Lade Inhalt...

Leon und der Schatz der Ranen - Band 4

©2016 173 Seiten

Zusammenfassung

„Damals war es das Beste für dich, glaub mir“, sagte Jaromir mit ungewöhnlich belegter Stimme. „Im Kloster warst du sicher aufgehoben. Bist es noch.“

Stralsund im Jahr 1334. Leon fischt einen Kasten aus dem Versteck. Sein Großvater, der alte Jaromir, nimmt ihn andächtig entgegen. Eine kleine Figur scheint darin zu sein, die golden schimmert. Etwas Wertvolles? Schon lange gibt es das Gerücht vom Gold der Ranen, jenes alten Volkes, das einst über die Insel Rügen herrschte und dessen Priester in der Festung Arkona einen gigantischen Schatz hüteten. Ist der alte Jaromir der Schlüssel zu diesem Geheimnis?

Ein fesselnder Krimi, der das Mittelalter lebendig werden lässt.

Jetzt als eBook: „Leon und der Schatz der Ranen“ von Eva Maaser. Wer liest, hat mehr vom Leben: jumpbooks – der eBook-Verlag für junge Leser.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Über dieses Buch:

Stralsund im Jahr 1334. Leon fischt einen Kasten aus dem Versteck. Sein Großvater, der alte Jaromir, nimmt ihn andächtig entgegen. Eine kleine Figur scheint darin zu sein, die golden schimmert. Etwas Wertvolles? Schon lange gibt es das Gerücht vom Gold der Ranen, jenes alten Volkes, das einst über die Insel Rügen herrschte und dessen Priester in der Festung Arkona einen gigantischen Schatz hüteten. Ist der alte Jaromir der Schlüssel zu diesem Geheimnis?

Eine packende Schatzsuche mit überraschender Wende.

Über die Autorin:

Eva Maaser, geboren 1948 in Reken (Westfalen), studierte Germanistik, Pädagogik, Theologie und Kunstgeschichte in Münster. Sie hat mehrere erfolgreiche Kinderbücher, historische Romane und Krimis veröffentlicht.

Ebenfalls bei jumpbooks erschienen Eva Maasers Kinderbücher:

Kim und die Seefahrt ins Ungewisse
Kim und die Verschwörung am Königshof

Kim und das Rätsel der fünften Tulpe
Leon und der falsche Abt
Leon und die Geisel
Leon und die Teufelsschmiede

***

eBook-Neuausgabe April 2016

Copyright © der Originalausgabe 2009 SchneiderBuch verlegt durch EGMONT Verlagsgesellschaften mbH, Gertrudenstraße 30–36, 50667 Köln

Copyright © der Neuausgabe 2013 dotbooks GmbH, München

Copyright © 2016 jumpbooks. jumpbooks ist ein Imprint der dotbooks GmbH.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nicola Bernhart Feines Grafikdesign, München

Titelbildabbildung: akg-images/J.J. Fugger, Porträtbild: akg-images/J.C. Rößler

E-Book-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN 978-3-96053-065-7

***

Damit der Lesespaß sofort weitergeht, empfehlen wir dir gern weitere Bücher aus unserem Programm. Schick einfach eine eMail mit dem Stichwort Leon und die der Schatz der Ranen an: lesetipp@jumpbooks.de

Gerne informieren wir dich über unsere aktuellen Neuerscheinungen – melde dich einfach für unseren Newsletter an: http://www.jumpbooks.de/newsletter.html

Besuch uns im Internet:

www.jumpbooks.de

www.facebook.com/jumpbooks

https://twitter.com/jumpbooksverlag

http://youtube.de/jumpbooks

Eva Maaser

Leon und der Schatz der Ranen

jumpbooks

1

Leon blieb an der Tür stehen und lauschte. Durch die angelehnten Klappläden der beiden Frontfenster drang gedämpfter Lärm. Jemand grölte drinnen und wurde durch eine barsche Stimme zum Schweigen gebracht. Beim Klang der Stimme schauderte Leon unwillkürlich. Wie er es hasste, herzukommen! Er zögerte, endlich die Tür zur Gaststube aufzustoßen und einzutreten. Stattdessen spähte er noch einmal umher.

Der Wind wirbelte Dreck die Gasse hinunter.

Die Häuser auf beiden Seiten standen mit ihren Vorderfronten nicht in einer geschlossenen Reihe, sondern hier und da taten sich Lücken und Nischen auf. Bildete es sich Leon ein, oder drückte sich da nicht eine Gestalt in so eine Lücke? Gerade hatte er gemeint, zwei Häuser weiter den Schatten eines kräftigen Mannes verschwinden zu sehen. Aber wer sollte sich hier herumtreiben und wie er zögern, die Kaschemme des alten Jaromir zu betreten?

Unwillig schüttelte Leon den Kopf. Je länger er hier draußen stand, desto mehr überkam ihn Verzagtheit. Schlechte Voraussetzung für das, was ihm drinnen bevorstand.

Mit einem tiefen Seufzer drückte er die Tür auf.

Als hätte er ihm aufgelauert, schlurfte der alte Jaromir sofort hinkend auf ihn zu: ein fetter alter Mann, das Gesicht teigig grau mit schlaffen Hängebacken und scharfen dunklen Augen, denen kaum etwas entging. Wie ein einziges Verhängnis streckte der Alte die Hand nach Leon aus, um ihn wie einen streunenden Köter im Nacken zu packen.

Wenn Leon etwas verabscheute, dann so angefasst zu werden. Mit einer knappen Drehung trat er zur Seite, wurde aber im nächsten Augenblick rüde am Arm gepackt.

»Du kommst spät. Wie immer!«, raunzte Jaromir. »Der feine Klosterpinkel hat es nicht nötig, der Aufforderung seines Großvaters Folge zu leisten, es sei denn, jemand zwingt ihn dazu. Ich hab Gernod schon vor vier Tagen gesagt, er soll dich herschicken. Warum kommst du jetzt erst?«

Jaromir stank. Er stank wie jemand, dem die Sachen am Leib vor Dreck verfaulten. Und der sich nie wusch. Widerlich. Aber es war nicht der Dreck, der Leon so abstieß. Würde Jaromir es nie lernen, ihn anders als grob zu behandeln? Nur in ganz seltenen Momenten ließ er in seinem Verhalten ihm gegenüber ein bisschen menschliche Wärme aufkommen, die er aber so rasch unterdrückte, als wäre sie ihm peinlich.

»Du hast nicht gesagt, dass es dir eilig ist«, antwortete Leon kühl.

»Werd nicht frech!« Die Hand hob sich von seinem Arm, Leon wich einer Bewegung aus, die sicher in einer schallenden Ohrfeige geendet hätte.

»Ich bin jetzt hier, aber wenn du mich nur anschnauzen und schlagen willst, geh ich sofort wieder.« Er war dreizehn, kein Kind mehr, das man herumschubsen konnte. Sehr wohl war ihm aber bewusst, dass es Jaromir mühelos gelang, selbst voll erwachsene Männer einzuschüchtern.

Der Alte zeigte sich wenig beeindruckt von Leons Entgegnung. Er packte ihn wieder am Arm und zerrte ihn, ohne innezuhalten, durch die Gaststube. »Wir reden gleich miteinander, du Früchtchen. In aller Ruhe.«

Jaromir bellte dem Knecht, der an den langen Tischen die Gäste bediente, ein paar Befehle zu und schob gleichzeitig Leon durch eine Tür ins Hinterzimmer. Die Decke wurde von schwarz gebeizten Balken unterteilt, und eine Wand bestand ganz aus Holz. Flüchtig dachte Leon an das, was sich dahinter verbarg: Ein Geheimausgang.

