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Das Haus Anubis - Band 3: Der geheimnisvolle Fluch

Der Roman zur TV-Serie

©2016 282 Seiten

Zusammenfassung

Nina lag auf ihrem Bett und schrieb Tagebuch. Es war so viel geschehen in so kurzer Zeit … Ihr Kopf fühlte sich an, als würde er gleich explodieren.

Endlich halten Nina, Luzy, Delia, Daniel und Felix den Gral in Händen. Niemand ahnt, welche Geheimnisse er birgt, bis der Geheime Club der alten Weide auf eine Schriftrolle mit dem Text einer uralten Liebeslegende stößt. Während Nina und Daniel noch von ihren Gefühlen füreinander verwirrt sind, kommt es zu tragischen Ereignissen. Was hat der Gral damit zu tun? Den Sibunas bleibt wenig Zeit, sieben Aufgaben zu lösen, um eine Katastrophe abzuwenden …

Die Buchreihe zur Nickelodeon-Erfolgsserie – jetzt als eBook!

Jetzt als eBook: „Der geheimnisvolle Fluch“, der Roman zur Serie „Das Haus Anubis“. jumpbooks – der eBook-Verlag für junge Leser.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Über dieses Buch:

Endlich halten Nina, Luzy, Delia, Daniel und Felix den Gral in Händen. Niemand ahnt, welche Geheimnisse er birgt, bis der Geheime Club der Alten Weide auf eine Schriftrolle mit dem Text einer uralten Liebeslegende stößt. Während Nina und Daniel noch von ihren Gefühlen füreinander verwirrt sind, kommt es zu tragischen Ereignissen. Was hat der Gral damit zu tun? Den Sibunas bleibt wenig Zeit, sieben Aufgaben zu lösen, um eine Katastrophe abzuwenden …

Die Buchreihe zur Nickelodeon-Erfolgsserie – jetzt als eBook!

In der Serie Das Haus Anubis erscheinen bei jumpbooks auch die folgenden eBooks:
Das Haus Anubis: Der geheime Club der Alten Weide

Das Haus Anubis: Das Geheimnis des Grabmals

Das Haus Anubis: Die Auserwählte

Das Haus Anubis: Das Geheimnis der Winnsbrügge-Westerlings

Das Haus Anubis: Die Träne der Isis

Das Haus Anubis: Pfad der 7 Sünden

Das Haus Anubis im Internet:
www.DasHausAnubis.de

www.DasHausAnubis-DerFilm.de

www.studio100.de

***

eBook-Neuausgabe April 2016

Aus dem Niederländischen von Verena Kiefer und Andrea Kluitmann, bearbeitet von Igor Hartmann und Andreas Guni

Copyright © der Originalausgabe 2010 Studio 100 Media GmbH

Text von Alexandra Penrhyn Lowe, basierend auf den Drehbüchern zur TV-Serie Het Huis Anubis von Hans Bourlon, Gert Verhulst und Anjali Taneja

Copyright © der Neuausgabe 2012 dotbooks GmbH, München

Copyright © 2016 jumpbooks. jumpbooks ist ein Imprint der dotbooks GmbH.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nicola Bernhart Feines Grafikdesign, München

Titelbildabbildung: © 2012 Studio 100 Media GmbH

E-Book-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN 978-3-96053-002-2

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Das Haus Anubis

Der geheimnisvolle Fluch

Das Buch zur TV-Serie

jumpbooks

1
Der Gral

Nina lag auf ihrem Bett und schrieb Tagebuch. Es war so viel geschehen in so kurzer Zeit … Ihr Kopf fühlte sich an, als würde er gleich explodieren. Jetzt wollte sie endlich mal alles in Ruhe aufschreiben – und zwar der Reihe nach. Sie schaute kurz aus dem Fenster und beugte sich dann wieder über ihr buntes Tagebuch.

Wenn mir jemand, bevor ich ins Haus Anubis zog, gesagt hätte, was alles geschehen würde – ich hätte es niemals geglaubt. Alles fing an mit der seltsamen alten Frau bei meiner Oma im Seniorenheim. Sie erzählte mir, im Haus Anubis sei ein Schatz versteckt, und gab mir ein altes Medaillon mit dem Foto eines kleinen Mädchens.

Als Luzy mich danach als Mutprobe auf den Dachboden schickte, entdeckte ich eine Geheimwand und dahinter ein Gemälde des Mädchens aus dem Medaillon und einen Zettel mit dem ersten Rätsel. Ich wusste nicht, wer das Mädchen war, und das Rätsel verstand ich auch nicht. Obwohl die alte Frau im Seniorenheim gesagt hatte, ich dürfe niemanden ins Vertrauen ziehen, weil das nicht sicher sei, habe ich schließlich doch Daniel gefragt. Er war der Einzige im Haus, der ein wenig freundlich zu mir war, und so hatte ich das Gefühl, ihm vertrauen zu können. Daniel war echt großartig! Er half mir sehr, und langsam wurde er wirklich mein Kumpel. Oder doch mehr? Gemeinsam haben wir das erste Rätsel gelöst. Wir fanden die Wachsrollen auf dem Dachboden. Und dann bekamen wir noch raus, dass das Mädchen im Medaillon und die Frau im Seniorenheim ein und dieselbe Person waren. Sarah Winnsbrügge-Westerling, die Tochter eines berühmten Archäologenehepaars, das bei einem geheimnisvollen Autounfall ums Leben gekommen war ...

Arme Sarah – sie tut mir so leid. Sie hat nie erfahren, wo der Schatz lag, dabei wollte sie ihn so gern nach Ägypten zurückbringen ... Aber klar, sie war ganz allein, und ich hatte den Club der Alten Weide, deren Mitglieder fast ihr Leben gegeben hatten, um den Schatz zu finden. Erst gehörten nur Daniel und Delia zum Club, dann auch Luzy und Felix. Wir haben den Gral gemeinsam gefunden – eher als Victor, eher als Zeno Trabas, eher als Magnus. Der Geheime Club der Alten Weide fand den Schatz als Erster! Ich kann mir keine besseren Freunde vorstellen. Und vor allem Daniel ... Er hat mir so sehr geholfen. Ohne ihn hätten wir die Rätsel niemals gelöst und den Schatz niemals gefunden. Wie sollte man auch daraufkommen, dass der Gral in Corvuz versteckt war? Aber Daniel hat es herausgefunden. Der arme Corvuz ist dabei leider explodiert. Victor tobte vor Wut, und wir konnten gerade noch aus dem Haus und zum Schulball flüchten.

Wenn ich an den Ball zurückdenke, kommt es mir wie ein Traum vor. Alles war perfekt: das Kleid, das ich von Sarah bekommen hatte, die glitzernde Krone, weil Daniel und ich zum König und zur Königin des Schulballs gewählt wurden. Der Gral war endlich in Sicherheit, und dann dieser Kuss …

Vielleicht war es blöd von mir, ihn zu küssen. Aber ich wollte es schon so lange, und jetzt zweifle ich sehr ... Sind wir noch Freunde oder ist alles vorbei?

Nina starrte durchs Fenster in den Himmel, der sich langsam dunkel färbte. Sie wollte gerade ihre Nachttischlampe anschalten, als die Tür aufgerissen wurde und Delia ins Zimmer stürmte. Schnell klappte Nina ihr Tagebuch zu, aber Delia hatte es schon gesehen.

»Na, schreibst du über deinen Prinzen?«, zog sie Nina auf, während sie sich auf sie stürzte und versuchte, ihr das Tagebuch aus den Händen zu reißen.

»Delia! Lass das!«, sagte Nina panisch. Sie wollte auf gar keinen Fall, dass Delia las, was sie gerade geschrieben hatte.

»Och, bitte, bitte! Ich will jede Einzelheit! Alles!«, bettelte Delia, aber sie versuchte zum Glück nicht mehr, Nina das Tagebuch wegzunehmen. »War das dein erster Kuss?«

Nina sah sie völlig erstaunt an. »Woher weißt du, dass ich geküsst habe?«

Delia schob sich ihr blondes Haar hinter die Ohren und sah Nina ungläubig an. »Wie meinst du das? Das wissen doch alle! Nina, ihr standet mitten im Saal!«

Nina wünschte sich sehnlichst ein großes Loch in den Boden, in dem sie versinken könnte. Alle wussten es? Die ganze Schule?

»Es sah sehr, sehr süß aus«, sagte Delia tröstend. »Seid ihr jetzt zusammen?«

Aber bevor Nina antworten konnte (auch wenn sie nicht wusste, was sie auf diese Frage hätte entgegnen sollen), stürmte Felix ins Zimmer. Ihm folgte Luzy – und danach (oh nein!) Daniel. Nina wusste nicht, wo sie hinschauen sollte, und konzentrierte sich darum auf Felix, der zur großen Kommode rannte und eine Schublade aufzog.

»Super-Felix sucht den verschwundenen Gral. Wo ist er?«, rief er laut und zog ein Kleidungsstück nach dem anderen aus der Schublade.

»Mensch, das ist privat!«, antwortete Delia entsetzt und riss Felix einen cremefarbenen Seiden-BH aus den Händen. Sie schubste ihn neben Luzy auf Ninas Bett.

»Und? Küsst er gut?«, fragte Luzy Nina flüsternd. Sie deutete mit dem Kopf auf Daniel. Der hatte sich auf Delias Schminkhocker gesetzt und fummelte an einer Dose Gesichtscreme herum.

»Du musst auch alles anfassen, oder?«, gab Delia doppeldeutig zu verstehen und nahm Daniel die Dose aus den Händen.

