war die endlose Weite erdrückend. Wohin er auch blickte, nur Wasser. Von einem Horizont zum anderen, in jeder Himmelsrichtung, bis zum Ende der Welt. Graue Wellen, die sich im Wind kräuselten und wie eine dunkle Decke über den Geheimnissen der Unterwelt lagen. Allein der Gedanke, unter sich ein düsteres Reich mit unheimlichen Wesen zu wissen, machte ihn nervös. Die Ungeheuer konnten jederzeit nach oben kommen, um ihn zu holen.

Er paddelte mit beiden Beinen, um nicht das Gefühl in den Muskeln zu verlieren. Salziges Wasser trieb ihm ins Gesicht, brannte in den Augen und im Mund. Nur mit großer Mühe schaffte er es, sich von seinem schweren Lederwams zu befreien. Mit einer Hand löste er den Gürtel. Die wollene Hose, die Unterwäsche und die Schuhe behielt er an. Den Lederhelm hatte er beim Sturz verloren. »Ungeheuer! Mörder!«, fluchte er laut in einem plötzlichen Wutanfall auf Ivar. »Musste es denn gleich die Höchststrafe sein? Dafür wird dich Thor mit seinem Hammer erschlagen!«

Mit seinem Onkel war er noch nie gut ausgekommen. Schon als Kind hatte Ivar ihn bei jeder Gelegenheit beschimpft und sogar geschlagen, wenn sein Vater und seine Mutter nicht in der Nähe gewesen waren. Bei der Ausbildung mit Kriegsaxt und Speer war Hakon von ihm verspottet und ausgelacht worden. Jeder Jüngling wurde hart rangenommen, um später im Kampf bestehen zu können, aber kein anderer fühlte sich so gedemütigt wie Hakon. Ivar mochte ihn nicht, hasste ihn vielleicht sogar, obwohl es keinen Grund dafür gab. War Ivar nicht der Bruder seines Vaters? Warum sollte er etwas gegen ihn haben?

Nur dem weisen Runenmeister, der große Stücke auf ihn hielt, hatte er es zu verdanken, dass Ivar ihn auf den Kriegszug mitgenommen hatte. Es gab keine andere Möglichkeit für Hakon, sich im Kampf zu beweisen. Nicht, solange er noch jung war und im Langhaus seiner Sippe lebte. Ein Mann zog nur mit dem Jarl seiner Sippe in den Krieg. In Eisland hatte selbst der König nicht mehr Einfluss. Wenn man seiner Sippe entkommen wollte, blieb einem nur die Möglichkeit, die Heimat zu verlassen. So wie seine Eltern, die vor vierzig Wintern aus ihrer alten Heimat in Norwegen weggezogen waren.

Eine Welle schleuderte ihm die Kiste aus den Händen, und er musste einige kräftige Kraulschläge machen, um sie wieder zu erreichen. Der Wind hatte etwas aufgefrischt, zauberte weiße Schaumkronen auf das Meer. Es roch nach Regen. Im Westen hingen dunkle Wolken am Himmel und kamen stetig näher. Noch donnerte Thor nicht mit seinem zweirädrigen Wagen über die Erde, aber lange würde er nicht mehr warten. Wenn es zu einem Unwetter kam, waren seine Chancen, dem Meer zu entkommen, noch geringer. In den stürmischen Wellen würde er die Kiste nicht mehr halten können und rettungslos in den Fluten versinken. »Warum verschonst du mich nicht, Thor?«, rief er dem Gott der Winde und des Regens entgegen.

Er blickte zur blassen Sonne empor und stellte fest, dass er nach Süden getrieben wurde, weg von der feindlichen Küste und seiner Heimat in Eisland. Er trieb in einem riesigen Niemandsland, das keinen Anfang und kein Ende hatte. Keine Möwe und kein treibendes Blatt, die ihm zeigen könnten, dass die Strömung ihn am Festland vorbeitreiben würde. Weder ein feindliches noch ein vertrautes rotes oder rot-weiß gestreiftes Segel tauchte am Horizont auf. Wie lange würde es noch dauern, bis die Nacht hereinbrach und er in tiefster Dunkelheit dahintrieb? Wie lange, bis es zu regnen begann? Wie lange, bis seine Kräfte erlahmten und er die rettende Kiste losließ? Wie lange noch?

Stunde um Stunde verging. Der Wind wurde stürmischer, das Meer unruhiger, seine Kräfte nahmen ab. Es fiel ihm immer schwerer, sich an die Kiste zu klammern. Das Wasser wurde kälter und ließ seine Muskeln steif werden. Anscheinend trieb er in kältere Strömungen ab. Dort würde er nicht lange überleben. Die niedrigen Temperaturen würden seinen Körper erstarren lassen und ihm den Tod bringen. Ein gnadenvoller Tod, wie er gehört hatte, aber wer vermochte das schon genau zu sagen?

Sein Durst nahm zu, wurde gegen Abend beinahe unerträglich und quälte ihn mit Trugbildern von klaren Bergseen und vollen Wasserfässern. Der Wind schien ihn mit seinem Pfeifen, das Meer mit seinem Rauschen zu verhöhnen. Er spürte seine Hände nicht mehr, hatte keine Ahnung, ob er sich noch an der Kiste festhielt oder ohne einen Halt im Wasser trieb. Seine Augen fielen zu. In der Dunkelheit sah er plötzlich ihr Gesicht, die glutvollen Augen, die hohen Wangenknochen, die sanften Lippen, und er hörte ihre Stimme, als sie mit leiser Stimme seinen Namen rief. Ihr Lächeln war so zuversichtlich, dass er neue Kräfte mobilisierte, noch einmal die Augen öffnete und ein fernes Segel in der Dämmerung sah.

Er wollte schreien, um sich bemerkbar machen, doch es kam nur ein leises Krächzen über seine Lippen. Um einen Arm zu heben und zu winken, war er viel zu schwach. Das Schiff fuhr in seine Richtung. Wenn es den Kurs beibehielt, mussten der Mann am Bug oder der Steuermann ihn sehen. Beeilt euch, flehte Hakon in Gedanken, fahrt schneller! Krampfhaft hielt er seine Augen offen, längst schmerzten sie vom anstrengenden Ausschauhalten, vom Salzwasser und von der Müdigkeit. Zu langsam, dachte er besorgt, sie sind zu langsam. Schon kündigte sich die Dämmerung am westlichen Horizont an. Die dunklen Wolken waren näher gekommen und die ersten Regentropfen fielen. »Es ist vorbei«, seufzte er, »es ist vorbei.«

Seine Augen waren längst wieder geschlossen, und er war gerade dabei, das Bewusstsein zu verlieren, als das Schiff ganz nahe kam und eine Stimme rief: »Seht doch! Da schwimmt jemand im Wasser!«

Alles andere nahm Hakon in seiner Benommenheit nur noch undeutlich wahr. Der laute Befehl des Jarls, mit den Rudern gegenzusteuern, die kräftigen Arme des Steuermannes, der ihn an Bord hievte, die groß gewachsene Frau an einem der Ruder, die Männer, die ihn in den Frachtraum der Knorr trugen, ihn auszogen, abtrockneten, ihm eine Hose, ein Arbeitswams und Schuhe anzogen und auf ein Bärenfell legten. Um ihn herum waren Kisten, Fässer und Säcke unter einer Tierhaut gestapelt, und es roch nach Honig, Teer und Gewürzen. Das Schnauben einiger Pferde war zu hören. Das hübsche Gesicht eines Mädchens erschien über ihm, und zarte Hände rieben sein entzündetes Gesicht mit schmerzlinderndem Fett und feuchten Kräutern ein.

»Ich bin Astrid«, hörte er sie sagen. Ihre Stimme war hell und klang wie aus weiter Ferne zu ihm. Er öffnete die Augen, begegnete für wenige Augenblicke ihrem schüchternen Lächeln und schloss sie wieder. »Du bist nur erschöpft. Bis wir die Schafsinseln erreicht haben, geht es dir wieder besser.«

Die Schafsinseln, dachte er benommen, auf halbem Wege zwischen Britannien und dem heimatlichen Eisland gelegen. Weit genug von Ivar entfernt, der ihn wahrscheinlich töten würde. Auf den Schafsinseln könnte er ein neues Leben beginnen, wenn es noch Land gab.

Wie durch einen Schleier nahm er wahr, dass einige Männer ein rot-weiß gestreiftes Segeltuch über den Frachtraum spannten und zu beiden Seiten an der Reling befestigten. Er befand sich auf einem Frachtschiff, auf dem es bloß wenige Ruderer gab. Sie traten nur in Aktion, wenn sie auf kleinstem Raum manövrieren mussten, in einem Hafen oder als sie ihn aus dem Wasser gefischt hatten. Während der Fahrt hielten sich die meisten Ruderer und Passagiere im Frachtraum auf. Sie verließen sich auf das große Segel, das sie sicher durch fast jedes Wetter brachte.

»Trink, mein Freund«, sagte das Mädchen und hielt ihm einen Becher mit frischem Wasser an den Mund. Er trank vorsichtig. »Wie ist dein Name?«

Seine Stimme versagte. Wieder kam nur ein heiseres Krächzen aus seinem Mund, und er brachte lediglich ein Lächeln zustande, das gleich wieder verschwand. Sein Körper entspannte sich und er versank in einen tiefen Schlaf.