Das Zimmer war spärlich mit einem schweren quadratischen Eichentisch und zwei Armlehnstühlen möbliert. Leon ließ sich unaufgefordert in den einen sinken. Jaromir nahm gegenüber in dem anderen Platz und starrte seinen Enkel stumm und intensiv an, bis die Tür aufschwang und der Knecht mit einem beladenen Tablett hereintrat. Er brachte Humpen mit schäumendem Bier, einen Teller mit duftendem frischem Brot und aufgeschnittenem kaltem Braten herein. Leon langte sofort zu. Obwohl  er im Kloster zu Abend gegessen hatte, übermannte ihn beim Anblick der köstlichen Speisen sofort Verlangen. Und er wusste, dass Jaromir es gern sah, wenn er Appetit zeigte.

Mochte der Wirt ungepflegt sein und schlimmer stinken als eine Rotte von Schweinen, in seinem Gasthaus wurde man geradezu fürstlich bewirtet. Alles war von außergewöhnlicher Qualität. Kein Wunder also, dass seine Kneipe Abend für Abend rappelvoll war. Leon stutzte mit vollem Mund. Irgend etwas stimmte nicht. Er wollte gerade dem Gedanken nachgehen, als Jaromir die Hand auf die Tischplatte klatschte.

»Stopf dich nur voll«, grummelte er. »Hab ja immer gedacht, die füttern dich anständig im Kloster, aber ich hab mich wohl geirrt.«

»Freut mich«, nuschelte Leon mit vollem Mund, »dass du dir Sorgen um mein Wohlergehen machst. Hätte ich nie vermutet. Kam das ganz plötzlich?«

Ein Schatten trübte Jaromirs Blick, dann wurden seine Augen wieder klar und funkelnd. »Ja, mach dich nur lustig über deinen alten Großvater«, knurrte er.

»Ach, übrigens«, sagte Leon beiläufig und schluckte einen großen Brocken hinunter, »machst du heute auf Großvater? Ist das sicher?«

Vielleicht war er jetzt doch zu weit gegangen.

Jaromirs Blick wurde steinhart, seine ganze Miene verfinsterte sich derart, dass es Leon kalt überlief.

»Nur weiter so, Junge. Vielleicht erwürge ich dich noch, das erspart sicher vielen eine Menge Ärger. Und glaub nicht, dass mich allzu viele Hemmungen plagen.« Es klang nicht wie eine leere Drohung, das war das Erstaunliche.

Leon schob den Teller von sich, ihm war der Appetit vergangen. Er nahm noch einen Schluck aus dem Humpen und stellte dann auch ihn beiseite. Auf einmal schmeckte das Bier seltsam schal. Die Hände auf der Tischplatte gefaltet, sagte er so ruhig und nüchtern, wie er konnte: »Also was ist? Warum sollte ich herkommen?«

Jaromirs Blick wandte sich von ihm ab. Eine ungemütliche Pause entstand und gerade, als Leon das Schweigen nicht länger hätte aushalten können, sprach der Alte endlich.

»Es geht um deine Zukunft.«

Leon war baff. »Meine ... Zukunft?«, stotterte er unbehaglich. »Was hast du damit zu tun?« Plötzlich überkam ihn grenzenlose Furcht. Brauchte ihn der Alte etwa für seine Kneipe? Als Schankknecht? Die Aussicht verschlug ihm geradezu den Atem. Unter der Fuchtel des schmierigen Jaromir würde er es nicht einmal einen Tag lang aushalten.

»Was ich damit zu tun habe? Ich bin dein Großvater«, blaffte der Alte.

Leon ballte die Hände zu Fäusten, bis die Knöchel weiß hervortraten. Mühsam beherrschte er seine Stimme. »Das hatten wir bereits. Immer, wenn es dir in den Kram passt, erinnerst du dich daran, dass ich dein Enkel bin. Aber als vor vier Jahren mein Vater starb, hast du keinen Finger für mich gerührt. Du hast mich dem Katharinenkloster und den Mönchen überlassen und warst wahrscheinlich heilfroh, keinen Pfennig für mich rausrücken zu müssen. Du hast sogar ausdrücklich erklärt, dass du weder mit mir verwandt noch für mich verantwortlich bist.«

Leon war der Sohn von Swinefoot, dem ehemaligen Schweinehirten des Klosters, und Jaromirs Tochter Elena. Nie hatte er es seiner Tochter verziehen, dass sie mit Swinefoot, einem stadtbekannten Säufer, durchgebrannt war, um sich heimlich trauen zu lassen. Jaromir hatte die Rechtmäßigkeit der Heirat erfolgreich angefochten. Daher war Leon von unehelicher, das hieß unehrlicher Geburt: Offiziell war er nicht mit seinem Großvater verwandt und hatte in seiner Heimatstadt Stralsund keinerlei bürgerliche Rechte.

Weder nach dem Tod seiner Tochter, noch nach dem Tod von Swinefoot hatte sich Jaromir um seinen einzigen Enkel gekümmert. Es war diese absolute, jahrelange Nichtbeachtung, ja Verleugnung, die Leon so schmerzte und verbitterte. Dieser Großvater war ein Rabenaas.

»Damals war es das Beste für dich, glaub mir«, sagte Jaromir mit ungewöhnlich belegter Stimme. »Im Kloster warst du sicher aufgehoben. Bist es noch.« Plötzlich wurde er ungehalten. »Und was heißt, ich hätte keinen Pfennig für dich ausgegeben? Wer, glaubst du, hat all die Jahre für deinen Unterricht bezahlt? Und alles andere?« Jaromirs Blick, der sich wieder auf seinen Enkel richtete, wurde stechend. »Denkst du etwa, die Mönche haben sich aus reiner Barmherzigkeit deiner angenommen? Dann bist du ein größerer Esel und Träumer, als ich dachte.«

»Du lügst«, entgegnete Leon hasserfüllt und wusste im selben Augenblick, dass er unrecht hatte.

»Ach ja? Frag Gernod, ich hab das Geld ihm gegeben, er hat’s gern genommen.« Ein lauernder Ausdruck trat in Jaromirs Augen und verschwand sofort wieder. »Gut angelegtes Geld«, fuhr er rasch fort, als wäre er sich gerade eines Fehlers bewusst geworden. »Gegen die Erziehung, die dir Bruder Gernod und Bruder Willibrod haben angedeihen lassen, ist nichts einzuwenden. Im Gegenteil. Du weißt, ich schätze die beiden. Sie hätten nicht mehr für dich tun können ...« Der Alte begann zu schwafeln, und einen Augenblick hörte ihm Leon nicht mehr zu.

Jaromir war dabei, seine Welt zu zerstören und in den Dreck zu treten. Gernod und Willibrod hatten demnach nicht mehr getan als das, wofür man sie bezahlt hatte. Und er hatte die beiden Mönche für seine Freunde und Beschützer gehalten, selbstlos, bescheiden, immer aufrichtig und nicht an weltlichen Gütern interessiert.

»... und deshalb ist es an der Zeit, dass du dich für das Kloster entscheidest. Für immer. Hörst du mir überhaupt zu?«, brauste Jaromir auf.

»Was?« Leon schrak zusammen.

»Ich habe gesagt«, zischte Jaromir aufgebracht, »dass es Zeit für dich ist, ins Kloster einzutreten. Als Novize. Du bist dreizehn, fast vierzehn und hast genug Latein gelernt. Es wird Zeit, eine Entscheidung fürs Leben zu treffen.«

»Anscheinend ist die Entscheidung ja schon gefallen.« Leon wollte aufstehen, ihn schwindelte auf einmal.

Jaromir langte über den Tisch und hielt ihn fest. »Glaub ja nicht, dass du hier den Aufsässigen spielen kannst. Du weißt genau, wie geringe Chancen du in dieser Stadt auf einen anständigen Beruf hast. Oder willst du zu mir in die Kneipe?«

Leon hatte das Gefühl, einen Tritt in den Magen zu bekommen.