»Ja, er kann die Hände nicht bei sich behalten«, meinte Felix trocken, während er einen roten BH vom Boden aufhob und ihn sich wie zwei Mickymausohren um den Kopf band.

»Das gilt offensichtlich auch für dich.« Delia zog Felix den BH vom Kopf und warf ihn zurück in die Schublade. Dann kramte sie ein wenig in der Wäsche herum. »Tadaaa!«, rief sie triumphierend und hielt den Gral hoch.

»Wow.« Felix streckte die Hände aus und schaute den goldenen Kelch bewundernd an.

»Hast du keine Angst, dass Victor ihn dort findet?«, fragte Daniel beunruhigt.

»Zwischen meiner Unterwäsche? Das soll er sich mal trauen, da zu suchen!«

»Aber das hat Felix doch auch getan«, bemerkte Daniel mit seiner eisernen Logik, die keine Gegenargumente duldete.

Delia wusste einen Moment nicht, was sie sagen sollte.

»Victor sitzt doch eh immer nur im Keller rum«, sagte Luzy. Seit sie durchs Fenster zum Schulball geflüchtet waren, hatte niemand mehr Victor gesehen. Er zog sich in den Keller zurück, um Corvuz wieder zusammenzuflicken. Er war wie von Sinnen gewesen, als er merkte, dass sein ausgestopfter Rabe – sein treuer Freund – explodiert war, und hatte seither nichts anderes im Kopf. Aber das dauerte bestimmt nicht ewig. Sobald Corvuz wieder heil war, würde Victor die Jagd nach dem Gral mit Sicherheit wieder aufnehmen.

»Was machst du denn da?«, fragte Daniel Felix, der in den Gral biss.

»Prüfen, ob er echt ist«, murmelte Felix. »Dann können wir ihn verscherbeln.«

»Nein!«, warnte Nina sofort. »Du weißt doch, was Sarah gesagt hat. Der Gral muss zurück nach Ägypten.«

Daniel zog den Kelch rasch aus Felix’ Händen. »Aber wohin denn bloß? Und wie?«

Auf einmal rief Luzy: »Da kommt jemand, hoffentlich nicht Victor!«

Alle wurden panisch. Felix tauchte unter Delias Decke ab, Daniel rollte sich unters Bett, und Luzy rannte zum großen Schrank. Und schon wurde die Türklinke heruntergedrückt ...

»Moment! Ich bin nicht angezogen!«, sagte Nina gehetzt.

Delia rannte zu ihrem Bett und warf sich rasch auf die Bettdecke, unter der Felix lag.

»Ich erwarte dich in zehn Minuten in meinem Büro«, erklang Victors Stimme gedämpft.

Plötzlich fiel Delias Blick auf etwas, was ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ: Der Gral stand noch auf ihrer Kommode!

»Nina!«, rief sie ängstlich.

Nina hechtete auf den Gral zu und stopfte ihn unter ihre Decke.

»Da ist doch auch Delia!«, ertönte Victors Stimme wieder. »Du kannst gleich mitkommen – in zehn Minuten. Und keine Sekunde später!«

Die Klinke ging wieder hoch, und sie hörten Victors Schritte verhallen.

»Na endlich, ich wäre fast erstickt!« Felix kam mit rotem Kopf unter der Decke zum Vorschein. »Mensch, bist du schwer!«, sagte er zu Delia, die ihm sofort ein Kissen an den Kopf warf.

»Jetzt hört auf rumzublödeln!«, meinte Nina beunruhigt. »Victor will uns sprechen.«

»Es geht um den Gral, wetten?«, stellte Delia fest.

Die anderen nickten.

»Wir können das Ding nicht ewig verstecken«, seufzte Luzy.

»Hast du eine bessere Idee?« Nina schaute auf ihre Hände. Sie machte sich Sorgen. Wenn Victor auch nur die geringste Vermutung hatte, dass sie den Gral besaßen, würde er keine Ruhe geben, bis er ihn hatte. Und dann? Nina wollte gar nicht daran denken. Wenn sie ihn versteckten, war es wahrscheinlich nur eine Frage der Zeit, bis Victor ihn fand.

»Sagt mal, hat Victor den Gral eigentlich jemals gesehen?«, fragte Felix plötzlich.

Nina zuckte mit den Schultern. »Ich glaube nicht. Er kam erst, als ich weg war, und da hatte ich den Gral schon.«

»Aber er war im Turmzimmer, oder?« Felix ließ nicht locker.

»Ist das nicht völlig egal?«, sagte Luzy genervt.

»Ich glaube, er war kurz dort, aber dann ist er sofort hinter Nina hergelaufen«, entgegnete Daniel.

»Also hat er wahrscheinlich nicht genau hingeschaut?«, fragte Felix.

»Wahrscheinlich nicht.«

»Sag mal, was willst du eigentlich?« Luzy verschränkte die Arme vor der Brust.

Felix erklärte, dass sie Victor – wenn er nicht genau hingesehen hatte – vielleicht weismachen konnten, dass der Gral durch die Explosion geschmolzen sei.

»Und dann?« Daniel verstand den Sinn der Sache nicht.

»Dann hört er auf zu suchen, und wir können in aller Ruhe herausfinden, was es mit dem Gral auf sich hat«, verkündete Delia triumphierend. Es war kurz still.

»Eine ziemlich gute Idee«, gab Luzy zu. »Aber fällt er darauf herein?«

»Wenn wir etwas anderes schmelzen und auf den Fußboden gießen schon.«

»Ja! Das machen wir!«, rief Delia erfreut.

»Gute Idee, wir nehmen deinen Schmuck«, meinte Luzy entschlossen zu Delia.

Delias Lachen verging wie Schnee in der Sonne. »Was? Aber, das geht doch nicht!«, sagte sie bedrückt.

»Quatsch, das ist auch nicht nötig«, entschied Daniel. »Wir schmelzen einen Kerzenständer ein, und ihr haltet Victor in Schach.« Er nickte Nina und Delia zu.

Delia sprang auf und hielt sich die linke Hand vors Auge. »Sibuna.«

Die anderen erwiderten ihren Gruß. Für den Bruchteil einer Sekunde kreuzte Ninas Blick den von Daniel, und sie spürte, wie sie knallrot wurde.

»Sibuna«, erklärte sie feierlich. Nina war mächtig stolz, als sie sich die Mitglieder des Clubs der Alten Weide so anschaute. Sie hatten einen Plan: weitermachen, bis sie wussten, wohin der Gral gehörte. Victor würde ihn jedenfalls niemals bekommen, niemals!

Sie folgte den anderen aus dem Zimmer. Luzy, Daniel und Felix schlichen sich nach unten, um den Plan auszuführen, während sie und Delia vor Victors Bürotür zögernd haltmachten. Eine schwache Lampe brannte, und der große, ausgestopfte Schwan an der Decke schaukelte sanft hin und her. Victor war nirgends zu sehen.

»Los, wir gehen schon mal rein«, sagte Delia tapfer und drückte die Klinke hinunter.

Nina schluckte, während sie sich in dem unheimlichen Raum umsah. Sie wollte gerade zu Delia sagen, dass lieber nur sie reden sollte, als die Tür mit einem Knall zuschlug und die Rollläden herunterrauschten. Delia schrie auf.

»Schlechtes Gewissen?« Victor stand plötzlich hinter ihnen und legte eine Hand auf Ninas und Delias Schulter. Nina schluckte wieder und sah zu ihrer Freundin, die so heftig den Kopf schüttelte, dass ihre Ohrringe aneinanderklirrten.

»Habt ihr vielleicht eine Ahnung, warum ihr hier seid?« Victors Hand drückte schwer auf Ninas Schulter.

»Nein«, entgegnete sie mit fester Stimme.

Sie spürte, dass Victor ein wenig fester zugriff.

»Nina, Nina«, drohte er. »Ich hätte dich für ein wenig klüger gehalten. Vielleicht lässt das Wort Gral ja was klingeln?«

»Gral? Was ist das?«, meinte Delia gespielt dumm.

»Hab ich dich was gefragt?«, schnauzte Victor sofort und kam mit dem Mund so nah an Ninas Ohr, dass sie seinen Atem spüren konnte. »Also?«

Victor schaute zur altmodischen Uhr an der Wand. Die Zeiger standen auf kurz vor acht.

»Ich habe Zeit, sehr viel Zeit – bis morgen früh! Aber seid ihr dann auch noch so tapfer?«, fragte er gelassen und wartete ab. »Wo hast du den Gral versteckt?« Victor kam um die beiden herum und stand nun drohend vor ihnen. Er sah Delia an, die deutlich hörbar schluckte.

»Ich hab ihn nicht, ich schwöre es«, ratterte sie los.

»Es gibt überhaupt keinen Gral«, unterbrach Nina. Sie fürchtete, Delia wäre so verängstigt, dass sie sich verplappern würde. Dann wäre alles umsonst gewesen.

Victor lachte heiser. Es klang wie das Krächzen einer Krähe. »Und das soll ich euch glauben? Und die Explosion, was ist mit der?«

»Das war einfach ein Spaß, der ein wenig außer Kontrolle geraten ist.«

»Ein außer Kontrolle geratener Spaß? Und dafür habt ihr Corvuz umgebracht?«

»Corvuz war doch schon tot«, meinte Delia unschuldig.

Victor sah jetzt bedrohlich aus. Er schaltete die eiserne Lampe auf seinem Schreibtisch an, deren Licht genau in ihre Augen schien. Nina sah jetzt nur noch Victors Silhouette. »Ihr werdet mir ganz genau erklären, wie Corvuz explodiert ist und wo der Gral ist«, sagte er mit gefährlich leiser Stimme.

