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Das Puppenzimmer

Roman

©2016 431 Seiten

Zusammenfassung

„Seine Stimme war leise und samtig, ein bisschen melancholisch. Bei den dunkel umrandeten Augen war auch kaum etwas anderes möglich. ‚Meine Schwester und ich sind auf der Suche nach einem Mädchen … Einem ganz besonderen Mädchen.‘“

London im Jahr 1908. Drei Wege führen aus dem Waisenhaus: der Tod, das Arbeitshaus oder eine Adoption. Als die junge Florence in den Haushalt der Familie Molyneux aufgenommen wird, kann sie eigentlich aufatmen – doch sie erkennt schnell, dass etwas auf dem prachtvollen Landsitz Hollyhock ganz und gar nicht stimmt. Warum darf außer ihr niemand das Zimmer voller alter Puppen betreten? Wieso kann sie dort manchmal Kinderlachen hören und manchmal ein Weinen? Und welches düstere Geheimnis bergen der gutaussehende Rufus Molyneux und seine eiskalte Schwester? Florence ahnt noch nicht, wie gefährlich Neugier sein kann – und dass nicht nur ihr Leben auf dem Spiel steht ...

Ein Fantasy-Lesevergnügen: unheimlich, schaurig-schön und immer wieder anders als erwartet!

Jetzt als eBook: „Das Puppenzimmer“ von Maja Ilisch. Wer liest, hat mehr vom Leben: jumpbooks – der eBook-Verlag für junge Leser.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Über dieses Buch:

London im Jahr 1908. Drei Wege führen aus dem Waisenhaus: der Tod, das Arbeitshaus oder eine Adoption. Als die junge Florence in den Haushalt der Familie Molyneux aufgenommen wird, kann sie eigentlich aufatmen – doch sie erkennt schnell, dass etwas auf dem prachtvollen Landsitz Hollyhock ganz und gar nicht stimmt. Warum darf außer ihr niemand das Zimmer voller alter Puppen betreten? Wieso kann sie dort manchmal Kinderlachen hören und manchmal ein Weinen? Und welches düstere Geheimnis bergen der gutaussehende Rufus Molyneux und seine eiskalte Schwester? Florence ahnt noch nicht, wie gefährlich Neugier sein kann – und dass nicht nur ihr Leben auf dem Spiel steht ...

Ein Fantasy-Lesevergnügen: unheimlich, schaurig-schön und immer wieder anders als erwartet!

Über die Autorin:

Maja Ilisch, geboren 1975 in Dortmund, studierte Öffentliches Bibliothekswesen an der FH Köln und absolvierte eine Ausbildung zur Fachbuchhändlerin. Sie schrieb unter anderem für TV-Serien auf SAT1 und RTL sowie für ein Hörspiellabel, für das sie auch eine Phantastikreihe konzipierte. Außerdem betreibt sie die Website des von ihr gegründete Fantasy-Autorenforums TINTENZIRKEL. Heute lebt sie als Bibliothekarin und freie Autorin mit ihrem Mann in Aachen, wo sie sich mit Büchern umgibt und ausgewählte Gäste mit ihrer Puppensammlung erschreckt, die fast nur aus Köpfen besteht. Das Puppenzimmer ist ihre erste Romanveröffentlichung.

Mehr Informationen über die Autorin im Internet: www.ilisch.de

Maja Ilisch freut sich, Kontakte zu ihren Lesern zu knüpfen: www.facebook.com/majailisch

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eBook-Neuausgabe April 2016

Copyright © der Originalausgabe 2013 dotbooks GmbH, München

Copyright © 2016 jumpbooks Verlag. jumpbooks ist ein Imprint der dotbooks GmbH, München.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Redaktion: Julia Abrahams

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design, München

Titelbildabbildungen: Markus Gann (Wald) und Gromovataya (Mädchen), beide Shutterstock, sowie Thinkstock (Puppe)

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN 978-3-96053-157-9

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Maja Ilisch

Das Puppenzimmer

Roman

jumpbooks

Erstes Kapitel

Sie zogen mir ein weißes Kleid an, damit begann es.

»Wir werden dich Florence nennen«, sagten sie. »Florence, das ist die französische Aussprache. Sie ist schöner als die englische.«

Ich hörte ihnen zu und nickte. Ich hatte noch nie ein weißes Kleid getragen. Und mein Name war nicht Florence.

Eigentlich fing es natürlich viel früher an. Es gibt immer ein Früher, und nie einen Anfang. Aber ich will mit dem Tag beginnen, an dem der Gentleman nach St. Margaret’s kam. St. Margaret’s Institut für Niedere Töchter, so nannten wir es, natürlich nur heimlich: Das klang nach gefallenen Mädchen und hatte etwas Verruchtes an sich, das uns gefiel – wir waren in dem Alter. Die Vorsteherin ahnte davon nichts. Ihr Name war Miss Mountford, und so sah sie auch aus, mit einem spitzen Kinn und viel zu kleinem Mund, den sie trotzdem auf alle Arten von Missbilligend verziehen konnte. St. Margaret’s war natürlich ein Waisenhaus.

In ganz London und Umgebung konnte man keinen viktorianischeren Ort finden, und das lag bestimmt an Miss Mountford, einer alten Viktorianerin durch und durch. Es war ihr nicht entgangen, dass die gute Königin schon seit Jahren tot war – sonst hätte sie uns damals nicht tage- und wochenlang ihretwegen Trauer tragen lassen. Ich erinnere mich nur allzu gut an Queen Victorias Todestag: Ich war ein Mädchen von sieben Jahren, hatte gerade meine beste und einzige Freundin verloren und sollte stattdessen um eine dicke alte Frau mit Hängebacken trauern, die ich nie gesehen hatte. Jedes Mädchen von St. Margaret’s hatte jemanden, um den es lieber trauern wollte als um die Königin. Die meisten erinnerten sich nur zu gut daran, wie sie die eigenen Eltern oder Großeltern verloren hatten, und selbst wer wie ich niemals im Leben den eigenen Eltern auch nur begegnet war, hatte trotzdem Kummer und Verlust nur allzu gut kennengelernt. Die alte Königin konnte uns schnuppe sein, aber wenn Miss Mountford Trauer anordnete, dann hatten wir zu spuren.

Wir spurten immer, wenn Miss Mountford etwas von uns verlangte. Waisenkinder waren leichter abzurichten als Hunde, was das anging. Ließ man Hunde tagelang hungern, konnten die zumindest versuchen, einander aufzufressen – für uns Mädchen kam das nicht in Frage. Und wie der Lehrer in der Schule hatte auch Miss Mountford immer einen Rohrstock zur Hand, mit dem es etwas auf die Finger gab, wenn eine von uns nicht gehorcht hatte. War Miss Mountford nicht zugegen, um ein Vergehen selbst zu bemerken, gab es immer andere Mädchen, die nur allzu bereit waren zu petzen – schon weil das den eigenen Fingerchen einen halben Tag lang Schonung versprach, und die grässlichen Näharbeiten, mit denen wir unsere Nachmittage verbringen mussten, um uns ein kleines Taschengeld zu verdienen und vor allem dafür zu sorgen, dass unsere Vorsteherin es sich auch leisten konnte, uns zu füttern, waren noch einmal so unerträglich, wenn alle Knochen der Hand schmerzten.

Ich hätte einen Klaps auf mein Hinterteil allemal bevorzugt, aber das gehörte zu einer Region unseres Körpers, an die wir keinen Gedanken zu verschwenden hatten – anständige Waisenmädchen waren keusch und reinlich und wussten, was sich schickte. Das musste der Grund sein, warum Miss Mountford auch lange nach Königin Victorias Tod ihr Porträt in der Halle nicht durch das ihres Nachfolgers ersetzt hatte – es war schlicht undenkbar, dass wir Mädchen jeden Tag zuallererst einen Mann zu Gesicht bekamen, und noch dazu einen von so fragwürdiger Moral! Mochte außerhalb der Mauern von St. Margaret’s auch König Edward VII. über England herrschen, wir waren und blieben treue Viktorianerinnen, zumindest bis zu dem Tag, an dem wir das Waisenhaus hinter uns ließen.

Drei Wege führten aus St. Margaret’s hinaus: Als Erstes der Tod, eine schreckliche und traurige und doch seltsam alltägliche Angelegenheit. Ich kann mich zwar an kein Mädchen erinnern, das wirklich verhungert wäre, aber niemand von uns war proper genug, um lange durchzuhalten, wenn eine schwere Krankheit an die Tür klopfte: Keuchhusten für die Kleinen, Scharlach für die Mittleren und Lungenentzündung für die Großen – der Tod war nicht wählerisch, wenn er nach St. Margaret’s kam, und es ist erstaunlich, wie viele von uns tatsächlich alt genug wurden, um den zweiten Weg hinauszufinden: Wer die Schule beendet hatte, der konnte selbst für den eigenen Unterhalt sorgen, und ob die Mädchen nun irgendwo in Anstellung gegeben wurden oder in der Fabrik endeten, das Leben, das sie erwartete, war sicher keinen Schlag besser als das in St. Margaret’s. Aber was gab es Besseres als eine anständige Vorbereitung auf Not und Entbehrungen? Der dritte Weg, die Adoption, war der einzige, den wir uns zu wünschen wagten. Und darum gelang es auch kaum einer von uns jemals, ihn zu beschreiten.

Es kam nicht besonders häufig vor, dass Gentlemen sich zu uns verirrten, schon gar nicht alleine. Wenn es um Adoptionen ging, kamen doch meist Ehepaare, wenn überhaupt: Wer sollte schon St. Margaret’s für eine Adoption in Betracht ziehen? Das Haus schien aus einem schlechten Dickens-Abklatsch entsprungen zu sein, der als Fortsetzung in einer billigen Zeitung erschien, deren Druckerschwärze hinterher an Händen und Schürze klebte. Außen war es ein großer und dunkler Bau, innen immer noch dunkel, aber überhaupt nicht mehr groß. Es gab dort nur drei Schlafsäle für uns, dazu Küche, Speisesaal und Handarbeitszimmer – natürlich hatte auch Miss Mountford ihre Wirtschaftsräume, aber groß waren auch die nicht, als hätte sich St. Margaret’s so sehr verausgabt bei dem Versuch, ein eindrucksvolles Äußeres auf die Beine zu stellen, dass fürs Innere nichts mehr übrig blieb. So kalt und zugig war es in St. Margaret’s, dass jede adoptionswillige Mutter damit rechnen musste, die so erworbene Tochter binnen Jahresfrist an die Schwindsucht zu verlieren, und das dämpfte die Freude doch sicherlich gewaltig.

So mussten wir, die armen Zöglinge, damit rechnen, früher oder später ins Arbeitshaus überzusiedeln, es sei denn, jemand nahm uns vorher in seinen Dienst, denn bei einer Scheuermagd kam es nicht darauf an, wann oder aus welchen Gründen sie der Schwindsucht anheimfiel. Scheuermägde waren viel leichter zu ersetzen als Töchter. Es hieß also, die Fabrik oder Dienerschaft – wir konnten uns nicht entscheiden, was davon nun die schlimmere Aussicht war, und so wurden die allergrößten Hoffnungen in die Adoptionen, wie selten sie auch vorkommen mochten, gesetzt. Niemand musste uns zweimal ermahnen, unsere Haare vor dem Flechten zum saubersten aller Scheitel zu kämmen, die Fingernägel zu schrubben und unser süßestes Sonntagslächeln aufzusetzen, wenn interessierte Herrschaften ihren Besuch ankündigten.

Der Gentleman, der an jenem schicksalsvollen Tag nach St. Margaret’s kam, hatte sich jedoch nicht angekündigt, was natürlich ein strategischer Schachzug sein konnte: So erwischte er diejenigen Mädchen, die ihr Haar nicht stets senkrecht scheitelten und die Fingernägel nicht sauber hielten, unvorbereitet. Der Gentleman hatte es eilig, wie es schien. Natürlich, so etwas Wichtiges wie eine Adoption sollte man immer übers Knie brechen, aber auch mit ausführlicher Vorbereitung war die Auswahl zwischen 60 Mädchen, in drei Reihen nach Größe aufgestellt – alle gekleidet in das gleiche dunkelblaue Leinen und mit den gleichen straff geflochtenen Zöpfen –, nicht viel anders als die Wahl eines Hundewelpen aus einem zappelnden Wurf. Aber war er überhaupt wegen einer Adoption gekommen?

Wir, die wir schon etwas älter waren, hatten die Hoffnung ohnehin aufgegeben – 14 Jahre, so gut wie fertig mit der Schule und schon mit einem Fuß im Arbeitshaus. Zum Adoptieren eigneten sich die kleineren Mädchen besser. Jene, die noch nicht so lange in St. Margaret’s waren, dass die karge und strenge Kost von Mrs. Hubert, unserer Köchin, ihre Grübchen glatt gebügelt hätte, und deren blondes Haar sich noch lieblich kräuselte, statt durch tausend stramme Zöpfe straff gezogen worden zu sein. Ab einem gewissen Alter wurde niemand mehr adoptiert. Da konnte man nur hoffen, dass ein Gentleman kam, die Reihen entlangschritt und dann erklärte, dieses oder jenes Mädchen wäre in Wirklichkeit die verschollene Erbin von Leicester – seht nur, hier ist das Testament –, um dann in einer prachtvollen Kutsche davonzufahren zu dem Haus, das von nun an ihr Stammsitz sein sollte.

Aber nicht so bei diesem Gentleman. Bei ihm kamen die Mädchen auf noch ganz andere Gedanken. Er war groß und schmal, einer, der im Leben noch nie hatte arbeiten müssen, und wenn, dann nicht hart oder körperlich. Es lag so viel Würde in seinen schmalen Schultern, so viel Anmut. Dazu ein fein geschnittenes, ernstes Gesicht mit einem tragischen Zug um den Mundwinkel und dunklen Schatten unter seinen noch dunkleren Augen – als hätte man ihn einer beliebigen Brontë-Schwester entrissen, bevor sie ihn zum Helden eines Romans hatte machen können. Mit seinem schwarzen Haar und dem schwarzen Anzug sah er aus wie eine sehr ernste Dohle, und sein Blick ging durch Mark und Bein, dass man sich ganz klein fühlte und gleichzeitig irgendwie erhaben, weil er einen überhaupt beachtete. Ich sah ihn und kannte sofort all die romantischen Gedanken, die den anderen Großen, die wie ich in der hinteren Reihe stehen mussten, durch den Kopf gingen.

Aber nicht mir. Meine romantischen Phantasien bestanden nicht darin, dass ein dunkler Fremder in mein Leben trat und mich auf den Stammsitz seiner Familie entführte. Gegen eine Adoption hätte ich zwar nichts einzuwenden gehabt, aber selbst dann hatte ich nicht vor, lange zu bleiben. Mein Traum – ob ihn nun irgendjemand außer mir romantisch fand oder nicht – war es, mit dem Zirkus durchzubrennen. Die große und wilde Freiheit, jeden Tag an einem anderen Ort zu sein, faszinierte mich. Das entbehrungsreiche Leben auf der einen Seite, der Applaus auf der anderen, und ich mittendrin, hoch oben in der Luft, ganz allein auf dem Drahtseil. Ich stellte mir vor, dass irgendwo der Platz einer Seiltänzerin frei geworden sein musste, seit Elvira Madigan mit ihrem Leutnant davongelaufen war. Es kümmerte mich dabei wenig, dass diese Geschichte schon bald 20 Jahre zurücklag – romantische Träume mussten sich nicht um die Realität scheren. Manchmal erschien mir Elvira mit ihrem süßen Gesicht und dem langen, offenen Haar, um das ich sie so sehr beneidete, und flüsterte mir zu, dass sie das alles nur für mich getan hatte, damit ich zum Zirkus gehen konnte. Ich habe Elvira nie verstanden. Wer rennt denn mit einem Leutnant davon, wenn er auch auf dem Seil tanzen kann? Dass sie sich am Ende beide erschossen haben, geschah ihnen nur recht.

Ich tat mein Bestes, um diesen Traum eines Tages Wirklichkeit werden zu lassen. Auf der offenen Galerie im ersten Stock versuchte ich, wann immer ich mich unbeobachtet fühlte, auf dem Geländer zu balancieren. Dass mir ein Sturz alle Knochen brechen konnte und den Hals noch dazu, machte es erst recht zu einer Herausforderung. Ich tänzelte über Mauern und Brüstungen, doch ich musste aufpassen, dass mich niemand dabei erwischte – Miss Mountford hatte wenig Verständnis für den Zirkus, und für Seiltänzerinnen noch weniger, aber am allerwenigsten für Mädchen, die ihr Haar lang und offen trugen mit Ponyfransen, die ihnen in die Augen hingen wie bei meiner lieben Elvira. Aber in Gedanken war ich immer beim Zirkus, dachte manchmal, dass es vielleicht auch ganz schön wäre, Akrobatik auf dem Rücken eines galoppierenden Pferdes auszuüben, und fragte mich, ob eine Seiltänzerin auch eine Nebenbeschäftigung haben konnte. Ich war nicht wie die anderen Mädchen, obwohl ich, St. Margaret’s sei Dank, genauso wie sie aussah.

Als also an jenem Tag der Gentleman kam und wir uns alle in der Halle aufstellen mussten, blieb ich ruhig, auch als sein Blick mich musternd streifte, und hörte die Herzen um mich herum pochen. Ich musste zugeben, er sah schon gut aus, dieser dunkle Fremde, aber für einen Zirkusdirektor war er falsch gekleidet: Der schwarze Anzug ließ ihn eher wie einen Bestatter wirken, und so war er mir doch recht egal in dem Moment.

»Mädchen«, sagte Miss Mountford, »dies ist Mr. Molyneux, der gekommen ist, um euch in Augenschein zu nehmen.« Klang es nicht ganz wie bei einer Landwirtschaftsausstellung? Wer von uns würde wohl den Preis für die fetteste Sau erhalten – keine, denn dafür waren wir alle zu dünn –, und wer den für die Kuh mit den schönsten Augen? Ich sah, wie zu meiner Linken die lange Mildred in den Knien einknickte, um kleiner und niedlicher zu wirken, während zu meiner Rechten die zierliche Colleen auf die Zehenspitzen ging und die Brust herausstreckte – solange wir nicht wussten, wofür der Gentleman gekommen war, konnten alle nur raten, was er sehen wollte. Ich blieb stehen, wie ich war. Aber sollte er fragen, wer über das Treppengeländer balancieren konnte, ich würde springen, sofort.

»Meine lieben Mädchen«, sagte der Gentleman. »Waisenkinder, allesamt.« Als wüssten wir das noch nicht … abgesehen davon, dass es nicht stimmte. Nicht für alle jedenfalls. Um ein Waisenkind zu sein, musste man überhaupt erst einmal Eltern gehabt haben. »Wie zuvorkommend von euch, dass ihr euch hier versammelt habt.« Seine Stimme war leise und samtig, ein bisschen melancholisch, aber bei den dunkel umrandeten Augen war auch kaum etwas anderes vorstellbar. »Meine Schwester und ich sind auf der Suche nach einem Mädchen … einem ganz besonderen Mädchen.«

Seine schmalen Mundwinkel hoben sich bei den Worten, und die Herzen um mich herum pochten lauter. Schwester! Schwester, hatte er gesagt, nicht Gattin! Sollte er am Ende noch zu haben sein? Ich schüttelte den Kopf, aber so, dass es niemand merkte. Er mochte ein Gentleman sein, aber mir war er viel zu alt – bestimmt schon über 40!

»Meiner Schwester Gesundheit ist angegriffen«, fuhr er fort, »und so war es ihr nicht möglich, mich hierher zu begleiten, dass nun die schwere Bürde, die Richtige unter euch zu finden, auf mir liegt.« Während er sprach, wanderte sein Blick von einer zur anderen und blieb auf jeder gleich lang liegen, egal ob sie sich für ihn groß oder klein machte. »Eine Frage bat sie mich jedoch, euch zu stellen.« Er machte einen Schritt zurück, um uns alle gleichzeitig erfassen zu können, 60 Mädchen in drei Reihen. »Wer von euch spielt gerne mit Puppen?«

Es konnte eine Fangfrage sein, geeignet, die älteren Mädchen von den jüngeren zu trennen und die arbeitsamen von den verspielten, und solange niemand wusste, wonach er suchte, zögerten die meisten, ihre Hand zu heben, bis auf die ganz Kleinen in der vorderen Reihe, denen man das Gegenteil so oder so nicht abgenommen hätte. Aber als Mr. Molyneux plötzlich selbst eine Puppe in den Händen hielt, gingen die Finger nach oben.

Ich starrte auf die Puppe und fragte mich, wo sie so plötzlich hergekommen war – kein kleines Püppchen, sondern eine große Puppe mit blonden Locken, gekleidet in ein prachtvolles rubinrotes Kleid mit Spitzenrüschen und drei Unterröcken. Bestimmt war es eine französische Puppe, wie sie niemand von uns besaß, und für die unsere kleineren Mädchen ihre Gesichter an den Schaufensterscheiben der Spielwarenhändler platt drückten, dass sie zur Adventszeit mit ihren verschnupften Näschen daran festfroren und Miss Mountford sehr zornig dreinblicken musste, wenn die armen Dinger unglücklich und blutend wieder zurück waren.

Von wo mochte der Mann die Puppe hergenommen haben? Sein Anzug saß zu eng, als dass er sie unter der Jacke hätte verstecken können, und ich hätte schwören können, dass seine Hände eben noch leer gewesen waren. Im Zirkus gab es auch Zauberkünstler … Plötzlich sah ich den Mann mit neuen Augen, während um mich herum alles auf das Biskuitgesicht mit den großen blauen Augen starrte, dessen Mündchen noch kleiner war als das unserer Vorsteherin, so winzig, dass es nichts als ein Lächeln zeigen konnte. Doch mein Arm blieb unten.

Ich versuchte, mich zu erinnern, ob ich seine Hände zuvor überhaupt gesehen hatte oder ob er sie nicht vielmehr die ganze Zeit über hinter seinem Rücken verborgen hielt. Hatte er mich vielleicht deswegen an eine Dohle erinnert, weil seine Arme wie Flügel aussahen? Ich zwinkerte. Zirkus oder nicht, ein Zauberer beherrschte seine Tricks, weiter nichts, und er konnte die Puppe ja schlecht aus der leeren Luft gegriffen haben.

Dann fing mich sein Blick ein. Ich sah ihn an mir hinunterblicken und wieder hinauf, und vielleicht war das sogar ein Lächeln in seinem Gesicht, aber ich erwiderte seinen Blick mit dem gleichen leichten Nicken, das er mir entgegenbrachte.

»Und du, Mädchen?«, fragte er. So hätte er jede von uns anreden können, und doch wussten wir alle, dass ich gemeint war. »Spielst du nicht gerne mit Puppen?«

»Nein«, erwiderte ich. »Das tue ich nicht.«

»Und warum nicht, wenn du mir diese Frage gestattest?«

Natürlich gestattete ich. »Sie sind tot und reden nicht mit mir«, antwortete ich. »Eine Puppe gibt mir nicht das, was mir ein Buch gibt.« Ich biss mir auf die Lippe. Es war kein großes Geheimnis, dass ich liebend gerne Romane las, aber doch nichts, was Miss Mountford so direkt hören musste. Ein Mädchen, das Zeit zum Lesen hatte, konnte noch ganz andere Sachen tun – nützliche, vorzugsweise.