Hakon spürte nicht, wie Astrid ein weiteres Bärenfell über ihn legte und ihre Hände länger als nötig auf seinem Körper ruhen ließ. Er war längst in einen Traum geflüchtet: An Bord eines Schiffes glitt er über einen breiten Fluss in ein Sumpfgebiet. In welchem Land er sich befand, wusste er nicht. Das Wasser war spiegelglatt und fast schwarz, die wenigen Bäume ragten wie dunkle Skelette daraus empor. Es roch nach vermodertem Holz. Vereinzelte Blumen leuchteten in der düsteren Umgebung. Der Himmel war so schwarz wie das Wasser im Sumpf, und das einzige Licht kam vom Mond und den Sternen.

Auch im Traum brachte er keinen Ton hervor, nicht mal ein Krächzen. Er stand am Vordersteven seines Schiffes, den forschenden Blick in die Ferne gerichtet, als könnte er die Dunkelheit zwischen den Bäumen durchdringen. Er suchte verzweifelt nach der jungen Frau, die ihm in dem Buch des Mönchs begegnet war, die sein ganzes Leben verändert hatte. Würde er sie auch ohne das magische Buch finden?

Hakon wachte plötzlich auf und blickte in die Dunkelheit. Er brauchte einige Zeit, um sich daran zu erinnern, wo er war. Sie befanden sich immer noch auf offener See. Heftiger Südwestwind fegte über das Meer und schüttelte die Knorr durch. Wie alle Frachtschiffe war auch dieses breiter und stabiler als ein leichtes Kriegsschiff und besser gegen raues Wetter geschützt, doch viel schlimmer durfte das Unwetter nicht werden. Wenn die Knorr mit voller Fahrt in ein Wellental rauschte und gleich darauf auf den Kamm der nächsten Welle getragen wurde, knarrten alle Planken und Spanten, und das Segel aus doppelt gewirkter Baumwolle schlug laut klatschend gegen den Mast.

Hakon hob vorsichtig den Kopf, erkannte die ängstlichen Gesichter einiger Frauen und Kinder, die geduckt unter der Plane saßen, und sank stöhnend auf sein Lager zurück, als heftiger Schmerz gegen seine Schläfen hämmerte. Anscheinend war er im Wasser, ohne dass er es in seiner heftigen Umnebelung gespürt hatte, mit dem Kopf gegen Treibholz gestoßen.

Nur verschwommen nahm er das Mädchen wahr, eine junge Schönheit mit lockigem Haar, das sich lächelnd über ihn beugte und ihn im flackernden Schein einer Öllampe verarztete. Mit ihren weichen Händen legte sie erneut feuchte Kräuter auf eine Beule an seinem Kopf. Sie konnte höchstens fünfzehn Winter gesehen haben, dachte er, sie war fast noch ein Kind. Dann schloss er die Augen und wurde von dem strömenden Regen, der unablässig auf die schützende Plane trommelte, wieder in den Schlaf gewiegt.

Diesmal träumte er von seinen Eltern, einfachen Bauern, die als Freie auf dem Land von Ivar lebten und entscheidenden Anteil daran hatten, dass die Rinder und Schafe auf dessen Hof an der Westküste von Eisland so gut gediehen. Freie Leute wie alle seine Vorfahren. Er sah seinen Vater, einen schlanken Mann mit strohgelbem Bart, aus dem Haus treten und Ivar beschimpfen, der ein Schwert mit funkelnder Klinge in beiden Händen hielt. »Wie kannst du es wagen, meinen Sohn zu töten, ohne ihn vor das Thing zu bringen?«, fuhr er ihn an. »Nicht du gebietest über Leben und Tod. Die Stimmen aller freien Männer entscheiden.«

Ivar antwortete nicht, verriet mit keiner Miene, was er von den Worten seines Bruders hielt. Stattdessen schwang er sein riesiges Schwert mit beiden Händen und schlug ihm den Kopf ab. »Hier hast du meine Antwort!«, rief er höhnisch. Und als Hakons Mutter aus dem Haus gestürzt kam und sich weinend über ihren Mann warf, tötete er auch sie.

Hakon schreckte aus seinem Traum hoch und blickte erneut in das Gesicht des jungen Mädchens, spürte gleich darauf einen feuchten Lappen, mit dem es ihm das schweißnasse Gesicht abwusch. Er beruhigte sich und blinzelte in die Sonne, die inzwischen aus ihrem Versteck jenseits der Erde hervorgekrochen war und einen Platz zwischen den Wolken gefunden hatte. Es hatte aufgehört zu regnen und versprach ein ruhiger Tag zu werden. Die Plane, die während des Unwetters den Frachtraum geschützt hatte, lag zusammengefaltet auf dem Boden. Das Segel bewegte sich unter einer leichten Brise.

»Du hast uns schönes Wetter gebracht«, erklang eine dunkle Stimme. Ein Schatten schob sich vor die Sonne und er sah sich einem furchterregenden Krieger mit gewaltigem Brustkorb gegenüber. Er hatte das lange Haar zu zwei Zöpfen gebunden und trug eine schwarze Klappe über dem linken Auge. Die kunstvollen Stickereien auf seinem Gewand wiesen ihn als wohlhabenden Mann aus. »Ich bin Kolfinn, der Jarl der Schafsinseln.«

»Ich bin Hakon, der Sohn des Knut aus Eisland.« Er wollte sich erheben, um dem Jarl seine Ehrerbietung zu beweisen, war aber noch zu schwach und sank seufzend auf sein Lager zurück. »Verzeih, aber ich war lange im Wasser und brauche noch einige Zeit, bis ich wieder wie ein Mann stehen kann.«

Kolfinn reagierte mit einer abwehrenden Handbewegung. »Was hat dich in diese missliche Lage gebracht, Hakon?«, fragte er.

Hakon überlegte, was er dem Jarl antworten sollte. Wenn er ihm die Wahrheit sagte, sah Kolfinn seine Strafe vielleicht als verbindlich an und ließ ihn wieder auf dem Meer aussetzen. »Man hat mich verbannt«, sagte er schließlich. Die Verbannung war die Strafe für einen Mord oder ein schweres Verbrechen. Der Bestrafte musste sich verpflichten, in eine andere Siedlung zu ziehen und nie wieder in seine Heimat zurückzukehren. Er bemerkte das misstrauische Aufblitzen in den Augen von Kolfinn und fügte rasch hinzu: »Ich habe keinen Mord begangen. Ich war bei den Männern, die ein Kloster der Christen überfallen haben, und habe meinem Jarl widersprochen.« Das war so nahe an der Wahrheit, wie es nur ging. »Er hat mich ins Meer geworfen.«

Kolfinn blickte auf ihn herab, zuerst misstrauisch, dann spöttisch, bis er laut loslachte und sich mit beiden Händen den Bauch hielt. Die Männer, die in seiner Nähe standen, blickten ihn erstaunt an. »Man hat dich ins Meer geworfen?«, rief er, immer noch lachend. »Was, zum Henker, hat man sich dabei gedacht? Wollte man dich umbringen, nur weil du vorlaut warst?« Er erwartete anscheinend keine Antwort auf seine Frage. »Wie heißt der Jarl?«

»Ivar«, antwortete Hakon wahrheitsgemäß.

»Ivar«, wiederholte Kolfinn und griff sich an den zottigen Bart. »Von dem habe ich schon gehört. Ein unangenehmer Bursche, habe ich mir sagen lassen. Du musst ziemlich tapfer sein, wenn du einem Mann wie ihm widersprichst.«

»Im Kloster habe ich viele Männer getötet.«

»Und woher hattest du die Kiste, an der du dich festgehalten hast?«

»Von Gunnar, meinem Rudernachbarn.«

»Dann hattest du einen guten Freund«, erwiderte Kolfinn zufrieden. Er betrachtete Hakon eine Weile und nickte dann. »Du kannst bei uns bleiben, Hakon. Du wirst in meinem Haus wohnen. Gunnhild kümmert sich um dich.«

»Ich danke dir, mein Jarl«, erwiderte Hakon dankbar.

Kapitel 4

Hakon blickte zu Astrid empor und wollte ihr gerade sagen, wie sehr er sich darüber freute, von ihr gepflegt zu werden, als kräftige Arme das junge Mädchen ergriffen und unsanft gegen die Reling schleuderten. Sie schrie vor Schmerz auf und blieb mit verzerrtem Gesicht liegen. »Aus dem Weg!«, fuhr eine dunkle Frauenstimme sie an. »Jetzt kümmere ich mich um Hakon!«

Eine Frau beugte sich zu ihm herunter. Sie trug Männerkleidung und unterschied sich lediglich durch ihre ausgeprägten weiblichen Formen von den anderen Ruderern. Ihre Muskeln waren kräftig, die Hände größer als bei jeder anderen Frau, die Hakon gesehen hatte, und in ihren hellen Augen stand eine Entschlossenheit, wie man sie nur bei wenigen Kriegern sah. Auf ihren Wangen waren Sommersprossen. Ihr Haar war zu zwei langen Zöpfen geflochten.

»Ich bin Gunnhild«, eröffnete sie ihm, »Kolfinns Tochter.«

Hakon war unwillkürlich zurückgewichen und zuckte zusammen, als sie neben ihm in die Hocke ging und mit einer Hand sachte über seinen Kopf strich. »Nur eine Schramme«, sagte sie. »Aber du warst lange im Wasser und bist noch schwach. Zu Hause werde ich dir ein warmes Lager bereiten.«

»Es geht schon wieder«, widersprach er vorsichtig. Die Vorstellung, einige Tage in der Obhut dieser Frau zu verbringen, behagte ihm nicht.