Jaromir lachte scheppernd. Der Abscheu, der Leon deutlich ins Gesicht geschrieben stand, amüsierte ihn. »Nein, das willst du nicht. Hab ich mir gedacht. Also, an Martini wirst du ins Noviziat aufgenommen. Und glaub mir, das ist kein schlechtes Leben. Ich wünschte mir, ich hätte Chancen wie du gehabt. Aber mir sind all diese Wege versperrt geblieben.«

»Wieso?«, fragte Leon automatisch, ohne es wirklich wissen zu wollen. Er hatte sich noch nie Gedanken über die Vergangenheit seines Großvaters gemacht. Er wusste nicht einmal, woher genau er stammte. Irgendwo aus dem Osten. Leon war noch sehr klein gewesen, als seine Mutter starb, und so hatte er sie nie nach diesen Dingen fragen können, und seinen Vater hatten sie nicht interessiert.

Eine bleierne Müdigkeit hatte ihn ergriffen, er stand nun doch auf. »Dann ist ja alles klar so weit«, murmelte er schwerfällig. »Ich nehme an, Gernod wird sich freuen.«

Jaromir kam auf die Füße, watschelte um den Tisch herum und legte Leon seine breite, fleischige Hand gewichtig in den Nacken. Willenlos ließ er es geschehen. »Er wird entzückt sein. Und dir wird es gut gehen. Glaub mir, Leon, ein sicherer Platz im Leben ist mehr wert als alles Gold der Welt.«

»Ich hab gedacht, ich hätte noch Zeit mit der Entscheidung. Warum jetzt so eilig?« Leon hörte sich mit matter Stimme fragen, innerlich weit weg, als ginge es nicht um seine eigene Zukunft.

»Weil«, Jaromirs Stimme wurde leiser, »weil ich vielleicht bald nicht mehr hier bin und ich diese Sache mit dir geregelt haben will.«

Leon wandte sich um, sodass er seinem Großvaters von unten ins Gesicht spähen konnte. Eine verschlossene Miene, die, wenn überhaupt etwas, dann einen Schimmer von Furcht ausdrückte. Nur war Furcht eine Regung, die Leon nie bei seinem Großvater erwartet hätte. Allenfalls flößte dieser anderen Angst ein, und das gründlich.

2

Der übliche Lärm in der Gaststube drang nur gedämpft an Leons Ohren, als er an den langen Tischen vorbei zur Tür ging. Draußen empfingen ihn kühle Luft und die hereingebrochene Dunkelheit. Die Gasse lag verlassen da – oder doch nicht? Aus den Augenwinkeln bemerkte er eine Bewegung, gab aber nichts darauf. Anscheinend lungerte da immer noch jemand um das Gasthaus herum und konnte sich nicht aufraffen, einzutreten.

In sich versunken und noch völlig im Bann des Gesprächs mit seinem Großvater, stolperte Leon unsicher weiter. Wohin jetzt?

Nach Hause? Das Kloster war nicht mehr sein Zuhause, das spürte er. Aber bald würde es auf ewig sein Gefängnis sein, mahnte eine Stimme in seinem Kopf. Ganz ohne bewusste Entscheidung lenkte er seine Schritte zum Neuen Markt, einem großen, rechteckigen Platz, den einige prächtige Häuser säumten. Eines der größten Anwesen war das des Vogts Witzlaf. Seine Tochter Anna war Leons Freundin. Beim Gedanken an Anna fühlte er sich einen winzigen Augenblick besser, versank aber gleich darauf in noch tiefere Trübsal. Es war schon einige Wochen her, dass er Anna gesehen und mit ihr gesprochen hatte.

Unschlüssig musterte er das geschlossene Tor in der Mauer, die das Anwesen umgab. Kein wirkliches Hindernis. Wenn er gewollte hätte, hätte er sich Zutritt verschaffen können. Aber es würde auch diesmal keinen Sinn haben, in den Garten einzudringen, zur Rückseite des Wohnhauses zu schleichen und einen Eulenruf auszustoßen, das Signal, das Anna verriet, wer draußen auf sie wartete. Es war, als ob Anna verschwunden wäre, aus der Stadt und – ein eiskalter Schreck durchfuhr Leon – aus seinem Leben.

Hinter ihm wurden Stimmen laut. Langsam wandte er sich um. Zwei junge Männer torkelten untergehakt über den Platz.

»Pack, sag ich, die ganze Stadt ist voller Pack, wir sollten endlich aufräumen!«, schrie der Größere der beiden. Sie kamen näher. Stocksteif blieb Leon stehen.

»Na, gehörst du auch zum Wendenpack?«, fragte der eine und legte mit herausfordernder Geste die Hand an das Messer in seinem Gürtel.

»Ach, lass ihn in Ruhe, das ist nur ein Junge, und überhaupt«, sagte der andere ärgerlich. Anscheinend ging ihm das Geschrei seines Kumpans gegen den Strich.

»Was heißt hier nur ein Junge?«, empörte sich der erste wieder. »Schau ihn dir an. Er hat schmutziges Blut in den Adern, das sehe ich von hier aus. So beduselt kann ich gar nicht sein, um das nicht zu sehen.«

Verächtlich musterte Leon die beiden. Reiche Bürgersöhne, die sich Abend für Abend betranken und dann Händel auf der Straße suchten. Der eine wenigstens, der andere wirkte nur ein wenig angeheitert. Wenn es hier Pack gibt, dachte Leon, dann gehören die beiden dazu.

Ein Karren rumpelte auf den Platz.

»Urgh!« Der eine Mann machte eine Geste, als ob er sich gleich übergeben würde, der andere zog ihn hastig mit sich fort.

Leon starrte den Karren an und die drei Leute, die ihn begleiteten. Es waren Racker. Schon der durchdringende Gestank verriet, was sich in den Bottichen auf dem Karren befand. Sicher waren sie jetzt bis zum Rand voll, nachdem die Racker die Kübel in den öffentlichen Toiletten geleert hatten. Das geschah jede Nacht im Schutz der Dunkelheit, wenn sich kaum noch jemand auf der Straße aufhielt und sich von dem schmutzigen Gewerbe angewidert fühlen konnte. Die Rackerei, wo der Unrat abgeladen wurde, befand sich einige Gassen entfernt an der Stadtmauer, in einem der Armenviertel. Dort störte sich niemand am Gestank, der aus den Gruben aufstieg. Hier wurden nicht nur Exkremente gesammelt, sondern auch Tierkadaver und aller Abfall, der sonst die Stadt verpestet hätte.

Racker oder Abdecker, dachte Leon, das wäre doch noch was für mich. Vielleicht nehmen sie mich auch ohne Bürgerrechte, denn irgendjemand muss die Scheiße wegräumen. Warum nicht ich? Henker kann ich nicht werden, nicht mal Henkersknecht, so einen wie mich nehmen auch die nicht.

Mit jeder weiteren Überlegung krampfte sich sein Inneres mehr zusammen. Sein ganzer Körper wurde steif und schmerzte. So war das also, wenn man nirgendwo hingehörte. Wenn man so gänzlich überflüssig war.

Die Racker zogen mit ihrem Karren an ihm vorbei und warfen ihm gleichmütige Blicke zu. Er riss sich zusammen und bot ihnen eine gute Nacht.

Erstaunt grinste einer der drei und stieß seinen Nebenmann an. »Hast du das gehört? Hast du das wirklich mitgekriegt? Ein Bürger dieser Stadt nimmt höflich Notiz von uns. Von uns! Das ist ja wie ein Geschenk zu Weihnachten. Diese Nacht muss ich mir merken.«

Leon wartete, bis die drei samt Karren verschwunden waren, und trollte sich dann in Richtung Kloster. Er konnte ja nirgendwo anders hin.