»Bedauerlich«, sagte der Gentleman, »sehr bedauerlich.« Und er wandte den Blick von mir ab. Da wusste ich, dass wir so nicht ins Geschäft kommen würden, und dass es das Beste für uns beide war. »Aber ihr anderen Mädchen, ihr liebt Puppen?« Wildes Nicken, ob nun aus echter Begeisterung oder vorgetäuschter. Ich war mir sicher, dass die Älteren sich längst aus dem Puppenalter herausgewachsen fühlten. Aber besser mit Puppen spielen als in der Fabrik schuften, nicht wahr?

Mr. Molyneux trat noch einen Schritt zurück. »Wer von euch möchte diese Puppe hier haben?«, fragte er. Wieder gingen alle Hände hoch außer meiner. Es gab kein Halten mehr. Die Kleinen wollten die Puppe, die Großen wollten den Mann. Außer mir schien niemand wahrzunehmen, dass der Gentleman die Augen geschlossen hatte und zu überlegen schien, statt irgendetwas auf die wedelnden Mädchenhände zu geben. Schließlich ging er wieder zwei, drei Schritte vorwärts, schnell und entschlossen, und drückte die Puppe einem kleinen Mädchen in der ersten Reihe in die Hände.

Ich konnte von hinten nicht erkennen, um wen es sich handelte, mit ihren Häubchen sahen sie alle gleich aus. Aber ich wusste, wer wo zu stehen hatte, schließlich hatten wir alle unseren festen Platz in der Aufstellung. Das Glückskind war die kleine süße Eleonore: Frisch verwaist, niedlich, die Wangen waren noch rosig – kein Wunder, dass sie uns bald wieder verlassen würde.

»Hier, nimm das«, sagte der Mann, aber er würdigte das Mädchen dabei keines Blickes. Stattdessen schaute er mich an. »Und du kommst mit mir.«

Ich sah mich sicherheitshalber zu den Seiten um. Colleen, Mildred, er musste eine der beiden meinen, denn ich hatte ihm wirklich keinen Grund gegeben, ausgerechnet mich auszuwählen. Aber er nickte und zeigte mit dem Finger auf mich. »Ja, du – beeil dich, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.«

Ich war, gelinde gesagt, überrumpelt. Etwas mehr Bedenkzeit, und ich wäre vielleicht in Panik geraten, aber ich wusste ebenso gut wie alle anderen: Wenn die Gelegenheit kam, aus St. Margaret’s herauszukommen, musste man sie beim Schopfe packen, ohne zu zögern, ohne Fragen zu stellen. Der Mann wollte mich mitnehmen – dann war ich die Letzte, sich da zu widersetzen. Ich trat aus der Reihe und blickte fragend und gleichzeitig fordernd Miss Mountford an. Jetzt war es an ihr, zu bestätigen, dass alles seine Ordnung hatte, oder zu widersprechen. Aber eigentlich konnte es ihr nur recht sein, wenn Mr. Molyneux mich mitnahm. Eine aufmüpfige Seiltänzerin weniger. Sie sollte sich freuen.

»Sie muss noch ihre Sachen zusammenpacken«, sagte Miss Mountford, als der Gentleman schon wieder zum Ausgang strebte.

»Das denke ich nicht«, sagte Mr. Molyneux. »Ich sehe hier kein Ding, das ich gern in meinem Haushalt wüsste.«

Meinte er meine Kleider? Das konnte ich durchaus nachvollziehen, die würde ich auch nicht in meinem Haus haben wollen. »Meine Bücher«, sagte ich. Es waren nur drei, und ich kannte sie fast auswendig – meine Bibel, der alte Almanach von 1903, den ich vor einem Ende im Kamin gerettet hatte, und eine sehr zerlesene Ausgabe von Agnes Grey. Ich liebte keines von ihnen so sehr wie die Bücher, die ich heimlich in der Leihbücherei verschlungen hatte, aber es ging mir ums Prinzip.

Aber der Gentleman schüttelte den Kopf. »Jedes Buch, das dich zu interessieren hat, wirst du in meinem Haus finden. Und nun komm.« Seine eben noch samtige Stimme war jetzt schroff, und sein Gesicht zeigte harte Falten, die vorher nicht da gewesen waren und ihn viel älter wirken ließen. Seine Worte gaben mir zu denken, klangen sie doch wie eine Drohung – aber das mit den Büchern konnte gleichzeitig auch ein Versprechen sein.

So nickte ich. »Also gut. Ich bin bereit.«

Draußen regnete es; es regnet immer an solchen Tagen, aber der Fremde musste in einer Kutsche gekommen sein oder einer Droschke – für ein Automobil war er zu altmodisch, trocken und vernünftig. Ich würde schon an einem Stück dort ankommen, wo er mich hinbrachte. Und wenn es mir da nicht gefallen sollte … Es würde schon irgendwo ein Zirkus in der Nähe sein.

Als ich dem Gentleman ins Freie folgte, fühlte ich mich seltsam nackt, und das lag nicht einmal daran, dass ich nichts mit mir führte als die Sachen, die ich am Leib trug, sondern vor allem an der Art, wie er mich aus allem herausgerissen hatte, was ich kannte. Ich hatte den anderen Mädchen nur im Vorbeigehen ein Lebewohl wünschen und in die Runde winken können, statt mich von jeder einzeln zu verabschieden. Gut, ich hätte mich nicht wirklich von jeder einzeln verabschieden wollen, aber so ging es mir doch irgendwie zu schnell.

Es sollte sich schon jemand finden, der meine Bibel und die beiden anderen Bücher haben wollte, so bald würden die nicht im Feuer enden, und meine Kleider gehörten mir ja auch nur so lange, wie ich hineinpasste, dann wurden sie an das nächste Mädchen weitergereicht. Sonst lag neben meinem Bett nichts, das sich zu vermissen lohnte. Die anderen Mädchen konnten ihre Lehren daraus ziehen und zusehen, dass sie alles Wertvolle am Leib trugen, wenn adoptionswillige Gentlemen kamen, die mit der Zeit geizten. Es wäre sonst schade um all die Medaillons mit den Locken verstorbener Mütter gewesen, wenn die am Ende in St. Margaret’s hätten zurückbleiben müssen. Aber wer so ein Kleinod besaß, der wusste es ohnehin besser, als es jemals abzulegen. Ich zumindest war nicht so dumm: Irgendwann würde mir das Ding um meinen Hals schon noch seinen Zweck verraten, oder zumindest, wer meine Eltern waren, und wer ich.

Ein wenig eingeschüchtert war ich schon, als ich Mr. Molyneux stumm über die Straße folgte. Er ging sehr schnell mit seinen langen Beinen: Da es immer noch regnete, konnte ich das gut verstehen. Ich hatte erwartet, dass seine Kutsche vor der Tür stehen würde, doch stattdessen mussten wir um die nächste Straßenecke gehen, was mich ein wenig wunderte – vor dem Waisenhaus war schließlich genug Platz. Die Kutsche war ein schwarzes Coupé, das zum Glück geräumig genug aussah, dass Mr. Molyneux und ich darin nicht Knie an Knie würden sitzen müssen. Da er mich keines weiteren Blickes gewürdigt hatte, seitdem die Türen von St. Margaret’s hinter uns zugefallen waren, ahnte ich, dass die Fahrt sonst arg ungemütlich geworden wäre – und auch so erwartete ich keine vergnügte Landpartie.

Der Kutscher, dem sein Zylinder Regenschutz genug zu sein schien, stieg vom Bock, um seinem Herrn die Tür zu öffnen und ihm in die Kutsche zu helfen. Ich ließ Mr. Molyneux einsteigen und wartete darauf, dass ich selbst hineingebeten wurde, irgendwann musste der Mann ja wieder mit mir sprechen. Was er mit mir vorhatte, wusste ich nicht, und das machte mich unsicher und, wenn nicht gleich ängstlich, doch zumindest argwöhnisch. Zum Freuen war es wohl noch zu früh. Er hatte nicht davon gesprochen, ob er das Mädchen, das er suchte, als Tochter annehmen oder als Zofe für seine Schwester einstellen wollte. Es war alles sehr rätselhaft, und ich hatte zu viele Schauerromane gelesen, um nicht, misstrauisch, wie ich war, vom Schlimmsten auszugehen, und schlimm war ein weites Feld. Es gab sehr wenig, was ich Mr. Molyneux in diesem Moment nicht zugetraut hätte, aber ich versuchte, das nicht an mich herankommen zu lassen. Was auch immer mich erwartete, ich durfte keine Angst haben. Selbst wenn meine Zukunft düster aussah, düster war auch das, was ich hinter mir hatte: Ich war aus St. Margaret’s entkommen, und die volle Reichweite dessen ging mir nur langsam auf. Was immer ich bei Mr. Molyneux sein würde, ich war keine Niedere Tochter mehr.

»Steig ein«, sagte der Kutscher zu mir. »Soll ich dir helfen?«

Würdevoll schüttelte ich den Kopf. Eine Seiltänzerin schaffte es allemal, allein in ein Coupé einzusteigen. So turnte ich elegant in die Kutsche, froh, niemandem zu viel Arbeit zu machen, und überlegte im Geiste, was ich zu Mr. Molyneux sagen sollte, wenn wir uns gleich auf diesem engen Raum gegenübersaßen. Aber stattdessen fand ich mich Auge in Auge mit einer fremden Lady wieder.

Sie war wunderschön und sehr blass, was natürlich daran liegen konnte, dass es in der Kutsche ziemlich schummrig war; Licht fiel vor allem durch die noch offene Tür hinein, aber als der Kutscher diese hinter mir schloss, wurde es dunkel um mich. Offenbar waren die kleinen Fenster geschwärzt worden – wie passend für ein finsteres Gefährt mit einem Gespann schwarzer Pferde. Aber wenn die Lady kränkelte, vertrug sie vielleicht kein Tageslicht. Und wenn sie immer in verdunkelten Kutschen saß, musste man sich nicht wundern, dass sie blass war.

Sie trug einen ausladenden Hut nach der neuesten Mode, die immer einen Ausgleich dafür finden musste, dass die Kleider so schlicht und reizlos aussahen und die Frauen so schmal machten. Farblich lag er irgendwo zwischen Rosa und Flieder, ebenso wie ihr Kleid, aber anders als der Hut war dieses ganz und gar altmodisch ausladend und nahm mit seinem Reifrock die halbe Kutsche ein. Neben ihr auf der Bank, im Schatten kaum zu sehen, hatte der Gentleman Platz genommen, und als das Coupé mit einem Ruck anfuhr, setzte ich mich eilig ihnen gegenüber und fuhr, mit dem Rücken voran, ins Ungewisse.

»Das ist sie also?«, fragte die Lady.

»Das ist sie«, wiederholte der Gentleman. Und ich bildete mir ein, dass sie beide ein bisschen zu skeptisch dabei klangen, vielleicht sogar missbilligend, aber was immer sie stören mochte, es war nichts, was zu ändern in meiner Macht lag. Trotzdem, es verletzte mich. Sie hatten aus einer Auswahl von so vielen Mädchen ausgerechnet mich genommen – dann mussten sie jetzt auch damit leben, dass ich ich war und nicht wie die anderen.

Ich zog mich etwas tiefer in die Schatten zurück. In meinen Träumen stand ich zwar im Licht, und alles jubelte mir zu, aber ich war auch selbst tüchtig im Beobachten, eine Kunst, die jedes gut ausgebildete Waisenmädchen beherrschen sollte: Nicht aufzufallen, wenn ich nicht auffallen wollte, hatte mich schon an manchem Tag gerettet, sei es vor Miss Mountford, der Köchin oder auch nur einem älteren Mädchen. Mr. Molyneux konnte sich ruhig mit seiner Schwester unterhalten; mir sollte das nur recht sein.

»Die Einzige?«, fragte die Lady.

»Ich hatte noch zwei andere im Verdacht«, erwiderte er. »Aber sie erschienen mir … ungeeignet.«

»Immerhin«, sagte sie. »Das ist mehr als in den anderen Häusern, die wir besucht haben.«

Danach waren sie erst einmal still, die Kutsche rumpelte, und ich konnte nachdenken. Es gab nur zwei Waisenhäuser in Whitton, und das andere war für Jungen – das hieß, sie mussten sich auch in London selbst umgesehen haben. Wollten die beiden jetzt nicht nur mich, sondern waren am Ende auf der Suche nach einem ganzen Stall kleiner bis mittelgroßer Mädchen? Aber wofür? Egal, es sollte mir recht sein. Sie hatten mich immerhin ausgesucht – wenn das sogar aus einer größeren Auswahl geschehen war, ehrte mich das umso mehr.

»Es ist Zeit, heimzufahren«, sagte Mr. Molyneux zu seiner Schwester. Und dann, man sollte es kaum für möglich halten, beugte er sich zu mir vor, als wäre ihm plötzlich wieder eingefallen, dass ich existierte. »Hast du eine Vorstellung, warum wir dich ausgewählt haben, und wofür?«, fragte er.

Ich schüttelte den Kopf. »Wenn Sie es mir nicht sagen wollen …«, sagte ich und spielte schüchterner, als ich war. Ich war in keiner Position zum Frechsein. Noch konnten sie es sich anders überlegen und wieder umkehren, oder noch schlimmer, mich mitten im Regen auf der Straße aussetzen. Nicht dass ich etwas gegen ein bisschen Freiheit einzuwenden gehabt hätte, aber ich wollte den Zeitpunkt, an dem ich mein großes Abenteuer begann, gern selbst bestimmen.

»Das will ich in der Tat nicht«, sagte er und lächelte leicht. »Es würde wenig Sinn ergeben. Ich müsste es dir ein zweites Mal erklären, wenn wir erst einmal Hollyhock erreicht haben. Du wirst deine Augen brauchen, um zu lernen, nicht nur deine Ohren.«

Mir gefiel der Name des Hauses. Hollyhock, das klang besser als St. Margaret’s. Hollyhock Hall. Das Malvenhaus. Ich stellte mir vor, dass es auf dem Land lag, weit weg von der Zivilisation, ein altes Herrenhaus, in dem die Geschwister wohnten, mit niemandem als einem alten, fast blinden Diener und ihrem Kutscher. Und natürlich rankte sich ein Geheimnis um das Haus. Es gab kein altes Haus ohne Geheimnisse.

»Ich nehme an, Sie wollen mich nicht zur Tochter?«, versuchte ich es vorsichtig mit einer Frage, wo ich schon einmal seine Aufmerksamkeit hatte.

»Du wirst noch erfahren, für was wir dich brauchen«, erwiderte der Gentleman. »Und du wirst damit zufrieden sein. Wir möchten kein unglückliches kleines Mädchen in unserem Haus haben. Sei brav und halte dich an die Regeln, dann müssen wir dich auch nicht bestrafen. Ungerechtigkeit liegt uns fern. Sie ist so lästig.« Wieder lächelte er in dem spärlichen Licht, das durch die Ritzen hereinfiel.

»Ja, Mr. Molyneux, Sir«, sagte ich und nickte. »Madam.« Das sollte als Anrede erst einmal unverfänglich sein. Dass ich Worte wie »Vater« oder »Mutter« erst einmal nicht in den Mund nehmen musste, war ganz in meinem Sinn. Sie hätten sich nur fremd angefühlt. Die Molyneux’ waren nicht meine Eltern, nicht meine Familie, und sie sollten wissen, dass ich das nicht nur akzeptierte, sondern froh darüber war. Es hätte die Dinge nur unnötig erschwert. Nur dass sie mich noch keinmal nach meinem Namen gefragt hatten, störte mich ein wenig. Ich wollte nicht für den Rest meines Lebens, oder zumindest meiner Jugend, mit »Mädchen« angeredet werden. Dass ich kein Junge war, wusste ich auch so.

»Hast du ihr die Puppe gezeigt?«, fragte die Lady ihren Bruder. Nicht mich – bis sie einmal das Wort an mich richtete, sollte es noch Stunden dauern.

»Selbstverständlich«, sagte Mr. Molyneux. »Sie lehnte sie ab.«

»Und wo ist die Puppe jetzt?«

»Eine der Gören hat sie bekommen.« Das war das erste Mal, dass ich aus Mr. Molyneux’ Mund ein Wort hörte, das zu dem geringschätzigen Blick in seinen Augen passte. »Wir brauchen sie nicht mehr.«

»Es war keine von ihren«, sagte die Lady, mehr zu sich selbst, als wollte sie ganz sichergehen.

»Nein«, sagte er. »Natürlich nicht.«

Und dann waren sie wieder still. Ob das an meiner Anwesenheit lag oder daran, dass sie einander nach den langen gemeinsamen Fahrten, die sie schon hinter sich haben mussten, nicht mehr viel zu sagen hatten, konnte ich nicht beurteilen, aber den Rest der Fahrt über hörte ich kein Wort mehr von ihnen.

Die Fahrt war lang. Ich hatte erwartet, dass wir irgendwann zur Nacht vielleicht irgendwo Station machen würden, und mir versucht auszumalen, wie es wohl war, in einem echten Gasthof abzusteigen – ob ich mit den Pferden im Stall schlafen müsste oder ein Zimmer bekäme, am Ende gar eines für mich allein … Doch nichts davon. Die Kutsche fuhr und fuhr, es wurde immer dunkler, und das Rütteln, nachdem ich mich einmal daran gewöhnt hatte, schläferte mich ein. Ich dachte nur kurz daran, dass ich noch nichts gegessen oder getrunken hatte seit dem Mittagessen, und dass dieses schon eine Weile zurücklag, aber ich wollte mich nicht deswegen beschweren; die Molyneux’ aßen und tranken während der Fahrt schließlich auch nichts. Und obwohl ich mir vorgenommen hatte, sie ganz genau zu beobachten, tat ich das Gegenteil und schlief ein.

So verschlief ich den Großteil der Fahrt, weswegen ich hinterher nicht einmal sagen konnte, wie lange sie nun wirklich gedauert hatte. Ich schlief so friedlich und fest, dass ich nicht einmal merkte, ob wir unterwegs die Pferde auswechselten oder ob wir zwei Schwestern der legendären Black Bess vor uns hatten, die ihren Herrn, den gefürchteten Straßenräuber Dick Turpin, in einem Tag und einer Nacht von York bis nach London und zurückgetragen hatte. Der Kutscher musste der Teufel selbst sein, und zumindest in meinem Traum war er es auch: ein Höllenkerl mit Hörnern, der auf seine Pferde eindrosch und sie antrieb, dass ihre Hufe den Boden nicht mehr berührten. Und Mr. Molyneux … Und seine Schwester war … Im Traum wusste ich es. Doch kaum war dieser vorbei, erinnerte ich mich nicht mehr. So ist das mit Träumen.

Ich wurde wach, und das Bild des Hauses, das ich eben noch so klar vor Augen hatte, verschwand. Nun, das sollte meine geringste Sorge sein. Ich würde das echte Haus sehen, sobald wir da waren. Hollyhock. Nicht ganz ein Zirkus. Aber meine neue Heimat.

Eine Hand an meiner Schulter rüttelte mich leicht. Seltsam, dass ich davon wach wurde – die Kutsche hatte mich die ganze Fahrt über weitaus mehr geschüttelt, aber wer einmal die Betten von St. Margaret’s überstanden hatte, der konnte überall schlafen.

Trotzdem, ich zögerte, die Augen zu öffnen. Ein letztes Mal versuchte ich, das Traumbild festzuhalten – noch etwas, das man in St. Margaret’s lernte: Egal wie mies der Traum sein mochte, die Wirklichkeit war immer noch viel mieser. Schließlich blinzelte ich, rekelte mich ein bisschen und schlug die Augen vollends auf. Es war immer noch dämmrig in der Kutsche, aber das Licht war jetzt nicht mehr braungrau, sondern hatte die Farbe von Flieder. Es quoll zur halboffenen Tür herein und machte mich neugierig auf das, was jenseits der Kutsche liegen mochte. Aber zwischen mir und der Außenwelt stand die Lady, Mr. Molyneux’ Schwester, die sich über mich beugte.

»Genug geschlafen«, sagte sie. »Es ist an der Zeit, aufzustehen. Du sollst nicht in der Kutsche wohnen.« Das waren also die ersten Worte, die sie an mich richtete. Man hätte sie mit einem Lächeln sagen können, sogar mit einem Lachen, aber Milady sprach kühl und distanziert und artikulierte dabei jeden Buchstaben säuberlich, als ob sie eine fremde Sprache spräche.

»Ja, Madam«, sagte ich, jeder Zoll wohlerzogenes Waisenmädchen. »Rede nur, wenn du gefragt wirst«, war uns mit dem Stecken eingebleut worden, und: »Kinder soll man sehen, nicht hören.« Ich beherrschte all diese Spielchen und Regeln, wenn es darauf ankam. »Vielen Dank, dass Sie und Ihr Bruder mich in Ihr Haus nehmen.«

»Du wirst noch später Zeit haben, uns zu danken«, sagte sie. »Komm jetzt.« Ihr Bruder war nirgendwo mehr zu sehen. Nun, es war sicherlich auch schicklicher, wenn eine Lady mich aufweckte denn ein Gentleman. Wir wollten doch nicht vom ersten Tag an den Dienern einen Grund zum Tuscheln geben!

Als ich meinen Kopf aus der Kutsche schob, wurde mir fast schwindelig von der frischen Luft. Anstatt dass ich mich freute, aus dem muffigen Kasten zu steigen, der den Geruch von Staub trug, von Miladys zartem Parfüm und langen Jahren in der Remise, erschlug es mich förmlich. Ich roch das Haus, bevor ich es sah, oder zumindest roch ich seinen Garten. Ein Meer von Blumen, die ich nie zuvor gesehen hatte. Zumindest nicht in natura und in Farbe. Von den schwarz-weißen Kupferstichen im Almanach kannte ich zwar die Namen vieler Pflanzen, und das eine oder andere Blümchen hatte ich natürlich auch auf den sonntäglichen Spaziergängen durch den Park gesehen, aber in dieser Pracht und Vielfalt waren sie neu für mich.

Ich war den Geruch von Rauch und Nebel gewohnt, in der Stadt durchzog er selbst den Park, und was dort blühte, hatte keine Chance, zu gedeihen: Bald war es grau vom Ruß und ging ein. Hollyhock hingegen musste von Tausenden Blumen und Büschen umgeben sein, und ich konnte nur vermuten, dass Flieder darunter war und vielleicht auch die eine oder andere Malve, der das Haus den Namen verdankte, auch wenn ich mir nicht sicher war, ob Malven um diese Jahreszeit schon blühten. In London taten sie es nicht, aber hier gab es mehr Sonne und bestimmt einen großartigen Gärtner … Die Welt verschwamm vor meinen Augen, und alles, was ich sah, war ein Strudel von Farbe, Rosa in allen Schattierungen der Dämmerung, und es war schön.