»Du wirst tun, was ich dir sage.« Es klang wie ein Befehl. »Erst wenn du im Vollbesitz deiner Kräfte bist, darfst du dich erheben.« Sie schob eine Hand unter sein Wams und berührte seine nackte Brust. Ein Lächeln machte ihre harten Augen sanfter. »In der Zwischenzeit werde ich dir schönere Kleidung besorgen. Obwohl ich nicht glaube, dass du sie brauchen wirst, wenn ich zu dir unter das Fell krieche.« Die letzten Worte hatte sie in sein Ohr geflüstert. »Magst du mich, tapferer Krieger?«

»Ob ich dich mag?« Er spürte, wie ihre kühle Hand über seinen nackten Bauch wanderte, und presste rasch seinen Unterarm auf das Bärenfell. »Ich habe dich doch eben erst kennengelernt. Du bist eine ... eine starke Frau.«

Er atmete erleichtert auf, als sie ihre Hand unter dem Bärenfell hervorzog. »Ich weiß.« Sie schien sich über ihn lustig zu machen. »Ich bin keines dieser unterernährten Mädchen, die glauben, einen Mann mit einem schüchternen Lächeln und sanften Händen herumkriegen zu können.« Sie blickte auf die junge Astrid, um deutlich zu machen, wen sie damit meinte. »Ein Krieger braucht eine ganze Frau. Ist es nicht so, mein Freund?«

Hakon hütete sich zu widersprechen. Gunnhild schien nicht zu den Frauen zu gehören, die Widerrede tatenlos hinnehmen würden, und er war im Augenblick nicht in der Lage, sich mit ihr anzulegen. Der prüfende Blick ihres Vaters, der am Achtersteven stand und ihn mit seinem gesunden Auge beobachtete, tat ein Übriges. »Natürlich«, antwortete er. Aus den Augenwinkeln bemerkte er Astrids traurige Miene. »Natürlich, Gunnhild.«

Sie lächelte zufrieden und zeigte ihre perlweißen Zähne. »Du gefällst mir, Hakon«, sagte sie. »Wenn du wieder gesund bist, werden wir viel Spaß miteinander haben.« Sie leckte sich mit der Zunge über die Unterlippe. »Du warst auf einem Kriegszug, nicht wahr? Hast du viele Pfaffen getötet?«

»Viele Männer«, berichtete er wahrheitsgemäß, »nicht nur Pfaffen. Aber es machte keinen Spaß, sie zu töten. Sie hatten nur wenige Waffen und wehrten sich kaum. Wahre Krieger kämpfen lieber gegen Feinde, die sich wehren.«

»So spricht ein ganzer Mann!«, erwiderte Gunnhild zufrieden. »Auf den Schafsinseln wirst du Gelegenheit bekommen, gegen einen solchen Mann zu kämpfen, das verspreche ich dir. Ich bin sehr gespannt auf diesen Kampf.«

Hakon hatte keine Ahnung, was sie damit meinte, und bekam keine Gelegenheit, danach zu fragen. »An die Ruder!«, schallte der Befehl des Jarls über Deck, »unser Ziel ist nahe. Nehmt eure Plätze ein, ihr Faulpelze!«

Damit war auch seine Tochter gemeint. Gunnhild nahm es mit einem Grinsen zur Kenntnis und verpasste Hakon einen freundschaftlichen Fausthieb auf die Brust, bevor sie sich aufrichtete und ihren Ruderplatz einnahm. Er konnte sie von seinem Lager aus sehen, bemerkte nicht ohne Bewunderung, wie geschickt sie das Ruder durchs Wasser zog. Ihre Zöpfe wippten bei jeder Bewegung. Jeden ihrer Ruderschläge begleitete sie mit einem lauten Stöhnen.

Hakon stemmte sich auf den linken Unterarm und verharrte eine Weile in dieser Stellung, bis das Brummen in seinem Schädel nachließ. Die Stunden im Meer hatten ihm mehr zugesetzt, als er sich eingestehen wollte. Dann richtete er sich in eine sitzende Stellung auf. Er sah, wie Astrid aufsprang, um ihm zu Hilfe zu eilen, und sich rasch wieder setzte, als sie den strafenden Blick von Gunnhild bemerkte. Hakon wich ihrem Blick aus.

In einiger Entfernung waren bereits die Schafsinseln zu sehen. Die Sonne war hinter Wolken verschwunden und fahles Licht hing über der zerklüfteten Küste. Schroffe dunkle Felsen erhoben sich aus dem bleifarbenen Meer, dazwischen erstreckten sich sattgrüne Wiesen, ähnlich wie in seiner eisländischen Heimat. In dunklen Felslöchern nisteten ganze Vogelschwärme, auf den Wiesen weideten Schafe bis dicht an die Klippen heran. Die Brandung brach sich schäumend an den Felsen und war bis aufs Schiff zu hören.

Kolfinns Siedlung lag oberhalb eines schmalen Fjords, der weit in eine der versprengten Felseninseln hineinreichte. Es erforderte viel Geschick, die Knorr zur Anlegestelle zu steuern. Schon aus einiger Entfernung waren die Willkommensrufe der Bewohner zu hören, die das Schiff von den Felsen gesichtet hatten und zur Bucht heruntergestiegen waren. Einige winkten. In respektvoller Entfernung warteten die Sklaven in ihren einfachen Kleidern.

Sie machten an einem Steg aus aufgeschichteten Felsen fest. Einige Sklaven vertäuten das Schiff und legten Bretter auf die Reling, um den Passagieren das Anlandgehen zu erleichtern. Kolfinn ging als Erster von Bord, sein Schwert und den Schild, der mit einem roten Raben verziert war, in der rechten Hand.

Gunnhild wandte sich an einige Sklaven. »Ihr da!«, rief sie mit ihrer lauten und dunklen Stimme. »Tragt den Mann in unser Haus! Er gehört zu unserer Familie.« Sie deutete auf Hakon, der aus eigener Kraft aufgestanden war, sich aber am Mast festhalten musste, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

»Ich kann allein laufen«, widersprach er.

»Tragt ihn! Er ist noch schwach.«

Hakon erkannte, dass gegen die befehlsgewohnte Gunnhild nicht anzukommen war, und setzte sich widerwillig auf das Brett, das die Sklaven brachten. Wie einen Schwerverwundeten trugen sie ihn den schmalen Pfad zum Hof hinauf. Im Vorbeigehen glaubte er ein spöttisches Funkeln in den Augen von Kolfinn zu erkennen. Einige Männer und Frauen wandten sich ab und grinsten. Sie achteten darauf, dass Gunnhild sie nicht sah. Anscheinend hatten sie unangenehme Erfahrungen mit der starken Tochter des Jarls gemacht.

Auf den Klippen angekommen zogen sie zwischen blökenden Schafen hindurch zum Hof. Die Schafe hatten die gleiche dicke Wolle wie auf Eisland. Hunde kamen ihn entgegengerannt und bellten aufgeregt. Scharfe Stimmen riefen sie zurück. Einige Kinder, die zwischen den Häusern gespielt hatten, begrüßten stürmisch ihre Verwandten und ließen sich von ihnen auf die mitgebrachten Pferde heben. Auf einer Klippe stieß ein Hirte in sein langes Horn, ließ auch den letzten wissen, dass Kolfinn zurückgekehrt war.

Entlang der niedrigen Mauer, die eine der Pferdekoppeln begrenzte, trugen ihn die Sklaven zum Langhaus. Wie alle Häuser auf den Schafsinseln war es aus Steinen erbaut. Die Dächer waren aus dicken Grassoden gefertigt und reichten fast bis auf den Boden herab, um das Haus vor den eisigen Wind den zu schützen. Es gab keine Bäume auf den Schafsinseln, das einzige Holz musste mit Schiffen aus der alten Heimat geholt oder als Treibholz gesammelt werden.

Wie grüne Buckel erhoben sich die Häuser aus dem Weideland, das große Langhaus, die Ställe, Scheunen, Lagerhäuser und die einfachen Hütten der Sklaven. Die Häuser der freien Bauern lagen in den umliegenden Schluchten verstreut. Ein paar Papageientaucher kamen von der Küste hochgeflogen und ließen sich auf einer Mauer nieder. Ihre orangefarbenen Schnäbel leuchteten im trüben Licht. Die Luft roch nach frischem Gras und Schafsdung.

Im Haus dirigierte Gunnhild die Sklaven zu einer der Plattformen im hinteren Teil. Sie befahl ihnen, einige Bärenfelle auf dem Holz auszubreiten und Hakon daraufzulegen. »Und jetzt verschwindet!«, herrschte sie die Männer an. »Ihr habt genug zu tun, also steht hier nicht dumm rum. Weg mit euch!«

Obwohl Hakon merkte, dass er noch immer geschwächt war, kam er sich reichlich albern vor. In Eisland hätte man selbst von einem erschöpften Krieger erwartet, dass er allein den Pfad zum Hof emporstieg. Er vermutete, dass es auf den Schafsinseln nicht anders war, aber die Tochter des Jarls ihm ihre Macht und ihre Zuneigung demonstrieren wollte. »Ich lasse dir etwas zu essen bringen«, sagte sie, nachdem die Sklaven verschwunden waren. »Du bist sicher hungrig.«

Er versuchte erst gar nicht, ihr zu widersprechen. Neugierig blickte er sich in dem Langhaus um. Es war ähnlich eingerichtet wie die Häuser in Eisland, nur etwas kleiner. Wegen des kalten Klimas gab es keine Fenster, nur in das Giebeldach waren einige Windlöcher eingelassen, damit der Rauch abziehen konnte. In dem Kupferkessel über der Feuerstelle aus aufgeschichteten Steinen rührte eine Magd, eine zweite schob eine Eisenpfanne mit einem frisch geformten Brotlaib über den brennenden Torf. An den beiden Längswänden zogen sich mit Fellen bedeckte Lehmbänke entlang, die den Bewohnern zum Essen, Ausruhen oder Schlafen dienten. Auf der anderen Seite des Feuers stand eine Frau am Webstuhl und fertigte eine lange Stoffbahn. In eisernen Schalen brannten Öllichter, warfen gespenstische Schatten.