Nina hörte, wie Delia den Atem anhielt. Sie schaute zur Seite. Delia starrte geblendet in den Lichtstrahl, in dem sie aussah wie ein Gespenst. Stotternd erzählte Nina, dass sie zusammen mit Felix ein Experiment machen wollten und dass Corvuz dabei aus Versehen explodiert war.

Aber so leicht gab Victor nicht auf. »Es kam also zu einer Explosion. Und dann?«

»Dann war da Rauch.«

»Und was hast du in dem Rauch gesehen?«

»Ich weiß nicht genau ... Corvuz’ Federn?«

Victor schlug fest mit der Hand auf den Schreibtisch. »Den Gral!«, schrie er laut.

Delia hielt sich die Ohren zu und jammerte, aber Nina gab sich nicht geschlagen. Sie spähte zur Uhr. Es war halb neun. Ob die anderen schon fertig waren?

»Vielleicht habe ich doch etwas gesehen«, sagte sie auf einmal.

Victor schnaufte gierig. »Was? Los, raus mit der Sprache!«

»Vielleicht eine Art Kelch, einen Schatten. Aber wir bekamen so einen Schrecken, als Corvuz explodierte, dass wir weggerannt sind.«

»Ohne den Gral? Das kannst du deiner Oma erzählen.«

Aber Nina und Delia nickten beide sehr überzeugend.

»Dann müsste er eigentlich noch dort sein«, murmelte Victor.

»Das könnte gut sein …«, fing Nina an.

Aber Victor unterbrach sie sofort: »Halt deinen Mund. Komm mit!« Mit einem Ruck riss er die Bürotür auf und zeigte nach draußen.

Nina sah Delia an, und sie setzten sich zögernd in Bewegung. Hoffentlich hatten Daniel und Felix genügend Zeit gehabt, ihren Plan auszuführen!

Nina ging langsam aus dem Raum, die Treppe hinunter zum Eingang des Turmzimmers. Delia schlich neben ihr, und Victor folgte ihnen wie ein Tiger auf Beutefang. Von der Treppe aus schauten sie in die dämmerige Halle, aber sie konnten niemanden entdecken. In der Luft hing jedoch ein merkwürdig scharfer Geruch. War es den anderen gelungen?

»Macht schon hin!« Victor schob sie mürrisch in Richtung der Porträts der Winnsbrügge-Westerlings, die neben der Tür des Turmzimmers hingen.

Nina schickte ein Stoßgebet an Herrn Winnsbrügge-Westerling. Wenn der Club dafür gesorgt hatte, dass Sarah und er jetzt wieder zusammen waren, konnte er ihnen doch ein wenig helfen.

Victor schnaubte missbilligend, als er sah, dass die alte Holztür zum Turmzimmer schief in den Angeln hing. Das kam natürlich von der Explosion.

»Macht Platz«, befahl er und zog an der Tür, die sich krächzend öffnete. Das runde Zimmer war leer und dunkel.

»So. Und wo ist jetzt der Gral?« Victor schaltete die trübe Lampe an, die sich über der rostigen Kette befand, an die Nina und Daniel Corvuz gehängt hatten.

Nina zeigte in Richtung der Kette. »Corvuz ist dort explodiert.« Dann deutete sie auf den Fußboden. »Und dort habe ich den Schatten des Kelchs im Rauch gesehen.«

Und tatsächlich! Auf dem Fußboden glänzte etwas Metallisches. »Was ist das?« Sie zeigte auf die Lache.

Jetzt sah Victor es auch. Er beugte sich vor und strich über das Metall.

»Oh nein! Der Gral ist geschmolzen«, sagte Delia dramatisch und zwinkerte Nina zu.

Victor kniete sich hin und hob ein geschmolzenes Metallteil auf.

»Ich glaube, zum ersten Mal in deinem Leben hast du recht, Delia«, stotterte er ergriffen und seufzte tief. Sein Kopf sank auf die Brust, während er das Metall an sich drückte.

Nina schluckte kurz. Es war seltsam, Victor so zu sehen. Fast hätte sie Mitleid mit ihm gehabt.

Das war jedoch sofort vorüber, als Victor sich aufrichtete, das Metallteil in den Kittel stopfte und sie wütend ansah. »Aber eurer Strafe entgeht ihr nicht!«

»Strafe? Wir haben doch gar nichts gemacht!«, rief Delia entrüstet.

»Und was ist das hier?« Victor zeigte auf die kaputte Tür. »Ich werde mir ein paar hübsche Strafarbeiten für euch ausdenken.« Mit diesen Worten stampfte er nach oben und schlug die Bürotür mit einem Knall hinter sich zu. Im nächsten Moment war das Haus Anubis erfüllt von den traurigen Klängen eines melancholischen klassischen Musikstücks.

Nina und Delia rannten in ihr Zimmer, wo Luzy, Felix und Daniel schon gespannt auf sie warteten.

»Er hat es geglaubt!« Nina vergaß in dem Moment alles und umarmte Daniel.

»Gut so«, sagte er. Seine Stimme klang kühl, und Nina zog ihre Arme sofort verschämt zurück. Um davon abzulenken, schaute sie zu Delia und Felix, die einen Rap-Tanz aufführten. »Der goldene Gral – ein Bleirinnsal. Wir führen ihn richtig vor – den Dummkopf V.I.C.T.O.R.«, sangen sie übermütig.

Nina lachte. Der Gral war in Sicherheit. Luzy klatschte mit Nina ab, und Felix tanzte auf Daniel zu, der still auf Ninas Schreibtischstuhl saß.

»Daniel, sag mal, bist du nicht froh? Ja, hallo, wie geht’s denn so?«, rappte Felix unermüdlich weiter.

Aber Daniel stand auf und ging zur Tür. »Bin ein wenig müde ... ich geh schlafen«, sagte er matt und verließ das Zimmer.

»Was hast du mit Daniel angestellt, Nina?«, fragte Felix.

»Mensch! Geküsst hat sie ihn!«, antwortete Delia statt Nina, die unsicher zur Tür starrte.

»Erstklassiger Kuss! Er ist völlig hin und weg«, rief Felix fröhlich.

Aber Nina war überhaupt nicht nach Lachen zumute. Sie spürte einen großen Knoten in ihrem Magen. Der Gral war zwar in Sicherheit, aber mit Daniel und ihr sah es nicht gerade nach einem Happy End aus.

2
Die Legende

Nachdem Felix und Luzy weg waren, traute Nina sich endlich, Delia zu fragen, was sie von Daniel hielt.

Delia gestikulierte heftig beim Reden und bespritzte Nina mit einer blauen Gesichtsmaske.

»Er mag dich auf jeden Fall!«, sagte sie aufgeregt. Sie wischte sich den letzten Rest Blau vom Gesicht und kroch neben Nina unter die geblümte Decke.

»Das sah heute Abend aber nicht so aus, er hat mich fast gar nicht beachtet.«

»Wenn Jungen Mädchen mögen, beachten sie sie oft nicht!«

Nina lachte spöttisch. »So wie Petkovic dich auf dem Schulball nicht beachtet hat?«

Delia schaute einen Moment lang gequält. Sie war so sicher gewesen, dass ihr Geschichtslehrer Luka Petkovic sie auf den Schulball mitnehmen wollte, aber sie hatte es völlig falsch verstanden, und er hatte stattdessen ihre Sportlehrerin Steffi Lehmann gefragt.

»Das gilt nicht«, wehrte sie sich. »Er ist erstens viel älter und zweitens unser Lehrer.«

»Das hat dich sonst aber wenig gestört.«

Delia überging die Bemerkung. »Hör einfach auf mich, ich bin Expertin in Liebesangelegenheiten«, sagte sie voller Überzeugung und kniff Nina kurz in den Arm.

»Ich weiß einfach nicht, was ich machen soll!«, meinte Nina frustriert.

Sie wusste es wirklich nicht. Wie machten die anderen das?

Das ganze Gerede, alles würde einfach von selbst gehen ... Ja, auf dem Ball, da ging es von selbst. Der Kuss ... aber da lag auch eine Spannung in der Luft: der Gral, die Flucht aus dem Haus …

»Nina?«

Nina schrak aus ihren Grübeleien auf. »Was?«

»Ich meinte, du musst Daniel eben zeigen, dass du ihn gern magst. Ein wenig nur!«

»Wie denn? Ich kann wohl kaum zu ihm gehen und sagen: Hi Daniel, ich mag dich gern ...«

»Nein!!! Das auf GAR KEINEN FALL. Zwinkere ihm einfach zu oder so.«

»Ich kann aber nicht zwinkern.«

Delia schaute erstaunt. »Dann musst du das üben. Zwinkern ist superwichtig. Versuch’s mal.«

Nina zwinkerte mit ihrem linken Auge, aber gleichzeitig zog sie einen Nasenflügel hoch. Es sah sehr seltsam aus.

»Vielleicht mit dem anderen Auge? Ich kann mit dem rechten auch besser als mit dem linken«, sagte Delia und produzierte dann ein wundervolles Augenzwinkern.

Nina versuchte es mit dem rechten Auge, aber das sah noch seltsamer aus. Erst nach einer halben Stunde Übung unter Delias Anleitung (»Du musst die Augenbrauen entspannen – nicht die Lippe hochziehen – nicht zu fest kneifen!«) fand Delia, dass es Nina gelang, sexy und dennoch lässig zu zwinkern.

Mara, Magnus, Felix und Luzy saßen schon am Tisch, als Nina und Delia am nächsten Tag zum Frühstück herunterkamen.