Ich zwinkerte. Mein Blick klärte sich, und jetzt sah ich endlich auch das Haus. Es übertraf alles, womit ich gerechnet hatte. Das Haupthaus war ein mächtiger Würfel mit hohen Säulen und einem klassizistischen Giebel, den ich dank meiner umfassenden Bildung durch den Almanach von 1903 und heimlicher Besuche in der Leihbücherei als Regency, höchstwahrscheinlich, identifizierte. Links und rechts gab es Anbauten, von denen ich nicht sagen konnte, ob sie so alt waren wie der Rest. Es war eine Sache, klassizistische Giebel zu erkennen, aber der Almanach ersetzte keine höhere Schulbildung. Ich konnte nicht sehen, wie viele Kamine Hollyhock hatte – wenn wir früher spazieren gehen durften, hatten wir Mädchen immer das Kaminspiel gespielt: Gewonnen hatte diejenige, die das Gebäude mit den meisten Kaminen fand. Aber ich stand zu nah am Haus, um irgendetwas vom Dach sehen zu können, geschweige denn von den Kaminen, und so blieb mir nur die Hoffnung, dass es irgendeine Form von Heizung gab, am besten auch in meinem Zimmer. Man durfte ja noch träumen, irgendwie.

In jedem Fall konnte ich sagen, dass das Haus alt war, alt genug, um den Zahn der Zeit mehr als einmal zu spüren bekommen zu haben. Vielleicht war es etwas schäbig, wenn man das über so ein stolzes Herrenhaus sagen durfte, aber es war wenigstens nicht düster. Das Mauerwerk war von einem hellen Grau, das gut zu den Stockrosen passte. Man konnte es nicht wirklich freundlich nennen – das war für Grau auch schwer möglich –, aber es hatte so etwas Leichtes. Wenn man an St. Margaret’s gewöhnt war, an Backstein, der mit den Jahren von all dem Ruß in der Luft fast schwarz geworden war, fühlte es sich an wie schneeweißer Marmor. Es war schön hier, alles passte zusammen, die Blumen vor dem Haus waren etwas verwildert, das Haus ein wenig heruntergekommen. Tief in mir breitete sich Wärme aus – ich fühlte mich wohl, an einem Punkt tief in mir, der nicht ans Wohlfühlen gewöhnt war.

Einen kurzen Moment lang empfand ich Bedauern darüber, dass uns die Kutsche so nah vor dem Eingang ausgespuckt hatte, so dass ich nicht hatte sehen können, wie Hollyhock aus der Ferne wirkte; ich hätte gern gesehen, wie es zwischen den Bäumen im Park auftauchte, aber niemand durfte erwarten, dass Milady die ganze Auffahrt hinauflief. Nur die Vortreppe, die konnte ihr niemand ersparen. Und ich sollte von nun an hier wohnen, das gab mir genug Gelegenheit, um irgendwann einmal den Park und den Garten hinter dem Haus zu erkunden. Das hieß, wenn mich Mr. Molyneux und seine Schwester nicht versklaven und im Keller festketten würden, was natürlich immer noch nicht ausgeschlossen war. Aber wo er düster war und sie dämmerrosig, verriet mir das Haus sofort, dass es ihr gehorchte und nicht ihm. Es gab Häuser, die keine Männer mochten, und ich hatte Hollyhock im Verdacht, von dieser Sorte zu sein. Was für ein Glück – ein Mann war ich nicht!

»Komm mit«, sagte Milady noch einmal, und ich begriff, dass ich wie angewurzelt vor der Kutsche stand und an dem grauen Gebäude hochstarrte, als hätte ich noch nie ein Haus gesehen. Sie stieg die Treppe hinauf, ihre üppigen Röcke mit einer Hand gerafft, und ich folgte ihr etwas zögerlich. Ob ich auch in Zukunft diesen Eingang nehmen durfte oder mich irgendwo seitlich zur Dienstbotentür hineinschleichen musste? Es würde sich zeigen, aber in diesem Moment erinnerte es mich nur wieder daran, dass ich keine Ahnung hatte, was Hollyhock für mich bereithielt. Meine Zukunft war mir nie unklarer gewesen als in diesem Augenblick auf der Treppe – zwischen Haus und Kutsche, Hoffen und Bangen: Jetzt konnte alles passieren.

Als ich zwischen den Säulen hindurchtrat, wusste ich, es gab kein Zurück mehr. Zugegeben, das hätte es auch vorher nicht, aber die Türflügel hatten etwas Bedrohliches an sich, als ich mich ihnen näherte: Als wollten sie gleich hinter mir zuschlagen und mich nicht mehr hinauslassen. Natürlich, diese Sorge war absurd, und auch meine Vorstellung von dem einen lahmen und blinden Diener zerschlug sich, als ich das Personal in der Halle versammelt sah, um die Herrschaften zu empfangen. Ein Butler und zwei Diener, eine resolute Frau, sicher die Haushälterin, die etwas an Miss Mountford erinnerte, und drei Hausmädchen. Diese drei, fand ich, hatten auszureichen. Ich hielt es für unwahrscheinlich, dass ich auch so ein Häubchen würde tragen müssen. Überhaupt, man brauchte nicht drei Waisenhäuser oder mehr abzuklappern, wenn Dienstmädchen auf jedem Baum wuchsen, selbst hier draußen auf dem Land.

Ich stand etwas verloren im Schatten der Lady, während der Butler ihr den Hut abnahm und ihr aus einem Jäckchen half, das ich in meiner Ignoranz – zu entschuldigen nur durch das schlechte Licht und die Tatsache, dass ich in meinem Leben zu wenig Modemagazine aus dem alten Jahrhundert zu Gesicht bekommen hatte – für einen Teil des Kleides gehalten hatte. In meinen zu schlichten Sachen versuchte ich, mich unsichtbar zu machen, aber die Mühe hätte ich mir auch sparen können – keiner der Diener in ihren dunkelvioletten Livreen, keines der schwarzgekleideten Mädchen würdigte mich auch nur eines Blicks. Was immer sie an natürlicher Neugier besitzen mochten, wurde von Butler und Hausdrache unter Kontrolle gehalten. Erst als Mr. Molyneux, unverändert düster, sich zu seiner Schwester gesellte, brachte mir wieder jemand einen Funken Aufmerksamkeit entgegen.

»Du wirst mit Sally gehen«, sagte er und überließ es mir zu erraten, welches der drei Mädchen damit gemeint war. »Sie wird dir dein Zimmer zeigen und etwas Angemessenes zum Anziehen geben.«

So kam ich also an das weiße Kleid, an meinen neuen Namen, und an mein neues Leben in Hollyhock Hall. Von diesem Tag an sollte nichts mehr so sein wie zuvor – aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass es irgendwie schlimmer als in St. Margaret’s werden sollte.

Zweites Kapitel

Mein Zimmer lag unter dem Dach. Ich wusste nicht, ob das ein gutes Zeichen war oder ein schlechtes, es war schließlich mein erstes Herrenhaus. Ich vermutete zwar, dass dort oben nur die Zimmer des Personals lagen, aber eigentlich konnte es mir egal sein. Es war ein Zimmer! Mein eigenes! Was störte es, dass darin nur ein Bett stand, ein Waschtisch und ein schmaler Wandschrank, und dass man keinen Platz hatte zum Tanzen – es war ein eigenes Zimmer. Und selbst wenn Mäuse unter dem Bett leben sollten, Spinnen in der Ecke und Geister im Schrank, es war mehr, als ich jemals in meinem Leben besessen hatte. Seit ich denken konnte, hatte ich im Schlafsaal von St. Margaret’s gewohnt, und ich fragte mich, ob ich überhaupt würde schlafen können ohne den Atem der anderen Mädchen um mich herum, ohne das Quietschen von 20 eisernen Bettgestellen.

In diesem Moment ließ ich mich davontragen von meiner eigenen Begeisterung. Ich lief zum Fenster und blickte hinaus. Die Scheibe war innen beschlagen und außen staubig, also riss ich das Fenster auf, froh, trotz karger Ernährung doch einiges an Kraft in meinen jungen Armen zu haben, denn der Rahmen war stark verzogen – doch was ich dann sah, machte alles wett. Da draußen lag der Garten. Ich sah Bäume, Blumenbeete, und weiter hinten lag etwas, von dem ich mir von ganzem Herzen wünschte, dass es ein Labyrinth war. Eigentlich sah ich nur eine hohe Hecke, aber jeder wusste, dass Herrenhäuser ein Labyrinth haben mussten, in dessen Zentrum das dunkle Geheimnis versteckt war: das Grab der heimlichen Geliebten, vom Lord gemeuchelt, als sie ein Kind von ihm erwartete, und dann nachts im Labyrinth verscharrt, wo sie bis heute umging …

Ich war nicht so oft in die Leihbücherei gekommen, wie ich es gern gewollt hätte, also musste ich mir die meisten Geschichten aus alten Zeitungen zusammenklauben, wo sie in Fortsetzungen erschienen. So verpasste ich natürlich immer die entscheidenden Stellen, wenn eine Ausgabe schon ins Feuer gewandert war, ehe ich sie mir unter den Nagel reißen konnte, aber ich hatte genug Ideen im Kopf, um mir das Fehlende zusammenzureimen. Im Laufe der Jahre war ich sicher eine kleine Expertin für alle erdenklichen Familiengeheimnisse geworden: vielleicht, weil ich mein eigenes nie hatte ergründen können. Ich rührte lieber in anderer Leute schmutziger Wäsche, als die schreckliche Wahrheit über meine eigene Herkunft zu erfahren, den Grund, warum meine Mutter mich einfach auf einer Türschwelle ausgesetzt hatte.

Aber nun konnte alles anders werden. Nun war Hollyhock meine neue Heimat, und ich liebte es jetzt schon: So verwachsen und verwildert der Garten auch sein mochte, gerade dass er nicht perfekt war, machte ihn schön. Mein ganzes Leben lang war ich geschrubbt und geschniegelt worden – hier fand ich endlich diesen Hauch von Wildheit, nach dem ich mich immer gesehnt hatte. Und was meinen Seiltänzerinnentraum anging: Wenn ich es richtig anstellte und eine Strickleiter an meinem Fenster anbrachte, konnte ich auf das Dach des Anbaus hinausklettern, das einen spitzen Giebel hatte, auf dem man vortrefflich herumbalancieren konnte. Und für schlechtes Wetter hatte ich hier im Haus auch bereits sehr schöne Treppengeländer gesehen – vor allem die Galerie am oberen Ende der Halle war etwas, wogegen St. Margaret’s nicht anstinken konnte.

Ich lehnte mich weit hinaus und trank mit jedem Atemzug diese ungewohnte, wundervoll frische Luft ein, als hinter mir das Dienstmädchen hüstelte – ihre erste echte Reaktion auf mich. Nicht viel, aber immerhin. Sally hatte mich in mein Zimmer geführt, ohne auch nur ein Wort zu sagen, und weiterhin vermieden, mich auch nur anzusehen. Aber ich wollte deswegen nicht schlecht von ihr denken. Es war eine Frage des Status, in so einem Haushalt noch viel mehr als in einem Waisenhaus, und wenn noch nicht einmal ich wusste, wo genau ich in Hollyhock stand, wie sollte es dann Sally wissen? Nachher war ich doch nur der Fußabtreter, und wenn sie mich dann ehrfürchtig mit Miss anredete, hätte sie sich doch zum Gespött ihrer Mitstreiterinnen gemacht. Aber wenn sie mich hingegen schäbig behandelte, oder auch nur wie ihresgleichen, und es stellte sich heraus, dass ich doch so etwas wie eine adoptierte Tochter war, konnte sie gleich ihr Köfferchen packen und in Schande zurück zur Mutter ziehen.

Ich nahm ihr also nicht übel, dass sie mich nicht ansah, aber für den Fall, dass sie zumindest aus den Augenwinkeln zu mir hinüberschielen sollte, versuchte ich wenigstens, immer freundlich zu lächeln. Ich kannte Sally nicht, aber ich hatte mich mit 60 Waisenmädchen arrangiert, ohne diejenige zu sein, der man böse Streiche spielte, und wenn ich hier eine Verbündete brauchen sollte – wovon ich lieber einmal ausging –, sollte ich besser damit anfangen, mich mit den Untersten im Haus gut zu stellen.

So zog ich schnell den Kopf wieder aus dem Fenster und drehte mich zu Sally um. »Entschuldigung«, sagte ich, »ich wollte dich nicht aufhalten.« Fast lag mir auf der Zunge, ihr zu erzählen, dass ich aus einem Waisenhaus kam und noch nie ein eigenes Zimmer besessen hatte, aber das ging sie alles vorerst noch nichts an. Lächeln war eine Sache, aber wenn ich wollte, dass sie mich auch ernst nahm, sollte ich mich nicht wie ein völliger Trottel, der noch nie ein Haus gesehen hatte, aufführen.

Sally nickte, schon weil ihr das die Möglichkeit gab, wieder zu Boden zu blicken und nicht in mein Gesicht. Ich hielt sie für zwei oder drei Jahre älter als ich, und sie war genau das, was ich nicht sein wollte – aber es war ihr Leben, und vielleicht war sie auch ganz zufrieden damit. Ich hatte ja keine Ahnung davon, ob die Diener der Molyneux’ gut oder schlecht behandelt wurden. Zumindest hatten sie keine sichtbaren Striemen.

»Im Schrank sind Kleider. Der Master und die Mistress wünschen, dass … dass Sie eines davon anziehen und dann wieder hinunterkommen.« Ich sah, wie sie sich auf die Lippe biss. Die Frage, wie sie mich anreden sollte, war eine gravierende Entscheidung für sie – ich konnte ihr ja schlecht sagen, dass es mir ziemlich egal war. »Werden Sie Hilfe benötigen?«

Ich zwinkerte verdutzt. »Hilfe?« Meinte sie, beim Ankleiden? Vorschnell schüttelte ich den Kopf. »Nein danke, ich komme schon allein zurecht.« Ich hatte kein Problem damit, mich vor anderen Mädchen umzuziehen, aber die Vorstellung, das nicht alleine zu können, war mir peinlich. Zu spät fiel mir ein, dass ich vielleicht vorher besser nachgeschaut hätte, um was für Kleider es überhaupt ging. Wenn ein Korsett dazugehörte, war ich aufgeschmissen. Außerdem hätte ich dann ein bisschen vertrauter mit Sally werden können – aber da war sie schon zur Tür hinaus, augenscheinlich froh, von mir wegzukommen, und ich war allein mit meinem Zimmer, mit mir und meinen neuen Kleidern.

Als ich mich anschickte, mich umzuziehen, fiel mir auf, dass ich mein Zimmer nicht abschließen konnte, es gab weder einen Riegel an der Tür noch einen Schlüssel auf dieser oder jener Seite des Schlüsselloches. Zwar war ich nicht so ängstlich veranlagt, dass ich mich um jeden Preis hätte einschließen wollen, aber wenn ausgerechnet Mr. Molyneux hereinkommen sollte, während ich in meinem Unterrock dastand, oder schlimmer noch, völlig unfähig mit einem Korsett kämpfte, wäre das doch nicht sehr begrüßenswert. Keinen Schlüssel zu besitzen von einer Tür, die man grundsätzlich abschließen konnte, brachte außerdem die Gefahr mit sich, von anderen eingeschlossen zu werden. Natürlich war ich an so etwas gewöhnt: In St. Margaret’s wurden die Schlafsäle allabendlich abgesperrt, sobald alle Mädchen drin waren, aber da war man zumindest nicht alleine gefangen, und wir wussten ja auch mit Sicherheit, dass wir am anderen Morgen wieder freigelassen wurden.

Hier hingegen war mir ein bisschen mulmig bei der Vorstellung. Selbst ein rostiger kleiner Schlüssel hätte in diesem Moment so viel Sicherheit bedeutet … Ich spähte einmal schnell den Flur entlang, aber die einzige Tür, in der von außen ein Schlüssel steckte, führte dann doch nur in den Leinenschrank. Alle anderen Türen sahen aus wie meine. Das beruhigte mich etwas. Ich hätte weniger Schauerromane lesen sollen, sie machten unnötig schreckhaft.

Besser, ich zog mich schnell um und ging unter die Leute, um auf andere Gedanken zu kommen. Wenn jemand die Treppe hinaufstiege und über den Flur ankäme, würde ich es schon hören. Mein Zimmer lag ganz am Ende des Ganges, das ließ mir genug Zeit zum Reagieren.

Klopfenden Herzens öffnete ich den Kleiderschrank, und da war es, mein weißes Kleid. Zusammen mit seiner Nachbarin zur Linken, meinem zweiten weißen Kleid, und zur Rechten, einem dritten von der Sorte.

Sie sahen auf den ersten Blick gleich aus, und ich zögerte, mich für eines zu entscheiden – lieber nahm ich sie alle drei heraus und legte sie auf mein Bett, um sie etwas besser betrachten zu können, aber selbst dann glichen sie sich immer noch wie ein Ei dem anderen. Sie waren auch allesamt gleich groß, und ich hoffte, dass sie mir passen würden – woher sollte die Mistress, oder wer auch immer die Kleider ausgewählt hatte, wissen, wie groß ich war, es sei denn, Mr. Molyneux hatte gleich nach einem Mädchen von bestimmter Länge gesucht? Ich hängte zwei der Kleider zurück in den Schrank. Bei der Frage, wohin mit meinem alten, war ich einen Moment lang unschlüssig – ich ahnte schon, dass ich es nie wieder tragen würde. So legte ich es nur sauber über das Fußende des Bettes, nachdem ich einmal hinausgeschlüpft war. Vielleicht konnte man es mit der Post nach St. Margaret’s zurückschicken.

Zumindest meine Unterwäsche behielt ich an. Das weiße Leibchen würde unter dem neuen Kleid niemand zu sehen bekommen, und meine Unterhosen reichten ja auch nur bis knapp übers Knie, da konnte man bestenfalls noch den Saum erahnen, aber wirklich, würde jemand nach meinen Unterhosen fragen? Auch auf meine schwarzen Strümpfe wollte ich nicht verzichten. Wenn schon ein weißes Kleid, dann doch zumindest mit schwarzen Strümpfen. Ehe ich ganz in Weiß ging, musste viel passieren. Dann zog ich mir mein neues Kleid an – es hätte schlimmer kommen können. Nach dem prinzessinnenhaften Rüschenkleid der Lady hatte ich mindestens mit einem Korsett gerechnet. Keine Ahnung, wie ich da hätte hineinkommen sollen, allein und ohne fremde Hilfe. Mein eigenes Kleid hingegen war zwar altmodisch und verspielt, aber mehr für ein Mädchen denn eine Frau gemacht, und so musste ich zumindest nicht mit Fischbein kämpfen. Die Ösen am Rücken zu schließen, war schwer genug, aber wer zum Zirkus wollte, musste mit so etwas zurechtkommen. Ein wenig Verrenken war zumutbar.

Ich löste meine Zöpfe und fühlte, wie meine Kopfhaut vor Erleichterung seufzte. Mit den Fingern entwirrte ich die Strähnen, denn ich fand weder Kamm noch Bürste, beließ es bei dem, was herauskam, und stellte mir vor, wie mein Haar in üppigen Locken über meine Schultern auf meinen Rücken fiel. Es war nicht kastanienbraun, sosehr ich mir das auch wünschen mochte, oder rot oder golden, nur ein ziemlich mausiges Staubblond, und die Locken würden schnell wieder verschwunden sein, aber zumindest schrie nicht mehr jeder Zoll meines Körpers »Waisenmädchen«.

Und dann stand ich da in meinem weißen Kleid, blickte an mir hinunter und versuchte, mein Spiegelbild in dem völlig blinden Spiegel am Waschtisch zu erkennen. Es war entsetzlich. Ich erkannte mich nicht wieder. Dass ein weißes Kleid so viel ausmachen konnte! Da retteten mich auch die schwarzen Strümpfe nicht. Und wohin sollte ich mit meinen Händen, wenn ich keine Schürze hatte? Eben noch war ich so glücklich und selbstsicher gewesen, jetzt fühlte ich mich wie ein Häufchen Elend. Ich sah aus wie eine Apfelblüte – alles an mir war blass, bis auf meine Haare, die plötzlich fast schwarz wirkten, was nicht nur an dem Licht liegen konnte und an den ungewohnten Locken und daran, dass ich zu lange keine Sonne mehr gesehen hatte. Das, was mich aus dem Spiegel anstarrte, löchrig und verschwommen, konnte ebenso gut die Weiße Frau sein, die in diesem Haus umging, und ich floh vor ihr und machte mich mit Beinen, die plötzlich zitterten, auf den Weg nach unten.

Es war eine Sache, hinter Sally durch das Haus zu laufen, eine völlig andere hingegen, allein unterwegs zu sein. Hatte ich Hollyhock bei meiner Ankunft noch einladend gefunden, war es mir nun nicht geheuer. Es roch fremd, die Bodendielen knarzten unheilvoll unter meinen Füßen, und es war dunkel und unheimlich. Durch keine Tür fiel Licht auf den Flur, und ich traute mich nicht, nachzusehen, ob sie hier Elektrizität hatten oder das Haus mit Gaslampen oder Kerzen erleuchteten. Ich schlich durch das Dämmerlicht im zweiten Stock, eine schmale Treppe hinunter, dann noch leiser durch den ersten Stock. Einen Augenblick lang war ich froh, als ich auf der Treppe in die Halle war, bis ich begriff, dass sie offen war und mich nach allen Seiten verwundbar machte.

Die Halle war leer. Ich hatte gehofft, dass die Molyneux’ vielleicht dort auf mich warteten, oder dass zumindest der Butler oder Sally oder jemand anderes vom Personal dort war, um mir zu sagen, wo ich hingehen musste, aber niemand war da. Da ich auf Zehenspitzen ging, hörte mich auch niemand kommen, der sonst vielleicht angelaufen wäre, um mich in Empfang zu nehmen. Zumindest war die Halle hell; durch die Fenster links und rechts der Tür fiel rosiges Licht herein. Es täuschte aber nicht darüber hinweg, dass der Teppich auf der Treppe ausgeblichen und von vielen Füßen zertreten und fadenscheinig war; und der Steinboden unten in der Halle mochte noch so sauber glänzen, er hatte rissige Stellen, die vom Zahn der Zeit erzählten. Ich kannte die Geschichte von Hollyhock nicht, aber sie musste ebenso lang wie spannend sein.

Nun gut. Wenn niemand da war, konnte ich mich ebenso gut umschauen. Fünf Türen, abgesehen von der nach draußen, die ich schon kannte, gingen von der Halle ab: jeweils zwei kleinere an den Seiten und die große Doppelflügeltür, hinter der ich den Salon vermutete oder einen Ballsaal. Keine war geöffnet, aber das hieß nicht, dass ich nicht daran lauschen konnte. Schließlich musste ich herausfinden, wo Milady war, wenn sie mich schon sehen wollte. Es war zu still in der Halle. Selbst das Geräusch meines eigenen Atems schien irgendwo zu verschwinden, bevor es meine Ohren erreichte. Ich konnte mein Herz hämmern spüren, aber auch das fühlte sich an, als ob ich es hätte hören müssen. Lautlos glitt ich zur ersten Tür, links vom Eingang, bereit, mein zartes Ohr gegen das ehrwürdige dicke schwarze Holz zu drücken, als ich plötzlich Schritte hinter mir hörte – nicht auf der Treppe, sondern näher, in der Halle selbst. Dabei hätte ich schwören können, dass sich keine der Türen geregt hatte.