Kolfinn umarmte die Frau am Webstuhl, eine ähnlich stämmige Frau wie Gunnhild. Ihre Haare waren zu einem Kranz geflochten. Zusammen mit ihr trat er an Hakons Lager. »Hakon wird bei uns wohnen. Gunnhild soll sich um ihn kümmern.« Er blickte Hakon an: »Das ist Helga, meine Frau.«

»Gunnhild?«, wiederholte Helga und lächelte dabei.

»Ich danke euch, dass ihr mich aufgenommen habt«, sagte Hakon höflich.

Allmählich ahnte er, warum Kolfinn ihn so bereitwillig in sein Haus gebeten hatte. Es waren weniger seine Großmut oder seine Gastfreundschaft, sondern der Wunsch, Gunnhild mit ihm zu vermählen. Aus irgendeinem Grund glaubten sie, dass er für sie bestimmt war. Er unterdrückte nur mühsam ein Stöhnen. Er empfand nichts für die stattliche Gunnhild und konnte sich nicht vorstellen, jemals mit ihr das Lager zu teilen. Seit das Bild der jungen Frau aus dem Buch durch seine Gedanken spukte, gab es überhaupt keine andere Frau mehr für ihn. Selbst eine Schönheit wie Astrid konnte ihn nicht bezaubern. Seit er das Bild gesehen hatte, fühlte er sich auf seltsame Weise mit der anmutigen Frau verbunden.

»Bring eine Schüssel mit Robbenfleisch!«, rief Gunnhild der Magd am Feuer zu. »Und du«, trug sie einer anderen auf, »bring ein Horn mit Met!«

Die Mägde gehorchten und brachten das Gewünschte. Hakon merkte erst jetzt, wie hungrig er war, und schlang das Fleisch gierig in sich hinein. Gunnhild saß dicht neben ihm.

Während Hakon aß und trank und für einen Augenblick seine missliche Lage vergaß, setzte Kolfinn sich auf seinen Hochsitz und ließ ebenfalls etwas zu essen und zu trinken bringen. Seine Frau blieb an seiner Seite, saß auf dem mit Leinen bespannten Hocker neben ihm, und sah ihm lächelnd beim Essen zu. Ihre erwartungsvolle Miene verriet Hakon, dass sie und ihr Mann noch andere Pläne für den Nachmittag hatten. Während Kolfinn trank, zog er sie ungeniert zu sich heran und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Jedes Mal, wenn er etwas gesagt hatte, lachte er anschließend dröhnend.

Gunnhild schob eine Hand unter die Bärenfelle und drückte sanft Hakons Oberschenkel. Das flackernde Feuer einer Öllampe warf orangefarbene Flecken auf ihr Gesicht und spiegelte sich in ihren Augen. Man sah ihr an, welche unsittlichen Gedanken sie hegte. Ihr Grinsen wirkte anzüglich, als wollte sie sagen: Werde schnell gesund, Liebster! Ich habe einiges mit dir vor.

Er nahm einen Schluck von dem heißen Met und verschluckte sich fast. Der Honigwein war stärker als alles, was er bisher getrunken hatte. Er schüttelte sich wie ein nasser Hund und sagte: »Bei Thor, ihr trinkt starkes Zeug!«

Gunnhild grinste nur, nahm ihm das Horn ab und leerte es in einem Zug. Ihr schien das nichts auszumachen. Sie wischte sich den Mund ab, rülpste ungeniert und warf das Horn einer der Mägde zu. Als die Sklavin es zwar auffing, aber gleich darauf fallen ließ, schimpfte Gunnhild lauthals.

Die Tür ging auf und ein Mann betrat das Langhaus. Er trug ein Kettenhemd wie ein wohlhabender Krieger und hatte sein Schwert umgebunden. Seine rotblonden Haare standen wie Wolle nach allen Seiten ab.

Er kam langsam näher, verbeugte sich ehrfurchtsvoll vor dem Jarl und seiner Frau und wandte sich mit mühsam verhaltenem Zorn an Gunnhild: »Ich habe auf dich gewartet, meine Liebe! Warum bist du nicht gekommen?«

Gunnhild lachte höhnisch. »Seit wann laufe ich den Männern nach? Da hätte ich viel zu tun.« Sie legte eine Hand auf das Bärenfell, das Hakon bedeckte, wohl nur, um den anderen Mann zu reizen. Ihre spöttische Miene zeigte, was sie von ihm hielt. »Warum kommst du nicht zu mir, wenn du was von mir willst?«

»Nun, hier bin ich!«, erwiderte der Krieger. »Wer ist dieser Kerl?«

»Ich bin Hakon von Eisland.«

»Und warum bleibst du dann nicht in Eisland?«, kam die Gegenfrage. »Ich bin Folkmar von den Schafsinseln und werde diese Frau heiraten, sobald ich mit reicher Beute beladen von meinem nächsten Kriegszug zurückkehre.«

»Wer sagt das?«, fragte sie.

»Aber ... du hast doch selbst ...«, begann er verstört.

»Ich habe gesagt, dass ich nur einen Mann heiraten werde, der stark und mutig genug ist, um es mit den Dämonen von Hel aufzunehmen«, erwiderte sie. »Du hast einige Männer getötet, das ist wahr, aber warst du an fremden Küsten wie dieser Mann? Hast du die bösen Mächte des Meeres besiegt? Leuchtet der Glanz eines Gottes in deinen Augen? Bist du meiner wert, Folkmar?«

Folkmar schoss das Blut ins Gesicht. Wutentbrannt zog er sein Schwert und ging damit auf Hakon los. »Ich werde dir zeigen, wozu ich fähig bin! Steh auf und kämpfe mit mir, Hakon! Oder bist du zu feige?«

Gunnhild sprang auf und stellte sich ihm in den Weg. »Noch nicht, Folkmar! Hakon ist schwach und muss sich erst erholen. Ich würde niemals einen Mann nehmen, der einen kranken Gegner besiegt hat. Warte ein paar Tage, bis Hakon wieder gesund ist. Dann wird er bereit sein, deine Herausforderung anzunehmen. Ist es nicht so, Hakon?« Sie drehte sich zu Hakon um, schien große Freude daran zu haben, ihn gegen einen anderen Verehrer auszuspielen.

»Warum sollte ich gegen ihn kämpfen, Gunnhild?«

»Weil ich es so will, Hakon. Und weil er dir sonst für den Rest deines Lebens auflauern wird. Der Mann, der mich heiraten wird, darf keinen seiner Feinde verschonen. Du wirst ihn die Klinge deines Schwerts spüren lassen!«

»Und wenn ich ihn besiege?«, fragte Folkmar herausfordernd.

»Dann werde ich mit dir bis ans Ende der Welt gehen«, versprach sie. »Aber es wird nicht geschehen. Odin hat diesen Mann ins Meer gestoßen, damit er mich erobert. Nur er ist stark genug, um an meiner Seite zu bestehen.«

»Ha!«, erwiderte Folkmar höhnisch. Er steckte sein Schwert zurück. »Soll er nur kommen, der Angeber. Komm auf die Klippen, sobald du gesund bist, Hakon von Eisland, und schmecke dein Blut! Ich werde dich zermalmen und das, was von dir übrig ist, zu den Fischen ins Meer werfen!«

»Genug!«, schaltete sich Kolfinn ein. Er erhob sich von seinem Hochsitz und trat vor Folkmar. »Hör auf, meinen Gast zu beschimpfen, und verlasse dieses Haus! Du hast gehört, was meine Tochter gesagt hat. Geh, Folkmar!«

Folkmar ging wütend zur Tür, drehte sich noch einmal um und rief: »Ich warte auf den Klippen auf dich. Sobald du gesund bist, schicke ich dich in die eisigen und dunklen Abgründe der Totengöttin Hel!«

Hakon blickte ihm mit gemischten Gefühlen nach. Seinetwegen konnte Folkmar die stämmige Gunnhild zur Frau nehmen, er selbst hatte kein Interesse an ihr. Aber er brauchte der Tochter des Jarls nur in die Augen zu blicken, um zu wissen, dass er keine Wahl hatte. Wenn er am Leben bleiben wollte, musste er ihren Verehrer besiegen. Das war auch die Meinung des Jarls, der ihm freundschaftlich eine Hand auf die Schultern legte, bevor er zu seinem Hochsitz zurückkehrte und sich von seiner Frau den Met reichen ließ. Er glaubte, dass Odin den jungen Mann geschickt hatte, um seine Tochter zu ehelichen.

Gunnhild ließ eine weitere Schüssel mit Robbenfleisch bringen und reichte sie Hakon. »Iss, Liebster«, forderte sie ihn auf. »In ein paar Tagen, wenn du bei Kräften bist, will ich sehen, ob du der Mann bist, für den ich dich halte!«

Hakon griff nach der Schüssel und nickte schweigend.

Kapitel 5

Auch nachts war Hakon nicht allein. Nicht Gunnhild teilte das Lager mit ihm, sondern die namenlose Frau, die sein ganzes Denken und Handeln bestimmte, seit er in das geheimnisvolle Buch geblickt hatte. Selbst im Halbschlaf glaubte er ihr sanftes Lächeln und ihre anmutigen Bewegungen zu sehen.

Hakon war fest davon überzeugt, dass es sie gab. Der Mönch, der das Buch verfasst hatte, musste ihr in einem fernen Land begegnet sein. So dunkelhäutig wie sie waren nur Menschen, die jenseits des Meeres lebten, im fernen Süden, wo die Araber zu Hause waren, oder an einem anderen Ort, der nahe am Rand der Welt lag.