Nina war froh, dass Daniel noch nicht da war. Sie hatte das Gefühl, nicht den Mut zu haben, was auch immer zu ihm zu sagen, geschweige denn ihm zuzuzwinkern. Sie schenkte sich ein Glas Milch ein, schnappte Felix die letzte Scheibe Weißbrot vor der Nase weg und bestrich sie mit Erdbeermarmelade. Die Tür öffnete sich, und Nina verschluckte sich fast an ihrem Brot. Daniel kam herein. Nina schaute neben sich. Der einzige freie Stuhl stand neben ihr! Während Daniel sich neben sie setzte, versuchte sie, sich hinter ihren langen Haaren zu verstecken.

»Aua!«

Jemand hatte sie unter dem Tisch getreten. Sie sah Delia sauer an, die wild gestikulierte, dass Nina den Kopf hochhalten sollte.

»Morgen, zusammen«, grüßte Daniel.

»Guten Morgen«, antwortete Magnus amüsiert, während er von Daniel zu Nina schaute. »Gut geschlafen?«

»Ja, sicher, nur ein bisschen kurz.«

»Dachte ich mir schon«, sagte Magnus bedeutungsvoll.

Was meinte er? Glaubte er etwa, dass sie und Daniel ...?

»Was machst du heute Nachmittag?«, flüsterte Daniel Nina plötzlich zu.

Sie schaute auf und sah verwirrt in seine blauen Augen. Erst jetzt bemerkte sie, dass er seinen Pulli auf links anhatte. Delia gab ihr hinter Daniels Rücken deutliche Zeichen, sie solle ihm zuzwinkern.

Nina wurde wieder knallrot und versuchte es.

»Hast du was im Auge?«, fragte er besorgt.

Nina schaute verwirrt zu Delia, die die Augen verdrehte. »Nein … ja …«, sagte sie schnell und rieb sich übertrieben die Augen. »Was hast du gesagt?«

»Ich will … Kannst du …? Ich muss mit dir reden«, stammelte er.

Delia machte wüste Gebärden, dass Nina Ja sagen sollte.

»Ja, natürlich.«

Daniel lachte erleichtert. »Um drei Uhr in der Schule, in der Sitzecke?«

Nina nickte verlegen und lachte Delia zu, die beide Daumen hob.

Den ganzen Weg zur Schule hatte Delia nur noch über das Date mit Daniel geredet und Nina mit Tipps überladen, was sie zu tun und zu lassen hätte.

Nach der ersten Stunde hatten sie dann Daniel getroffen.

»Ich habe was entdeckt«, meinte er. »Etwas von den Winnsbrügge-Westerlings.«

»Wirklich? Erzähl!« Delia wurde neugierig.

Es klingelte.

Daniel schüttelte den Kopf. »Nicht jetzt. Heute Nachmittag um drei in der Sitzecke, okay?«

Nina spürte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich.

Delia schaute verzweifelt. »Drei Uhr? Aber ...? Das ... das ist okay, oder?«, sagte sie, während sie Nina ansah.

Nina nickte. Sie traute sich nicht, etwas zu sagen, weil sie Angst hatte, dass ihre Stimme verraten würde, wie enttäuscht sie war.

»Gebt ihr Luzy Bescheid?« Daniel sah auf seine Armbanduhr. »Wir müssen uns beeilen, Chemiestunde. Felix, kommst du mit?«

Die beiden Jungen verschwanden im Flur.

»Mann, wie blöd!«, seufzte Delia. »Ich dachte, ihr hättet ein Date. Du doch auch, oder?«

»Das macht nichts, wirklich nicht.« Nina schaute auf die Spitzen ihrer Turnschuhe. »Los, sonst kommen wir zu spät.«

Aber natürlich machte es etwas. Nina konnte sich den ganzen Tag nicht konzentrieren. Während der Deutschstunde gab sie Frau Engel sogar auf Französisch Antwort. Frau Engel gab zwar auch Französisch, aber eben nicht jetzt.

»Wo bist du nur mit deinen Gedanken, Nina?«, fragte Frau Engel.

»Schlecht geschlafen«, log Nina. Sie konnte wohl kaum sagen, dass sie Liebeskummer hatte. Frau Engel hätte dafür bestimmt kein Verständnis gehabt! Ninas Blick irrte durch die Klasse und blieb an Natascha und Jonas hängen, die unter dem Tisch heimlich Händchen hielten.

Die beiden hatten sich auf dem Schulball auch zum ersten Mal geküsst, und seitdem gingen sie miteinander. Woher wussten die, was sie tun sollten?, fragte sich Nina. Warum schien es für sie so leicht zu sein und für mich so schwer?

Nina grübelte die ganze Stunde über. War es richtig gewesen, Daniel zu küssen? War ihre Freundschaft jetzt hinüber? Geriet der Club dadurch in Gefahr? Sie grübelte immer weiter: Was sollten sie jetzt mit dem Gral machen? Für immer bewachen? Aber Sarah hatte gesagt, dass der Gral zurück nach Ägypten muss … Nur wohin genau? Nina grübelte, bis es klingelte.

»Kommst du mit?« Delia stand auf und fasste Nina am Arm.

Nina ging zögernd hinter Delia zur Sitzecke. Luzy, Daniel und Felix saßen schon da. Delia und Nina ließen sich auf zwei Sitzsäcke fallen.

»Also, was hast du entdeckt?«, fragte Delia.

Daniel lachte geheimnisvoll, vergewisserte sich rasch mit einem Blick, dass sonst keiner da war, und zog dann ein altes Buch aus seiner Tasche. »Das habe ich im Turmzimmer gefunden.«

Er erzählte, dass er sich noch kurz im Turmzimmer umgesehen hatte, nachdem Delia und Nina weggegangen waren. Was er nicht verriet, war, dass er nicht genau wusste, wie er sich nach dem Kuss Nina gegenüber verhalten sollte und warum er im Turmzimmer aus Frust gegen die Wand geschlagen hatte. Dadurch hatte sich ein Brett gelöst und er hatte das Buch in einem Hohlraum dahinter entdeckt. Stattdessen erklärte er, das Brett hätte lose dort gelegen (wahrscheinlich durch die Explosion) und er habe es zufällig gesehen.

»Das ist großartig!«, jubelte Delia. »Aber was ist es?«

Daniel reichte ihr das Buch. »Ein Manuskript. Von Winnsbrügge-Westerling.«

Delia schlug den schwarzen Lederband auf. Ein muffiger Geruch stieg aus dem vergilbten Papier. Auf der ersten Seite stand in geschwungener Handschrift: Die Legende von der verlorenen Liebe zwischen Amneris und Tutanchamun.

Delia schlug die Seite um. Die nächste Seite war mit einer krakeligen Schreibschrift vollgeschrieben.

»Das kann man ja kaum entziffern«, sagte sie und fing langsam an vorzulesen, was da stand: »12. Januar 1929. Mit der Hilfe von … fünfzehn Trägern, die uns der Malik höchstpersönlich zur Verfügung stellte, erreichten wir die Dschazira-Ebene. Nördlich des Tempels von Ra fanden wir einen Stein mit Hieroglyphen. Es gelang uns, sie zu entziffern, und der Stein enthüllte einen sonderbaren Bericht …«

Delia hielt kurz inne und blätterte durch das Buch, dessen Seiten allesamt mit derselben Krakelschrift bedeckt waren. »Hast du schon alles gelesen?«

»Das meiste«, nickte Daniel.

»Was steht darin?«, fragte Nina atemlos.

»Winnsbrügge-Westerling hat offensichtlich 1929 in der ägyptischen Wüste einen Stein mit Hieroglyphen entdeckt. Darauf stand die Legende von Tutanchamun und seiner geheimen Liebe Amneris.«

»Wer ist Amneris? Das klingt ... wie eine Prinzessin«, sagte Delia verträumt.

»Das war sie auch.«

Daniel erzählte, dass Amneris eine wunderschöne Prinzessin war, von der man sich erzählte, sie stamme direkt von Isis und Osiris ab. Der Pharao Tutanchamun hatte eine geheime Beziehung mit Amneris, und aus Liebe zu ihr baute er an einem geheimen Ort, irgendwo in Ägypten, ein Liebesgrab. Es war über und über mit Schätzen gefüllt. Aber sie konnte den Geheimort nur finden und das Liebesgrab nur öffnen, wenn sie sich mit dem Gral in der Hand zu einer bestimmten Zeit an einen bestimmten Ort stellte. Den Ort und die Zeit konnte sie herausfinden, indem sie die Rätsel löste, die er für sie gemacht hatte. Leider verunglückte Tutanchamun, als Amneris ein Kind von ihm erwartete. Er starb an seinen Verwundungen, und nach seinem Tod rächte sich seine Frau Anchesenamun an Amneris und deren gerade geborenen Tochter. Sie verschwanden spurlos.

»Keiner weiß, was mit ihnen geschehen ist, aber die Legende lautet, dass Amneris keine Ruhe geben wird, bis sie und Tutanchamun im Liebesgrab vereint sind«, schloss Daniel seine Geschichte.

Er sah zu Delia hinüber, die mit Tränen in den Augen auf das Buch schaute. Felix rieb sich heimlich mit dem Ärmel seines Pullovers über das Gesicht.

»Wie romantisch«, seufzte Delia dramatisch.

»Wie traurig ... arme Amneris! Sie kann keine Ruhe finden, solange sie nicht wieder mit Tutanchamun vereint ist«, sagte Nina leise. Auch sie hatte Tränen in den Augen.

Luzy räusperte sich. »Geht die Geschichte noch weiter?«

»Ja ... nein, ich hab sie nicht ganz gelesen«, stotterte Daniel.