Ich fuhr herum, froh, dass es in Sachen Lauschen nur beim Plan geblieben war und man mich nicht mit heißen Ohren erwischt hatte – ich rechnete mit dem Butler, aber stattdessen war es Mr. Molyneux, der dort stand und mich sehr durchdringend ansah. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich nicht sagen konnte, welche Augenfarbe er hatte, weil ich es nicht schaffte, ihn direkt anzublicken. Aber die dringlichste Frage in diesem Moment war: Wo kam er so plötzlich her? Ich verdächtigte ihn ja schon seit der Geschichte mit der Puppe, irgendwie zaubern zu können. Nun wuchs dieser Verdacht langsam zur Überzeugung.

»Ich sehe, du bist angekleidet«, sagte er. »Das hat lange gedauert. Meine Schwester erwartet dich bereits.«

Ich nickte. »Ich wusste nicht, wo ich sie finden kann«, sagte ich entschuldigend und war erstaunt, wie meine Stimme hallte – sie klang so fremd, wie ich in dem neuen Kleid aussah.

»Ich bringe dich zu ihr«, sagte Mr. Molyneux fast freundlich. Sein Haar glänzte im Licht, wirkte dadurch aber nur noch schwärzer. Jetzt, wo man ihn besser erkennen konnte als in der trüben Umgebung des Waisenhauses oder der dunklen Kutsche, musste ich sagen, dass ich noch nie einen derart blassen Menschen gesehen hatte. Selbst ich musste neben ihm rosig wirken, und wäre er ein Bestatter gewesen, er hätte ständig in Bewegung sein müssen, damit seine Lehrjungen ihn nicht irrtümlich einsargten. Aber ob ich vor ihm nun Angst hatte oder doch vielmehr in Wirklichkeit begeistert von ihm war, konnte ich nicht sagen. Vermutlich beides. Dunkle Fremde gehörten für mich in Schauerromane oder süße Romanzen, in erfundene Geschichten, aber etwas Dunkleres und Fremderes als ihn konnte selbst die wildeste Vorstellungskraft nicht hervorbringen.

Er durchquerte die Halle, ging zu der Tür rechts hinten, und ich folgte ihm. Ein Flur kam dahinter zum Vorschein, von dem wiederum zwei Türen abgingen. Am Ende fand ich mich in einem bezaubernden Zimmer mit blassvioletten Seidentapeten und blattgoldverzierter Stuckdecke wieder, in dem die Lady – beschienen von der Sonne, die durch die vier hohen Fenster hereindrang – auf einer Ottomane saß. Vor ihr stand ein gedecktes Tischchen, umgeben von drei kleinen Sesseln. Augenscheinlich hatte sie auf mich gewartet, denn keiner der Teller wirkte benutzt, keines der Honigbrote war auch nur angebissen.

»Hier bringe ich das Mädchen«, sagte Mr. Molyneux, und ich kam gerade noch rechtzeitig auf die Idee, einen Knicks zu machen.

»Setz dich«, sagte die Lady, »bitte, setz dich.« Sie deutete auf den Sessel zu ihrer Linken. Ihre Stimme war süßer als der goldene Honig, und jetzt, im Hellen und ohne Hut, konnte man sehen, dass sie wirklich wunderschön war. Ihr Haar, aschblond, saß in einem üppigen Kissen auf ihrem Kopf – zwar trug unsere Vorsteherin die Haare ähnlich, aber was bei Miss Mountford streng und steif aussah, war hier bezaubernd. Man konnte nicht sagen, dass die Lady ihrem Bruder sehr ähnlich sah, außer dass sie beide keinen Deut Farbe im Gesicht hatten, selbst ihre Lippen waren mehr fliedergrau denn rosig. Aber auch ihr konnte ich nicht in die Augen blicken und starrte unwillkürlich auf meine Füße.

Ich nahm Platz, nachdem ich abgewartet hatte, dass Mr. Molyneux sich nicht in den gleichen Sessel setzen wollte, und blickte dann sehnsüchtig auf die kleinen runden Honigbrötchen, während mir das Wasser im Munde zusammenlief. Ich hatte seit dem Vortag nichts gegessen und hätte schwören können, dass auf jedem von ihnen »Iss mich« geschrieben stand.

Eigentlich wäre ein Dienstmädchen nötig gewesen, um den Tee einzuschenken, aber zu meinem großen Erstaunen griff die Lady persönlich zur Kanne und goss Tee in unsere Tassen. Vielleicht hatte sie Angst, ein Diener könnte das edle Porzellan zerbrechen? Der Hauch des Heruntergekommenen, der alles, was ich bis jetzt von Hollyhock gesehen hatte, umgab, fehlte hier in diesem Raum, und ich vermutete, dass dies das Lieblingszimmer der Lady war und sie sich persönlich darum gekümmert hatte, es als allererstes wieder herzurichten.

»Trink nur«, sagte sie, »und iss. Es ist lange her, dass du zuletzt etwas zu dir nehmen konntest, und du sollst nicht denken, dass du hier Not leiden musst.«

Trotzdem brauchte es noch zwei aufmunternde Nicken, ehe ich tatsächlich zulangte. Und dann, der erste Bissen … So etwas hatte ich im Leben noch nicht gekostet. Es war süß, wie ich erwartet hatte, aber mein Mund und mein ganzer Kopf füllten sich mit einem Gefühl von Gold, und ich schmolz dahin wie Butter in der Sonne. Der Tee dazu war anders als alles, was ich kannte, fast farblos und ohne Milch oder Zucker, aber er schmeckte, als würde man Blütennektar trinken. Und wenn sie mich gleich aus dem Haus jagten und ich zu Fuß nach St. Margaret’s zurücklaufen musste, allein der erste Bissen vom Honigbrötchen und der erste Schluck Tee wären es wert gewesen.

»Danke«, brachte ich hervor, nachdem ich meinen Mund geleert hatte. Schweren Herzens verzichtete ich darauf, sofort die nächste Brötchenhälfte hinterherzustopfen, was mir in der Tat schwerfiel. »Und vielen Dank für das Kleid.« Ich wäre froher gewesen, es nicht tragen zu müssen, aber das mussten sie ja nicht wissen. »Es ist –« Mr. Molyneux unterbrach mich.

»Iss«, sagte er, »und hör zu. Du hast uns gerade nichts zu sagen, was wir nicht schon wüssten, und um dankbar zu sein, musst du dich nicht in ein Hündchen verwandeln, es bedeutet uns nichts. Du hattest Fragen an uns – nun sollst du die Antworten erhalten.«

Ich fühlte mich erröten und hatte damit genug Farbe für uns drei zusammen, aber ich verbarg mein Gesicht schnell hinter meiner Teetasse, die ich vorsichtig an ihrem zarten Henkelchen anfasste, in der Erwartung, sie könne jeden Moment unter meinem Griff zerbrechen. Brav hielt ich meinen Mund.

Die Lady nickte, und ihr Bruder fuhr fort: »Ich möchte damit beginnen, uns vorzustellen, denn ich kann nicht erwarten, dass du jemals von uns gehört hast oder von Hollyhock. Ich bin Rufus Molyneux, und dies ist meine Schwester Violet. Wir haben Hollyhock vor drei Monaten geerbt, in einem schlechten Zustand, da die vorherige Besitzerin, die unsere Tante war, zu alt und gebrechlich war, um den Überblick über die nötigen Arbeiten zu behalten. Und da sie die Menschen mied, starb sie vereinsamt und nur von einer steinalten Dienerin betreut.« Der Blick, den er über den Raum wandern ließ, war kalt, aber solange er den Tapeten galt und nicht mir, bekam ich keine Angst. »Wir haben in den letzten Wochen unser Möglichstes getan, das Erbe unserer Tante aufzuarbeiten, aber für einige sehr spezielle Aufgaben sind wir auf ein Mädchen wie dich angewiesen.«

Ich lernte schnell, und so hielt ich meinen Mund und fragte nicht, warum sie ausgerechnet ein Waisenmädchen brauchen sollten. Nach allem, was ich gesehen hatte, benötigten sie einen Gärtner, aber das war nicht gerade mein Spezialgebiet, und niemand wäre auf die Idee gekommen, mich solch anspruchsvolle Arbeit machen zu lassen. Aber sonst? Ich hoffte auf Erklärungen und wollte nicht wieder wegen Zwischenredens zurechtgewiesen werden.

Mein Schweigen brachte mir ein leises Lächeln von Mr. Molyneux ein. »Du wirst noch erfahren, was für eine Aufgabe wir für dich vorgesehen haben. Vorher ist etwas anderes wichtiger.«

»Verschwiegenheit«, sagte die Lady. »Und das heißt nicht nur, dass du keine Fragen zu stellen hast. Alles, was du erfahren sollst, wirst du erfahren, und bei allem, was du nicht zu wissen hast, werden dir auch keine Fragen helfen. Aber wir erwarten dein Versprechen, dass du für dich behältst, was wir dir mitzuteilen haben. Das Personal wird versuchen, durch dich die Geheimnisse der Molyneux’ zu erfahren und die Geheimnisse von Hollyhock – aber du wirst schweigen. Was du siehst und hörst, behalte für dich. Kein Schwätzen mit den Hausmädchen, kein heimliches Tagebuch, denn auch vor dem würden diese neugierigen Geschöpfe nicht haltmachen. Es gibt kein sicheres Versteck vor ihren Augen. Und was Briefe in deine Heimat angeht –«

»Sie hat keine Heimat«, entgegnete ihr Bruder kalt. »Sie ist ein Waisenmädchen.«

Ich biss mir auf die Lippen. Das ging nun doch etwas zu weit. Ich hatte kein Bedürfnis, irgendjemandem in St. Margaret’s zu schreiben, und niemand dort hätte das von mir erwartet: Wer einmal das Waisenhaus verlassen hatte, der war fort und kam nicht wieder, daran waren wir gewöhnt. Aber all das ging Mr. Molyneux nichts an. Und wenn er es so genau wissen wollte, war ich kein Waisenkind. Oder nur vielleicht. Ich war ein Findelkind. Irgendwo konnte ich Familie haben. Doch dass es sich dabei um die Familie Molyneux handeln sollte, wurde immer unwahrscheinlicher.

»Also wirst du es schwören«, sagte die Lady, und ihre Stimme blieb süß dabei. »Du weißt, was das ist? Ein Eid, als wärst du vor Gericht?«

Ich nickte. Bei Gericht war ich noch nie gewesen, aber ich kannte selbstverständlich Eide. Einen schwören zu müssen war vielleicht etwas dick aufgetragen, ein Versprechen hätte es sicherlich auch getan; ich war nicht dafür bekannt, mein Wort zu brechen, aber ich verstand, dass sie der Sache mehr Nachdruck verleihen wollten. »Ich schwöre«, sagte ich und hob meine Hand, »bei –«

»Still!«, unterbrach mich Mr. Molyneux. »Du wirst schwören, wann und wie wir es dir sagen.« Einen Moment lang blitzte Zorn durch, und das war mehr an Gefühlen, als ich bis jetzt an ihm erlebt hatte. »Wir haben dir schon unser Vertrauen entgegengebracht, als wir dich in unser Haus holten – du tätest gut daran, das nicht schon jetzt zu verspielen.«

»Besser jetzt als später«, erwiderte ich spitz, »noch weiß ich ja nichts, was ich verraten könnte, und wenn Sie mich nicht haben wollen …« Es musste viel passieren, ehe ich so meine Grenzen überschritt, aber ich hatte auch meinen Stolz, und ich wollte mich nicht mit meiner eigenen Dankbarkeit erpressen lassen – dieses Spiel hatte ich schon spielen müssen, seit ich denken konnte; irgendwann sollte es einmal ein Ende haben. In diesem Augenblick war mir sogar egal, wenn ich jetzt in meinem weißen Kleid vor die Tür gesetzt wurde; ich würde mich schon irgendwie durchschlagen. Aber ausgerechnet jetzt fingen beide Molyneux-Geschwister an zu lachen – leise, aber dennoch. Lachten sie mich aus? Oder wollten sie mir nur beweisen, dass doch Leben in ihnen war?

»Nun, einen halben Eid hast du bereits geleistet«, sagte die Lady. »Dich bindet dein Wort, schon jetzt. Und glaube mir, wir haben große Sorgfalt in deine Auswahl gesteckt. Du wirst unser Haus nicht mehr verlassen, keine Angst.« Es klang fast wie eine Drohung.

Ich starrte auf meine Teetasse. Plötzlich empfand ich Demut und wusste nicht, wo sie herkam. »Ja, Lady Violet«, sagte ich leise.

Auch darüber lachte sie. »Lady Violet«, wiederholte sie. »Ich freue mich, wenn du so große Stücke auf mich hältst, aber das ist nicht mein Titel. Die Molyneux’ sind nicht adelig.«

»Ich bitte um Entschuldigung«, sagte ich. Das hätte ich doch wissen müssen! Ein französischer Hausname, und jeder wusste, dass niemand in Frankreich auch nur ansatzweise adelig war, wenn er seinen Kopf behalten wollte. Die beiden sprachen den Namen englisch aus, das hatte mich getäuscht. »Wie soll ich Sie dann anreden?«

Milady lächelte. »Gar nicht«, sagte sie. »Wir reden dich an. Das hat zu genügen.«

Ich fühlte mich dämlich. Vermutlich waren die beiden gerade dabei, mich zu prüfen, ehe sie mich in das große Geheimnis einweihen würden, und vermutlich war ich gerade dabei, auf der ganzen Linie zu versagen. Aber was sollte ich auch tun, wenn sie nicht verrieten, was sie von mir erwarteten, außer den Mund zu halten? Wenn die beiden mir keine Anrede nennen wollten, dann würde ich sie eben einfach mit Vornamen ansprechen, zumindest im Geheimen. Rufus und Violet. Das hatten sie jetzt davon.

Dann nannten sie mich Florence. Ich widersprach nicht. Sollten sie mich nennen, wie sie wollten, es war besser als »Mädchen«, und immerhin hatte der Name etwas Edles. Herrschaften besaßen das Recht, ihren Dienern die Namen zu geben, an die sie gewöhnt waren; man konnte nicht von ihnen verlangen, sich für jedes neue Hausmädchen einen neuen Namen merken zu müssen. Kurz fragte ich mich, ob ich die erste Florence war, und wenn nicht, wie viele Vorgängerinnen ich gehabt haben mochte und was aus ihnen geworden war. Der Name gefiel mir, auch wenn es bedeutete, dass ich nun endgültig hieß wie die Heldin eines Schauerromans.

»Und jetzt steh auf«, sagte Rufus – kein Mr. Molyneux mehr für mich, und erst recht kein Gentleman, selbst schuld. »Stell dich so, dass wir dich sehen können. Von allen Seiten. Dreh dich, langsam.«

Ich vermutete, dass sie das Kleid begutachten wollten, und zeigte ihnen das Ersehnte. Florence von vorne, von der Seite, von hinten. Sie sagten nichts zu meinen schwarzen Strümpfen, auch wenn der Rock sehr kurz war und schon knapp unter den Knien endete, wie bei einem kleinen Mädchen. Ich zupfte etwas daran, damit er länger aussah, dann überlegte ich es mir anders – was genierte ich mich, wo ich doch nach einem Beruf strebte, bei dem die ganze Welt unter meinen Rock schauen konnte, die Köpfe weit im Nacken? Also brachte ich das Kleid nur keck in Form, dass der Rock nach den Seiten abstand, als würde ich vier gestärkte Unterröcke darunter tragen.

»Gut«, sagte Rufus. »Deine Hände, sind die sauber?«

Ich schüttelte den Kopf. Das hätten sie mich fragen sollen, bevor meine Finger voll Honig klebten. Es gab keine andere Wahl, wollte man die Brötchen nicht mit Messer und Gabel essen.

»Dann geh und schrubb sie dir«, sagte Rufus. »Du findest heißes Wasser in der Spülküche, ein Dienstmädchen kommt gleich, das dir den Weg zeigt. Deine Hände sollen immer sauber sein, gib darauf acht. Du trägst ein weißes Kleid, damit du gezwungen bist, einen Bogen um jede Art von Staub und Schmutz zu machen. Wenn du dagegen verstößt, werden wir es sofort sehen. Aber nun wasch deine Hände. Wenn du dann wiederkommst und es ist alles zu unserer Zufriedenheit … dann bekommst du das hier.«

Diesmal war ich auf den Zaubertrick vorbereitet, aber was er jetzt in der Hand hielt und mir zeigte, konnte er ebenso gut in seinem Ärmel aufbewahrt haben. Es war ein Schlüssel, unscheinbar und schwarz, doch bei seinem Anblick fing mein Herz an zu hämmern. Ich wusste nicht, zu welchem Schloss er gehörte. Aber ich wusste, ich musste ihn haben.

Das Hausmädchen stand plötzlich in der Tür, dabei hatte ich nicht gesehen, wie Rufus oder Violet geläutet hätten. Gut, die Lady – oder was immer sie stattdessen sein mochte – hatte die ganze Zeit über eine Hand auf der Sofalehne liegen, und vielleicht war dort, wo es allemal praktisch war, ein elektrischer Klingelknopf angebracht. Das hätte natürlich bedeutet, dass es hier doch Elektrizität gab: Sonst war davon allerdings nichts zu sehen, nur Kerzenhalter und Kronleuchter, noch nicht einmal Gaslicht … Aber das würde ich schon noch in Erfahrung bringen.

»Sie haben geläutet?«, fragte das Mädchen leise. Es war nicht Sally, sondern eines der beiden anderen Mädchen, die ich bei meiner Ankunft in der Halle gesehen hatte.

»Clara«, sagte Rufus, ohne aufzublicken. »Bring Florence in Mrs. Ardens Reich. Sie soll sich die Hände waschen – Florence, nicht Mrs. Arden.«

»Sehr wohl, Sir«, erwiderte das Mädchen. »Sir« schien also in Ordnung zu sein – für den Fall, dass ich doch einmal etwas sagen musste oder durfte. »Haben Sie noch einen Wunsch, Milady? Noch Tee oder Gebäck? Oder wünschen Sie, dass ich abräume?«

»Wir wünschen, dass du dich Florencens annimmst«, antwortete Rufus an Stelle seiner Schwester, »und dich entfernst.«

Ich ging schnell zur Tür, um Clara nicht in weitere Schwierigkeiten zu bringen. Sie war so schweigsam wie Sally und vermied es genauso, mich anzublicken. Das wunderte mich jetzt nicht mehr. Ich hätte auch nicht gewusst, wie ich mich einem Mädchen im spitzenbesetzten weißen Kleid gegenüber verhalten sollte, das sich in der Küche die Hände waschen musste. Dass ich nicht in das persönliche Bad von Milady durfte, war klar, aber hieß das, ich musste mich jetzt immer da unten waschen, wenn ich warmes Wasser haben wollte? Selbst in St. Margaret’s wurden wir alles halbe Jahr heiß gebadet – heiß zumindest für diejenigen, die zuerst durch die Wanne durften. Gut, ich hatte in meinem Zimmer zumindest eine Waschschüssel gesehen, und unter meinem Bett einen Nachttopf – der würde ausreichen, bis ich herausgefunden hatte, ob Hollyhock auch über Klosett verfügte. Das war nichts, womit ich jetzt dieses arme Mädchen quälen wollte.

Clara erschien mir etwas jünger als Sally und noch unsicherer, aber nach dem, was Rufus und Violet über ihre Tante erzählt hatten, war das Personal im Haus genauso neu wie die beiden Geschwister. Ich fragte mich, was aus der steinalten Dienerin geworden war, aber es hatte nicht so geklungen, als ob sie noch da wäre. Zumindest nicht lebend …

»Ist Mrs. Arden die Köchin?«, fragte ich leise, als mich Clara über den Dienstbotenflur und die Kellertreppe hinunterführte.

Sie schüttelte den Kopf. »Das ist Mrs. Doyle. Mrs. Arden ist die Haushälterin.«

Ich bedankte mich für die Auskunft. Je schneller ich im Kopf die Namen zusammenbekam, desto besser. Auch wenn ich geschworen hatte, niemandem etwas von den Geheimnissen, die ich sowieso noch nicht kannte, zu erzählen, war es doch nie empfehlenswert, Hausangestellte nur mit »He, du« anzureden. Selbst Rufus kannte offensichtlich die Namen seiner Hausmädchen, und nach allem, was ich wusste, war das keine Selbstverständlichkeit.

Die Personen in der Küche zuckten sichtbar zusammen, als plötzlich mein weißes Kleid im Türrahmen erschien. In dieser Welt hatten die Herrschaften nichts verloren, ihre Autorität wurde durch den Butler und die Haushälterin vertreten. Hier gehörte ich ebenso wenig hin wie in Violets Salon. Ich konnte Mrs. Arden nicht sehen, wenn ich davon ausging, dass sie die Frau war, die ich in der Halle getroffen hatte, aber ein dickes Weib, dem das Wort »Köchin« ins Gesicht geschrieben stand, starrte mich unverhohlen feindselig an. »Was willst du hier?«

»Ich bin Florence«, sagte ich ruhig – es fühlte sich seltsam an, zum ersten Mal diesen Namen auszusprechen. »Ich soll mir hier die Hände waschen.« Ich sah auch schon, wo das passieren sollte. Ein armes Mädchen, von dem ich nicht mehr sah als den schmalen Rücken, war über einen Zuber gebeugt und bearbeitete darin irgendwelche Töpfe oder Geschirr. Als ich näher trat und das Geschöpf aufblickte, sah ich in ein Paar strahlend blauer Augen in einem See aus Sommersprossen, und es war der freundlichste Blick, den ich seit meiner Ankunft in Hollyhock empfangen hatte, dass ich gar nicht anders konnte, als zurückzustrahlen.

»Dann mach hin«, sagte die Köchin. »Du siehst ja, wo es ist.« Ihre Augen folgten mir wie einem Spion, dem nicht zu trauen war. Ich bildete mir ein, billigen Gin zu riechen, aber vielleicht lag das auch nur an ihren geröteten Wangen. Sie hatte mehr Bartstoppeln, als einer Frau zu Gesicht standen, es sei denn, sie trat damit im Zirkus auf. Aber ich beachtete sie nicht weiter. Vorsichtig, um das Kleid nicht nass oder schmutzig zu machen, beugte ich mich über den Zuber. Das Mädchen spülte darin Kupferpfannen mit einem Paar Hände, das röter war als die Töpfe. Das also war das Schicksal, vor dem die Molyneux’ mich bewahrt hatten. Schon allein deswegen fühlte ich sofort eine Verbindung zu der armen Scheuermagd – mehr als zu Clara, die verschwunden war, kaum dass sie mich abgeliefert hatte, ob sie nun vor der Köchin floh oder vor mir.

»Kann ich dir helfen?«, flüsterte ich. Wenn ich die Hände schon einmal im Wasser hatte, einer gemeinen heißen Lauge, konnte ich mich ebenso gut nützlich machen.

Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Aber danke.« Sie schrubbte schneller. »Du kommst aus London, nicht?«

Ich nickte. Da niemand hier etwas von Whitton gehört haben würde, konnte ich ebenso gut tun, als käme ich aus der City.