Er blickte auf Gunnhild. Sie lächelte im Schlaf wie eine Frau, die ihrer Sache vollkommen sicher war und fest daran glaubte, dass er bald das Lager mit ihr teilen würde. Noch im letzten Sommer hätte er gar nicht den Mut gehabt, sich den Wünschen eines Jarls zu widersetzen, damals hätte er sie vielleicht geheiratet und wäre mit ihr gemeinsam auf Raubzüge gegangen. Sie war bestimmt keine gewöhnliche Frau, die einem Mann den Haushalt führte und viele Kinder gebar.

Doch die Götter wollten es anders. Sie hatten ihn mit dem Bild einer wunderschönen Frau verzaubert. Sie warteten darauf, dass er sich auf die Suche nach ihr machte. Aber wo war das Buch, das ihm den Weg zeigen würde? Wieder kam ein Seufzen über seine Lippen. Ivar hatte es sicher längst verkauft. An einen Händler, der überall zwischen den Schafsinseln und dem fernen Córdoba sein konnte. An einen Christen, der es im Gewölbe einer ihrer vielen Kirchen verschließen würde.

Er schlief kaum in dieser Nacht und fühlte sich wie gerädert, als er am frühen Morgen erwachte. Durch die Windlöcher im Dach fiel noch kein Licht. Im unruhigen Schein der beiden Öllampen, die auch nachts brannten, erkannte er die in Felle und Decken gehüllten schlafenden Bewohner, alles Verwandte von Kolfinn, der mit seiner Frau in einem breiten und mit zahlreichen Schnitzereien verzierten Bett neben dem Hochsitz schlief. Sein Schnarchen drang durch den ganzen Raum, schien aber niemand zu stören. Nur eines der Kinder war schon wach und krabbelte über den warmen Lehmboden beim Feuer. Seine Mutter öffnete gähnend die Augen und zog es unter die Felle zurück.

Neben ihm erwachte Gunnhild. Aus den Augenwinkeln beobachtete er, wie sie aufstand, in ihre Schuhe schlüpfte und sich einen Umhang aus Schaffell überwarf. Er schloss rasch die Augen, als sie zu ihm herüberblickte. Als er sie vorsichtig wieder öffnete, verließ sie gerade das Haus. Sie ließ die Tür offen stehen und er hörte sie rufen: »Steht auf, ihr faulen Hunde! Zieht eure Lumpen an und geht an die Arbeit! Oder muss ich euch aus den Fellen prügeln?«

Er nahm an, dass sie die Sklaven weckte und nicht zögern würde, zur Peitsche zu greifen, wenn sie nicht gehorchten. Mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen kehrte sie ins Haus zurück. Er ahnte, dass es keinen Zweck hatte, sich schlafend zu stellen, und blickte ihr entgegen. »Ich grüße dich, Gunnhild«, sagte er. »Du bist früh auf. Alle anderen schlafen noch.«

»Du nicht«, erwiderte sie. »Komm mit!«

»Wohin? Ich habe kaum etwas anzuziehen.«

»Komm mit!« Sie griff nach einem prall gefüllten Beutel und hielt ihm die freie Hand hin. »Was ist? Hast du etwa Angst vor dem kalten Morgenwind?«

»Unsinn! In Eisland ist es genauso kalt.«

Sie lächelte immer noch. »Das war nur ein Scherz, Hakon! Komm jetzt!«

Er ließ sich widerwillig von seinem Lager hochziehen und hätte sich am liebsten in ein Fell gehüllt, so sehr schämte er sich für die einfache Kleidung, die man ihm auf dem Schiff gegeben hatte. Hinter ihm war das Schnarchen verstummt, doch er wagte nicht sich umzudrehen.

»Du bist wieder gesund«, stellte Gunnhild erfreut fest. Sie ließ seine Hand los. »Das ging schneller, als ich dachte. Komm, ich will dir etwas zeigen.«

Mit gemischten Gefühlen folgte er der Tochter des Jarls aus dem Haus. Im Feuerschein sah er, dass sie meisten Bewohner aufgewacht waren und sie neugierig beobachteten. Die vielen Augen, die er plötzlich auf sich gerichtet sah, ließen ihn erröten. Erwartete die Sippe, dass er sich gegen Gunnhild auflehnte? Ihr zeigte, wie ein erwachsener Krieger mit einer Frau umsprang, die versuchte, ihn wie einen Sklaven herumzuscheuchen? Aber was blieb ihm anderes übrig? Wenn er sich mit Gunnhild anlegte, ließ Kolfinn ihn umbringen oder ins Meer werfen.

Die Tochter des Jarls führte ihn an der Steinmauer entlang vom Hof weg. Im Osten kündigte ein heller Streifen bereits den Tag an. Vor den Sklavenhütten brannten Fackeln, und einige spärlich bekleidete Frauen verbeugten sich unterwürfig vor ihnen und beeilten sich, zum Langhaus zu kommen. Auf den Weiden im Süden blökten Schafe. Frischer Wind trieb Nebelfetzen über die feuchten Wiesen und gegen die Felsen, die dunkel und unheimlich aus dem Dunst ragten.

Über einen Pfad, der sich über die grasbewachsenen Hügel im Osten wand, führte Gunnhild ihn in ein schmales Tal, das zwischen den hoch aufragenden Felsen tief eingeschnitten war. Einige Pferde, die dort weideten, hoben neugierig die Köpfe. Der Wind verfing sich in den dunklen Höhlen, die wie leere Augen in den Felsen klafften, und sang ein trauriges Lied.

Am Rand einer Klippe, die so plötzlich nach unten abfiel, dass er beinahe in die Tiefe gestürzt wäre, hielt Gunnhild an. Sie grinste spöttisch, als sie sah, wie er mühsam das Gleichgewicht hielt. Ungefähr zwanzig Schritte unter ihnen leuchtete ein grüner See. Wie ein Juwel lag er zwischen den schwarzen Felsen. Ein schmaler Pfad führte in zahlreichen Windungen zum Ufer hinab.

»Zieh dich aus!«, befahl sie.

»Was soll ich?« Er blickte sie ungläubig an.

»Leg deine Kleider ab! Alle!«

Hakon gehorchte zögernd. Er streifte das Wams ab, zögerte lange, bevor er die Hosen nach unten zog und sich vollkommen entblößte, und ließ die Sachen ins Gras fallen. Mit beiden Händen bedeckte er den Teil seines Körpers, den bisher nur seine Mutter und einige Sklavinnen gesehen hatten.

Sie lächelte. »Und jetzt spring!«

»Ich soll ... was?«

»Du sollst springen. Du hast doch keine Angst?«

Nein, er hatte keine Angst. In seiner Heimat war er schon von höheren Klippen gesprungen, besonders als Junge, wenn sie an der Küste gespielt und sich kopfüber ins Meer gestürzt hatten. Er war ein guter Schwimmer, so wie alle Nordmänner, die an der Küste lebten und das Meer ihre Heimat nannten.

»Ich stinke wohl«, sagte er amüsiert.

»Wie ein Walross«, stimmte sie ihm zu.

Hakon beschloss, sich auf ihr Spiel einzulassen. Er war wieder bei Kräften, und sein Kopf dröhnte kaum noch. Mit einem eleganten Hechtsprung segelte er von der Klippe hinab. Das eiskalte Wasser brachte seinen Herzschlag zum Stocken und raubte ihm fast den Atem, als hätte Ymir, der eisige Riese, in den grünen Fluten auf ihn gewartet. Er tauchte bis auf den Grund des Sees hinab, berührte das dunkle Gestein und schoss nach oben. Prustend tauchte er aus dem See. Er schüttelte sich und schwamm ans Ufer, hievte sich mit beiden Händen auf das felsige Gestein. Von seinem Körper tropfte das Wasser.

Es machte ihm nichts mehr aus, dass sie seinen nackten Körper sah. »Und du?«, rief er nach oben. »Bist du zu feige, von der Klippe zu springen? Ich denke, du bist eine tapfere Kriegerin! Warum springst du nicht, Gunnhild?«

Sie fühlte sich herausgefordert. »Glaubst du wirklich, ich bin zu feige?«

»Spring, Gunnhild!«

Sie sprang tatsächlich, streifte lediglich ihr Schaffell ab und hechtete mit dem Kopf voraus in das eisige Nass. Das Wasser spritzte und sandte heftige Wellen nach allen Seiten. Lachend tauchte sie auf, kraulte mit kräftigen Armbewegungen ans Ufer. Ohne sich von ihm helfen zu lassen, kletterte sie aus dem See. Ihre Kleider troffen vor Nässe, ihre Haare, die sie vor dem Schlafengehen geöffnet hatte, klebten an ihren rosigen Wangen.

Sie blickte auf seinen Unterleib und kicherte ungeniert. »Wann ziehst du dich endlich an, Hakon?«, fragte sie. »Oben warten neue Kleider auf dich.«

Er rannte den Pfad hinauf und zog frische Unterwäsche an, eine enge Hose, wie sie seit einiger Zeit in Mode war, ein wollenes Wams und einen schmalen Gürtel. Noch bevor sie die Klippen erreicht hatte, war er angekleidet. Die Sachen passten ihm wie angegossen. Er reichte ihr das Schaffell und sagte: »Ich werde mich erkenntlich zeigen, Gunnhild.«

»Du wirst mich heiraten«, antwortete sie fröhlich.