3

Die Klosterpforte war bereits geschlossen, und Leon musste den Pförtner rufen, der ihn mit einer grämlichen Rüge über sein spätes Auftauchen einließ. Einer der älteren Brüder versah gerade den Dienst, einer, der gern bei jeder Gelegenheit ermahnte. Normalerweise hätte Leon die Rüge ungerührt über sich ergehen lassen, aber diesmal verstärkte sie die furchtbare Laune, in der er sich ohnehin schon befand. Und als wäre das noch nicht genug, erspähte er im ersten Klosterhof, den er rasch durchqueren wollte, Cellerar Arnulf – den eifersüchtig über alle Schätze und Vorräte wachenden Klosterverwalter, der von Anfang an eine besondere Abneigung gegen Leon gefasst hatte. Arnulf stand gut sichtbar mitten im Hof, ins Gespräch mit dem Novizenmeister vertieft, Bruder Remigius, genannt die Keule. Alle Novizen fürchteten sich vor dem Mann, der nicht zögerte, die angehenden Klosterbrüder wegen der geringsten Vergehen grün und blau zu schlagen. Obwohl er bisher nichts mit ihm zu tun gehabt hatte, flößte der hünenhafte Kerl Leon jedes Mal, sobald er ihn sah, ein mächtiges Unbehagen ein. Und diesem Remigius würde er unterstellt sein, sobald er ins Noviziat eintrat.

Da standen die beiden, die sein zukünftiges Schicksal bestimmen würden, er hätte es nicht besser treffen können. Oder nicht schlechter. Ein ganz und gar unerwünschtes Schwächegefühl überkam ihn. Leon schüttelte sich und schlich durch den Kreuzgang, der sich um den Hof herumzog, darauf bedacht, bloß nicht bemerkt zu werden.

»Wer ist da?«, bellte Remigius.

Sie hatten ihn gesehen! Niemand außer den Mönchen selbst hatte um diese Stunde noch etwas im ersten Hof, dem Klausurhof, oder dem umlaufenden Kreuzgang zu schaffen. Und die gewöhnlichen Mönche schliefen sicher längst eine Treppe höher im Dormitorium. Leon erstarrte. Wie dumm, dass er nicht einen anderen Weg gewählt hatte. Remigius stemmte die mächtigen Pranken in die Hüften, beugte sich vor und spähte zu ihm herüber. Der Mond schien hell in den Hof, aber der größte Teil des Kreuzgangs, vor allem dort, wo Leon wie angewurzelt stehen geblieben war, lag im Dunkeln.

»Tritt vor! Wird’s bald! Ich kenne dich, du missratener Sohn einer allzu weichen Mutter und eines Vaters, der es an Zucht hat fehlen lassen.«

Sohn einer allzu weichen Mutter? Woher sollte Remigius ... Leons Gedanken überschlugen sich. Hatte ihn Remigius wirklich erkannt?

»Ich werde dich lehren, dich über die Regeln hinwegzusetzen!«

Remigius hatte ihn nicht erkannt, er hielt ihn für einen Novizen, der sich unerlaubt hier herumtrieb, und freute sich offenbar bereits auf die schlagkräftige Ermahnung. Leon tappte behutsam an der Wand entlang auf das Ende des Gangs zu, den Blick unverwandt in den Hof gerichtet. Der Novizenmeister war nicht älter als Mitte dreißig, groß, kräftig und ausgesprochen sportlich. Im Klosterhof befanden sich die Gräber der verstorbenen Mönche, ihre schlichten, niedrigen Grabsteine standen um ein Holzkreuz in der Mitte, nur schmale, winklige Pfade führten durch die Reihen. Remigius raffte seine Kutte und sprang über den ersten Stein hinweg. Leon gab das Versteckspiel auf und rannte los, auf die Deckung vertrauend, die ihm die Schattenzonen im Gang gewährten.

Das Ende des Ganges kam immer näher, aber die Geräusche aus dem Hof verrieten, dass sein Verfolger dabei war, ihm quer über die Gräber den Weg abzuschneiden. Leon war es, als würde er um sein Leben rennen. Er würde es nicht schaffen, er würde der Keule in die Hände fallen als Vorgeschmack auf sein künftiges ...

»Remigius!«, rief Arnulf scharf. »Was, in Gottes heiligem Namen, fällt dir ein? Du entehrst die Toten!«

Abrupt stockten die Schritte und Sprünge im Hof. Die kurze Pause genügte Leon, um am Ende des Ganges durch die Tür in den Empfangssaal zu stürzen. Als er den Saal verließ und in den zweiten Hof hastete, wusste er, dass Remigius ihm nicht mehr nachkam, der Cellerar hatte ihn wirksam gestoppt. Zum ersten Mal war er dem sauertöpfischen Arnulf richtig dankbar.

Eigentlich hatte er sich direkt in seine Unterkunft am Wirtschaftshof flüchten wollen, in die Kammer, die er sich mit drei Knechten teilte. Aber nun war er so außer sich, dass ihm die Vorstellung, noch irgendjemandem zu begegnen – und sei es nur einem schläfrigen Knecht –, zutiefst zuwider war. Niemand sollte bemerken, wie furchtbar er sich fühlte. Verraten und verkauft. Er musste allein sein, sich in Gedanken sammeln, seine Ängste in den Griff bekommen, die ihn sonst auffressen würden.

Er schlüpfte durch eine kleine Pforte in den Klostergarten. Die Beete quollen über vor letzten Blumen und Samen tragenden Stauden und Büschen. Erntezeit. Die schönste Zeit im Garten, wie Bruder Willibrod, der Gärtner, nie müde wurde, festzustellen. Willibrod und Gernod, der Apotheker und Arzt des Klosters, waren die Herren des Gartens, dies hier war ihr Reich. Und bislang war es auch Leons gewesen. Hier hatte er von Willibrod das Ziehen und Pflegen der Pflanzen gelernt und von Gernod die Verwendung als Heilmittel. Hier hatte er mit den beiden Mönchen eine verschworene Gemeinschaft gebildet.

Er hätte nicht herkommen sollen.

Sein Elend wuchs hier ins Riesenhafte, es war nicht mehr auszuhalten.

Aus einem der Fenster der Apotheke fiel Licht. Also war Gernod noch auf. Wahrscheinlich kochte er einen Absud oder sortierte getrocknete Kräuter oder notierte sich eins seiner Rezepte für die geradezu Wunder wirkenden Heilmittel. Vom Früh- bis zum Spätherbst reichte die Zeit fast nie für all die Aufgaben, die sich aus der Kräuterernte ergaben.

Bisher hatte Leon die Möglichkeit, für immer ins Kloster einzutreten und vielleicht einmal Gernods Nachfolger zu werden, für durchaus nicht unerfreulich gehalten. Er liebte die Gartenarbeit und die Arbeit in der Apotheke. Aber bisher war es nur eine Möglichkeit. Ein Gedanke, mit dem er spielen konnte. Und bislang hatte er nicht über die unangenehmen Seiten nachgedacht. Über Remigius zum Beispiel. Und da gab es noch ein paar andere, schwerwiegendere.

Leon war immer näher an den kleinen Steinbau herangerückt, der die Apotheke beherbergte. Jetzt hatte er eins der Fenster erreicht, dessen Laden nur nachlässig angelehnt war.

Gernod war nicht allein, er sprach mit jemandem.

» ... und diesmal ist es wirklich der Richtige?«, fragte Gernod.

Ein tiefer Seufzer war als Antwort zu hören.

»Das klingt, als wärst du dir doch nicht ganz sicher.«

»Es war nur die Erleichterung, die mich so seufzen ließ. Als Vater leidet man halt, wenn das Kind leidet. Oh ja, gegen Thorstad von Poseritz ist nichts einzuwenden, beim besten Willen nicht. Er ist von untadeliger Herkunft, vermögend, zwanzig Jahre alt, kräftig, klug, ehrenwert bis in die Fingerspitzen, und er liebt Anna jetzt schon.«

Leons Herzschlag setzte aus und mit einem schneidenden Schmerz wieder ein. Beide Hände auf die Brust gepresst, krümmte er sich. Die Stimme, die er da gerade hörte, war die von Vogt Witzlaf, und es gab keinen Zweifel, worüber er sprach. Er hatte den passenden Ehemann für Anna gefunden.