»Was macht ihr denn hier?«

Sie bekamen einen Riesenschrecken. Altrichter stand im Türrahmen. Daniel klappte das Buch schnell zu und ließ es möglichst unauffällig in seine Tasche gleiten. Altrichter sah sie nacheinander misstrauisch an.

»Nichts.« Delia machte ein unschuldiges Gesicht.

»Ein wenig quatschen.« Luzy lachte, während sie an ihren Ohrringen herumfummelte.

»Abmarsch, nach Haus mit euch, das ist hier kein Jugendclub!«, sagte Herr Altrichter barsch. Er zeigte auf die Tür.

Alle sprangen hastig auf und verließen die Sitzecke, während Herr Altrichter ihnen hinterherstarrte.

Draußen bei den Rädern vereinbarten sie, dass sie abends eine Besprechung der Sibunas abhalten würden, um sich das Manuskript weiter anzusehen.

Auf dem Weg zum Haus Anubis schaute Nina heimlich zu Daniel, der vor ihr radelte. Er wirkte so besonnen, so verschlossen. Sie konnte überhaupt nicht einschätzen, was er von ihr hielt.

Mochte er sie? War es mehr als nur mögen? Dachte er zurück an den Ball? Den Kuss? Wollte er mit ihr gehen? Und was wollte sie eigentlich selbst?

Sie war so in Gedanken, dass sie fast bei Rot gefahren wäre.

»Nina!«, schrie Delia, als ein Lastwagen Ninas Vorderrad knapp verfehlte.

Als der Lastwagen vorbei war, standen Delia und Daniel bleich an der anderen Straßenseite.

»Nichts passiert«, sagte Nina mit schiefem Grinsen und Zitterstimme.

Den restlichen Weg passte sie besser auf, und sie erreichten das Haus Anubis ohne weitere Zwischenfälle.

Nina betrachtete das Gebäude, das sich dunkel von den Bäumen abhob. Das Türmchen stach wie ein Dolch in den Himmel.

»Ach das Fräulein Martens, welch eine Ehre«, ertönte plötzlich eine schleppende Stimme.

Nina bremste so fest, dass der Kies aufspritzte. »Herr Trabas?«, stammelte sie ängstlich.

Dr. Zeno Trabas stand neben Victors VW-Bus. Mit seinen dunklen Haifischaugen schaute er von Nina zu Daniel, der sich beschützend vor Nina stellte.

»Das hat sich bestimmt dein Freund Gutenberg ausgedacht, einen Kerzenständer einschmelzen und Victor Rodemer damit zum Narren halten …«, sagte Zeno Trabas in sarkastischem Ton.

Nina gefror das Blut in den Adern, während Daniel einen Schritt nach vorn machte und Trabas kühl ansah.

»Wovon sprechen Sie?«, fragte er gelassen.

Nina sah zu ihrem Entsetzen, dass Trabas ein Stück geschmolzenes Metall in die Höhe hielt.

»Kluger Plan, keine Frage, aber dennoch misslungen«, sagte er und wedelte das Metallstück hin und her.

»Victor ... wir müssen uns beeilen!«, stotterte Nina und schaute zu Delia, die Trabas anstarrte, als sei er ein blutrünstiger Tiger, der sich jeden Moment auf sie stürzen konnte.

»Delia? Hast du mich gehört?« Nina schaute ihre Freundin verzweifelt an und nickte zur Haustür. »Victor ...«

Während Daniel und Felix sich vor Trabas stellten, um ihn zurückzuhalten, rannten Delia und Nina zum Haus, als würde ihr Leben davon abhängen.

»Ich habe euch gewarnt! Der Gral gehört euch nicht! Das wird euch noch leidtun«, hörte Nina Trabas brüllen.

Sie flog die Eingangsstufen hoch und schaute sich kurz um. Felix und Daniel rannten über die Ausfahrt Richtung Haus, während Trabas ihnen mit der Faust drohte.

»Ihr mischt euch in Sachen ein, von denen ihr nichts versteht!«, schrie er.

Den Bruchteil einer Sekunde sah Nina noch etwas anderes: einen Schatten hinter Trabas im Gebüsch.

»Der Fluch …«, rief Trabas laut.

Plötzlich krümmte er sich und fing an zu husten und nach Luft zu schnappen, aber das sah Nina nicht mehr, weil sie die Tür schon aufgestoßen hatte und immer zwei Stufen auf einmal nehmend die Treppe hinaufrannte. Wenn Victor wusste, dass sie ihn mit dem eingeschmolzenen Kerzenständer an der Nase herumgeführt hatten, würde er jetzt nach dem Gral suchen.

Zunächst einmal sah es aus, als wäre ihr Zimmer leer.

Dann jedoch schrie Delia auf. Im Schatten des großen Schranks stand Victor und beugte sich über eine Schublade – die, in der Delias Unterwäsche lag. Dort, wo sie den Gral versteckt hatten!

»Sind Sie verrückt geworden?« Delia knallte die Lade so schnell zu, dass Victor die Finger mit knapper Not zurückziehen konnte. »Da liegt meine Unterwäsche drin!«

Victor wollte etwas entgegnen, aber Delia kam ihm zuvor.

»Das ist ja widerlich!«, stieß sie hervor. »Wenn mein Vater davon erfährt ...«

»Ich konnte doch nicht wissen, dass … dass du deine Unterwäsche darin aufbewahrst«, sagte Victor stotternd und starrte dabei weiter auf die Schublade.

Nina spürte, wie ihr Herz einen Moment aussetzte. Wenn er die Lade wieder aufzog, würde er den Gral finden. Und was konnten sie dann noch machen? Sein Wort würde gegen ihres stehen.

»Wagen Sie es nicht, sonst zeige ich Sie an, und dann fliegen Sie raus!«, drohte Delia.

Das half.

»Ich hab ja schon verstanden!«, knurrte Victor.

Im Türrahmen drehte er sich um. »Nichts könnt ihr vor mir verborgen halten, hört ihr, gar nichts! Ich warne euch!«, schnauzte er und schlug die Tür hinter sich zu.

Nina spürte ihre weichen Knie und hörte, wie Victors Schritte langsam erstarben. Im nächsten Moment öffnete sich die Tür wieder und Felix, Luzy und Daniel stürmten herein.

»War Victor hier? Ist der Gral weg?« Felix zog Delias Schublade auf und warf händeweise Unterwäsche auf den Fußboden. Delia half ihm, bis sie zur Erleichterung aller den Gral in den Händen hielt.

»Wir müssen das Zimmer verrammeln!«, schrie Luzy. Gemeinsam mit Daniel schob sie ein dunkelbraunes Schränkchen vor die Tür. Delia stellte den Gral vorsichtig in die Mitte des Zimmers und hockte sich im Schneidersitz daneben. Nina setzte sich an ihre Seite und schaute den goldenen Kelch an. Das war knapp gewesen. Wenn Victor der Gral in die Hände gefallen wäre ... Sie schüttelte kurz den Kopf und dachte an die Worte, die ihre Oma immer zu ihr sagte: »Menschen, die glauben, schlauer zu sein als die anderen, halten sich selbst zum Narren.«

Genau das war passiert. Sie hatten gedacht, schlauer zu sein als Victor, und dadurch wäre der Gral fast verloren gegangen. Sie hätten niemals erfahren, warum der Kelch zurück nach Ägypten musste und wohin genau er gehörte.

»Victor will den Gral um jeden Preis«, erklärte Nina beunruhigt. Sie betrachtete den goldenen Kelch, der geheimnisvoll im Licht glänzte. »Und Zeno auch ... Wir müssen ihn mit unserem Leben bewachen.«

Sie schaute die anderen an. Obwohl sie sich vorgenommen hatte, den Blick nicht zu senken, wenn ihre Augen Daniel trafen, tat sie es doch. Daniel machte dasselbe. Um abzulenken, zog er schnell das Manuskript der Winnsbrügge-Westerlings aus seiner Tasche und blätterte darin.

»Aber wie sollen wir das machen?«, fragte Luzy frustriert. »Wir können das Teil doch nicht ewig bewachen. Wir müssen zur Schule, und dann ...«

Daniel machte ein seltsames Geräusch.

Luzy hörte auf zu reden und sah ihn an. Er hatte die Augen weit aufgesperrt und schaute vom Manuskript zum Gral und wieder zurück zu dem alten Buch. Sein Mund öffnete sich, aber es kam nur wieder dieser seltsame Ton heraus, der klang wie ein heiserer Frosch.

»Daniel? Alles in Ordnung?« Luzy musste lachen.

Sie schauten alle zu Daniel, der mit dem Zeigefinger auf eine Seite tippte.

»Diese Seiten ... ich hatte sie nicht gesehen ... sie waren zusammengeklebt ...«, stotterte er. Er drehte das Buch um und zeigte ihnen die Zeichnung eines Kelchs.

»Das ist der Gral!«, schrie Delia. »Unser Gral!«

Daniel hob den Gral hoch und verglich ihn mit der Abbildung im Buch.

»Dieser ist anders«, sagte Felix und deutete auf die Abbildung. Dort, wo ihr Kelch nur mit einem glatten goldenen Band versehen war, waren auf der Zeichnung Hieroglyphen zu erkennen.

»Hast du ein Taschenmesser?«, fragte Daniel.

Felix kramte in seinen Taschen und brachte eine Tüte Juckpulver, einen blutigen Plastikfinger, einen Würfel und schließlich ein Taschenmesser zum Vorschein.

Daniel klappte es auf und zwängte es unter das goldene Band.

»Was machst du da?«, zischte Luzy und wollte Daniel zurückhalten. »Du machst ihn kaputt.«

Aber da löste sich das Metallband schon. Und darunter befanden sich – Hieroglyphen!