»Das muss toll sein, nicht?«

Dazu konnte ich nur die Schultern zucken. Es war ja nicht so, dass ich viel von London kannte – meine Welt war nicht größer gewesen als das Dreieck aus Waisenhaus, Schule und Kirche, gelegentlich erweitert um gemeinschaftliche Spaziergänge im Park und heimliche Ausflüge in die Leihbücherei. Den König hatte ich genauso wenig zu Gesicht bekommen wie Westminster Abbey oder den Tower. Trotzdem, ich kam aus London. So gut wie.

»Und, hast du die limbischen Spiele gesehen?«

Ich lächelte nur ganz leise in mich hinein und das Mädchen nicht aus. »Die haben noch nicht angefangen«, sagte ich. Aber selbst wenn, hätte ich nicht viel mehr von der Olympiade mitbekommen als das, was sie in der Zeitung schrieben. Und da ich in St. Margaret’s nicht jeden Tag eine Zeitung in die Finger bekommen hatte, und wenn, dann auch nur das alte Zeug, was zum Verfeuern am Kamin lag, war ich keine Expertin für die neuesten Nachrichten.

»Das ist bestimmt schade«, sagte die Scheuermagd. Noch leiser fuhr sie fort: »Florence ist ein schöner Name …« Und dann wisperte sie, dass ich es kaum noch verstehen konnte: »Hat sie dich so genannt?«

»Hmhm.«

»Mich auch.« Schnell setzte sie hinterher: »Also, nicht Florence, natürlich. Ich bin jetzt Lucy.« Fast vergaß sie zu flüstern vor Entrüstung: »Ich bin doch nur eine Scheuermagd! Mein Name kann ihr doch egal sein!«

»Wie heißt du denn?«, fragte ich. »Oder, wie hießest du?«

»Gebt ihr wohl Ruhe?«, fauchte die Köchin, ehe Lucy auch nur den Mund aufmachen konnte. »Du, halte meine Mädchen nicht von der Arbeit ab! Deine Hände müssen doch längst sauber sein, oder was ist?«

Ich stand schnell auf und hielt meine nassen Hände vor mich wie einen Schild. Sie waren längst nicht so rot geschrubbt wie Lucys, aber ich hatte doch eine gewisse Vorstellung bekommen. »Verrat es mir beim nächsten Mal«, sagte ich zu dem Mädchen. »Ich komme bestimmt noch mal hier herunter.« Dann strahlte ich die Köchin an. »Handtuch?« Ich konnte ihr schlecht sagen, dass ich mich noch an keinem Ort in Hollyhock so zu Hause gefühlt hatte wie hier. Die Decke war schwarz und niedrig, Schwaden hingen in der Luft vom Kochen und vom Spülwasser, es roch nicht nach Staub und nicht nach Garten, sondern rauchig, fettig und stickig, und auch an Anschnauzer war ich gewöhnt. Dazu die Köchin, die Scheuermagd, und noch eine Küchenmagd, die an einem Tisch saß und so konzentriert Sellerie klein schnitt, als wollte sie mich demonstrativ ignorieren und der Köchin zeigen, wie emsig sie im Gegensatz zu dem anderen Mädchen, diesem faulen Stück, doch war.

»Ich darf ihn nicht mehr sagen«, flüsterte Lucy mir zu. »Sie wollen den Namen hier im Haus nicht hören.«

Und mit diesem Rätsel, das ein echtes Geheimnis sein mochte, dafür aber mit blitzsauberen Händen, wurde ich aus der Küche gejagt und zurück in den Salon, wo ich alles tun würde, um mir den kleinen schwarzen Schlüssel zu verdienen.

Drittes Kapitel

Einen Moment lang war ich wieder im Waisenhaus, und es war Adoptionstag. Dort wie hier stand ich, das Kleid adrett, wenn auch mit ungekämmtem Haar, und streckte meine blankgeschrubbten Fingerchen aus. Da konnte ich noch so sehr versuchen, in der Schule gute Leistungen zu bringen, sie interessierten niemanden. Selbst wenn Frauen inzwischen zur Universität gehen durften, so war das noch lange nicht die Zukunft von Waisenmädchen, und weder in der Fabrik noch als Küchenmagd noch beim Zirkus würde irgendjemand fragen, ob ich mein Algebra gelernt hatte oder wann die Schlacht am Boyne stattgefunden hatte. Aber saubere Finger, die wollten sie alle von uns sehen, selbst in Hollyhock. Ich streckte meine Hände aus, als ob ein unsichtbares Klavier vor mir stünde, und schloss die Augen, um niemanden ansehen zu müssen und ob des Anblicks unwillkürlich loszulachen.

»Sehr gut«, sagte Rufus. »Du wirst in Zukunft darauf achten, dass deine Hände immer sauber sind, insbesondere, wenn du an die Arbeit gehst. Wir verlangen nicht viel von dir, nicht mehr als eine Stunde am Tag – der Rest steht zu deiner freien Verfügung. Du kannst im Garten spazieren gehen oder die Bibliothek benutzen, ganz wie es dir beliebt, aber für diese eine Stunde wirst du alles geben, was du hast und kannst. Es ist ein Angebot, wie du es nirgendwo sonst bekommen wirst, sei dir dessen bewusst. Hollyhock ist das Beste, was dir dein Leben jemals bieten kann. Wir verlangen nicht mehr und nicht weniger, als dass du dir das vor Augen führst.«

Ich nickte und fragte mich, worin der Haken bestand. Eine Stunde Folter? Entwürdigende Liebesdienste? Sollte ich Modell stehen für Miladys Versuche an der Staffelei? Ich war auf alles gefasst. Wenn es nur eine Stunde war, dann würde sie vorübergehen. Ich hatte schon viel Schlimmeres durchgemacht: Ich hatte mich auf Geheiß meines Lehrers drei Stunden lang in den Papierkorb stellen müssen, weil ich heimlich unter der Bank gezeichnet hatte; ich hatte im strömenden Regen vor der Tür warten müssen, während innen das Abendessen eingenommen wurde; ich hatte auf Erbsen gekniet … Ich konnte stillsitzen und schweigen, aber wer dachte, dass Waisenmädchen nur durch Strafen lernten, der irrte: Noch viel wichtigere Dinge hatte ich durch Mutproben gelernt. Wenn man mich nur einmal einen Handstand machen ließ …

Rufus musste nicht wissen, was für Gedanken mir durch den Kopf gingen. Hauptsache, meine Finger gefielen ihm, Hauptsache, er gab mir den Schlüssel. Ich blinzelte und blickte dann wieder auf.

»Komm mit«, sagte Violet. »Und über das, was du nun sehen wirst, schweige.«

Ich nickte und wusste es besser, als sie daran zu erinnern, dass ich eigentlich noch einen halben Eid zu leisten hatte. Es ging zurück über den Flur in die Halle und auf der gegenüberliegenden Seite in einen anderen Flur bis zu einer Tür, die das Spiegelbild jener des Damensalons war. Plötzlich verspürte ich ein ungutes Gefühl, ein Drücken in der Magengegend und einen faden Geschmack im Mund, und ich hatte sehr viel Mühe, das Ganze nicht unter dem Namen »Angst« zusammenzufassen. Wer sagte mir denn, dass sich in dem Zimmer ein Geheimnis von dieser Welt verbarg? Es konnte ebenso gut eine entsetzliche Bestie sein, ein Scheusal, seit Jahrhunderten eingesperrt in Hollyhock, das nur von einer Jungfrau versorgt werden konnte. Und ich wollte weder Violet noch Sally, Clara, Lucy oder der Köchin etwas unterstellen, aber …

Rufus steckte den Schlüssel in die Tür. »Tretet zurück«, sagte er, und jetzt wäre ich wirklich am liebsten weggerannt. »Nein, warte – schließ du auf, Florence. Wir wollen sehen, dass du das kannst.«

Als er beiseitetrat und auf den Schlüssel deutete, fühlte ich mich, als stünde ich in Blaubarts Haus. Kein Diener durfte wissen, was hinter dieser Tür lag; wenn ich es verriet, würde man mich gar schauerlich bestrafen – und wenn ich es erst einmal gesehen hatte, gab es kein Entkommen mehr, dann war ich ein Mitwisser und musste bereit sein, das Geheimnis mit ins Grab zu nehmen.

Ich schob den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn um. Besser, ich brachte es hinter mich. Ich war doch in Wirklichkeit ganz versessen auf Geheimnisse, und ich sollte mich geehrt fühlen, dass jemand bereit war, so etwas Bedeutsames ausgerechnet mit mir zu teilen. Der Schlüssel klemmte, ich musste meine ganze Kraft aufbringen, um ihn zu drehen, und das machte es nur noch spannender. Wer konnte schon sagen, wann diese Tür das letzte Mal aufgesperrt worden war? Vielleicht waren selbst Rufus und Violet noch nie dort drin gewesen – und die Bestie war hungrig …

Endlich ging die Tür auf, mein Herz tat einen Hopser – und dann folgte Enttäuschung. Es war nur ein Zimmer. Kein Ungeheuer sprang mich an, kein Geist fuhr mir in den Körper, und was ich roch, waren nicht Moder, Tod und Verwesung, sondern nur Staub, Staub und Staub. Sehen konnte man auch nicht viel. Das Haus war symmetrisch aufgebaut, und es gab hier die gleichen Fenster wie in Violets Salon, die von knapp über dem Boden bis fast zur Decke reichten, aber sie waren von  schweren Vorhängen verhangen, durch die nur eine Idee von Licht hereinkam; etwas mehr fiel vom Flur durch die Tür und warf meinen Schatten auf den dicken Teppich am Boden. Ich sah Dinge im Raum stehen und an den Wänden, unförmig und fremd. Wie eingefrorene Gespenster standen die Möbel da, alle unter weißem Leinen versteckt, welches – zumindest dem Geruch nach – seinerseits wiederum mit einer Schicht grauen Staubs bedeckt war.

»Worauf wartest du?«, fuhr mich Rufus an. »Hinein mit dir!«

Ich gehorchte. Das Zimmer hatte mich nicht gefressen, während ich in der Tür stand, dann würde es das auch nicht tun, wenn ich einmal darin war. Kaum war ich über die Schwelle getreten, folgten mir auch schon Rufus und Violet, die Tür wurde zugezogen, und ich hörte den Schlüssel auf dieser Seite klicken. Da hatte es wirklich jemand eilig, zu vermeiden, dass die Dienerschaft auch nur einen Blick in dieses Zimmers warf!

»Zieh die Vorhänge auf!«, sagte Rufus.

Am liebsten hätte ich gefragt, ob das schon auf meine Stunde angerechnet wurde, aber ich wollte ja selbst wissen, was es mit dem Geheimnis auf sich hatte, also hütete ich meine Zunge, packte den nächstbesten Vorhang und zwang ihm meinen Willen auf. Verglichen damit, hatte sich der Schlüssel gedreht wie in Butter; die Gardine klemmte und hakte, und ich brauchte beide Arme, um sie endlich aufzubekommen. Eigentlich hätte ich Hilfe benötigt, um den Stoff hinter der Gardinenschnur festzumachen, aber ich wusste, dass ich gar nicht erst danach zu fragen brauchte. Die Geschwister schauten mir schweigend zu, wie ich Licht ins Zimmer ließ. Wussten sie, was ich da tat? Wenn die Vorhänge offen waren, konnte man doch auch von draußen –

Ich erstarrte. Das war eine Falle! So schnell ich nur konnte, riss ich den einen Vorhang wieder aus seiner Befestigung, zog den zweiten zurecht und drehte mich zu den schemenhaften Gestalten hinter mir um. »Ich zünde lieber die Kerzen an«, sagte ich. Gerade noch rechtzeitig!

»Immerhin, du kannst denken«, sagte Rufus. Er trat an die Tür, und kurz darauf brannten links und rechts Kerzen in silbernen Wandhaltern. Erst dachte ich, dass auch das wieder ein Zaubertrick von ihm war, aber stattdessen warf er mir eine Streichholzschachtel zu, die ich instinktiv aus der Luft fing. »Du kannst die restlichen Kerzen anzünden«, sagte er. »Und von den Vorhängen lässt du in Zukunft die Finger.«

Im Licht erkannte man nicht viel mehr als vorher. Alle Möbel in dem Zimmer waren mit Tüchern abgedeckt – die Kommoden an den Wänden, die Sessel und das große Sofa mitten im Zimmer. Darunter steckten wohl die gleichen Stücke wie im anderen Salon, nur sah man nichts davon.

»Soll ich das Leinen herunternehmen?«, fragte ich.

»Tu das«, antwortete Rufus. »Aber sei vorsichtig.«

Ich fing mit der ersten Kommode an, nahm eine Ecke des Stoffes in die eine Hand, die gegenüberliegende in die zweite, und faltete das Tuch zusammen, ohne den Staub, der sich darauf festgesetzt hatte, durch das ganze Zimmer zu wirbeln. Etwas stand auf der Kommode, und erst dachte ich, es wäre eine große Uhr, doch als das Möbelstück frei war, sah ich die Puppen. Die hintere Reihe stand, die vordere saß, mit steifen Beinen, die weit vom Körper abstanden wie bei einem Kind, das von seinen eigenen Knien noch nichts wusste. Ich sah in tote, bleiche Gesichter aus Porzellan; die gläsernen Augen glänzten im Kerzenschein, doch wirkten sie dadurch nicht lebendig, sondern gespenstig.

Unwillkürlich machte ich einen Schritt zurück. Ich sah Puppen mit dunklen Korkenzieherlocken, mit blonden Zöpfen, braunen Krausen; sie trugen Matrosenkleider, Leibchen, kariertes Kattun, einen asiatischen Kimono. Sie lächelten still vor sich hin, manche mit offenem Mund, in dem man winzige Zähne erkennen konnte, andere mit herzförmigen Lippen. Ihre Augen waren blau, braun, schwarz. Eine neben der anderen, und doch nahmen sie einander nicht wahr, sie starrten nur mich an, die Arme reglos nach mir ausgestreckt … Ich zählte 13 Puppen auf der Kommode. Im Leben hatte ich noch nie so etwas Gruseliges gesehen.

Ich drehte mich zu Rufus und Violet um, schon um diesen toten gläsernen Blicken auszuweichen, doch selbst dann fühlte ich sie noch in meinem Nacken. »Wo … wo soll ich das Tuch hinlegen?«, fragte ich, und mit einem Kloß im Hals fuhr ich fort: »Und die anderen Möbel, soll ich die auch abdecken?« Meine Angst wich dem Gefühl, betrogen worden zu sein. Warum nahm Rufus aus St. Margaret’s das einzige Mädchen mit, das keine Puppen mochte? Das war Absicht gewesen, oder etwa nicht?

»Du kannst die Laken nachher in die Waschküche bringen«, antwortete Violet, ohne mich anzusehen. Ihr Blick wanderte über meine Schulter die Reihe der Puppen entlang, genauso wie Rufus am Vortag uns Mädchen begutachtet hatte, eine nach der anderen, ohne irgendwo länger zu verharren. »Und ja, keines dieser Tücher wird hier noch gebraucht.«

»Aber erst«, übernahm Rufus das Wort, »werden wir dir erklären, was deine Aufgabe ist.« Er nickte mir zu. »Was du hier siehst, ist die Sammlung unserer Tante – oder zumindest ein kleiner Teil davon. Miss Lavender, das war ihr Name, hat ihr halbes Leben damit verbracht, sie zusammenzutragen, und sie sucht ihresgleichen. Selbst die berühmte Puppensammlung von Königin Victoria kann es nicht an Pracht mit dieser hier aufnehmen. Wie du vielleicht weißt, befinden sich in der königlichen Sammlung nur einfache deutsche Holzpuppen, während Miss Lavenders Puppen aus feinem Porzellan sind, sehr wertvoll und auch sehr empfindlich.« Während er redete, schritt er durch das Zimmer, vorbei an den verdeckten Möbeln, doch er rührte nichts an, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. »Du wirst dich um diese Puppen kümmern. Wie du dir denken kannst, ist das Zimmer voll von ihnen, sie sitzen auf den Möbeln und in Vitrinen. Es gibt keinen Katalog, aber wir vermuten, dass es über 200 Stück sein müssen, keine davon wie die andere.«

»Aber ich …«, würgte ich hervor, »ich mag doch gar keine Puppen.«

»Ich weiß«, sagte Rufus ungerührt, und sein Lächeln sah im Kerzenlicht kaum weniger gruselig aus als die der Puppen, »deswegen bist du hier. Wir suchten ein Mädchen, das nicht auf die Idee kommt, mit Miss Lavenders Puppen zu spielen. Es sind Sammlerstücke, kein Spielzeug. Sie müssen mit äußerster Sorgfalt behandelt werden. Geh hin, heb eine von ihnen hoch.«

Ich zögerte. Wirklich, ich verspürte keine Lust, auch nur eine davon anzufassen. Schließlich entschied ich mich für jene, die ganz am linken Rand saß – so musste ich zumindest keine der anderen berühren. Sie hatte ein dunkelblaues Kleid mit karierter Schürze an, ähnlich dem, was Waisenkinder trugen, aber ihr Kopf war mit einem Haufen rötlicher Locken bedeckt, die allen Zöpfen spotteten. Sie war ausgestreckt vielleicht so lang wie mein Unterarm, und sie war schwerer, als ich gedacht hatte, dafür, dass ihr Körper nur aus hohlem Porzellan bestehen sollte. Die Puppen, die ich kannte, hatten einfache Stoffkörper. Diese französischen Puppen – eigentlich wusste ich nicht, ob sie wirklich aus Frankreich kamen oder doch aus Deutschland oder von noch weiter her – hatte ich bisher nur hinter Schaufenstern stehen sehen, an denen ich eilig vorbeiging, und manchmal, in der Weihnachtszeit, gab es kleine Bildchen von ihnen in Zeitungsannoncen. Ich hielt die Puppe mit einer Hand beim Nacken wie ein totes Huhn und wusste nicht, was ich mit ihr anstellen sollte. Unsicher streckte ich sie Rufus hin, aber der schüttelte den Kopf.

»Ich will sie nicht«, sagte er. »Du wirst ein Verzeichnis anfertigen, in dem jede einzelne Puppe beschrieben wird. Eure Vorsteherin bestätigte mir, dass ihr Mädchen eine Schule besucht habt, also solltest du schreiben können. Die Handschrift von Mädchen ist eine wie die andere: immer sauber und gut zu lesen. Achte nur darauf, keine Fehler zu machen. Die Puppen werden von dir untersucht, vermessen, jede eventuelle Unregelmäßigkeit soll ebenso notiert werden wie Haar- und Augenfarbe. Und wenn am Kleid etwas auszubessern ist, wirst du auch das erledigen. Ich habe gehört, dass ihr in eurem Waisenhaus Näharbeiten verrichtet, um euch damit euren Unterhalt zu verdienen.«

Ich nickte. Die Puppe wurde mir zu schwer am ausgestreckten Arm, also wechselte ich sie in die andere Hand – nichts lag mir ferner, als sie in meinen Armen zu wiegen oder sie an meine Brust zu drücken. Dieses Ding hatte in der Nähe meines Herzens nichts zu suchen. »Wenn Sie mir etwas zum Schreiben geben, kann ich gleich anfangen«, sagte ich. Je schneller ich damit fertig wurde, desto besser!

»Nicht so hastig«, sagte Rufus. »Es gibt noch etwas zu beachten. Damit es kein Durcheinander gibt und du, unfähig, dich zu konzentrieren, verschiedene Puppen verwechselst, wirst du jeden Tag nur eine einzelne untersuchen. Wenn du es gründlich machst, sollte das eine gute Stunde dauern, zuzüglich der Zeit für eventuelle Ausbesserungen. Sei genau. Wir wollen jede von Miss Lavenders Puppen nach deiner Beschreibung identifizieren können.«

Die ganze Heimlichtuerei kam mir seltsam vor, jetzt wo ich wusste, um was es ging. Warum die Fenster verhangen sein mussten, konnte ich mir noch vorstellen. Vielleicht vertrugen die Puppen kein Sonnenlicht; auch ihre Kleider waren kostbar und sollten nicht verschießen. Aber warum musste der Raum versperrt sein? Warum durfte ich niemandem davon erzählen? Es war immerhin eine Sammlung, auf die man stolz sein konnte. Hatten die Molyneux’ Angst vor Dieben, oder was ging hier vor?

»Und die Namen«, sagte Violet mit dem süßesten Honigklang. »Du wirst einer jeden von ihnen einen Namen geben, dies liegt in deiner Verantwortung.«

Wenn es weiter nichts war! Ich hatte genug Romane gelesen, um die ausgefallensten und romantischsten Namen zu kennen. Für lebendige Menschen mochten sie vielleicht zu seltsam und unchristlich klingen, aber der Unterschied zwischen einer Romanheldin und einer Puppe war gar nicht so groß: Beide beschränkten sich zumeist aufs Lächeln und darauf, sich im richtigen Moment entkleiden zu lassen. Und so konnte ich mich auch ein kleines bisschen für meinen neuen Namen rächen, und für den der Scheuermagd.

»Und sollte dir etwas auffallen«, sagte Rufus, »etwas Seltsames oder Außergewöhnliches, gib uns unverzüglich Bescheid. Wir möchten nicht riskieren, dass eine der Puppen Risse bekommt und zerstört wird. Sorgfalt, Vorsicht und Aufmerksamkeit sind deine obersten Richtlinien, und Verschwiegenheit, natürlich. Hast du das verstanden?«

Ich nickte, aber die Wahrheit war, dass ich gar nichts verstand. Dass sie ihre Sammlung, oder die ihrer Tante, irgendwo verzeichnet haben wollten, leuchtete mir ein. Aber warum sie dafür bis London fahren und ausgerechnet mich einsammeln mussten, war mir völlig schleierhaft. Waisenmädchen waren nicht dafür bekannt, gute Sekretäre zu sein, oder Archivare, oder was auch immer hier gebraucht wurde. Waisenmädchen waren nur dafür bekannt, dass niemand sie vermisste. Und dieses Wissen machte mir das Nicken jetzt nicht einfacher. Aber was sollte ich sagen? Ich wusste jetzt schon, dass ich auf Fragen keine Antwort bekommen würde.

»Soll ich mich dann gleich an die Arbeit machen?«, fragte ich. Ich wollte es hinter mich bringen, eine Stunde mit den Puppen und dann nichts wie hinaus aus diesem Zimmer. Es kam mir hier drinnen kälter vor als im Rest des Hauses. Vermutlich war es auch so, schließlich wurde der Raum nicht genutzt, und in seinem Kamin hatte schon lange kein Feuer mehr gebrannt. Hatte die alte Miss Lavender vor ihrem Tod mit ihrer Dienerin die Puppen zugedeckt? Oder war das nach ihrem Tod geschehen, und wenn ja, durch wen? Ich hätte es gerne gewusst, denn ich wollte mich bei demjenigen bedanken. Die Puppen nach und nach freizulegen und den Rest vorerst unter den Tüchern zu lassen, war sicher angenehmer, als von 200 Paar Glasaugen angestarrt zu werden, kaum dass ich nur die Tür öffnete. Rückwirkend war ich froh, dass ich noch nie mein Herz an eine Puppe gehängt hatte. Das, was ich hier sehen musste, hätte diese Liebe wohl für immer zerstört.