Leon mochte es nicht glauben, er konnte es nicht glauben. Niemand konnte Anna so lieben wie er, und sie erwiderte diese Liebe, dessen war er sich absolut sicher. Er und sie gehörten zusammen. Anna würde zu diesem Thorstad nie ja sagen.

Eine kleine Pause im Gespräch entstand.

»Und Anna?«, fragte Gernod dann behutsam nach. »Was sagt deine Anna dazu?«

Anna hatte Goldhaare, sie war das schönste Mädchen, das Leon kannte, ohne weiteres konnte er sich ihr liebliches Gesicht ins Gedächtnis rufen, jeden Zug darin, ihr schmelzendes Lächeln, den Blick aus ihren blauen Augen, er meinte ihren weichen, nachgiebigen Körper zu spüren, so wie vor einigen Monaten, als er sie hier im Garten in den Armen gehalten hatte. Seine Anna, nicht Witzlafs. Wie konnte Witzlaf über seine Anna verfügen? Sie waren gleich alt, er und Anna, am selben Tag geboren, und sie hatten das immer als Fingerzeig Gottes für ihre Verbundenheit gesehen.

Niemand, nicht einmal Gott selbst, konnte das Band zwischen ihm und ihr zerschneiden.

»Anna ist einverstanden«, sagte Witzlaf nach einem winzigen Zögern. »Oh ja, sie ist einverstanden«, wiederholte er lebhafter, »sie mag Thorstad, sie hat es mir selbst gesagt, ohne jeden Zwang.«

»Wie schön«, murmelte Gernod mit verhaltener Freude, »das haben wir gewollt, nicht wahr?«

Wieder schwiegen die beiden einen Moment. Die Redepausen begannen gewaltig an Leons Nerven zu zerren. Jede Faser seines Körpers war von einer beißenden Unruhe erfüllt, während er das Gefühl hatte, dass sich ein riesiger Mühlstein auf sein Herz legte, sodass es immer schwerer schlug.

»Es war eine Kinderfreundschaft, nichts weiter«, begann Witzlaf unbehaglich. »Das wissen wir doch. Verzicht gehört zum Erwachsenwerden dazu, das wird er noch einsehen, auch wenn es jetzt schwer ist.«

Dem Klang nach bewegte sich Witzlaf auf die Tür zu, anscheinend war er im Begriff, zu gehen.

Sie sprachen von ihm, erkannte Leon blitzartig. Und was kam nun? Brachten sie bei ihm auch alles so hübsch auf die Reihe wie bei Anna?

»Den Kummer hätte ich ihm gern erspart, glaub mir. Aber sein Weg ist nun mal ein anderer«, fuhr der Vogt mit dem gleichen Unbehagen fort. Es klang, als wollte er bei Gernod um Verständnis für eine unvermeidliche Unannehmlichkeit bitten.

»Sorg dich nicht um ihn, das ist unsere Aufgabe«, entgegnete Gernod ernst.

Oh ja, eine gut bezahlte, dachte Leon verbittert. Es wurde Zeit, dass er in Deckung ging. Um alles in der Welt wollte er sich nicht beim Lauschen erwischen lassen, nicht bei diesem entsetzlichen Gespräch.

Es war beinahe schon zu spät. Die Tür schwang knarrend auf. Mit einem verzweifelten Satz hechtete Leon hinter einen Salbeibusch und drückte sich flach auf die Erde. Wenn doch bloß der Mond nicht so hell schiene!

»Wirst du mit Leon reden?«, fragte Witzlaf besorgt.

»Ja, sicherlich. Und ich werde für Anna beten.«

»Und über euer Vorhaben reden wir noch, über die Einzelheiten. Hat ja noch ein, zwei Tage Zeit. Ich geb dir Bescheid. Es trifft sich wirklich gut, dass ihr es gerade jetzt wahr machen wollt.«

Welches Vorhaben? Ging es um sein – Leons – Noviziat? Bis Martini waren es aber mehr als ein, zwei Tage. Wie niederträchtig, so über seinen Kopf hinweg zu entscheiden. Alle waren sich anscheinend einig.

Leon lugte zwischen den Salbeizweigen hindurch zur Apotheke. Die beiden Männer sprachen nicht mehr. Gernod legte Witzlaf nur leicht die Hand auf den Arm, bevor er sie in den anderen Kuttenärmel zurücksteckte. Die Arme vor der Brust gekreuzt, die Hände unsichtbar, - in der typischen Haltung der Mönche - blieb er vor der Tür stehen und sah dem Vogt sinnend nach. Der Mond beleuchtete voll sein vom Alter schon recht zerfurchtes Gesicht. Diese Falten hatte Leon noch nie so klar wahrgenommen. Und die schmächtige Gestalt des über Sechzigjährigen schien ein wenig geschrumpft. Leon wehrte sich gegen ein Gefühl von Sorge, das ihn auf einmal überkam. Man sorgte sich um Freunde, aber Gernod zählte er nun nicht mehr dazu.

Der Blick des Mönchs schweifte wie suchend über die Beete, hastig zog Leon den Kopf ein. Als er sich vorsichtig wieder reckte, hatte sich die Tür zur Apotheke geschlossen. Leon kam auf die Knie. Auf einmal musste er würgen, er konnte gar nicht dagegen ankämpfen. Hilflos übergab er sich, bis ihm die Kehle von der Säure des Magensafts brannte.

4

Jemand rüttelte ihn wach. Leon konnte höchstens ein, zwei Stunden geschlafen haben. Er lag eng zusammengerollt auf seinem Strohsack, die Decke bis zum Kinn hochgezogen. So war er eingeschlafen. Jetzt schmerzten ihm die Glieder, als er sie vorsichtig streckte. Unwillig knurrend, versuchte er herauszufinden, wer ihn aus dem wohltuenden Schlaf gerissen hatte, in den er nach langem Grübeln gefallen war.

»Leon, komm, steh auf.« Trotz des Flüsterns erkannte Leon die Stimme des Bruder Gärtners. Willibrod leuchtete ihm mit einer abgeblendeten Laterne ins Gesicht. »Rasch, es eilt.«

Nichts eilte. Leon weigerte sich einfach, das Drängen in der Stimme und der ganzen Haltung Willibrods wahrzunehmen. Ging es einem der kranken Brüder im Siechensaal schlechter? Brauchte ihn Gernod als Assistenten? Er stellte sich taub und stumm und gab vor, weiterzuschlafen. Für die Nöte der anderen stand er nicht mehr zur Verfügung. Sollten sie doch selbst sehen, wie sie damit fertig wurden.

»Leon!«, donnerte Willibrod.

Die drei Knechte auf den anderen Lagern fuhren senkrecht in die Höhe.

»Schlaft weiter, ihr drei«, wies sie Willibrod verlegen an, »kümmert euch nicht um uns. Und du, Leon, raff dich auf!«

»Ja, mach schon.« Einer der Knechte langte herüber, puffte Leon derb in die Seite und ließ sich ächzend auf sein Lager zurückfallen.

Eine heiße Wut stieg in Leon auf, als er von seinem Strohsack herunterkrabbelte, sich aufrichtete und nach seiner Hose und einem Wams langte, das an einem Haken an der Wand hing. Willibrod hielt ihm auch noch einen Umhang hin, den er sich nachlässig über die Schultern warf.

Der Gärtner eilte voraus, sodass Leon nicht einmal fragen konnte, worum es eigentlich ging. An der Klosterpforte trafen sie auf Gernod, der bei ihrem Näherkommen einiges von einer Bank neben der Pforte raffte und es ohne Erklärung Leon in die Hände drückte.

»Trag das.«

Verbandsmaterial, erkannte Leon, aber da gab es auch noch zwei lange Stangen, mit Stoff umwickelt, die Willibrod an sich nahm. Eine Tragbahre. Willibrod kämpfte ein bisschen mit den unhandlichen Stangen, aber natürlich waren sie keine echte Herausforderung für einen kräftigen, kerngesunden Mann von Anfang fünfzig.