Daniel griff hektisch nach dem Buch und verglich sie. »Sie sind identisch«, stammelte er.

»Das ist also der Gral aus der Legende?«, fragte Nina ungläubig.

Daniel nickte. »Der Schlüssel zu Tutanchamuns Liebesgrab.«

Sie schauten andächtig auf den glänzenden Gral.

Luzy brach die Stille: »Wir werden superreich! Das Grab ist doch voller Gold …«

»Und voller Edelsteine und Diamanten!«, stimmte Delia ihr habgierig zu.

»Wir können das Grab doch nicht einfach ausrauben? Dann sind wir kein bisschen besser als die Leute, vor denen Sarah uns warnt!«, sagte Nina heftig.

Luzy und Delia verstummten. Nina hatte natürlich recht. Wenn sie das Grab leer raubten, wären sie stinknormale Diebe.

»Ob Victor von dem Liebesgrab weiß?«, fragte Nina besorgt.

»Oder dieser gruselige Trabas!« Delia schüttelte sich.

»Victor vielleicht nicht, aber Trabas ganz bestimmt«, meinte Daniel, der in dem Buch blätterte. »Hier, hört mal:16. Oktober 1930. Trabas verhält sich seltsam. Ich glaube, er will den Gral haben, um das Grab zu öffnen und nur sich selbst zu bereichern …«

»Trabas … das ist Zeno!«, rief Nina.

Aber Daniel schüttelte den Kopf. »Das kann nicht sein. Zeno war damals noch ein kleines Kind, es muss sein Vater sein.« Er schaute wieder auf das vergilbte Papier und las weiter: »Deshalb habe ich den Gral an einen sicheren Ort gebracht, und auch die Wand konnten wir besser tarnen.«

Nina dachte nach. Darum also hatte Sarahs Vater den Gral in Corvuz versteckt: Zenos Vater wollte mithilfe des Grals das Grab finden, um es auszurauben und reich zu werden. Er war gefährlich! Aber was meinte er mit: Die Wand konnten wir besser tarnen? Welche Wand?

Daniel wusste es nicht, und im Buch stand auch nichts darüber. Doch dann las Daniel eine Stelle vor, die Nina schaudern ließ: »Die gesamte Archäologenwelt spricht über den geheimnisvollen Tod von Lord Carnarvon. Auf dem Gral und dem Grab soll ein Fluch ruhen, der Fluch des Pharaos genannt. Natürlich das reinste unwissenschaftliche Geschwätz.«

»Ein Fluch?« Delias Gesicht war blass. »Was steht da sonst noch?«

»Nichts. Das ist das Letzte, was er geschrieben hat«, sagte Daniel und klappte das Buch zu.

»Das Letzte? Danach ist er also verunglückt?«, fragte Nina bedrückt. »Nachdem er das über den Fluch des Pharaos geschrieben hat?« Ihr wurde ganz mulmig zumute.

»Ich glaube nicht an Flüche«, meinte Daniel trocken. Er nahm den Gral in die Hände und rieb mit den Fingern über die Hieroglyphen.

Felix schaute neugierig. »Weißt du, was da steht?«

»Nein, sie sind kompliziert … und ein wenig verblichen. Es wird eine Weile dauern, sie zu entziffern.«

Daniel meinte, die Hieroglyphen würden vielleicht erzählen, was sie mit dem Gral machen sollten. Der Legende nach würde er ja schließlich das Liebesgrab öffnen, das Tutanchamun für Amneris gebaut hatte, aber wie genau funktionierte das? Sie wussten nur, dass Amneris mit dem Gral zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort stehen musste, wonach der Ort des Liebesgrabs sich ihr enthüllen würde. Doch woher sollten sie wissen, welche Zeit und welcher Ort gemeint waren und was das für eine Wand war, über die Winnsbrügge-Westerling geschrieben hatte?

Sie mussten Schritt für Schritt vorgehen. Daniel würde versuchen, die Hieroglyphen zu entziffern, sodass sie hoffentlich dahinterkämen, wohin der Gral sollte. Aber sie brauchten ein gutes Versteck. Die Zimmer waren nicht sicher, denn Victor würde sich bestimmt irgendeinen lächerlichen Grund einfallen lassen, um alles zu durchsuchen, wie damals bei der Mäuseplage, die er selbst verursacht hatte.

»Der Spülkasten! Erinnerst du dich noch, Nina? Die Wachsrolle? Die konnte Victor auch nicht finden«, rief Delia plötzlich.

»In der Toilette?« Felix verzog das Gesicht und machte ein Pupsgeräusch.

Aber Nina fand die Idee gar nicht schlecht. Victor war fast nie im Bad, das war mehr Rosies Bereich. Und wenn er dort wäre, warum sollte er in den Spülkasten schauen? Für den Fall, dass er es allerdings doch tun würde, schlug Nina vor, den Gral tagsüber mit zur Schule zu nehmen und ihn die restliche Zeit zu bewachen.

»Mit einer Falle«, sagte Felix munter. »Dann wissen wir, wenn Victor kommt.«

»Sollen wir uns etwa die ganze Nacht ins Badezimmer setzen?«, meinte Luzy mürrisch. »Das ist ja stinklangweilig.«

»Mach doch Hausaufgaben dort«, schlug Delia praktisch vor.

Daniel meinte, sie sollten Teams bilden, damit sie sich abwechseln könnten: »Felix und Delia … und Nina mit …«

Nina schaute hoffnungsvoll. Sie mit Daniel?

»… mit Luzy.«

»Und was ist mir dir?«, fragte Luzy.

»Ich sehe mir die Hieroglyphen an.«

Nina war enttäuscht. Warum hatte Daniel sie nicht in dieselbe Gruppe eingeteilt? Er konnte die Hieroglyphen doch während der Wache entziffern. Hatte er sie absichtlich Luzy zugeteilt? Weil er sie nicht gern hatte?

3
Das erste Opfer

Es war kurz vor Mitternacht, und das Haus Anubis lag in Dunkelheit. Es herrschte tiefe Stille. Der Club der Alten Weide hockte gespannt auf den kalten weißen Badezimmerkacheln, die vom flackernden Licht einiger Kerzen beleuchtet wurden. Große Schatten tanzten über die Wände, und ein kühler Windzug machte ihnen Gänsehaut.

Daniel hatte in der vorherigen Nacht die Hieroglyphen entziffert. Während die anderen den Gral im Badezimmer bewachten, war er die ganze Nacht tief in einen dicken Bücherstapel abgetaucht … mit Erfolg! Dies ist das Tor zu meinem Herzen. Öffne mich, und du wirst die Liebe finden.

Das stand auf dem Gral. Für Daniel stand fest: Der Text bedeutete, dass im Gral etwas versteckt war.

Nina betrachtete den Kelch und dachte daran, wie schwierig es gewesen war, so weit zu kommen. Sie schaute zu den anderen: Delia biss sich vor Spannung auf die rosa Fingernägel, und sogar Luzy – normalerweise vor nichts und niemandem bange – war ganz blass.

»Ich finde, du solltest ihn öffnen«, sagte Daniel zu Nina. »Mit dir hat alles angefangen.«

»Wie denn?«

Daniel zeigte auf den Fuß des Kelchs. »Ich glaube, er lässt sich abnehmen – hier.«

Nina fühlte sich geehrt, aber sie hatte auch Angst. Was würde geschehen, wenn sie den Kelch öffnete?

Winnsbrügge-Westerling hatte von einem Fluch geschrieben. Er hatte es für Unsinn gehalten, war aber kurz nachdem er es niedergeschrieben hatte, verunglückt. War also doch mehr dran an der Geschichte?

»Nina?«, drängte Daniel. Er nickte in Richtung des Grals, der im Kerzenschein geheimnisvoll glänzte. Das Licht wurde von der glatten Oberfläche reflektiert und legte einen matten, goldenen Schein über ihre Gesichter. Unten in der Halle fing die große Standuhr an zu schlagen.

DONG – DONG – DONG …

Nina streckte zitternd ihre Finger nach dem Gral aus, während die anderen sich an den Händen hielten. Sie schauten angespannt zu Nina, die den Kelch hochhob. Das kostbare Gold fühlte sich kühl an. Wieder zweifelte sie und schaute zu Daniel, der ihr ermutigend zunickte.

DONG – DONG – DONG …

Das Geräusch der Uhr jagte den Clubmitgliedern Schauder über den Rücken.

Nina ertrug die Spannung nicht mehr. Entschlossen nahm sie den Fuß des Grals in die Hand und drehte.

DONG – DONG – DONG …

Nichts passierte. Vielleicht hatte Daniel sich getäuscht und der Fuß ließ sich gar nicht abschrauben. Dann spürte sie plötzlich, wie er sich langsam bewegte.

DONG – DONG – DONNNNG!

Es war Mitternacht.

Während der letzte Schlag der Uhr verhallte und einen neuen Tag einläutete, löste sich der Fuß vom Kelch.

Ninas Hände zitterten so stark, dass sie die beiden Hälften auf den Boden fallen ließ.

Der Gral war offen.

Alle hielten den Atem an, aber nichts geschah.

Nina hatte erwartet, dass das Dach vom Haus fallen oder wenigstens eine Wolke grünen, giftigen Rauchs aus dem Gral steigen würde, doch es blieb still.

Erleichtert atmeten sie auf.

Was war das?

Nina schaute blitzschnell zum Spiegel. Sie meinte, eine Bewegung gesehen zu haben, aber wahrscheinlich hatte sie sich getäuscht, da war nichts.

»Und jetzt?« Delias Stimme klang seltsam laut in dem kahlen Raum.