Mit eher gemischten Gefühlen folgte er ihr ins Langhaus zurück. Sie sah komisch aus in ihrer nassen Kleidung und den triefenden Haaren, aber er hütete sich zu lachen, und auch die beiden Sklaven, die gerade aus ihrer Hütte traten, verzogen keine Miene. Gunnhild schien ihr Aussehen vollkommen egal zu sein. Sie kicherte wie ein kleines Mädchen, das im Meer gebadet und seinen Spaß gehabt hatte, als sie das Langhaus betrat und zu ihrem Lager jenseits des Feuers ging. Ohne Scham wechselte sie ihre Kleidung. Sie ordnete ihre Haare mit einem kostbaren Kamm aus Tierknochen, der mit einem feinen Streifenmuster verziert war. Wahrscheinlich ein Beutestück von einem Kriegszug an fremde Küsten.

Einer der Sklaven reichte Hakon ein Horn mit heißem Kräutertee. Er nippte vorsichtig daran. Das heiße Getränk tat gut und weckte seine Lebensgeister.

»Ich grüße dich, Kolfinn«, begrüßte er den Jarl.

Kolfinn grüßte zurück und betrachtete ihn amüsiert. »Wie ich sehe, bist du wieder bei Kräften. Du bist sauber. Du hast ein Bad genommen, nicht wahr?«

»Es gibt nichts Schöneres an einem solchen Morgen«, erwiderte er.

Kolfinn wechselte einen spöttischen Blick mit seiner Tochter, reimte sich wohl zusammen, was bei den Klippen passiert war. »Wenn die Zeit dafür gekommen ist, werde ich dir ein Schwert geben«, sagte er, »doch jetzt wäre ich dir sehr dankbar, wenn du uns bei der Arbeit helfen würdest. Wir haben Holz aus Norwegen bekommen. Bist du ein guter Zimmermann?«

Auf Eisland hatte Hakon schon einige Male beim Bau eines Schiffes geholfen. Einer seiner Vettern war ein erfahrener Zimmermann und verstand sich vorzüglich auf das Arbeiten mit Holz. Seine Kriegsschiffe gehörten zu den schnellsten des Nordens, und seine Frachtschiffe waren stabiler und tragfähiger als die Boote der Christen und Araber. Er verwendete nur bestes Eichenholz für den Kiel und die geschwungenen Steven und Tannenholz für die Planken, damit das Schiff leichter und schneller wurde. »Ich habe beim Bau von einigen Schiffen geholfen«, sagte Hakon, »mein Vetter ist Schiffsbauer.«

»Dann wirst du uns helfen«, entschied Kolfinn. »Nafni und die Männer sind bereits unten. Nafni ist unser Schiffsbauer. Er hat Werkzeuge für dich.«

»Ich werde dich nicht enttäuschen«, versprach Hakon.

Ohne noch einmal mit Gunnhild zu sprechen, stieg er über den steilen Pfad zur Küste hinab. Schon auf den Klippen hörte er das Hämmern. Er wusste inzwischen, dass es auf den Schafsinseln zu kalt für die Aussaat von Feldfrüchten war und die meisten Männer von der Vieh- und der Schafzucht lebten. Bei schönem Wetter fuhren sie in kleinen Booten aufs Meer hinaus, jagten Wale und Robben und warfen ihre Netze aus. In den Felsen kletternd stellten sie den Seevögeln nach, wie den Papageientauchern, einer besonderen Delikatesse, die er bereits früher zu schätzen gelernt hatte. So wie im abgelegenen Eisland bedeutete der Bau eine Schiffes eine willkommene Abwechslung, konnte man dieser begehrten Arbeit doch viel zu selten nachkommen, weil es so wenig Holz gab.

Die Männer hatten erst vor einigen Wochen mit dem Bau begonnen. Abseits von der Anlegestelle lag der Eichenkiel einer Knorr auf dem Boden, von Balken gestützt erhoben sich der Vorder- und der Achtersteven. Mit eisernen Nägeln befestigten einige Männer die Planken an Kiel, Bug und Heck. Ihre schweren Hämmer trieben die Nägel tief ins Holz. Die Planken waren bereits zurechtgehauen und lagen auf dem Boden gestapelt. Über einem offenen Feuer zwischen einigen Steinen kochte Teer in einem Kessel.

Nafni stand etwas abseits über ein mächtiges Eichenbrett gebeugt, ein kräftiger Mann mit schulterlangen Haaren, die von einem breiten Stirnband zusammengehalten wurden. Auch sein Wams war leuchtend rot und dick gefüttert. Er trug eine schwere Kette aus Muscheln um seinen Hals. »Ah, du musst Hakon sein«, begrüßte er den Neuankömmling.

Hakon schüttelte die Hand des Schiffsbauers und machte sich auch mit den anderen Männern bekannt. Einige hatte er schon im Langhaus gesehen, die restlichen mussten Freie aus der näheren Umgebung sein. Er deutete auf das Holzgerüst: »Das wird eine stattliche Knorr. Wie kann ich helfen, Nafni?«

»Wie wäre es, wenn du mir beim Behauen des Ruders zur Hand gehst?«, schlug Nafni vor. Er strich mit der flachen Hand über das dicke Eichenbrett und nickte zufrieden. »Du kannst mit einer Axt umgehen, nehme ich an?«

»Das will ich wohl meinen, Nafni.«

Schon nach wenigen Schlägen entlockte Hakon dem Schiffsbauer ein zufriedenes Lächeln. Er handhabte die breitschneidige Axt, als hätte er sein Leben nichts anderes getan, schlug nicht zu leicht und nicht zu fest und konnte Nafnis Anweisungen leicht folgen. Er brauchte sich nur daran zu erinnern, welchen Wert sein Vetter auf die geschwungenen Rundungen und die glatte Oberfläche des Ruderholzes gelegt hatte. Immer wieder ließ er die Klinge gezielt in das feste Holz sausen.

Er kam gut mit Nafni aus, merkte gar nicht, wie die Zeit verging. Der Schiffsbauer war ein gesprächiger Mann, erzählte von dem Kriegsschiff, das er im letzten Sommer gebaut und »Windvogel« getauft hatte, eine schnittige Skarfi mit niedriger Bordhöhe, die wie eine schnittige Möwe über das Meer glitt. Kolfinn hatte bereits mehrere Raubfahrten damit unternommen und war jedes Mal mit reicher Beute von fremden Küsten heimgekehrt. Manche sagten, es sei das schnellste Schiff des nördlichen Meeres.

»Er ist ein guter Mann, euer Jarl«, sagte Hakon.

»Ein großer Krieger«, bestätigte Nafni. »Die Leute sagen, dass sein Vater vor vielen Jahren als Schiffbrüchiger auf die Schafsinseln kam. Er besiegte einen mächtigen Krieger, der ihm die Herrschaft streitig machen wollte, und wurde zum ersten Jarl der Inseln gewählt. Kolfinn ist sein ältester Sohn.«

»Lebt der Vater noch?«

Nafni schüttelte den Kopf. »Er starb im Kampf, wie es einem großen Krieger wie ihm geziemt. Wie ich ihn kenne, sitzt er mit den tapfersten Kriegern in Walhall und lehrt die Götter, wie viel Met ein Nordmann vertragen kann.«

Hakon ließ die Axt sinken und berührte die Rundungen des fast fertigen Ruders. Jetzt verstand er alles: Weil er wie Kolfinns Vater als Schiffbrüchiger auf die Schafsinseln zugetrieben war, glaubte dieser, dass die Götter im Spiel seien. Sie hätten ihn geschickt, um seine Tochter zu heiraten. Nur er war es wert, eine Familie mit der starken Gunnhild zu gründen und sein Erbe auf den Schafsinseln weiterzuführen. Kolfinn hatte keine Söhne, bloß Gunnhild.

»Du siehst nachdenklich aus, Hakon«, sagte Nafni.

Hakon bemühte sich um ein Lächeln. »Ich dachte an meine alte Heimat«, log er, »ich musste alles hinter mir lassen, was mir lieb und teuer war. Aber ich bereue nichts. Ich habe kein Verbrechen begangen und kann guten Mutes in die Zukunft sehen.« Er griff nach dem Krug, den einer der anderen Männer ihm reichte, und nahm einen ausgiebigen Schluck. »Auf die Zukunft, Nafni!«

Kapitel 6

Der Bau des Schiffes ging zügig voran. Nafni hatte fähige Männer um sich geschart, die den Ehrgeiz hatten, eines der besten und stabilsten Frachtschiffe der Schafsinseln zu bauen, und deshalb besonders gewissenhaft und angestrengt arbeiteten. Hakon zeigte sich geschickt im Umgang mit der breiten Axt und erwarb sich die Anerkennung des Schiffsbauers und des Jarls.

Schon nach wenigen Tagen strotzte er wieder vor Kraft und Gesundheit. Vergessen waren die gefahrvollen Stunden im Meer. Er spürte deutlich, wie ihn die abwechslungsreiche Arbeit stark machte und ihm das Gefühl gab, auch gegen die mächtigsten Feinde bestehen zu können. Denn die hatte er, nicht nur Ivar, seinen jähzornigen Onkel, der wie ein Sturmwind über das Meer kommen würde. Auch Folkmar, den glühenden Verehrer von Gunnhild, der geschworen hatte, ihn ins Totenreich von Hel zu schicken.

Doch was bedeutete die Aussicht auf die schweren Kämpfe gegen das freudige Gefühl, das er empfand, wenn er an die junge Frau aus dem Buch dachte! Er brauchte nur die Augen zu schließen, um ihr Gesicht zu sehen. Er war sicher, dass sie von ihm wusste und ähnlich empfand wie er. Wenn Odin beschlossen hatte, sie miteinander zu vermählen, hatte er auch ihr ein Bild gezeigt. Doch war der Gott auch bereit, ihn in das fremde Land zu führen, in dem sie lebte?