»Kommt ihr?« Gernod wandte sich ungeduldig um.

Der Pförtner hielt ihnen bereits die Tür auf und schloss sie hinter ihnen mit einem vernehmlichen Knall.

»Wo ist denn der Knecht?«, fragte Willibrod.

»Ich hab ihn zurückgeschickt, ich wollte nicht, dass Jaromir auch nur einen Augenblick länger als nötig allein bleibt«, antwortete Gernod. »Das schien mir zu gefährlich.«

»Jaromir?«, rief Leon erstaunt. »Mein ...« Großvater hatte er sagen wollen, aber das Wort blieb ihm im Hals stecken.

»Später, Leon, aber du wirst gleich selbst sehen, was los ist«, beschied ihn Gernod. »Noch wissen wir nichts Genaues. Aber es ist Eile geboten. Ich fürchte ...« Er beendete den Satz nicht.

Leon hatte keine andere Wahl, als hinter den beiden herzustolpern und darauf zu achten, die Rollen mit Verbandsmull nicht fallen zu lassen, denn dann waren sie nicht mehr zu gebrauchen. Gernod legte Wert auf peinlichste Sauberkeit.

Niemand war mehr unterwegs. Sie waren ganz allein in den Gassen. Irgendwo heulte ein Hund den Mond an, es klang recht schauerlich.

Etwas war mit Jaromir passiert, etwas Schreckliches.

Die Tür zur Kneipe schwang im Wind auf und zu. Ein schlechtes Zeichen, ein sehr schlechtes Zeichen. Leon wehrte sich innerlich gegen eine schleichende Furcht und beschwor die Erinnerung an die Unterredung herauf, die er hier in diesem Haus erst vor wenigen Stunden geführt hatte. Mit einem Großvater, der nie viel für ihn übrig gehabt hatte. Wahrscheinlich hatte der Alte endlich sein Fett weggekriegt, dachte er mit einem Anflug von Gehässigkeit, die aber nicht so richtig aufblühen wollte. Ein schales Gefühl.

Die Gaststube war verwüstet, die Möbel teilweise zertrümmert, nichts stand mehr an seinem Platz, es stank nach verschüttetem Bier. Es sah ganz danach aus, als hätte ein Kampf stattgefunden. Wann? Wie lange war das her?

Leon bahnte sich hinter Gernod und Willibrod einen Weg durch den Raum. Eine schmale, unauffällige Tür führte in einen Flur und zu einer engen Stiege. Von oben drang ein Stöhnen herab, ein schwacher, aber beständiger, kehliger Schmerzenslaut, bei dem sich Leons Nackenhaare sträubten.

Leon kannte sich hier nicht aus, Gernod anscheinend schon. Ohne innezuhalten, stieg er die Treppe hinauf und rief laut.

Oben trat ihnen der Schankknecht entgegen, den Leon am Abend in der Gaststube gesehen hatte. Und endlich fiel ihm etwas ein, dass er früher wahrgenommen, dass ihm aber trotzdem nicht bewusst geworden war: Die Gaststube war an diesem Abend halb leer gewesen. Ungewöhnlich, sehr ungewöhnlich. Und wo waren die beiden anderen Knechte, die zu Jaromirs Personal gehörten?

»Geh nach unten und stell dich vor die Tür. Schrei, wenn jemand versucht, an dir vorbei einzudringen«, wies Gernod mit fester Stimme den Knecht an.

»Und vor allem, komm nicht auf die Idee, dich davonzumachen. Wir brauchen dich noch«, fügte Willibrod bestimmt hinzu.

»Hab ich mich davongemacht?«, fragte der Knecht empört. »Ich bin keiner, der bei der leisesten Drohung den Schwanz einzieht, ich nicht.«

»Schon gut«, beschwichtigte Gernod, »wir sind nur in Sorge, verstehst du?«

»Hast du eine Waffe?«, rief Willibrod dem Knecht, der gerade die Treppe abwärts stieg, hinterher.

Leon hörte, wie eine Klinge mit einem sirrenden Ton aus der Scheide fuhr, wandte sich aber nicht um. Seine Aufmerksamkeit war auf die Kammer gerichtet, aus der der Schein einer Lampe in den Flur fiel. Die Tür weiter aufstoßend, trat er als erster ein.

Jaromirs Schlafkammer war ein überraschend geräumiges Zimmer. Das größte Möbel war das Bett, ein üppiges Pfostenbett, neben dem ein Schemel stand, auf dem Jaromirs schäbige, stinkende Kleider lagen, soweit sie nicht zu Boden gefallen waren.

Nur äußerst zögerlich wandte sich Leons Blick der mächtigen Gestalt auf dem Bett zu, von der das Stöhnen ausging. Die Arme, mit denen er so krampfhaft das Verbandsmaterial hochgehalten hatte, sanken kraftlos herab. Gerade noch gelang es ihm, es wieder an sich zu pressen.

Der Mann, der sein Großvater war, hatte kein Gesicht mehr.

Leon sah nur eine blutige Masse und mitten drin eine schiefe Öffnung, aus der die schrecklichen Leidenslaute herausdrangen.

»Leg die Sachen ans Fußende oder schmeiß das Zeug vom Schemel.«

Gernods sachliche Stimme brachte Leon wieder zu sich. Mechanisch stieß er mit dem Fuß die Lumpen vom Schemel und legte das Verbandszeug ab.

»Oh, Jesus«, bemerkte Willibrod nüchtern, »den hat’s aber übel erwischt.«

»Äußerlichkeiten«, sagte Gernod knapp und beugte sich forschend über Jaromir. »Kannst du mich hören, alter Freund?«

Keine Reaktion, nur Stöhnen.

»Ich brauche Essig, an Essig hab ich nicht gedacht. Dieser dumme Knecht hat nur die Hälfte erwähnt. Leon! Geh in die Küche und sieh nach, ob du Essig findest, und fach das Feuer an. Wir brauchen dringend heißes Wasser. Das Blut muss runtergewaschen werden, bevor es an den Augen verkrustet. Ich muss die Verletzungen sehen können.«

»Ich geh«, bot Willibrod an. »Es ist besser, wenn Leon hierbleibt. Falls Jaromir zu sich kommt, kann er ihn am ehesten beruhigen.«

Leon hatte sich vom Bett zurückgezogen und schob sich rückwärts zur Tür. »Nein.« Er rannte hinaus und die Treppe hinab.

Die Küche schien unangetastet, jedenfalls gab es hier keine Verwüstungen. Die Grapen, die dreibeinigen Töpfe aus Ton oder Eisen, die Pfannen und Tiegel befanden sich alle an ihrem Platz auf den langen Borden über der Herdstelle. Der Raum war so aufgeräumt, wie Jaromirs Köchin und ihre Tochter ihn nach der Arbeit verlassen hatten. Auf dem Tisch in der Mitte lag, abdeckt mit einem Tuch, ein großes Stück von dem Braten, den Jaromir Leon am Abend vorgesetzt hatte. Der Duft des wunderbar würzigen Fleisches hing verlockend in der Luft.

Leon lehnte sich an den stark von Hackmessern zerfurchten Fleischhauklotz in der Nähe des Wasserfasses. In seinem Kopf wirbelten Fragen. Wer hatte Jaromir überfallen und warum? Hatte es eine Schlägerei gegeben, derer Jaromir nicht Herr geworden war? Bisher hatte der Alte nie ein Problem gehabt, für Ruhe in seiner Kneipe zu sorgen. Wieder sah Leon das blutüberströmte Gesicht vor sich.

Nein! Mit Macht schob er das grauenhafte Bild beiseite. Er wollte sich davon nicht bedrücken, nicht den Verstand rauben lassen.

Jaromir, nahm er seinen Gedanken wieder auf, musste im Schlaf überfallen worden sein, das war die einzig logische Erklärung. Jemand, der das Haus recht genau von Innen kannte, war mitten in der Nacht eingedrungen, die Treppe hinaufgeschlichen und ... Es musste mehr als einer gewesen sein. Mit einem einzigen Angreifer wäre Jaromir fertig geworden.