»Eines nach dem anderen«, sagte Rufus. »Wir haben lange genug nach dir gesucht, nun lass es ruhig angehen. Du hast eine weite Reise hinter dir und in der vergangenen Nacht lediglich ein Nickerchen in der unruhigen Kutsche halten können, nun nutze die Zeit und ruhe dich aus. Lerne Hollyhock kennen, stöbere in der Bibliothek, vielleicht möchtest du auch nur schlafen. Und was uns angeht, auch wir möchten uns von dieser Reise erholen können, und von dir.«

Bis zu diesem letzten Satz hatte er eigentlich ganz nett geklungen, aber die abschließenden Worte machten diesen Eindruck wieder gänzlich zunichte. Ich konnte mich immer noch nicht entscheiden, ob ich Rufus mochte – ein netter Mensch war er jedenfalls nicht. Aber seine abweisende und schroffe Art beeindruckte mich: Er war in der Position, zu sagen, was er meinte, und er musste niemandem schmeicheln. Macht, das war es, Rufus verströmte Macht, auch wenn er nicht von Adel sein mochte und dieses Haus nur durch den Zufall geerbt hatte, dass seine Tante vereinsamt gestorben war. Ich glaubte nicht, dass sie zu ihren Lebzeiten viel Kontakt gehabt hatten oder dass Rufus und Violet besonders fürsorgliche Neffen und Nichten gewesen waren. Miss Lavender mochte keine Menschen. Vielleicht hatte sie gerade deswegen Puppen gesammelt. Ein Blick in ihre leblosen Gesichter war für sie genug Gesellschaft für das nächste halbe Jahr.

»Das heißt, ich darf jetzt überall hingehen, wo ich will?«, fragte ich und hätte vor Freude fast die Puppe fallen gelassen. Schnell setzte ich sie auf die Kommodenkante zurück. Sie musste noch ein Weilchen ohne mich auskommen. Es eilte ja nicht.

»In gewissem Rahmen«, antwortete Violet. »Wir möchten nicht, dass du das Gelände von Hollyhock verlässt, nicht jetzt und nicht zu einer späteren Gelegenheit. Es ist nicht nur ein weiter Weg bis ins Dorf, dieses hat auch nichts zu bieten, das dich interessieren könnte, und die Bewohner sind niemand, mit dem du oder wir Umgang zu pflegen brauchen.« Das war eine sehr freundliche Art, zu sagen: »Du bist jetzt unsere Gefangene, und wenn du jemals Hollyhock verlässt, dann mit den Füßen voran.« »Solltest du versuchen zu verschwinden, aus welchem Grund auch immer, werden wir dich wiederfinden. Wir möchten nicht, dass dir etwas zustößt.«

Auch das klang mehr wie eine Drohung, aber in St. Margaret’s hatte ich mich auch nicht frei bewegen dürfen, und der erlaubte Radius war hier immerhin viel größer. Sie konnte mir keine Angst einjagen. Wenn ich mich entschied verlorenzugehen, würde ich weg sein, spurlos, egal was Violet jetzt sagen mochte. Es musste in meinem Blut liegen. Wer verschwinden wollte, der tat das auch, und nichts blieb zurück als ein Kind auf einer Türschwelle und ein Medaillon, das sich nicht öffnen ließ.

»Das ist in Ordnung«, sagte ich. »Bis ich alles an diesem Haus und dem Garten erkundet habe, bin ich ohnehin alt und grau.« Ich konnte noch nicht einmal sagen, was mich gerade mehr interessierte: die Bibliothek oder der Garten. Solange das Wetter gut war, vermutlich das Labyrinth, das musste man ausnutzen. In jedem Fall war es nicht dieses Zimmer, und erst recht nicht die Puppen darin. Hätte man mir das Betreten verboten, hätte das natürlich anders ausgesehen, aber da es nun stattdessen Pflicht war, konnte ich es nicht erwarten, wieder hinauszukommen. Und schon jetzt wünschte ich mir, darüber reden zu können. Ich hätte gerne gewusst, was Lucy dazu sagen würde. Sie fühlte sich in diesem Moment wie meine einzige Freundin hier im Haus an.

»Dazu wird es nicht kommen«, sagte Rufus, und ich musste unwillkürlich schlucken, weil ich nicht sicher war, ob er das auf das Erkunden des Hauses bezogen hatte – oder aufs Altwerden. »Wenn du noch eine Frage hast, stelle sie jetzt. Es gibt noch andere Dinge, die wir zu erledigen haben, und wir können dir nicht den ganzen Tag widmen.«

Ich war ihm dankbar, dass er schon wieder das Thema gewechselt hatte, auch wenn ich nicht damit rechnete, Antworten auf die Fragen zu bekommen, die mir unter den Nägeln brannten. Aber eine Sache mussten sie mir sagen. »Was bin ich?«, fragte ich.

Beide sahen mich mit hochgezogenen Augenbrauen an, als ob ich ihre Zeit mit Unsinn verschwendete. »Du bist Florence«, sagte Violet. »Wer solltest du sonst sein?«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich meine, was bin ich in diesem Haus? Ich weiß ja jetzt, wozu ich hier bin, aber keiner von dem Personal darf davon wissen, wenn ich das richtig verstanden habe. Wenn mich jetzt jemand von denen fragt, was sage ich dann?«

»Das Personal hat dich nichts zu fragen«, antwortete Rufus. »Es kennt seinen Platz.«

Aber ich kannte meinen nicht. »Die Mädchen sind neugierig«, erwiderte ich. »Vielleicht werden sie mich nicht direkt fragen, aber sie werden mir nachschleichen, und wenn sie mich dann hier verschwinden sehen, wissen sie dann nicht schon zu viel?« Auf welcher Seite stand ich denn? Ich fühlte mich wie eine Petze. Doch wenn ich Lucy das nächste Mal traf, würde sie mindestens so viel fragen wie bei unserer ersten Begegnung, und dann war ich endgültig in der Verlegenheit, sie anlügen zu müssen. Besser, ich wusste schon im Vorfeld, welche Antworten den Herrschaften genehm waren und welche nicht.

»Es ist löblich, dass du dir darüber Gedanken machst«, sagte Rufus kalt. »Aber Dinge, das Personal betreffend, besprich mit meiner Schwester. Ich habe wirklich keine Zeit, mich um derartige Nichtigkeiten zu kümmern. Und überhaupt wundert es mich, dass du dir solche Fragen stellst. Ich denke, du bist ein Findelkind unbekannter Herkunft, daher solltest du daran gewöhnt sein, nicht zu wissen, wer oder was du bist.«

Ich erbleichte unter seinen Worten. Nicht einmal, weil er meinen Hintergrund kannte – was das anging, wunderte mich gar nichts mehr, und ein beachtlicher Anteil vermeintlicher Waisenkinder war auf irgendeiner Türschwelle ausgesetzt oder, mit noch etwas mehr Glück, rechtzeitig aus dem Brunnen gezogen worden. Aber dieses Berechnende, mit dem er mir meine Vergangenheit vorhielt, trieb mir einen Schauder über den Rücken. Rufus war einer, der seine Worte mit Bedacht wählte, und dass sie in meinen Ohren wie eine Beleidigung klangen, lag daran, dass sie genau so gemeint waren. Aber ich hatte keine Lust, mich beleidigen zu lassen. Ich wollte endlich einen Platz im Leben haben und eine Identität – alles, was ich jetzt hatte, waren ein falscher Name und das Gefühl, noch mehr in der Luft zu hängen, als wenn ich an einem Trapez baumelte.

Ich fühlte mein Medaillon kalt auf meiner Brust brennen, und ich trug es dort seit Jahren, ohne jemals groß daran denken zu müssen. Kaum einer wusste, dass ich es überhaupt besaß, und darüber war ich froh – ich wollte nicht, dass neugierige Finger versuchten, es mit dem Federmesser aufzubrechen, und auch nicht selbst gedrängt werden, es wenigstens zu versuchen …

Ich widerstand dem Drang, es anzufassen, und verschränkte nur stumm die Hände ineinander, sprachlos vor Zorn.

»Du wirst das Abendessen mit dem Personal einnehmen«, sagte Violet, als ob Rufus’ letzte Worte nie gefallen wären. »Frühstücken wirst du mit meinem Bruder und mir, jeden Morgen um neun Uhr. Den Rest des Tages kannst du dir einteilen, wie du möchtest, solange du deiner Aufgabe nachkommst.« Und mit einem Lächeln fügte sie hinzu: »Zerbrich dir nicht den Kopf, was andere über dich denken. Das hast du nicht nötig.«

Ich nickte und versuchte, darin ein Kompliment zu sehen. Zumindest Violet bemühte sich, nett zu sein, wo Rufus absichtlich das genaue Gegenteil tat. Deswegen mochte ich sie nicht mehr oder weniger als ihn: Beides kam mit zu viel Kalkül daher. »Dann werde ich jetzt auf mein Zimmer gehen und ein wenig ausruhen, wenn das in Ordnung ist«, sagte ich. »Und ich sehe Sie dann morgen zum Frühstück … Wo genau gibt es das?«

»Dort, wo wir vorhin den Tee hatten«, antwortete Violet. »Es ist das Morgenzimmer. Dies hier ist das Puppenzimmer, aber behalte diesen Namen für dich. Du findest den Weg.« Das war keine Frage, sondern eine Aufforderung. »Und denk an den Schlüssel.«

Wortlos zog ihn Rufus aus dem Schloss und reichte ihn mir.

»Du darfst dich entfernen«, sagte Violet. Dieses Mal erkannte ich die Falle sofort.

»Ich muss noch absperren, und ich will Sie nicht einschließen.«

Rufus blickte an mir hinunter. »Es ist nicht der einzige Schlüssel.« Und noch etwas kälter: »Natürlich nicht.«

Ich sah zu, dass ich fortkam. Für den Moment hatte ich genug von Puppen. Und von den Molyneux’ erst recht.

Ich wollte mich nur einen Moment lang hinlegen – nicht deshalb, weil ich schon wieder müde gewesen wäre, sondern um mich auf andere Gedanken zu bringen. Ich war froh, für eine Weile keinem anderen Menschen über den Weg laufen zu müssen. Wenn ich mit dem Personal zu Abend aß, musste ich mich auf viele neugierige Blicke und Fragen gefasst machen, da war es besser, mir vorher über einige Dinge klarzuwerden. Rufus und Violet mochten mir keine Antworten vorgeben, also musste ich sie mir selbst zurechtlegen. Außerdem war ich froh, aus meinem berüschten Kleid wieder hinauszukommen. Im Kleiderschrank fand ich kein Nachthemd, aber als ich die Bettdecke aufschlug, lag dort eines. Ich gruselte mich etwas vor dem Ding – es kam mir vor, als läge es dort schon länger und gehörte nicht mir, sondern einer anderen –, aber da ich nicht einmal mehr wusste, wer ich jetzt war oder sein sollte, konnte ich das vielleicht gar nicht mehr beurteilen.

Ich legte das Nachthemd zur Seite, über das Fußende des Bettes, damit es etwas frische Luft schnappen konnte. Mein altes Kleid, das ich vorher dort abgelegt hatte, war verschwunden, aber ich war nicht traurig darum, höchstens besorgt, weil jemand in meinem Zimmer gewesen war. Dann zog ich die Vorhänge zu und legte mich hin. Dass ich wirklich einschlafen sollte, damit rechnete ich nicht. Nur einen Moment dieses Bett ausprobieren, schauen, ob es besser war als das alte in St. Margaret’s – aber dann fielen mir die Augen zu, und als ich sie wieder aufschlug, war es mitten in der Nacht. Hätte ich nicht wenigstens bis zum Morgen schlafen können? Jetzt war es stockfinster, so dunkel, wie ich noch nie eine Nacht erlebt hatte, und ich war ganz allein in einem Haus, das schon bei Tag gruselig gewirkt hatte.

Wie spät war es? Ich hatte keine Ahnung. Irgendwann in der Nacht, und in jedem Fall noch zu früh, um mich auf den Weg zum Frühstück zu machen. Aber ob es jetzt elf war oder vier, das konnte ich unmöglich sagen. Durch den dünnen Vorhang fiel ein klein wenig Licht herein, zu wenig für den Mond, und ich fühlte mich ganz klein und verloren. In der Stadt war es niemals so dunkel. Auf der Straße gab es Gaslaternen, und Rauch und Nebel verhinderten, dass das Licht entkommen konnte, und so waberte es um die Häuser und zu den Fenstern herein. Aber hier, auf dem Land, gab es nichts, was geleuchtet hätte.

Ich stieg vorsichtig aus dem Bett, nachdem sich meine Augen an die Finsternis gewöhnt hatten, und schob die Vorhänge beiseite. Vielleicht konnte ich am Himmel einen Hinweis auf die Uhrzeit bekommen, aber stattdessen sah ich Sterne, mehr als ich jemals in meinem ganzen Leben erblickt hatte. Der Himmel war schwärzer als schwarz, aber darin funkelten Tausende winziger Sterne. Sie spendeten kein Licht, sie machten noch nicht einmal den Himmel heller, aber sie waren so wunderschön, dass ich einfach nur dastand und ihnen zusah. Müde war ich nicht mehr, kein bisschen, und ich mochte mich auch nicht wieder hinlegen, solange es draußen derart schön war.

Es war gar nicht so einfach, mich im Dunklen anzuziehen. Zwar leuchtete mein Kleid regelrecht, so weiß war es, aber irgendein Licht hätte ich schon gebraucht, um mich darin zurechtzufinden. Zwar versuchte ich tastenderweise, die richtigen Öffnungen zu finden, aber das rettete mich nicht davor, mit dem Kopf im Ärmel zu landen und stecken zu bleiben, gefangen in meinem Kleid, als hätte mich gerade eine Riesenschlange verschlungen. Ich hatte am Vortag vergessen, Sally nach einer Kerze zu fragen, und selbst wenn ich noch eine aufgetrieben hätte, besaß ich auch keine Zündhölzer. Es musste also irgendwie ohne all das gehen.

Ich wollte hinaus in den Garten, um die Nacht zu genießen. Eigentlich rechnete ich nicht damit, jemandem dabei zu begegnen, und so hätte ich ebenso gut in Leibchen und Unterrock gehen können, aber allein für die vage Möglichkeit, ausgerechnet Rufus über den Weg zu laufen, wollte ich doch lieber voll bekleidet sein. Endlich hatte ich mich in das Kleid gekämpft, und mit ein bisschen Herumtasten fand ich auch meine Schuhe – dann machte ich mich auf den Weg durch das nächtliche Haus.

Wieder ging ich auf den Zehenspitzen, um so wenig Lärm wie möglich zu machen, und ließ meine Finger an der Wand entlanggleiten. Einmal aus dem Zimmer hinaus und auf dem Flur war es stockfinster. Wirklich. Ich konnte die Hand nicht mehr vor Augen sehen, und das war nicht nur sinnbildlich gemeint. Ich wollte niemanden wecken, und das hieß, ich musste vermeiden, über irgendetwas zu stolpern oder gar die Treppe hinunterzufallen. Jetzt zahlte es sich endlich aus, dass ich jahrelang balancieren geübt hatte. Ich bewegte mich sicher und, wie ich mir einbildete, grazil – leicht gesagt, wo doch niemand da war, um es zu sehen, mich selbst eingeschlossen.

Einmal auf der großen Treppe in die Halle, wurde es einfacher, denn dort unten gab es wieder große Fenster, durch welche ein bisschen Sternlicht hereinkam, das mir jetzt fast taghell erschien. Einer Ballerina gleich hüpfte ich Stufe um Stufe hinunter – ich war noch nie in einem Ballett gewesen, aber ich hatte bestimmte Vorstellungen davon, wie das auszusehen hatte. So stand ich endlich vor der großen Doppelflügeltür. Sie war völlig schwarz, alles Licht glitt über sie hinweg und an ihr vorbei, dass ich nichts anderes tun konnte, als sie blind abzutasten. Was ich suchte, war ein Riegel, der mich in den Garten ließ – aber ich fand keinen. Nur ein Schloss ohne Schlüssel. Großartig. Es war mitten in der Nacht, ich hatte das halbe Haus durchquert, und jetzt kam ich nicht hinaus.

Was sollte ich machen? Wieder ins Bett gehen? Das wollte ich auch nicht. Ebenso gut konnte ich die Gelegenheit nutzen, Hollyhock zu erkunden, Raum für Raum, ohne Angst zu haben, dabei jemandem über den Weg zu laufen. Natürlich, mit Licht wäre es besser gegangen; man konnte einfach mehr vom Haus sehen, wenn es nicht gerade stockfinster war, aber dem ließ sich doch sicherlich abhelfen. Irgendwo hatte ich eine Petroleumlampe stehen sehen … Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, dass sie im Puppenzimmer auf der Kommode stand, neben den Puppen.

Ich schluckte. Es gab Räume, die wollte man nicht im Dunkeln betreten, und dieser gehörte dazu. Die Puppen jagten mir schon tagsüber einen Schauer über den Rücken. Wie sollte das erst nachts sein? Aber schlimmer konnte es eigentlich nicht mehr werden. Egal wie viele Schauerromane ich gelesen hatte, in Wahrheit glaubte ich nicht an Geister. Ich war an einem Ort aufgewachsen, der geradezu danach schrie, dass dort jemand umherging – all die Mädchen, die in den letzten 100 Jahren in St. Margaret’s verhungert, erfroren oder dahingesiecht waren: Natürlich hatte niemand von uns so ein schreckliches Schicksal mit ansehen müssen, aber es wurde so einiges gemunkelt, und es war schwer vorzustellen, dass es hätte anders sein sollen …

Und doch ging niemand dort um. Noch nicht einmal die eine, von der ich es mir so sehr wünschte, war als Geist wiedergekommen. Ich mochte nicht daran denken; normalerweise reichte schon die Erinnerung, um mich den ganzen Tag lang traurig zu machen, und ich wollte nicht traurig sein. Davon wurde niemand wieder lebendig, auch nicht Alice. Meine Freundin. War ich anders als die restlichen Mädchen von St. Margaret’s, so war sie es auch, und wir nutzten jede freie Minute, um die Köpfe zusammenzustecken und über Dinge zu flüstern, die kein Mensch außer uns jemals verstanden hätte, Dinge, die nur wir sehen konnten und von denen niemand wissen durfte, denn wir wollten nicht hören, dass wir sie nur erfunden hatten.

Solange Alice lebte, war ich niemals einsam, wir hielten uns bei den Händen, wenn wir uns aufstellen mussten, und erklärten jedem, dass wir Schwestern waren, und wo die eine hinging, würde die andere auch hingehen – aber dann starb Alice und ich nicht, und es fühlte sich an wie Verrat. Es waren nicht die Masern und nicht der Keuchhusten, keine Krankheit, die es mir ermöglicht hätte, Abschied zu nehmen: Es war der dümmste aller Unfälle, und ich war nicht einmal dabei. Hinterher hieß es, Alice wäre auf der Treppe über die Katze gestolpert und unglücklich gestürzt – als ob irgendjemand glücklich stürzen konnte! –, und ich wollte es einfach nicht glauben, aber es änderte nichts daran, dass Alice tot war. Ich hatte keine Schwester mehr. Ich hatte niemanden mehr.

Und ich wollte auch niemanden mehr haben. Keine neue Freundin, weil sie Alice nicht hätte ersetzen können, aber vor allem, weil ich nicht wollte, dass mir noch einmal etwas so sehr weh tat, wie sie zu verlieren. Bis dahin hatte ich immer gedacht, dass ich als Findelkind besser dran war als all die Waisen, weil ich nicht verstand, was Leid bedeutete, aber nach Alice’ Tod waren wir quitt. Und so, wie die Waisenmädchen vermieden, von ihren Eltern zu reden – schon weil sie fürchten mussten, sonst von den anderen Mädchen verprügelt und mit dem Kopf in die Wasserschüssel getaucht zu werden –, verstummte ich, wenn es um Alice ging. Ich versuchte, sie zu vergessen, und mit den Jahren ging das sehr gut; ich vergaß so vieles von dem, woran ich nicht mehr erinnert werden mochte.

Aber hätte es wirklich Geister gegeben, Alice wäre als einer zu mir zurückgekommen, dessen war ich mir sicher. Zwei, die so aneinander hingen wie wir, mussten auch über den Tod hinaus verbunden bleiben, so der Tod das erlaubte. Er tat es nicht. Es gab keine Geister. Nicht in St. Margaret’s. Und dann auch nicht in Hollyhock.

Was Rufus auch für dunkle Geheimnisse haben mochte, und ich war mir sicher, dass sie in die Dutzende gingen, er hatte dieses Haus erst vor kurzem geerbt. Und seine Schwester, die genauso viel auf dem Kerbholz haben mochte, ebenfalls. Wer sollte mir also nachts begegnen? Die alte Miss Lavender vielleicht, die mit ihren Puppen spielte? Zugegeben, das war nicht undenkbar, aber selbst wenn, die Vorstellung machte mir keine Angst. Ich hätte sie eigentlich ganz gerne kennengelernt und gefragt, was um alles in der Welt sie sich dabei gedacht hatte, so viele Puppen zusammenzutragen, statt etwas Anständiges mit ihrem Leben anzufangen und mit ihrem Geld. Ich musste ja nur kurz hineinschleichen und mir die Lampe holen, da war nichts dabei. Und in meinem Zimmer konnte ich sie hinterher auch gut gebrauchen …

Natürlich hatte ich den Schlüssel nicht bei mir. Dem Kleid fehlte wirklich eine Tasche, wenn es schon keine Schürze hatte. Ich musste mir etwas deswegen überlegen; es ging nicht an, dass ich keine Möglichkeit hatte, auch nur einen Schlüssel einzustecken! Also tastete ich mich wieder die Treppe hinauf, schlich über den ersten Stock und die Treppen hinauf in den Dienstbotenflur, und als ich dann in meinem Zimmer war, ging das Suchen los.

Ich konnte mich plötzlich nicht mehr daran erinnern, wo ich den Schlüssel hingetan hatte. Ich wusste noch, dass ich ihn irgendwo versteckt hatte, damit auch ein Dienstmädchen, das sich in mein Zimmer verirrte, ihn nicht herumliegen sah und heimlich einsteckte – aber wo? Endlich fiel mir wieder ein, dass ich ihn in meinem Wasserkrug versenkt hatte. Mit Gänsehaut bis zum Ellbogen fischte ich ihn wieder heraus, und als mir ein Blick aus dem Fenster verriet, dass es immer noch genauso dunkel war und mitnichten schon der Morgen dämmerte, machte ich mich klopfenden Herzens auf den Weg ins Puppenzimmer.

Einen Moment lang hoffte ich, ich würde im Dunkeln das Schlüsselloch nicht finden. Oder dass die Tür sich nicht öffnen ließe. Aber als hätte jemand das Schloss frisch geölt, glitt der Schlüssel hinein und drehte sich fast von selbst, ohne dass ich viel tun musste. Lautlos schwang die Tür auf, und dieser bestimmte Geruch, der für mich von nun an immer zu den Puppen gehören sollte, schlug mir entgegen – ein bisschen wie Zimt und Staub und Vanille und die Blumen, die auf einem Friedhof wuchsen, weiß wie die Gesichter der Puppen. Es hatte nicht so gerochen, bevor ich das Tuch von der Kommode genommen hatte.