»Schscht«, machte Luzy. Sie erschrak so vor dem lauten Geräusch ihrer eigenen Stimme, dass sie sich die Hand vor den Mund schlug.

»Es geschieht nichts«, sagte Delia leise.

»Vielleicht haben wir einen bösen Geist befreit?«, meinte Felix und schaute die anderen unheilvoll an.

Nina lief wieder ein Schauder über den Rücken.

»Der Fluch des Pharaos«, piepste Delia.

»Alles ist in Ordnung«, meinte Daniel ruhig, aber genau in diesem Moment fiel Felix vornüber auf die weißen Kacheln. Seine Arme und Beine fingen an zu zucken. Es sah aus, als wäre er eine Marionette, an deren Fäden eine unsichtbare Person zog.

»Nein! Der Fluch hat Felix getroffen!«, schrie Delia und flatterte mit den Händen. »Nun tut doch was!«

Felix lag auf dem Boden und hörte plötzlich auf zu atmen.

Nina sprang auf und stürzte zu ihm. »Er bekommt keine Luft mehr!«

»Alle zur Seite!«, rief Luzy und zog Nina grob zurück.

Sie kniete sich neben Felix, der mit geschlossenen Augen wie ein Toter aussah, kniff seine Nase zu und drückte ihren Mund auf seinen. Doch kurz bevor ihre Lippen sich berührten, wand er sich wie eine Raupe unter ihr weg.

»Boah. Nein, geh weg!«, rief er und streckte die Zunge heraus, als hätte er gerade etwas Ekliges gegessen.

Luzy kniff die Augen zusammen. »Felix! Ich bring dich um!«, schrie sie und warf sich auf ihn.

»Seht mal!«, rief Delia.

Luzy hielt sofort inne. Delia zeigte auf den Fuß des Grals. Etwas Weißes ragte heraus.

Daniel zog vorsichtig daran. Es war ein zusammengerolltes Stück Papier.

»Papyrus«, erklärte er aufgeregt und breitete es aus.

»Was steht da?«, rief Luzy neugierig. Alle sahen gespannt zu Daniel, der das Papier studierte.

Nach einer Weile schüttelte er den Kopf. »Das ist nicht so einfach.«

Sie schauten auf das dünne, rechteckige Stück Papier mit den geheimnisvollen Zeichen. Was sie wohl bedeuteten?

Nina schüttelte sich. Sie wollte es nicht zugeben, aber sie hatte Angst. Hätten sie den Gral wirklich öffnen dürfen?

Daniel sah sie an und zog seinen blauen Bademantel aus. »Hier«, sagte er fürsorglich und legte ihn ihr um die Schultern. Der Bademantel war warm und flauschig und roch frisch gewaschen. Nina spürte die Blicke der anderen auf Daniel und sich ruhen, und zu ihrem Ärger wurde sie rot.

Sie traute sich nicht, Daniel anzusehen, aber der war zum Glück schon wieder völlig mit ihrem Fund beschäftigt.

»Ich brauche Zeit, um das zu entziffern«, meinte er mit ernster Stimme.

»Was könnte es sein?«, fragte Nina. Ihre Wangen glühten noch immer. Sie hätte sich in diesem Moment schlagen können. Das hier war so ungeheuer wichtig, und sie dachte nur daran, was Daniel von ihr hielt!

»Ich habe keine Ahnung, ich kann es nicht lesen«, sagte Daniel grübelnd. »Aber es ist mit Sicherheit sehr alt.«

Die Uhr in der Halle schlug halb eins. Sie mussten allmählich schlafen gehen. Wenn Victor sie erwischte, würden sie ein ernsthaftes Problem bekommen. Sie verabredeten, dass Felix die Papyrusrolle diese Nacht in der feuerfesten Kiste unter seinem Bett verstecken sollte, dann konnte Daniel sie sich am nächsten Tag ansehen.

Luzy gähnte. »Können wir jetzt endlich ins Bett?«

»Und was ist mit dem Gral?« Nina hob die beiden Teile auf und schraubte sie vorsichtig wieder zusammen. »Wir müssen ihn bewachen.«

»Victor liegt bestimmt nicht vor der Tür und wartet, bis wir fertig sind, der schläft längst«, sagte Luzy.

»Victor schläft?« Delia schaute erstaunt. »Ich dachte, er …«

»Ach, hör doch auf!« Luzy nahm den Gral und schob ihn unter ihr T-Shirt. »Dann nehm ich ihn eben mit, ich hab keine Lust, die ganze Nacht in der Kälte zu hocken.«

Nina nickte zustimmend. Dazu hatte sie wirklich auch keine Lust. Sie war müde, sie fror, und sie sehnte sich nach ihrem warmen, sicheren Bett.

»Okay, heute Nacht machen wir es so, weil es schon so spät ist«, entschied Daniel. »Aber du musst ihn im Bett lassen, und Mara darf ihn nicht sehen.«

»Macht euch keine Sorgen«, versicherte Luzy. »Sibuna!«

Die anderen grüßten auch, und einer nach dem anderen huschte aus dem Badezimmer in den dunklen Gang.

Ehe Nina es so recht bemerkte, war auch Daniel hinter Felix im dunklen Gang verschwunden. Sie schob ihre zitternden Hände tief in die Taschen von Daniels Bademantel und huschte mit Delia in ihr Zimmer.

»Seiner«, sagte sie liebevoll und strich über den Frotteestoff.

»Wann wird es nun endlich was zwischen Daniel und dir?«, fragte Delia, während sie ihren rosafarbenen Seidenkimono über einen Stuhl hängte und unter die Bettdecke schlüpfte.

Nina überhörte Delias Frage. Langsam zog sie Daniels Bademantel aus und legte ihn über die Lehne des Stuhls neben ihrem Bett.

Delia seufzte laut. »Ihr seid wie Tutanchamun und Amneris! Ihr findet keine Ruhe, bis ihr zusammen seid.«

Nina stieg auch ins Bett. »Ich glaube, ich hab einfach kein Talent für diese Sachen«, erklärte sie verlegen. »Sobald ich Daniel sehe, ist es, als würde mein Hirn aussetzen.«

»Das ist echt unpraktisch«, meinte Delia nachdenklich und schloss die Augen. Nina dachte schon, sie sei eingeschlafen, als Delia plötzlich wieder hochschoss. »Und wie wäre es, wenn ich dir ins Ohr flüstere, was du sagen sollst?«

»Ich bin doch keine Bauchrednerpuppe«, sagte Nina halb lachend, halb verärgert.

So schnell gab Delia nicht auf. »Felix hat so ein Spionageset mit Kopfhörer, Empfänger und Sender. Das Einzige, was du tun musst, ist, dich mit Daniel zu verabreden.«

Nina schaute skeptisch, aber Delia war begeistert von ihrem Plan, den sie ganz genau erläuterte: Nina sollte sich mit Daniel an einem romantischen Ort verabreden. Delia würde über den Kopfhörer Kontakt mit ihr halten, damit sie Nina jedes Wort einflüstern konnte.

»Wo denn?«, fragte Nina. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Delias Plan gelingen würde.

Delia dachte einen Moment nach. »Im Garten!«, rief sie endlich triumphierend. »Natürlich! Ich bin so gut.« Sie schaute, als hätte sie gerade höchstpersönlich alle Probleme dieser Welt gelöst.

»Ich weiß nicht.«

Aber Delia ließ Ninas Zweifel nicht gelten. »Vertrau mir! Ich weiß, was Männer wollen. Gleich morgen bitte ich Felix darum!«, sagte sie entschieden. »Und jetzt schlafe ich. Gute Nacht!«

Delia drehte sich um. Und schon eine Sekunde später fing sie an, leise zu schnarchen.

Nina streckte die Hand aus und streichelte kurz über den weichen Stoff von Daniels Bademantel. Am liebsten hätte sie ihn mit ins Bett genommen, um ihre Nase darin zu vergraben, aber sie hatte Angst, dass sie einschlafen und Delia sie am nächsten Morgen so sehen würde.

Delias Plan … Sollte sie wirklich darauf eingehen? Es war immerhin eine Chance. Sie dachte kurz über den Abend nach. Die Worte von Winnsbrügge-Westerling gingen ihr immer wieder durch den Kopf: Der Fluch des Pharaos …

War es wirklich richtig gewesen, den Gral zu öffnen?

Sie wünschte sich, etwas mehr so zu sein wie Daniel: vernünftig.

Und sie wollte … Was wollte sie eigentlich? Nina wusste es selbst nicht. Morgen, morgen wusste sie es vielleicht …

Sie spürte, wie ihr die Augen zufielen, und mit der Hand auf Daniels blauem Bademantel schlief sie ein.

Man konnte alles Mögliche von Delia sagen, zum Beispiel, dass sie ein reiches, verwöhntes Mädchen war, das oft etwas sagte, bevor sie nachdachte. Aber Dinge regeln, darin war sie einfach spitze.

Als Nina aufwachte, kam Delia gerade ins Zimmer und zeigte ihr triumphierend zwei Kopfhörer und zwei Mikrofone – Felix’ Spionageset.

Delia überschlug sich fast vor Glück, als Daniel Nina beim Frühstück fragte, ob er sie mal unter vier Augen sprechen könne – im Garten. Für Delia stand fest: Nina und Daniel waren füreinander bestimmt.

Nina war sich da nicht so sicher, aber eine Stunde später saß sie doch auf der weißen Gartenbank und wartete auf Daniel. Sie hatte gerade noch verhindern können, dass Delia ihr Gesicht voll Make-up kleisterte, und als Delia ihre Karobluse einen Knopf weiter öffnen wollte (das war sexy!), hatte Nina sich clever gewehrt, indem sie Delia darauf hinwies, dass Daniel dann wahrscheinlich das Mikrofon sehen würde, das in ihrer Bluse versteckt war. Also rutschte sie nun ohne Schminke mit zugeknöpfter Bluse nervös auf der Bank hin und her.