Aber was hatten sie gewollt? Waren sie hinter seinen Ersparnissen her? Bestimmt hatte er welche. Wo waren sie versteckt?

Leon vergegenwärtigte sich die Verwüstung in der Gaststube. Die Schäden sahen nicht nach dem Ergebnis einer Durchsuchung aus. Mehr nach ... nach ... was? Leon war sicher, dass es viele gab, die dem fetten Jaromir gern eins ausgewischt hätten. Schon aus Neid. Weil sein Laden so gut lief. Warum war die Küche unangetastet geblieben? Leon stellte sich einige Rüpel aus dem Hafen vor, die er kannte, verkappte Piraten, Halsabschneider, die sich gern bei entsprechend guter Bezahlung für einen kleinen Überfall anheuern ließen. Wieder sah er zum Tisch. Keiner von denen würde einen guten Braten verschmähen. Die ganze Sache wurde rätselhafter, je länger er darüber nachdachte.

»Der Essig, Leon!« Willibrod betrat die Küche. »Wo ist er? Warum suchst du nicht danach?«

Im Vorbeigehen legte ihm der Mönch flüchtig die Hand auf den Arm. Leon erhaschte einen mitfühlenden Blick. »Er wird schon wieder. Dein Großvater ist ein zäher alter Hund, glaub mir, der übersteht Schlimmeres«, sagte Willibrod leise.

Erst jetzt bemerkte Leon, dass er am ganzen Körper zitterte. Das gefiel ihm nicht, und Willibrod konnte sich sein Mitgefühl schenken. Einen Moment hatte Leon tatsächlich vergessen, wie sehr er ihm und auch Gernod seit dem letzten Abend gram war. Jetzt überkam ihn wieder tief und hässlich die Wut auf die beiden.

»Schon recht. Ich bin bloß hundemüde. Ist doch nicht gerecht, mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen zu werden«, gab er kalt zurück.

Willibrod musterte ihn forschend, sagte aber nichts darauf. »Schau dich nach dem Essig um, ich schür das Feuer.« Er bückte sich, um in das Feuerloch unter dem Herd zu schauen, und griff nach einem Schürhaken.

Leon wandte sich ab. Den Essig fand er in einer Vorratskammer, die an die Küche grenzte. Geräucherte Schinken und Würste hingen von der Decke, ein ganzes Käserad lag auf einem Bord, gegen Fliegen durch dünnes Leinen geschützt. Ein Fass enthielt Pökelfleisch. Schätze, lauter Schätze, aber die Einbrecher hatten sich nicht dafür interessiert. Der Gedanke drängte sich wieder auf, während Leon an mehreren Tonflaschen schnüffelte. Eine enthielt einen starken Essig.

Gernod hatte die Zwischenzeit dazu genutzt, Jaromirs Gesicht wieder menschlicher erscheinen zu lassen. Das hieß, das Blut war größtenteils abgetupft. Leon fragte sich, wozu ihn Gernod dann so dringend nach Essig geschickt hatte, und konnte sich die Antwort selbst geben. Auch der Arzt hatte angenommen, dass der Anblick des blutüberströmten Jaromirs seinem Enkel zu sehr zusetzte.

»Hier ist der Essig«, sagte er mürrisch und hielt ihm die Tonkruke hin.

»Feuchte ein Tuch damit an und reiche es mir«, sagte Gernod in gedämpftem Ton, sich nur kurz über die Schulter zurück an Leon wendend.

Jaromir bewegte sich unruhig und begann lauter zu stöhnen, als Gernod das Gesicht mit dem Essigwasser betupfte.

»Nur ruhig«, erklärte Gernod beschwichtigend, »das haben wir gleich. Der Essig muss sein, um einer Entzündung vorzubeugen. Du willst doch sicher keine hässlichen Narben zurückbehalten oder?«

Vom Bett klang ein seltsames Grunzen herüber. Jaromir, ging Leon schaudernd auf, versuchte zu lachen. Es klang furchtbar.

Weil Gernod ihm mit einer Geste zu verstehen gab, dass er noch Essig brauchte, trat er näher heran und konnte endlich mehr von den Verletzungen erkennen. Eine Augenbraue war aufgerissen, und die Lippe blutete, aber diese Blutung versiegte allmählich. Ein dunkler Fleck breitete sich unter dem linken Auge aus und ... je länger Leon das Gesicht betrachtete, desto mehr Spuren von Schlägen erkannte er.

Wer brachte es fertig, einen alten Mann derart zusammenzuschlagen? Was für Tiere waren das gewesen? Jaromirs rechte Hand war an den Knöcheln aufgeschunden, sie lag gut sichtbar auf der Bettdecke, nur leicht zur Faust geballt. Die Verletzung zeugte davon, dass er sich gewehrt hatte.

Kein Messer. Jaromir war nicht mit einem Messer angegriffen worden, erkannte Leon, man hatte ihn nur mit Schlägen traktiert. Seltsam. Die Raufbolde, an die er vorhin noch gedacht hatte, hätten nicht gezögert, ihre Messer einzusetzen.

Jaromirs Augen wanderten unruhig im Raum umher. Um genug Licht zu haben, hatte Gernod eine der beiden Laternen, mit denen sie hergekommen waren, auf einen Stuhl neben das Bett gestellt, außerdem hatte er eine Öllampe angezündet, die einen sanften, warmen Schein verbreitete. Wohin irrten Jaromirs Augen immer wieder? Leon war sich sicher, dass den Alten etwas beschäftigte. Dem Bett gegenüber stand eine große Truhe. Sollte er dort sein Geld versteckt haben? Manche dieser Truhen verfügten über ein Geheimfach - nur wer über die Bauart dieser Truhen Bescheid wusste, kannte auch das Fach. Jaromir war doch nicht so blöd, sein sauer verdientes Geld in dieser Truhe aufzubewahren?

»Das muss ich nähen, Jaromir, der Riss in der Braue ist zu groß, um ihn so zu lassen. Aber das werde ich besser im Kloster machen. Wir nehmen dich mit, verstehst du?«

In Jaromirs Augen flackerte Angst auf.

»Du wirst nicht viel davon merken. Ich gebe dir noch hier an Ort und Stelle einen Sud ein, der dich betäubt hat, bevor wir ankommen. Morgen früh sieht alles gleich besser aus.« Die Stimme, die auf den Verletzten einredete, war gleichmäßig und freundlich, zeigte aber keinerlei besänftigende Wirkung. Im Gegenteil. Jaromir wurde immer aufgeregter. Gernod schüttelte den Kopf, als Willibrod wieder hereintrat.

»Das Wasser unten kocht. Soll ich dir jetzt etwas davon heraufbringen?«, fragte der Gärtner.

»Nein, ich gehe selbst hinunter und bereite einen Trank zu, das dauert nur einen Augenblick.« Gernod wandte sich zur Tür, und überraschend schloss sich Willibrod ihm an. »Wenn du hier keine Aufgabe für mich hast, komme ich mit hinunter und nehme mir den Knecht vor. Wollen doch mal sehen, welche Erklärung er dafür hat, dass er den Überfall auf seinen Herrn so seelenruhig verschlafen hat. Das hat er doch, oder nicht?«

Einen Moment später war Leon mit seinem Großvater allein. Gern wäre er mit hinuntergegangen, aber da die Mönche ihn nicht dazu aufgefordert hatten, blieb ihm nichts anderes übrig, als bei Jaromir auszuharren. Mit ein paar leisen Schritten zog er sich ans Fenster zurück.

»Leon!«

Leon rührte sich nicht.

»Leon!« Der gekrächzte Ruf war kaum zu verstehen, deutlich war nur das Drängen in der Stimme, dem sich Leon nicht länger entziehen konnte.