Der einäugige Gott hatte den Weg zu der unbekannten Schönheit sicher mit zahlreichen Hindernissen gepflastert. Niemand, selbst ein Gott nicht, erreichte sein Ziel, ohne kämpfen zu müssen. Kein Nordmann konnte auf die Hilfe eines mitleidigen Gottes zählen, wenn er um die Liebe einer Frau stritt. Er würde selbst sehen müssen, wie er heil von der Insel kam und das geheimnisvolle Buch wiederfand.

Hakon ließ die Axt sinken und schöpfte Wasser aus dem Holzfass, das für die Schiffsbauer bereitstand. Mit der Kelle an den Lippen hielt er inne. Oben auf den Klippen hatte er eine Bewegung wahrgenommen. Einen Schatten nur, doch gleich darauf leuchtete rotblondes Haar in der schräg stehenden Sonne, und Folkmar zeigte sich, das Schwert wie zum tödlichen Schlag erhoben.

»Hakon von Eisland!«, rief er. Seine Stimme brach sich als vielfaches Echo in den dunklen Schluchten. »Ich warte auf dich! Wo bleibst du, Hakon?«

Das Gehämmer hinter Hakon verstummte, und die Blicke aller Männer wanderten zum Klippenrand empor. Folkmar trug ein leuchtend rotes Wams und erhob das Schwert wie ein furchtloser Mann. Seine wirren Haare flatterten verwegen im Wind. Er war ein Mann, auf den selbst eine Häuptlingstochter stolz gewesen wäre, doch Kolfinn vertraute den Göttern, die ihm Hakon geschickt hatten, damit er sein Schwiegersohn werde. So glaubte Kolfinn und so glaubten es alle Bewohner der Insel. In ihrer Vorstellung gehörte der Kampf gegen Folkmar zu dem Plan, den sich die Götter für Hakon ausgedacht hatten. Nur wenn er sein Können als tapferer Krieger unter Beweis stellte, war er es wert, die Tochter eines Jarls zu ehelichen. Wer wusste schon, dass Hakon nichts lieber gewollt hätte, als sie einem anderen zu überlassen und zu verschwinden?

»Ich habe keine Angst vor dir, Folkmar!«, rief er dennoch.

»Dann nimm dir ein Schwert und kämpfe!«

»Ich komme«, erwiderte Hakon entschlossen. »Sobald die Sonne aufgeht, werde ich auf die Klippen steigen und das Schwert gegen dich führen!«

»Ich werde dort sein«, rief Folkmar.

Hakon arbeitete an diesem Nachmittag noch angestrengter als sonst und erweckte den Eindruck, als würde ihn der bevorstehende Kampf kaum aus der Ruhe bringen. Doch er war nervöser, als es den Anschein hatte. Er war bei einem Raubzug dabei gewesen, hatte etliche Feinde getötet und war aus zahlreichen Schlägereien als Sieger hervorgegangen, aber einen Zweikampf auf Leben und Tod hatte er noch nie bestritten. Ein richtiger Kampf war etwas anderes, als sich im spielerischen Wettstreit zu messen.

»Folkmar ist Linkshänder«, sagte Nafni, der es anscheinend gut mit ihm meinte. »Achte auf seine Linke. Er gebraucht sie wie eine Bärenpranke.«

»Ich werde aufpassen, mein Freund.«

»Und er steht schlecht. Bei unserem letzten Raubzug blieb er nur am Leben, weil ich einem Angreifer den Kopf abschlug. Folkmar lag bereits auf dem Boden. Hetze ihn über die Klippen, bis er den Halt verliert!«

Hakon nahm sich den Ratschlag zu Herzen und drückte Nafni freundschaftlich die Hand, bevor er am Abend zum Langhaus zurückkehrte. In Gedanken versunken kletterte er den Pfad hinauf. Die Sonne war dabei, sich in ihr Versteck jenseits der Erde zurückzuziehen, und zauberte lange Schatten auf die grünen Wiesen. Im Westen malte sie blutrote Ränder an die Wolken. Böiger Wind beugte das Gras und sang in den Höhlen.

Im Dorf hatte man bereits von dem bevorstehenden Kampf gehört. Auf den einsamen Schafsinseln war man für jede Abwechslung dankbar. Und ein Kampf auf Leben und Tod, noch dazu um eine Frau, war das spannendste Schauspiel, das man sich denken konnte. Gunnhild war sich ihrer besonderen Rolle bewusst und zeigte jedem mit einem stolzen Lächeln, wie sehr sie ihren Auftritt genoss.

Kolfinn wartete vor dem Haus auf Hakon und legte beide Hände auf seine Schultern. »Der Tag deiner ersten großen Bewährungsprobe auf den Schafsinseln steht bevor«, sagte er feierlich. »Enttäusche mich nicht, mein Sohn.« Er deutete auf die Hütte des Schmieds. »Komm mit, ich will dir etwas zeigen.«

Onund, der Schmied, verbeugte sich respektvoll, als Kolfinn und Hakon seine Hütte betraten. Er trug ein ledernes Wams, das beinahe schwarz von den stiebenden Funken war, und eine lederne Kappe. Sein rundes Gesicht mit der platten Nase leuchtete im Feuerschein. »Ihr kommt gerade recht«, begrüßte er die beiden Männer. »Einen Augenblick noch, ich bin gleich so weit.«

Er legte ein Schwert auf den Amboss und ließ den schweren Hammer mehrmals auf die glühende Klinge sausen. Unter jedem Schlag sprühten die Funken nach allen Seiten. Nachdem er die Klinge eingehend bearbeitet hatte, tauchte er sie in einen Wasserbottich. Die Glut erlosch in einer zischenden Dampfwolke. Er zog das Schwert aus dem Bottich, betrachtete es eingehend, fuhr noch einmal mit seiner schwieligen Rechten über das Eisen und legte es auf einen Steinblock. »Das Schwert, mein Jarl. Ich hoffe, du bist zufrieden.«

Kolfinn nahm das Schwert mit beiden Händen und betrachtete die silbernen Ziselierungen. Mit dem rechten Zeigefinger fuhr er vorsichtig an den eingearbeiteten Fäden aus reinem Silber entlang. Ein verzweigtes Muster aus geometrischen Formen schmückte den breiten Handschutz. Zufrieden lächelnd packte er das Schwert am Griff und schlug damit auf einen imaginären Gegner ein. Dann stieß er plötzlich einen lauten Schrei aus und hieb die Klinge mit voller Wucht in den hölzernen Bock neben dem Amboss. Der zersplitterte wie leichtes Feuerholz unter dem Aufprall der frisch geschmiedeten Klinge.

»Ah«, stieß Kolfinn lächelnd hervor, »so ein Schwert habe ich mir immer gewünscht. Härter und besser verarbeitet als die besten Waffen aus dem Frankenland. Gute Arbeit, Onund!« Er reichte das Schwert an den überraschten Hakon weiter. »Nimm dieses Schwert, mein Sohn. Es gehört dir. Möge es dich im Kampf gegen Folkmar und die vielen anderen Männer unterstützen, gegen die du noch antreten wirst! Nur der König besitzt eine solche Waffe.«

Hakon wusste vor Verlegenheit nicht, was er sagen sollte. Der Jarl hatte ihn seinen Sohn genannt und schenkte ihm ein Schwert, das sicher ein Vermögen wert war. Er glaubte wirklich, dass Odin ihn geschickt hatte. Hakon berührte die scharfe Klinge und sah, wie Blut aus seinen Fingerspitzen quoll. Wie würde Kolfinn reagieren, wenn er sich weigerte, Gunnhild zu heiraten, oder die Inseln verließ?

Voller Selbstzweifel band er die Lederschlinge, die der Schmied ihm reichte, an seinen Gürtel und schob das Schwert hinein. Er ging einen gefährlichen Weg. Ein mutiger Krieger hätte dem Jarl vielleicht die Wahrheit gesagt, dass er einem göttlichen Auftrag folgte und weder Interesse an seiner Tochter noch an einem Kampf mit Folkmar hatte. Dass er die Insel so bald wie möglich verlassen wollte und bis ans Ende der Welt fahren werde, um die junge Frau aus dem Buch zu suchen. Dass er niemals sein Sohn sein konnte.

Doch ein solches Geständnis hätte seinen sofortigen Tod bedeutet. »Ich bin dir zu großem Dank verpflichtet, mein Jarl«, sagte er also. »Ich werde dieses Schwert wie keine andere Waffe ehren und deinen Namen im Munde führen, wenn ich es benutze.«

Am nächsten Morgen, als er noch vor Sonnenaufgang von seinem Lager aufstand und sich das Schwert umband, dachte er an diese Worte. Er hatte nicht gelogen. Und er würde bis zum Umfallen kämpfen, um sich einen Namen als Krieger zu machen und die Ehre des Jarls und seiner Tochter zu verteidigen. Sie setzten auf ihn, und er würde sie nicht enttäuschen. Was danach kam, würde sich finden. Wenn Odin wollte, dass er sich auf die Suche machte, würde er ihm einen Ausweg zeigen. Doch jetzt galt es, alle störenden Gedanken aus seinem Kopf zu verbannen und sich auf den Kampf gegen Folkmar zu konzentrieren.

Er blickte auf Gunnhild hinab, die längst wach war und ihm ermutigend zulächelte, und wechselte einen Blick mit Kolfinn, der aufrecht in seinem Bett saß und ebenfalls lächelte, dann verließ er das Langhaus. Dass der Jarl ihm keinen Schild angeboten hatte, betrachtete er als Aufforderung, sich Folkmar nur mit dem Schwert zu stellen. Bei einem solchen Zweikampf kam es vor allem auf den eigenen Mut an. Der Himmel war bedeckt, über den Häusern hingen Nebelfetzen. Nur zögernd kroch die Helligkeit im Osten empor. Es schien, als wollte der böige Wind die Sonne daran hindern, über den Rand der Erde zu klettern. Vor dem Stall brannten Fackeln. Ein Sklave trat aus seiner Hütte und verschwand, als er Hakon über den Hof kommen sah.