Im Zimmer war es deutlich schwerer, mich zurechtzufinden, weil so viel herumstand. Selbst wenn alles mit Tüchern abgedeckt war, blieb das Zimmer vollgestopft. Ich hatte die Zündhölzer auf einem der Kerzenhalter liegen lassen – auch hierfür wäre eine Tasche praktisch gewesen – und fand sie erst im dritten Anlauf. Die Kerzen zündete ich nicht an – ich wollte die Augen der Puppen lieber erst wieder sehen, wenn es Tag war –, aber ich nahm die Streichholzschachtel und die Petroleumlampe mit; anzünden konnte ich sie dann auf dem Flur. Als meine Hand die Puppen streifte, wurde mir kalt, und einen Moment lang bereute ich zutiefst, wieder hergekommen zu sein, aber ich schluckte die Angst hinunter, schnappte mir die Lampe und machte, dass ich davonkam. Fast hätte ich vergessen, wieder abzuschließen, aber endlich stand ich da, mit einer Zündholzschachtel, einem Schlüssel und einer Lampe, alle Hände voll, bereit, mein neues Heim zu erkunden. Hollyhock war voller Geheimnisse. Und ich würde sie, eines nach dem anderen, aufspüren.

Nur wo sollte ich anfangen? So ein großes Haus, so viele Zimmer … Im ersten Stock musste ich aufpassen, denn dort waren die Schlafzimmer von Rufus und Violet, und ich wusste nicht, welche das waren. Es gab dort ein halbes Dutzend Türen, die mich natürlich alle sehr interessierten, aber ich wollte mich nicht plötzlich den Herrschaften gegenübersehen, noch dazu im Nachthemd. Und im zweiten Stock war es genauso, da lagen die Zimmer der Dienstboten. Am besten war es, ich fing im Keller an. Der würde am ehesten wieder zum Leben erwachen, irgendwann gegen sechs Uhr musste es in der Küche mit den Vorbereitungen losgehen, wenn es hier auch nur halbwegs so ähnlich zuging wie in St. Margaret’s – wenn der Ofen nicht rechtzeitig angefeuert wurde, hatten die Herrschaften für ihre Morgentoilette kein warmes Wasser, ganz zu schweigen davon, dass das Frühstück zubereitet werden musste. Und da ich oft genug mit dem Küchendienst dran gewesen war, eine von Mrs. Huberts stets wechselnden Sklavinnen, hatte ich einige Vorstellungen davon, wie dann gewirbelt wurde. Aber jetzt schlief noch alles, und ich konnte in Ruhe spionieren.

In der einen Hand hielt ich meine Lampe, die sich nicht gut greifen ließ, weil sie dafür gemacht war, auf einem Bord oder Tisch zu stehen, und ich hatte schon Angst, sie würde zu heiß werden und mich verbrennen, aber erst einmal ging es einigermaßen. In der anderen waren Schlüssel und Zündhölzer, bis ich auf die Idee kam, auszunutzen, dass das Kleid gereffte Ärmel hatte. Da konnte ich zumindest die kleinen Dinge hineinstecken, ohne dass es auffiel. Anschließend ging es auch mit der Lampe besser, weil ich zwei Hände zur Verfügung hatte. Aber wenn mich jemand so gesehen hätte, in dem weißen Kleid, die schwarzen Strümpfe und Schuhe unsichtbar in der Dunkelheit, und dann auch noch mit dem Licht in der Hand … Ich musste aussehen wie Florence Nightingale als Geist. Florence, französisch ausgesprochen, das klang schöner – wie hieß die Nachtigall auf Französisch? Hätte jemand mich gesehen, er hätte ein Gespenst erblickt, das sich gerade über sich selbst totlachte.

Es dauerte etwas, bis ich die Treppe ins Untergeschoss fand. Sie gehörte zum Dienstbotentreppenhaus, über das man vom Keller bis in den zweiten Stock gelangen konnte, ohne dabei von den Herrschaften gesehen zu werden, die sicher nicht wild darauf waren, ihren schönen Teppich und die Marmorböden mit der Dienerschaft teilen zu müssen. Vielleicht hätte auch ich nicht einmal die große Treppe in der Halle benutzen dürfen, aber noch war ich kein Teil des Personals, und Rufus hatte mir ausdrücklich erlaubt, mich frei im Haus zu bewegen. Ich trug ja auch ein besonders schönes Kleid, auf dass mein Anblick überall eine Freude sei. Mit diesen Gedanken schlich ich also hinunter in den Keller.

Die Treppe war aus altem Holz und knarrte unter meinen Füßen, und ich fragte mich wieder, wie alt Hollyhock wohl sein musste. Hier unten brauchte ich nicht mehr zu schleichen, aber dafür ahnte ich schon, was mich erwartete – eine Speisekammer, die Küche und Spülküche, vermutlich der Speisesaal des Personals – nichts Aufregendes und erst recht nichts Geheimnisvolles, aber ich wollte es hinter mich bringen –, als ich plötzlich hinter mir ein Geräusch hörte. Ich erstarrte mitten in der Bewegung. Wenn jetzt wieder Rufus aus dem Nichts auftauchte, mitten im Keller, mitten in der Nacht … Langsam, ganz langsam drehte ich mich um.

Aber stattdessen schaute ich in das Gesicht eines fremden Jungen, nicht viel älter als ich und im Nachthemd. Und er schien noch erschrockener zu sein als ich.

Viertes Kapitel

Der Junge starrte mich an, als hätte er noch nie ein Mädchen gesehen, und wenn das wirklich so war, passte es ganz gut, denn er war auch mein erster Junge, zumindest aus der Nähe. Seine dunkelblonden Haare standen unordentlich in allen Richtungen vom Kopf ab, als hätte ich ihn gerade aus dem Bett geholt. Aber das war es nicht, was ich einfach anstarren musste, auch nicht sein verschlafenes, kantiges Gesicht, sondern sein Nachthemd und die haarigen Beine, die unten herausschauten. Bis zu diesem Tag hatte ich noch nicht einmal gewusst, dass auch Männer Nachthemden trugen, und so sah es für mich aus, als trüge dieser fremde Junge ein Kleid. Ich vergaß, dass ich eben noch vor Angst fast versteinert gewesen war. Man konnte ja vor vielem Angst haben, aber nicht vor einem barfüßigen Jungen im Nachthemd. Er tat mir ein bisschen leid, denn wo auch immer er so plötzlich hergekommen war, ich musste ihm einen Heidenschrecken eingejagt haben.

»Wer … Was bist du?«, stammelte er und hielt sich die Hand vor die Augen, dass ich schnell die Lampe wieder herunternahm – ich hatte nicht gemerkt, dass ich sie ihm direkt ins Gesicht leuchtete. Jetzt hielt er mich vielleicht wirklich für ein Gespenst.

»Ich bin Florence«, antwortete ich, als ob das alles erklärte. »Ich wollte dich nicht erschrecken.« Neugierig sah ich mich um. Nicht nur hätte ich im Keller mit keinem Schlafzimmer gerechnet, ich hatte auch nichts gehört. »Wo kommst du so plötzlich her?«

Der Junge deutete auf einen kleinen Wandschirm, der den Bereich unter der Treppe nur notdürftig verdeckte. »Ich schlafe hier«, sagte er.

Jetzt tat er mir erst recht leid. »Unter der Treppe?« Das war kein Zimmer, es hatte keine Tür, es gab keinen Waschtisch oder sonst irgendetwas – und ich dachte schon, einer Scheuermagd ginge es schlecht!

Er lachte. »Ist nicht so schlimm, wie es aussieht. Ich bin im Haus der Erste auf den Beinen, ich heize in der Küche das Feuer an, da habe ich es wenigstens nicht weit.«

»Aber gestern in der Halle, da habe ich dich nicht gesehen«, sagte ich. Gut, das galt auch für die Köchin und ihre beiden Mägde – wie viele Leute lebten denn noch in Hollyhock?

»Dann bist du das Mädchen, das sie aus London geholt haben?«, fragte der Junge. »Ich habe von dir gehört. Aber ich komme nie in die Halle, und ich sehe auch nie die Herrschaften. Ich bin Alan.« Er streckte mir seine Hand hin, und ich nahm sie etwas zögerlich. Sein Händedruck war fest und warm, und ich fühlte Kraft, Hornhaut und Schwielen; das waren Hände, die hart arbeiten konnten. Rufus hätte mir niemals die Hand gereicht.

»Bist du kein Diener?«, fragte ich neugierig. Zwei Lakaien hatte ich ja am Vortag neben dem Butler stehen sehen, und die Dienstmädchen waren schließlich auch zu dritt. Es gab selbst beim Personal solche und solche.

»Wenn ich mich hocharbeite, vielleicht irgendwann«, sagte Alan, und sein Lachen klang ein bisschen verlegen. »Erst mal bin ich Hausbursche. Aber das ist schon in Ordnung. Ich denke immer, wir haben hier unten mehr Freiheiten, und außer Mr. Trent kommandiert mich niemand herum – na ja, Tom und Guy versuchen es natürlich zumindest, und mit Mrs. Doyle sollte man sich auch nicht anlegen …« Wieder lachte er und rieb sich die Augen. »Du wirst sie schon noch alle kennenlernen, denke ich – du bist doch eine von uns, oder?«

Da war sie, genau die Frage, vor der ich mich gefürchtet hatte. »So etwas in der Art«, sagte ich ausweichend. »Es tut mir leid, wenn ich dich geweckt habe.« Solange er als Nächstes nicht auch noch fragte, was ich um diese Uhrzeit im Keller suchte – ich konnte ja schlecht zugeben, dass ich am Herumschnüffeln war. »Ich … ich gehe dann lieber mal wieder.«

Alan nickte. »Es ist noch zu früh zum Arbeiten. Freu dich, wenn du noch ein wenig Schlaf bekommst, aufstehen musst du schon früh genug.«

Ich nickte schnell. »Dann schlaf gut«, sagte ich, und als ich mich umdrehte und die Treppe wieder hinauflief, fühlte ich mich seltsam verwirrt. Immer wenn ich dachte, ich wüsste, was Hollyhock für mich bereithielt, passierte etwas, mit dem ich ganz und gar nicht gerechnet hatte. Den Keller musste ich wohl ein andermal durchsuchen, wenn mir eine Möglichkeit einfiel, an Alan vorbeizukommen, ohne ihn dabei aufzuwecken. Falls es überhaupt jemals dazu kam; es war eigentlich eine kindische Vorstellung, das Haus auf den Kopf zu stellen, nur um herauszufinden, ob die Molyneux’ oder ihre tote Tante etwas zu verbergen hatten. Ich war nicht da, um Heldin zu spielen. Die Puppen waren schon gruselig genug, da konnte ich nicht noch eine Leiche im Keller gebrauchen …

Aber weil ich trotzdem noch nicht wieder ins Bett wollte und mich im Kopf hellwach und arbeitsam fühlte, beschloss ich, doch noch etwas ins Puppenzimmer zu gehen. Nicht, dass mir die Vorstellung jetzt irgendwie mehr behagte – aber es hatte einfach praktische Gründe. Ich wollte dort Ordnung schaffen, ehe ich anfing, Puppe um Puppe zu untersuchen, und schauen, ob ich die restlichen Laken über den Möbeln behalten oder die verstaubten Dinger doch loswerden wollte. Ohne die ganzen Tücher würde das Zimmer vielleicht nur halb so gruselig aussehen, egal wie viele Puppen dann auch zum Vorschein kommen würden.

Ich musste aber so arbeiten, dass niemand Verdacht schöpfte, versprochen war versprochen. Und gab es etwas Verdächtigeres, als wenn das neue Mädchen waschkorbweise Laken durch das Haus trug, wo jeder es sehen konnte? So nahm ich meinen Mut zusammen, schalt mich für meine Feigheit und ging mit meinem Licht zurück in das verbotene Zimmer. Dass mir dabei der Kellerjunge nicht aus dem Kopf ging, war eine andere Sache.

Die Puppen erwarteten mich schon. Als ich mich durch die Tür schob, ohne die dabei weiter aufzumachen als unbedingt nötig – auch wenn niemand da war, ich wollte mich an die Geheimhaltung gewöhnen –, kam es mir einen Moment lang so vor, als drehten sich ihre Köpfe mir zu und starrten mich an. Aber das täuschte. Die Puppen auf der Kommode sahen immer so aus, als ob sie zur Tür blickten, und das änderte sich auch nicht, als ich mitten im Zimmer stand. Eigentlich reichten mir die schon völlig aus. Wollte ich wirklich alle anderen ebenfalls von ihren Laken befreien?

Ich schüttelte den Kopf. Nacht hin oder her, ich sollte mich nicht so anstellen. Es waren immer noch nichts als Puppen. Ich mochte sie nicht, weil sie tot waren – dann sollte ich mich nicht beschweren, wenn sie mir lebendig vorkamen. So nickte ich ihnen zu, als ob sie mich sehen und hören konnten. »Ihr braucht gar nicht so zu glotzen«, sagte ich. »Sonst decke ich euch wieder zu und nehme nur den anderen ihre Laken ab.« Sie antworteten mir nicht, und darüber war ich froh.

Als Erstes brauchte ich einen Tisch, auf dem ich die Lampe abstellen konnte. Sie sollte nicht zwischen den ganzen Puppen stehen, dass auf einmal ihre Kleider von der Hitze anfingen zu brennen. Ohnehin würde ich einen Tisch benötigen, wenn ich hier arbeiten sollte – ich konnte zwar auch auf meinem Schoß schreiben, wenn ich eine Schiefertafel hatte, aber wo es um Tinte und Füllfederhalter ging, brauchte ich eine feste Unterlage. In der Mitte des Zimmers, nah bei dem verhüllten Gebilde, das ich für einen Diwan oder etwas in der Art hielt, stand ein Tisch, aber auch dieser schien vollkommen unter Puppen zu verschwinden. Wie sollte ich so arbeiten? Schließlich entschied ich mich, die Lampe auf dem Kaminsims abzustellen. Der war zwar auch bis zum Boden verhängt, so dass der Kamin nur zu erahnen war, aber ich konnte eine Ecke frei räumen. Es würde schon kein Erdbeben geben in der Zwischenzeit. Hoffte ich.

Dann spielte ich Hausmädchen. Mir fehlte das Häubchen, natürlich, und ich hätte viel für einen Staubwedel gegeben, aber ich musste eben ohne auskommen. Vorsichtig nahm ich das Tuch vom Tisch an zwei Ecken und legte es so zusammen, dass der Staub darin eingeschlagen wurde und sich nicht über mich und das ganze Zimmer verteilte. Meine Vorsicht war eigentlich unnötig: Was an Staub da war, saß fest im Stoff, aber ich war doch lieber ordentlich. Meine Lehrerin wäre so stolz auf mich gewesen! Da hatte ich mich drei Jahre mit der Frau herumgeschlagen, weil sie wollte, dass ich kochen und nähen und hauswerken lernte, während ich lieber die Zeit damit verbringen wollte, meine Bücher zu lesen – und jetzt ging ich ganz emsig zur Sache, faltete Laken und legte sie auf einen sauberen Stapel, als wäre das mein ganzer Lebensinhalt. In diesem Moment war ich froh, dass Rufus mich auserwählt hatte. Ich hätte so etwas nicht jeden Tag tun mögen, aber mit der Vorstellung, dass dieses Reich mir gehörte, machte es Spaß. Dabei fragte ich mich, wie lange es wohl dauerte, bis Stoff derart einstaubte. Vor drei Monaten sollte Miss Lavender gestorben sein? War das nicht ein bisschen wenig? Oder wann war das Zimmer versperrt worden?

Mehr und mehr Puppen kamen zum Vorschein. Sie standen auf dem Tisch, sie saßen auf dem Sofa. Sie füllten die Vitrine. Sie hockten, aufgereiht wie die Perlen an einer Schnur, auf dem Kaminsims. Wenn Miss Lavender es gewollt hätte, sie hätte in jedes einzelne Zimmer ein Dutzend Puppen setzen können, aber stattdessen waren alle hier versammelt – oder aber die Erben hatten das getan, froh, die vorwurfsvollen Glasaugen zumindest nicht beim Essen sehen zu müssen.

Ich zählte die Puppen nicht, es waren einfach zu viele. Ob es jetzt 200 oder 300 waren, machte keinen Unterschied: Man hätte nicht weniger als drei Waisenhäuser damit glücklich machen können. Dass Mädchen mit Puppen spielten, konnte ich ja noch irgendwie verstehen, Puppen gaben keine Widerworte und zogen einen nicht an den Zöpfen. Aber warum eine alte Frau ihr Haus mit ihnen vollstopfen sollte … Nein, die reichen alten Leute mussten sich schon selbst verstehen, ich tat es nicht. Das Bedauern, keine eigenen Kinder bekommen zu haben, rechtfertigte vielleicht ein oder zwei Puppen. Aber für 200 Kinder hätte sie schon eine Bienenkönigin sein müssen.

Durfte ich die Puppen vom Tisch irgendwo hinräumen? Und wenn ja, wo war noch Platz? Ich versuchte, mich genau zu erinnern, was Rufus und Violet gesagt hatten – nur eine Puppe am Tag … Aber ich wollte sie ja nicht untersuchen oder beschreiben, nur von hier nach dort räumen. Und wenn sie auf dem Fußboden sitzen mussten, den Tisch wollte ich haben; und wenn auf dem Sofa kein Platz für mich war, und im Sessel ebenfalls nicht, mussten mir die Molyneux-Geschwister eben auch noch einen Stuhl spendieren.

Trotzdem, ich zögerte, ehe ich auch nur eine Puppe anfasste, und verschob die Entscheidung auf später, indem ich beschloss, mich erst einmal um die Laken zu kümmern. Sie waren zwar jetzt zusammengefaltet, aber so auf dem Boden, in einem Mittelding zwischen Haufen und Stapel, konnten sie nicht bleiben. Ich wollte, dass das Puppenzimmer nicht mehr so sehr nach Leichenhalle aussah, und dazu musste dieser ganze Stoff verschwinden, besser jetzt als später, denn jetzt ließ er sich noch durchs Haus tragen, ohne dass mich jemand dabei erwischte. Ich konnte schließlich schlecht mit dem ganzen Berg unten bei Mrs. Arden oder Lucy oder der Köchin erscheinen, ohne dass Fragen aufgekommen wären. So wollte ich die Tücher erst einmal in meinem Zimmer verstecken und sie dann nach und nach in die Wäsche schmuggeln.

Ich hatte zu wenige Hände. Waisen- und Dienstmädchen hätten gut daran getan, mit Oktopussen verwandt zu sein – es war jedenfalls ein Ding der Unmöglichkeit, sowohl den ganzen Tücherstapel als auch die Lampe zu tragen. Wenn ich versuchte, die Laken auf einer Hand zu balancieren, drohten sie mir zu entgleiten … Es half nichts. Ich musste die Lampe löschen, um sie mitnehmen zu können, und mich wieder auf meinen Tastsinn verlassen. Vielleicht wurde es draußen schon langsam hell, aber davon merkte ich nichts; durch die dicken Vorhänge fiel ja nichts herein. Aber auch im Flur und in der Halle kam es mir nicht heller vor. Ich war wohl nicht nur ein Wunder an Fleiß gewesen, sondern auch schnell dabei vorangekommen. Gut, ich hatte nicht versucht, auch noch die Teppiche zu klopfen …

Wieder schlich ich, so leise ich konnte, um niemanden zu wecken, aber als ich in meinem Zimmer die Lampe wieder anzündete und nach einem geeigneten Versteck suchte, um die Laken zu verstauen, begriff ich, dass ich die Lösung direkt vor der Nase hatte. Auf dem Flur war der Leinenschrank, und wo passten diese Bettlaken besser hin als zum restlichen Linnen, zu den Tischdecken und Betttüchern? Ganz hinten und unten war der beste Ort für die verräterischen Laken. Ich zog zusätzlich ein paar von den sauberen heraus und legte die schmutzigen darunter. So schnell würde die kein Mensch finden, ich konnte mir nicht vorstellen, wie ein einzelner Haushalt, selbst ein so großer wie Hollyhock, so viel Leinen brauchen sollte. Das war wie Silberbesteck oder Puppen: Man hatte es, aber es wurde nie wirklich verwendet. Und wenn das verschmutzte Zeug doch irgendwann auftauchte, würde man sicher nicht auf mich als Schuldige kommen, sondern höchstens eines der Dienstmädchen bestrafen. Ich hatte zwar kein gutes Gefühl bei der Vorstellung, einem Mädchen Ärger zu machen, aber man durfte nicht zu zimperlich sein. Eine der ersten Sachen, die man in St. Margaret’s lernte, war, immer dafür zu sorgen, dass eine andere schuld war, egal ob Waisenmädchen oder Hausangestellte. Hauptsache, mein Geheimnis kam nicht heraus –

Und dann fiel es mir siedend heiß ein. Ich hatte vergessen, das Puppenzimmer abzuschließen, während ich mit den Laken und der Lampe kämpfte! Mein Herz fing an zu rasen. Es war niemand wach außer mir, das ganze Haus schlief, auch Alan war sicher längst nicht mehr auf, aber egal – ich hatte es versprochen, und wenn herauskam, dass ich den Schlüssel in der Tür hatte stecken lassen, würde ich Ärger bekommen, und nur ich – das konnte ich niemand anderem anhängen. Einen Moment lang waren mir die Schläfer im Haus egal. Ich schnappte mir die Lampe und rannte die Treppen hinab – ganz gleich, ob ich über meine Füße fiel und kopfüber die Stufen hinunterstürzte, das Puppenzimmer musste abgeschlossen werden, und das so schnell wie möglich. Durch die Halle, Tür, Flur … ich kam noch rechtzeitig.

Der Schlüssel steckte da, wo ich ihn zurückgelassen hatte, unschuldig und unscheinbar, und ich zog ihn schnell heraus, presste ihn gegen meine Brust wie ein Heiligtum und versuchte, langsam wieder zu Atem zu kommen. Der Schreck saß mir immer noch in den Knochen – Rufus sollte sich freuen, solch einen Ausbund an Pflichtbewusstsein wie mich entdeckt zu haben. Ich vermutete, jeder anderen wäre es egal gewesen, wenn um vier Uhr in der Frühe, oder wie früh auch immer es war, das Puppenzimmer für ein paar Minuten nicht abgesperrt war. Was sollte auch passieren – eine Puppe davonlaufen? Nein, die saßen noch genauso da, wie ich sie zurückgelassen hatte, und es war auch keine verräterische Lücke zu erkennen …

Ich musste zugeben, so ohne die Laken und im gelben Lampenlicht hatte das Puppenzimmer irgendwie etwas Gemütliches. Die Puppen, so fahl ihre Gesichter auch sein mochten, machten es bunt mit ihren Kleidern, Haaren und Mützen. Und auch wenn der Teppich sich sicherlich über einen Staubsauger gefreut hätte, lag er doch so vorteilhaft im Schatten, dass man davon nicht viel merkte. Auf dem Kaminsims stand eine Uhr, die schon lange nicht mehr aufgezogen worden war, und was ich für ein Sideboard gehalten hatte, war nach dem Enthüllen tatsächlich ein Klavier, das ich selbstverständlich niemals spielen durfte. Wie alle Möbelstücke im Zimmer ertrank es regelrecht unter Puppen, Puppen und noch mehr Puppen, aber ich blickte jetzt auf das Zimmer mit einem gewissen Besitzerstolz. Und ich hoffte, am anderen Tag ein Lob von Rufus oder Violet zu bekommen. Trotzdem, ewig hier herumstehen wollte ich auch nicht.