»Ich glaube, du solltest nicht sprechen, du würdest nur wieder bluten«, sagte er beherrscht.

Jaromir hob die Hand, machte vage Gesten, aus denen Leon nicht schlau wurde, die ihn aber ans Bett lockten. Besser, er versuchte herauszufinden, was Jaromir wollte. Sollte er die Truhe öffnen?

Sobald er sich in Reichweite von Jaromirs Hand befand, packte ihn sein Großvater am Ärmel.

»Fuß...«, der Rest ging in einem Röcheln unter. Ein Blutfaden lief Jaromir aus dem Mundwinkel, und aus dem Riss in der Oberlippe quoll dunkelrotes, dickes Blut. Es roch nach Blut. Es roch nach Blut und Angst. Wie eine Stichflamme überkam Leon wieder das Zittern.

Hastig entzog er sich der Hand, langte nach dem Essigtuch auf dem Schemel und wollte das Blut abtupfen, aber Jaromir riss den Kopf herum.

»Fuß...«, nuschelte er wieder.

Was meinte er?

Leon versuchte herauszufinden, wohin Jaromir starrte, die Augen weit aufgerissen. Kleine schwarze Höhlen in einem geschundenen Gesicht.

»Gib Ruhe, hörst du? Mach dir bloß keine Sorgen um dein Geld«, fuhr ihn Leon harscher als beabsichtigt an, »wichtig ist nur, dass wir dich von hier wegbringen, bevor diese Tollköpfe, die dich überfallen haben, auf die Idee kommen, zurückzukehren.«

Von unten war die strenge Stimme Willibrods zu hören, anscheinend gab er sich redliche Mühe, den Knecht unter Druck zu setzen. Er würde die Wahrheit schon aus ihm herausholen, dessen war sich Leon sicher.

Oder auch nicht.

Wessen konnte er sich seit zwölf Stunden noch sicher sein?

»Rück die Tru...« Es war mehr Ächzen und Stöhnen als Sprechen.

»Sei still, ich will nichts hören!« Leon schrie beinahe. Das Blut sprudelte heftiger, der Anblick war unerträglich. Leon wollte das nicht sehen, er wollte, dass es aufhörte.

»Hol mir ...«

Jaromir würde nicht aufgeben. Und auf einmal wusste Leon, dass es nicht um Geld ging. Er drückte das Tuch mit dem Essig Jaromir in die Hand.

»Also schön. Die Truhe. Was soll ich damit machen? Soll ich sie öffnen?«

Jaromir verneinte kopfschüttelnd. Er wollte, dass Leon die Truhe an einer Seite vorrückte. Dass er dahinter die etwa eine Handspanne hohe Leiste an der Wand abtastete.

Leon quetschte sich mit Schultern und Oberkörper in den Spalt hinter der Truhe. Seine Finger glitten über das alte Holz der Fußleiste, spürten jede Unebenheit und dann einen winzigen, beinahe unsichtbaren Riegel oben an der Kante. Ein leichtes Drehen, und ein Teil der Fußleiste klappte nach vorn. Dahinter befand sich ein Loch in der Wand. Leon schob die Hand hinein und bekam einen schmalen Kasten zu fassen. Er holte ihn heraus, legte ihn auf die Truhe. Als er die Hand noch einmal in das Loch gleiten ließ, erfühlte er einen Beutel, aber ein Kommando Jaromirs ließ ihn innehalten.

»Nein ... Der Kasten!«

Leon zögerte einen Moment, aber dann richtete er sich auf und brachte ihn Jaromir. Einen länglichen Holzkasten, in dessen Oberfläche altertümliche Ornamente geschnitzt waren. Fahrig griff Jaromir danach, nahm ihn in beide Hände, hielt ihn hoch und küsste ihn andächtig, mit geschlossenen Augen. Einen langen Moment verharrte er, ganz in sich gekehrt. Erst danach öffnete er ihn zögernd.

Jaromirs große Hände versperrten Leon die Sicht auf den Inhalt, außerdem hantierte er auch noch mit dem Tuch. Anscheinend wollte den Gegenstand, den der Kasten enthielt, nicht mit bloßen Händen anfassen.

Leon wusste von Gernod, dass es hochgiftige, ätzende Substanzen gab, die bei der leisesten Berührung furchtbare, kaum heilende Wunden hervorriefen. Innerlich auf etwas Schreckliches gefasst, beobachtete Leon Jaromir genau, um ihm notfalls das Ding, oder was immer es war, aus der Hand zu schlagen.

Eine Figur.

Eine kleine, alles andere als kunstvolle Holzfigur, grau, unscheinbar, verwittert. Aber etwa in der Mitte leuchtete und schimmerte etwas an ihr. Ein Glanz wie von Gold oder Silber. Wenig Gold oder Silber. Zu wenig, um einen wirklichen Wert darzustellen.

Die Anspannung wich von Leon und machte einer milden Enttäuschung Platz. Jaromir hatte ein Spielzeug in dem Kasten versteckt.

Er hatte die Figur mit äußerster Behutsamkeit gefasst. Mit angehaltenem Atem und einem Ausdruck von grenzenloser Hingabe und Ehrfurcht betrachtete er das Ding. Jaromir versank in Ehrfurcht. Und noch während sich Leon wunderte, merkte er, dass von dem Ding in Jaromirs Händen etwas Magisches ausging, dem er sich nicht entziehen konnte. Auf einmal waren Stimmen in der Luft, ein Wispern und Flüstern, die Luft sang in einer fremden Sprache. Das Ding hatte Macht, eine fremde, alte Macht, die Leon kalte Schauder über die Haut jagte. Wie konnte von diesem einfachen Ding solche Macht ausgehen, wieso wurde er unaufhaltsam in den Bann dieser Figur gezogen? Was geschah mit ihm?

Was  war das?

Unten im Haus wurden die Stimmen lauter, nun mischte sich auch Gernods ein. Das Geräusche von Schritten auf der Treppe drang herauf.

Jaromir erwachte wie aus einer Trance. Mit zittrigen Händen verbarg er die Figur wieder im Kasten und hielt ihn Leon mit einem Nicken in Richtung Wand hin. Leon schüttelte den Kopf, um die Benommenheit loszuwerden, die die Figur ausgelöst hatte. Er wusste, was von ihm erwarten wurde, aber er zögerte, es zu tun. Bevor er den Kasten entgegennahm, musste er seinen ganzen Mut zusammenreißen – und wirklich, diesmal brannte der Kasten in seinen Händen.

Er eilte zu dem Loch hinter der Truhe und hatte gerade die Fußleiste geschlossen und sich aufgerichtet, als Gernod, gefolgt von Willibrod und dem Knecht, eintrat.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Neuausgabe
Jahr
2016
ISBN (eBook)
9783960530657
Dateigröße
1.3 MB
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (April)
Schlagworte
14. Jahrhundert Mittelalter Jugendbuch ab 12 Jahre historischer Roman für Jungen Kinderkrimi Freundschaft Rügen für Mädchen Stralsund Schatz eBooks
Zurück

Titel: Leon und der Schatz der Ranen - Band 4
book preview page numper 1
book preview page numper 2
book preview page numper 3
book preview page numper 4
book preview page numper 5
book preview page numper 6
book preview page numper 7
book preview page numper 8
book preview page numper 9
book preview page numper 10
book preview page numper 11
book preview page numper 12
book preview page numper 13
book preview page numper 14
book preview page numper 15
book preview page numper 16
book preview page numper 17
book preview page numper 18
book preview page numper 19
book preview page numper 20
book preview page numper 21
book preview page numper 22
book preview page numper 23
book preview page numper 24
book preview page numper 25
book preview page numper 26
book preview page numper 27
book preview page numper 28
book preview page numper 29
book preview page numper 30
book preview page numper 31
book preview page numper 32
book preview page numper 33
book preview page numper 34
book preview page numper 35
book preview page numper 36
book preview page numper 37
book preview page numper 38
book preview page numper 39
173 Seiten