Hakon stieg mit festen Schritten die Klippen hinauf. Das Schwert zog an seinem Gürtel. Obwohl er die Waffe erst seit dem vergangenen Abend besaß, spürte er, wie sie ihm Kraft und Zuversicht verlieh. Onund, der Schmied, hatte sich selbst übertroffen. Allein die Berührung des Schwerts hatte ihm gezeigt, dass es ihm im Kampf unschätzbare Dienste leisten würde. Es war perfekt ausbalanciert, als würde ihn der Schmied schon viele Winter kennen.

Folkmar wartete auf den Klippen, das Schwert in einer Hand. Sein Gesicht zeigte ein siegesgewisses Lächeln. Auch er verzichtete auf einen Schild, aber er trug das Kettenhemd, das er schon bei ihrer ersten Begegnung angehabt hatte, und einen Lederhelm. »Du bist gekommen, Hakon von Eisland.«

Hakon ging nicht auf seine Worte ein. »Bist du so feige, dass du ein Kettenhemd tragen musst?«, verspottete er ihn. »Trägst du den Lederhelm, weil du weißt, dass ich deinem jämmerlichen Leben ein Ende bereiten werde?«

»Und du?«, konterte Folkmar, ohne sich von Hakons Worten einschüchtern zu lassen. »Warum schützt du deinen Körper mit einem Lederwams?«

Hakon zog das Lederwams aus und warf es ins Gras, trennte sich auch von seiner Kappe. »Du hast recht, es lohnt nicht für den kurzen Kampf.«

Folkmar tat es ihm nach, ließ das Kettenhemd und den Lederhelm ins Gras fallen. »Niemand soll mir nachsagen, ich würde dir keine Chance geben.«

Geduckt gingen die beiden Männer in Stellung, die Schwerter in den Händen. Hakon war überrascht, wie leicht die schwere Waffe plötzlich zu sein schien, wie eine natürliche Verlängerung seines Armes. Er spürte die Einkerbungen am Griff, die Ziselierungen mit den Silberfäden am Handschutz.

Achte auf seine Linke, hatte Nafni gewarnt. Genau das tat Hakon, obwohl Folkmar sein Schwert in der Rechten hielt. Und deshalb war er bereit, als sein Widersacher die Waffe urplötzlich von der rechten in die linke Hand wechselte und mit voller Wucht nach seinem Hals schlug.

Hakon riss sein eigenes Schwert hoch und wehrte den Schlag mit der Klinge ab. Funken stoben unter dem Aufprall des Metalls. Er drückte die Waffe kraftvoll zur Seite und brachte selbst einen Hieb an, doch Folkmar war blitzschnell zurückgesprungen und entging der Klinge um Haaresbreite.

Folkmar war sicherer auf den Beinen, als Nafni vermutet hatte. Mit zwei kurzen Schritten war er wieder in Angriffsstellung, den Oberkörper leicht nach vorn gebeugt, das Schwert diesmal in der Linken, stets bereit, damit zuzuschlagen oder es als Abwehrwaffe zu benutzen. Seine Augen blitzten.

Wie zwei Raubtiere umkreisten sie einander. Ihre Muskeln waren angespannt, die Augen weit geöffnet, alle Sinne konzentrierten sich auf den Widersacher. Lauernd warteten sie auf eine Blöße in der Deckung des anderen, auf die geringste Unvorsichtigkeit, die einen erfolgreichen Angriff ermöglichen könnte. Der Nieselregen kühlte ihre Gesichter, vom Himmel schien trübes Licht auf sie herab. Keiner von ihnen merkte, wie immer mehr Hofbewohner näher kamen, angeführt von Kolfinn und Gunnhild, die beide erschrocken stehen blieben und den Atem anhielten, als Folkmar nach vorne sprang und mit ausgeholtem Schwert auf Hakon losstürmte. Er schlug mehrere Male auf ihn ein und traf kein einziges Mal, jedes Mal war Hakon schneller und sprang blitzschnell zur Seite.

Hakon wartete nicht, bis Folkmar wieder in Stellung gegangen war. Er setzte sofort nach und griff selbst an, erwischte ihn an der Hüfte und brachte ihn ins Straucheln. Mit erhobenem Schwert blieb er an ihm dran, stieß ihn mit dem Fuß zu Boden und holte zum tödlichen Schlag aus, aber Folkmar rollte sich gerade noch rechtzeitig zur Seite, und die Klinge von Hakons Schwert zerschnitt nasses Gras. Die Wucht seines eigenen Schlages brachte ihn ins Straucheln. Er fing sich rechtzeitig, wirbelte herum und parierte einen Schlag seines Widersachers. Als Folkmar zum nächsten Schlag ausholte, blockte Hakon den Schlag ab, ging seinerseits zum Angriff über und trieb Folkmar vor sich her.

Schreiend wie ein Berserkir brachte Hakon ihn in ernsthafte Verlegenheit. Nafni hatte recht behalten, Folkmar war doch schwach auf den Beinen. Wenn man ihn bedrängte, verlor er seinen festen Stand und war so damit beschäftigt, sein Gleichgewicht zu halten, dass er die Deckung vernachlässigte. Die Wunde, die Hakon ihm an der Hüfte beigebracht hatte, schien ihm wenig auszumachen, obwohl sich sein Wams an dieser Stelle blutrot verfärbt hatte.

Nach links und rechts schlagend drängte Hakon seinen Gegner zum Klippenrand. Die Nebelschwaden begleiteten ihn wie schwebende Geister, der Wind sang heulend dazu. Jetzt hab ich dich, dachte Hakon. Er sprang nach vorn und hieb dem nervösen Folkmar die Klinge in die andere Hüfte, beobachtete zufrieden, wie der sein Schwert fallen ließ, den Halt verlor und über den Klippenrand stürzte. Im letzten Augenblick gelang es ihm, sich an eine Felsleiste zu klammern, um den tödlichen Sturz in die schäumende Brandung zu vermeiden.

Ein paar heftige Fußtritte hätten genügt, um Folkmar ins Totenreich zu schicken, doch Hakon tat nichts dergleichen. Zur Verwunderung der Zuschauer, die in respektvoller Entfernung standen, zog er seinen Gegner mit einer Hand auf die Klippen zurück. Er hob sogar dessen Schwert auf und reichte es ihm. »Du wirst sterben«, versicherte er ihm schwer atmend, »aber nicht so. Du sollst wie ein Krieger nach Walhalla kommen.«

Folkmar nickte anerkennend. Wie jeder Nordmann zog er es vor, im Kampf zu sterben, nur dann würden ihn die Walküren nach Walhall bringen, um mit den Göttern in den letzten Kampf zu ziehen. Eine Anerkennung, keine Strafe. An der Seite von Odin und Thor würde er bei Ragnarök gegen die bösen Mächte der dunklen Welt kämpfen.

Die Gewissheit, einen ehrenvollen Tod zu sterben, verlieh ihm neue Kräfte. Noch einmal stürmte er nach vorn, das Schwert in beiden Händen, und hieb auf Hakon ein. Doch sein Gesicht war blass geworden und aus seinen Augen die Zuversicht verschwunden. Er war zu geschwächt. Die Verletzungen waren schwerer, als er angenommen hatte, die Götter würden ihn zu sich holen. Die Verzweiflung im Gesicht drang er auf Hakon ein.

Hakon hatte leichtes Spiel. Er wich der Klinge seines Widersachers aus, wartete geduldig, bis Folkmar sich umdrehte und aufrichtete, und hieb ihm dann die geschliffene Klinge seines neuen Schwertes mit voller Wucht in die Brust.

Folkmar erstarrte mitten in der Bewegung, blickte verwundert auf die blutende Wunde in seiner Brust und ließ seine Waffe fallen. Nach Luft ringend taumelte er zurück und fiel über den Klippenrand. Er schrie nicht einmal, als er in den dunklen Abgrund stürzte.

Ayasha

Kapitel 7

Der klagende Schrei einer Eule holte Ayasha aus dem Schlaf. Sie fuhr von ihren Fellen hoch und blickte erschrocken in das trübe Halbdunkel. Das Feuer in dem kuppelförmigen Wigwam war fast heruntergebrannt, nur noch wenige Flammen züngelten vom verkohlten Holz empor. Durch den Rauchabzug im Hüttendach waren der Halbmond und die Sterne zu sehen.

Wieder meldete sich die Eule, diesmal aus weiter Entfernung. Wenn eine Eule rief, war der Tod nicht weit, dann geschah in der Nähe ein großes Unglück, so war es immer gewesen. Wer einer Eule begegnete oder ihren Schrei hörte, war dem Untergang geweiht.

Ayasha zog ihr Wildlederkleid an und schlüpfte in ihre Mokassins. Vorsichtig, damit ihre Eltern und ihre anderen Verwandten sie nicht hörten, stieg sie über die schlafende Mutter hinweg und verließ den Wigwam. Geduckt huschte sie in den Schatten der Bäume. Jenseits des Flusses, an dessen Ufer die Waldleute ihr Lager errichtet hatten, zog bereits der Morgen herauf. Feuchtigkeit wehte vom großen Wasser im Südosten herüber.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Neuausgabe
Jahr
2018
ISBN (eBook)
9783960532330
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (November)
Schlagworte
Jugendbuch Abenteuer Roman Mädchen Jungen Wikinger Liebe Freundschaft Hoffnung ab 14 Jahren eBooks
Zurück

Titel: Der Stein der Wikinger