»Macht es gut, ihr Lieben«, sagte ich. »Wir sehen uns morgen wieder. Schlaft gut!« Ich nahm meine Lampe und ging zur Tür, und dieses Mal vergaß ich auch nicht den Schlüssel im Schloss, als ich mir wieder aufsperrte. Ich hatte die Hand schon auf der Klinke, froh, dass sich meine Aufregung und mein pochendes Herz wieder beruhigt hatten, und war bereit, noch ein paar neue Räume im Erdgeschoss heimzusuchen, ehe der Morgen anbrach – als ich hinter mir ein Geräusch hörte.

Es war nur ganz leise: Und doch hätte ich schwören können, es war das Lachen eines Kindes.

Als ich am nächsten Morgen bei den Herrschaften saß und frühstückte, war ich ganz das stille kleine Waisenmädchen, das sie sich gewünscht haben mussten. Ich brachte kaum ein Wort heraus oder einen Bissen hinunter, und das, obwohl ich seit den Honigbroten vom Vortag nichts mehr gegessen hatte. Aber der Schrecken der Nacht saß mir immer noch in den Knochen, und ich wurde ihn nicht los. Nachdem ich aus dem Puppenzimmer geflohen war und abgeschlossen hatte – mit solcher Gewalt, dass mir der Schlüssel beinahe abgebrochen wäre –, hatte ich den Rest der Nacht in meinem Zimmer am offenen Fenster gestanden, in den langsam erst violett und dann grau werdenden Garten gestarrt und versucht, wieder Herrin meiner selbst zu werden und zu begreifen, was da gerade passiert war.

Eigentlich war die Antwort so einfach, wie eins und eins zusammenzuzählen. Es war mitten in der Nacht, ich war aufgeregt und übermüdet und hatte mir schlichtweg etwas eingebildet. Aber meine Ohren wurden dieses Lachen nicht mehr los. Es hatte so vergnügt geklungen, dass es mich eigentlich hätte anstecken müssen, statt mir in die Knochen zu fahren und sie schlottern zu lassen wie ein altes Gerippe. Ich konnte nicht sagen, ob ich ein Kind gehört hatte oder Hunderte, aber es war auch egal, denn da war niemand außer mir. Aber ein Kinderlachen klang auch nicht so anders, als wenn einem die Ohren klingelten … Ich versuchte alles, ich suchte mir Erklärungen, um nicht glauben zu müssen, was mir widerfahren war, rief mir ins Gedächtnis, dass ich nicht an Geister glaubte und all das nur Stoff aus einem Schauerroman war, aber es half nichts: Im Grunde meines Herzens wusste ich, dass ich mir das nicht eingebildet hatte. Irgendwo in Hollyhock, irgendwo im Puppenzimmer, hatte ein Kind gelacht, und das machte mir mehr Angst als jede weiße Dame, jeder Ahn mit dem Kopf in den Händen, jedes Skelett, das ich mir vorstellen konnte.

Doch ausgerechnet jetzt, wo ich am liebsten gar nichts gesagt hätte, weil ich mich nicht lächerlich machen wollte, aber auch nicht wusste, was ich stattdessen hätte reden sollen, fand Violet, dass es an der Zeit war, Konversation zu treiben. »Noch Tee, Florence, Liebes?«, fragte sie, und beim Klang ihrer süßen Stimme lief es mir noch einmal kalt den Rücken hinunter.

Wie schon am Vortag gab es nicht sonderlich viel zu essen: Auf den kleinen Tisch passte auch wirklich keine große Auswahl. Diesmal war es geröstetes Weißbrot mit Sirup und Orangenmarmelade, und ich – auch wenn es genauso gut schmeckte wie am anderen Tag – fing schon beinahe an, den grauen, pappigen Porridge von St. Margaret’s zu vermissen. Man hatte danach zwar das ungute Gefühl, ein gekochtes Lexikon gegessen zu haben, aber dafür war man anständig vollgestopft, dass es bis zum Abend vorhielt. Von den kleinen Broten konnte man nur winzige Bissen nehmen, und mehr als der allergröbste Hunger wurde dabei auch nicht gestillt. Ich machte ein tapferes Gesicht und knabberte an meinem Brot. Ob ich noch mehr Tee wünschte? Schaden konnte es jedenfalls nicht. »Oh ja, bitte«, sagte ich, und meine Stimme klang so piepsig, wie ich sie noch nie gehört hatte, außer wenn ich Miss Mountford nachmachte.

»Heute wirst du mit deiner Arbeit beginnen«, sagte Rufus, für den das ganze Frühstück wohl Frauensache und Zeitverschwendung war; mehr als eine Tasse Tee hatte ich ihn noch nicht zu sich nehmen sehen. »Gibt es noch etwas, das du dafür benötigst, außer dem Schreibheft, das wir für dich vorbereitet haben?«

Jetzt wäre die richtige Gelegenheit gewesen, nach einer Sitzgelegenheit zu fragen, aber ich traute mich nicht, den Mund aufzumachen, weil ich Angst hatte, es würde nichts anderes herauskommen als: »Bitte, zwingen Sie mich nicht, noch einmal in dieses entsetzliche Zimmer zu gehen!«

So schüttelte ich nur den Kopf und tat so, als ob ich den Mund voll hatte, denn kein auch nur halbwegs gut erzogenes Mädchen würde jemals mit vollem Mund sprechen. Oder sich anmerken lassen, dass es Angst hatte. Aber ich fürchtete mich davor – mehr als jemals zuvor in meinem ansonsten doch furchtlosen Leben –, wieder zu den Puppen zu müssen. Ich hätte die Laken nicht entfernen dürfen. Jetzt hatte ich etwas freigelassen, das nicht frei zu sein hatte, und musste die Konsequenzen tragen.

»Wenn etwas ist«, sagte Violet, und sie klang dabei so sanft, so aufmunternd, dass ich fast die Kontrolle über mich verloren und ihr alles erzählt hätte, »wenn dir etwas auffällt, wenn etwas nicht stimmt, sag es uns. Oder sag es mir. Deine Arbeit ist uns wichtig, und du bist es auch, also nur zu, keine Scheu.«

Der Blick, den ihr Rufus zuwarf, war das ganze verkorkste Frühstück wert. Wäre es ein Kupferstich gewesen zur Illustration eines Romans, wäre er beschriftet gewesen mit »›Schweig, Frau‹, sagte der Gutsherr mit eisiger Stimme«. Es sah aus, als könnte er es nicht erwarten, sich in sein Studierzimmer oder die Bibliothek oder irgendein anderes der zahlreichen Zimmer, die ich noch nicht entdeckt hatte, zurückzuziehen und sich erst wieder herauszubegeben, wenn er seine Times ausgelesen hatte.

Die Zeitung lag neben ihm im Sessel, ein anständiger Batzen Papier, und ich hoffte, dass er sie am Ende nicht sofort verfeuerte, sondern sie irgendwo landete, wo ich selbst einen Blick hineinwerfen konnte. Die Times bekam ich nur sehr, sehr selten in die Finger; Miss Mountford las so etwas nicht, und ich hatte schon Glück haben müssen, um beim Spaziergang ein paar Seiten aus einem Papierkorb im Park ziehen und schnell unter meiner Schürze verschwinden lassen zu können. Mir war für gewöhnlich egal, was für ein Papier es war, Hauptsache, bedruckt. Jetzt hoffte ich, dass Rufus nicht die Wochenausgabe bestellt hatte, sondern jeden Morgen mit der ersten Post die neue Zeitung geliefert bekam, darin alles, was in der Welt und vor allem in London passierte. Ich musste zugeben, ein bisschen Heimweh hatte ich doch. So weit weg von der Stadt, und ich wusste nicht, ob ich sie jemals wiedersehen würde …

Wirklich, ich kannte London auch nicht besser, als Lucy oder Alan es taten. Ich sagte immer, dass ich aus London kam, weil sich das größer anhörte, aber die Wahrheit war, dass ich über Whitton nie hinausgekommen war, und der Crane war längst nicht die Themse. Doch ich hatte immer gewusst, wo ich war – jetzt hingegen hatte ich keine Ahnung, wo im Land ich mich befand. In Hollyhock war ich aus der Welt herausgerissen worden, und auch aus der Zeit. Alles lag nun in einem rosigen Nebel; ebenso gut konnte ich in ein Gemälde hineingezaubert worden sein oder in eine Glaskugel. Ich hätte Alan fragen sollen, wo ich mich befand, als dieser zu müde und erschrocken war, um mich dafür auszulachen, aber jetzt war es zu spät. Irgendwann würde ich es schon in Erfahrung bringen, und wenn es bedeutete, einen Brief an den König schreiben zu müssen. Und wenn der Brief als unzustellbar zurückkam, konnte ich wenigstens lesen, was auf dem Poststempel stand.

»Ich werde alles aufschreiben, was mir auffällt«, sagte ich heiser und versuchte, mir nichts anmerken zu lassen. »Wenn Sie mir das Schreibzeug geben, kann ich mich gleich an die Arbeit machen.« Wieso hatte ich es auf einmal so eilig?

Rufus, immer noch ohne ein Wort zu sagen, deutete auf ein kleines Päckchen, das auf einem Beistelltisch nahe der Tür lag, noch so verschnürt, wie es vom Kaufmann gekommen sein musste. Ich vermutete, wenn ich darüber hinaus noch etwas brauchte, konnte ich das sicher genauso anmelden, aber erst einmal wollte ich sehen, was das hier war. Ich hatte noch nie ein Päckchen bekommen – manche Mädchen in St. Margaret’s, die noch Großeltern besaßen oder eine entlegene Tante, erhielten zu Weihnachten oder zum Geburtstag ein Geschenk geschickt, das sie dann feierlich und unter aller Augen auspacken durften. Insgeheim hatte ich sie immer beneidet, auch wenn doch wieder nur Strümpfe darin waren oder Wolle zum Stricken oder irgendetwas anderes, womit ich nicht viel anfangen konnte. So stellte ich mir das jetzt auch vor, diese Aufregung, wenn man das Papier zerriss, die Spannung, wenn man an dem unbekannten Ding herumtastete – daran wollte ich denken, nicht an das Kinderlachen, das ich mir bestimmt nur eingebildet hatte.

Als ich das Päckchen endlich im Puppenzimmer auspacken durfte – ich wäre ja sofort vom Frühstückstisch aufgestanden, aber natürlich hatte ich warten müssen, bis Violet beschloss, die Tafel aufzuheben, und nach einem Mädchen klingelte, um das Geschirr abräumen zu lassen –, war das Ergebnis die ganze Aufregung natürlich nicht wert. Unter dem Packpapier kam ein Heft zum Vorschein, oder besser gesagt eine Kladde, mit blauem Einband, sehr einladend, als hätte man gar keine Wahl, als Geschichten hineinzuschreiben, aber leider war das Ganze ja für viel langweiligere Aufzeichnungen gedacht. Ein Lineal, um die Puppen zu vermessen, und ein Schneidermaßband. Außerdem Schreibzeug: ein Bleistift und ein Federhalter. Mein eigener Federhalter! Er war nicht vergoldet und sah nicht nach viel aus, aber wenn er dafür anständig schrieb, war das eine Menge wert. Und ein Fass Tinte hatte ich bekommen und ein Federmesser, um den Bleistift anzuspitzen. Jetzt war ich bewaffnet, und die Feder war mächtiger als das Schwert … Ich ignorierte geflissentlich das Nähzeug, das auch noch in meinem Päckchen war. Wenn es ums Nähen ging, hatte sich Rufus die Falsche ausgesucht. Mir fehlten Interesse und Können, und ganz sicher hätte ich mir nie absichtlich ein Loch in meine Schürze gerissen, nur um nicht untätig herumsitzen zu müssen – auch wenn ich manchen Riss der letzten Jahre so erklärt hatte.

An die Arbeit. Bis zum Abendessen war noch viel Zeit, und auch wenn Rufus gemeint hatte, ich müsste jeden Tag nur eine Stunde arbeiten, würde ich doch am Anfang bestimmt länger brauchen; ich kannte die Handgriffe noch nicht und wusste nicht, was alles zu tun war. Eine Puppe musste den Anfang machen. Ich schluckte. Aber jetzt war es Tag, das Zimmer beinahe hell, die Porzellangesichter starrten mich so unschuldig und reglos an, als könnte sie kein Wässerchen trüben, und ich glaubte immer weniger an das, was in der Nacht passiert zu sein schien. Von der Puppe, die ich am Vortag in der Hand gehalten hatte, wusste ich immerhin, dass sie mich nicht gebissen hatte. Und dann konnte ich Rufus und Violet zeigen, was für eine grandiose Puppenverwalterin in mir steckte. Besser eine seltsame Aufgabe im Leben als gar keine … Ich schluckte. Und griff dann nach der Puppe.

Wieder fiel mir auf, wie schwer das rotgelockte Mädchen war, aber zu meinen Werkzeugen gehörte keine Waage, also sollte das Gewicht wohl egal sein. Aber ich fühlte noch etwas anderes, als ich sie aufnahm, ein Wiedererkennen – natürlich, ich war mir sicher, dass es die gleiche Puppe war wie am Vortag. Sie hatte ganz links auf der Kommode gesessen, und niemand war in der Nacht da gewesen, um sie durcheinanderzubringen. Aber daran lag es nicht. Es war kein Erkennen mit den Augen. Es war ein seltsam vertrautes Gefühl, als ob wir einander schon begegnet waren. Sie fühlte sich freundlicher an als gestern, und das machte mich argwöhnisch.

»Wenn du das warst, die gestern gelacht hat …«, sagte ich und schalt mich im nächsten Moment dafür, wie oft ich mit diesen leblosen Gestalten sprach, die mir nicht antworten konnten. »Wenn du das noch mal machst, werfe ich dich gegen die Wand, und wir werden sehen, wer dann lacht.«

Ich bildete mir ein, dass irgendwo aus der Ecke ein Kichern kam. Jemand lachte mich aus, aber es war nur unscharf, im Augenwinkel meines Bewusstseins und längst nicht so wirklich wie das, was ich in der Nacht gehört hatte. Vermutlich war es nur eine Erinnerung, die mich in den nächsten Tagen noch oft heimsuchen würde, bis ich mich daran gewöhnt hatte, von Puppen umgeben zu sein. Und das Reden … Der Gedanke mochte bitter klingen, aber ich hatte sonst niemanden. Rufus und Violet ließen mich nur sprechen, wenn sie es gerade wollten, und auch wenn ich ein paar nette Worte mit den Dienstboten wie Lucy oder Alan gewechselt hatte, waren sie doch jetzt weit weg; ich konnte nicht einfach hinuntermarschieren, sie bei der Arbeit stören, nur um ihnen irgendetwas von Puppen zu erzählen – sie würden es weder verstehen, noch dürften sie es hören.

Da ich immer noch keinen freien Stuhl hatte, setzte ich mich mit der Puppe und allem Werk- und Schreibzeug auf den Teppich. Die Kerzen an der Wand brannten, aber um mehr Licht zu haben, nahm ich auch die Petroleumlampe zu mir mit auf den Boden, vorsichtig, um sie nicht umzuwerfen. Mit überkreuzten Beinen wie ein Schneider ging ich ans Werk. Ich hatte es Violet oder Rufus nicht verraten, aber diese Arbeit war mir nicht ganz fremd. Gut, ich hatte das noch nie mit einer Puppe gemacht, aber wenn jemand St. Margaret’s ein Kind vermachte, auf dem einfachen Weg über ein Bündel auf der Türschwelle, musste alles seine Richtigkeit haben. Miss Mountford nahm sich dann zwei der älteren Mädchen – mich zum Beispiel – und ihr großes Buch, und dann ging es los: Größe, Gewicht, Kopfumfang, alles, was später helfen würde, das Kind zu identifizieren – falls sich doch noch einmal jemand melden sollte, der es wiederhaben wollte. Ich hatte einmal versucht, meinen eigenen Eintrag wiederzufinden, aber er half mir nicht viel weiter. Natürlich war ich irgendwann einmal 19 Zoll groß gewesen, hatte schwarze Haare auf dem Kopf gehabt, die offenbar eines Tages alle ausgefallen und schlammfarben nachgewachsen waren, doch bis auf das Medaillon, von dem ich schon wusste, gab es nichts Bemerkenswertes an mir. Da mochte ich noch so sehr auf die Beschreibung von seltsamen Muttermalen hoffen, an Stellen, die ich niemals selbst zu Gesicht bekommen konnte, auf Zeichen, die mich als verschollene Prinzessin auswiesen … Nichts davon – und so hatte ich das Suchen dann wieder aufgegeben. Es führte zu nichts. Ich war, was ich war.

Und nun wiederholte sich also das Ganze. Ich versuchte, mich zu erinnern, ob ich jemals mit Puppen gespielt hatte, sicherlich hatte ich als kleines Mädchen eine Holz- oder Lumpenpuppe besessen, aber sie konnte keinen schweren Eindruck auf mich gemacht haben und musste sicher bald bei einem anderen Kind gelandet sein, das mehr damit hatte anfangen können. Erst einmal ausziehen … Ich kicherte, als wäre ich blödsinnig. Wir waren anständige Mädchen in St. Margaret’s, wir wussten, dass wir uns nicht nackt ausziehen durften, zumindest nicht im Hellen, aber eine Puppe sah unter ihren Leibchen und Höschen doch anders aus als ich, und es war niemand da, um ihr etwas wegzugucken. Vorsichtig machte ich mich ans Auswickeln, ich wollte nichts kaputt machen und musste die Sachen hinterher auch wieder so an der Puppe befestigen, wie sie zuvor gewesen waren.

Da lag sie nun vor mir, nackt und hilflos. Wirklich, mit der Puppe wollte ich nicht tauschen, und wer glaubte, er machte einem Mädchen Komplimente, wenn er meinte, es sähe aus wie eine Puppe, dachte sicher nicht an Kugeln anstelle von Knien und Ellbogen, an seltsam eingeknickte Oberarme, Schlitze in den Schenkeln und an einen Leib, der dicht unterhalb des Bauchnabels abrupt endete.

Ich war keine Expertin für Puppen, aber eines wusste ich sofort: dass Rufus noch weniger Ahnung hatte als ich, was die Sammlung seiner Tante anging. Vermutlich hatte diese nur von Porzellanpuppen gesprochen, und Rufus ging nun davon aus, dass dann die ganze Puppe aus Porzellan sein musste. Aber abgesehen vom Kopf bestand Püppi aus etwas, das ich für Papiermaché hielt: eine dicke Modelliermasse, lackiert mit vielen Schichten Farbe oder dickem Schellack, das konnte ich nicht beurteilen; überzogen von Linien wie feine Risse. Die Fußsohle war gesprungen, so dass es aussah wie ein Spinnennetz; es erinnerte mich an ein Ei, kurz bevor der Vogel schlüpfte.

Es war seltsam, aber nach dieser Entdeckung mochte ich die Puppe gleich viel lieber. Es gefiel mir, dass sie unter ihrem Porzellangesicht doch nicht vollkommen war, dass ihr Körper Makel hatte und sie vielleicht das Zipperlein plagen mochte von der langen Zeit in einem unbeheizten Zimmer. Jetzt ging es auf den Sommer zu, aber wenn ich jeden Tag nur eine Puppe anfassen durfte, würde ich bis zum Winter niemals fertig sein, und wichtiger als eine Heizung in meinem Zimmer, wo ich ohnehin nur schlief, war es mir, bis dahin den Kamin im Puppenzimmer wieder in Gang gesetzt zu haben. Die Puppe sah aus, als ob sie fror – dieser nackte Körper machte sie verwundbar, fast menschlich, und ich beeilte mich, sie richtig mit Zollstock und Maßband zu vermessen und die Ergebnisse in die Kladde einzutragen. Ich fühlte mich sehr wichtig dabei. Die Schrift auf dem Papier hatte so etwas Offizielles, als würde das Buch weiterbestehen, lange nachdem ich tot war, und als würden die Menschen späterer Jahrhunderte noch meine Aufzeichnungen für ein wichtiges Zeugnis halten.

Auch die Arme und Beine vermaß ich, weil ich einmal gehört hatte, dass man das mit Verbrechern so machte, und das nicht nur, um ihnen besonders gut sitzende Zuchthauskleidung schneidern zu können, sondern um sie später wieder zu identifizieren. Ich zählte ihre Zähne und wusste, als kleines Kind hätte ich mich unglaublich gefürchtet vor so einer Puppe mit halboffenem Mund, die aussah, als wollte sie mich jeden Moment beißen. Ich war sehr gründlich. Selbst mit der Handschrift gab ich mir große Mühe, damit sie aussah wie die von Miss Smythe, welche die Leihbücherei betrieb. Wenn die ihren Farthing kassiert hatte und man das Buch mitnehmen durfte, trug sie den Kunden in ihr großes Buch ein, und erst das machte die Ausleihe endgültig zu etwas Magischem.

Nur an einer Sache scheiterte ich: der Puppe einen Namen zu geben. Nicht, weil ich nicht den Kopf voll schöner Namen gehabt hätte: Alle Heiligen aus dem Gebetbuch, alle Heldinnen aus den Kolportageromanen, sie alle hatten jetzt die Gelegenheit, eine Puppe zu werden. Aber es war so etwas seltsam Endgültiges. Ich konnte einer Puppe jeden Tag einen anderen Namen geben, aber sobald ich ihn aufgeschrieben hatte, würde sie ihn für alle Zeit tragen. Und dann kam mir noch in den Sinn, was Lucy erzählt hatte: dass den Herrschaften ihr richtiger Name nicht gefiel. Ich wollte keinen Ärger bekommen, weil ich einer Puppe einen falschen Namen gab, Nummern waren da viel sicherer. Mit den Namen, die sich Miss Mountford für die Findelkinder ausdachte, waren die auch bis zum Ende ihres Lebens gestraft, so sie nicht irgendwann umbenannt wurden wie ich oder die arme Lucy.

In diesem Moment wäre es doch praktischer gewesen, hätte die Puppe sprechen können. »Komm schon, verrat mir deinen Namen«, sagte ich und schüttelte das arme Kind. »Wenn du lachen kannst« – das war nach wie vor unbewiesen –, »sag mir wenigstens, wie du heißt.« Ich war natürlich froh, dass sie mir nicht antwortete. Hätte sie es getan, ich hätte sie vor Schreck zu Boden fallen lassen, dass sie sich ihren hübschen Kopf anschlug. Aber die Puppe schwieg.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2016
ISBN (eBook)
9783960531579
Dateigröße
8.6 MB
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (April)
Schlagworte
übersinnlich Magie Historisch Zauberei Feen Gaslight Nervenkitzel Fantasy London Unterhaltung Spannung Puppenzimmer Waisenhaus Fantasie Abenteuer 19. Jahrhundert eBooks
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Titel: Das Puppenzimmer
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