Sie schaute auf ihre Armbanduhr: Es war halb zwölf ... Jetzt musste er jeden Moment kommen! Sie fummelte kurz an dem schwarzen Knopf in ihrem Ohr herum und schob die Haare darüber.

»Ist er schon da?«, hörte sie Delias Stimme blechern in ihrem Ohr.

»Nein«, flüsterte sie.

Delia am anderen Ende der Leitung schwieg.

Über Ninas Kopf flog eine dicke Fliege, und ihr Blick fiel auf eine Gruppe Spatzen, die sich im Gras lautstark um alte Brotkrumen zankten, die Rosie dort hingestreut hatte. Sie betrachtete die roten, verwitterten Mauern des alten Hauses. An dieser Seite waren sie größtenteils mit graugrünem Efeu überwuchert.

»Hallo.«

Nina zuckte zusammen. Da stand Daniel. In seiner alten Jeans und einem hellblauen Pulli sah er großartig aus. Plötzlich fühlte es sich an, als hätte sie eine Schale sich windender Regenwürmer aufgegessen. Sie schluckte.

»Hallo«, erwiderte sie leise. Ihre Stimme hörte sich viel höher an als sonst.

»Ruhig sprechen«, erklang es sofort in ihrem Ohr.

»Ja«, entgegnete sie laut.

Daniel sah sie seltsam an. »Ja?«

Nina spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. Während Daniel sich neben sie setzte, schickte sie ein Stoßgebet zu Delia. Was sollte sie nur sagen?

In diesem Moment erklang ein Knacken, gefolgt von Delias Stimme: »Ich habe mich nach diesem Moment gesehnt.«

Nina holte tief Luft. Sollte sie das wirklich sagen?

Sie rückte ein wenig näher zu Daniel und zwang sich, ihn fest anzusehen.

»Ich habe mich nach diesem Moment gesehnt«, flüsterte sie fast unhörbar.

»Ich mich auch«, antwortete Daniel, und sie sah an seinen Augen, dass er es ehrlich meinte. »Ich denke die ganze Zeit an dich«, meinte er dann und rückte näher an Nina heran.

Sie fühlte sich ein wenig schwindlig und hörte das wilde Spatzengezwitscher nicht mehr. Ohne nachzudenken, wiederholte sie, was Delia ihr sagte.

»Seit diesem Kuss kann ich nur noch an dich ... Hey, you sexy thing!«

Die letzten Worte waren raus, ehe ihr klar war, was sie da soeben von sich gegeben hatte. Jetzt verstand sie überhaupt nichts mehr. Warum erzählte Delia ihr so etwas? Hatte sie es vielleicht nicht richtig verstanden? Sie fummelte möglichst unauffällig an ihrem Ohrstöpsel herum.

»Hallo, Baby«, sagte Daniel plötzlich.

»Du siehst echt toll aus«, brabbelte Nina Delia nach.

»Danke!«, antwortete Daniel erstaunt. »Wie schön deine blonden Haare doch sind.«

Nina fiel fast von der Bank, aber viel Zeit zum Nachdenken hatte sie nicht, weil sie Delia wieder in ihrem Ohr hörte.

»Oh, manchmal vergesse ich glatt, wie muskulös du bist.« Wie ein Papagei wiederholte sie den Text, den sie in ihrem Ohr hörte, aber noch während es ihr von der Zunge rutschte, wurde ihr klar, dass es völliger Unsinn war. Was war mit Delia los? Daniel war überhaupt nicht muskulös. Sie drehte sich kurz um, zog das Mikrofon näher an ihren Mund und räusperte sich ein paarmal nachdrücklich.

»Ups, tut mir leid, Nina, ich bin wieder da«, hörte sie Delia sagen. »’tschuldigung, Kaya kam gerade vorbei.«

Als Nina sich wieder umdrehte, schaute sie in Daniels verblüfftes Gesicht. Das lief völlig falsch!

»Hab mich wohl ein bisschen erkältet«, meinte sie und hustete.

Daniel nickte langsam. Offensichtlich verstand er nichts von alledem.

»Nina?«

»Das bin ich«, sagte sie verwirrt, da Daniel gar nicht den Mund bewegt hatte.

Plötzlich stand Victor da. Er sah sie sehr ernst an, während er mit den Händen in den Taschen hin und her wippte. »Ich habe schlechte Nachrichten.«

Nina bekam einen Schrecken und griff automatisch nach Daniels Hand.

»Was denn?«, stotterte sie.

»Deine Oma, sie wurde ins Krankenhaus gebracht.«

»Ins Krankenhaus? Aber was ...?«

»Mehr weiß ich nicht«, unterbrach Victor sie. »Du musst sofort zu ihr.«

Mit einem Ruck stand Nina auf. Der Boden unter ihren Füßen schwankte. Ihre Oma! Was war mit ihrer Oma? Sie spürte, dass Daniel sie stützte.

»Nina? Was ist passiert? Geht es?«, klang Delias Stimme schrill in ihrem Ohr.

Ohne weiter nachzudenken, riss sie den Ohrstöpsel heraus und zog ihre Hand aus der von Daniel. Sie rannte ins Haus, durch die Küche, Richtung Halle, ohne sich ein einziges Mal umzusehen. Sie musste sofort los. Sie musste zu ihrer Oma.

Wenn sie nur nicht zu spät war … Wenn ihre Oma …

Sie schob den Gedanken schnell beiseite und rannte zur Garderobe.

Ihre Jacke, wie sah ihre Jacke bloß aus und wo war sie? Sie brauchte ihre Jacke …

»Hier.« Daniel stand hinter ihr und hielt Ninas grüne Jacke hoch. »Geht’s?«, fragte er besorgt und griff nach ihrer Hand.

Nina versuchte zu lächeln, aber sie kam nicht sehr weit. »Ja, ja, es geht schon«, meinte sie tapfer, doch sie spürte die Tränen brennen. Schnell zog sie ihre Hand weg. Sie wollte nicht, dass Daniel sie weinen sah.

»Nina, Nina!« Delia und Kaya kamen in die Halle gerannt. »Was ist passiert?«

»Meine Oma ... im Krankenhaus«, stammelte Nina.

Delia nahm Daniel die Jacke ab und half Nina hinein. Als sie sah, dass Ninas Hände so zitterten, dass sie den Reißverschluss nicht zuziehen konnte, übernahm sie das. »Komm«, sagte sie entschlossen und schob Nina Richtung Haustür.

»Alles Gute!« Kaya umarmte Nina und gab Delia dann einen Kuss auf die Wange.

Mara und Luzy kamen in die Halle. »Wo geht ihr hin?«, fragte Mara.

»Zum Krankenhaus. Mit Ninas Oma ist was passiert«, erklärte Kaya.

Maras Gesicht wurde düster. »Wie schrecklich … Ist es sehr schlimm?«

»Ich weiß es noch nicht«, antwortete Nina bedrückt. Ihre Knie zitterten immer heftiger.

»Nun los, komm!«, drängte Delia und fasste Nina am Arm.

»Kopf hoch!«, rief Daniel ihnen hinterher. Seine Stimme klang seltsam hoch.

Nina wusste, dass sie sich umdrehen und ihm kurz zuwinken sollte, aber sie konnte es nicht und ließ sich wie ein Roboter von Delia nach draußen führen.

»Kannst du mit dem Rad fahren?«

Nina nickte. Wie eine Maschine stieg sie auf ihr Rad und fing an zu treten. Sie fuhr über die Ausfahrt, den Waldpfad, den Weg neben der Landstraße, hinter Delia her, unter der Unterführung durch, am hässlichen, grauen Gebäude der Zuckerfabrik vorbei – bis plötzlich ein großes, weißes Gebäude vor ihnen auftauchte. Gemeinsam kamen sie an einem Mann im Rollstuhl und einer Frau mit einem großen Verband um den Kopf vorbei, die draußen standen und rauchten.

Nina schaute auf den großen Aschenbecher, der bis zum Rand mit Zigarettenkippen gefüllt war, und fragte sich, warum kranke Leute sich noch kranker machen wollten, indem sie rauchten. Sie folgte Delia zur Rezeption in der Mitte der großen Halle.

»Ja, bitte?« Die Frau hinter dem Schalter sah sie fragend an.

»Meine Oma liegt hier«, stammelte Nina.

»Auf welcher Abteilung?«

»Das weiß ich nicht.« Nina spürte, wie ihre Unterlippe zitterte.

»Wie heißt sie denn?«

»Martens«, sagte Nina leise.

Die Frau tippte etwas in ihren Computer.

»Neurologie, vierter Stock, Zimmer 4c.« Die Frau zeigte nach links. »Dort sind die Aufzüge.«

»Geht’s?«, fragte Delia besorgt, als sie im Aufzug standen. »Du bist blass.«

»Diese Luft ...« Nina schnüffelte. Es stank nach Putzmitteln und Medikamenten. Wann hatte sie diese Luft zuletzt gerochen? Vor langer, langer Zeit, als sie vier Jahre alt war, ihre Eltern … und jetzt ihre Oma …

Die Aufzugtür öffnete sich.

Delia nahm Ninas Hand. »Ja, eklig, was? Dass sie dagegen mal nicht was erfinden können«, ratterte sie weiter, während sie in ihrer Handtasche herumkramte und ein Fläschchen Parfüm hervorzog, mit dem sie wild um sich sprühte. Ein süßer Blumenduft vermischte sich mit der scharfen Krankenhausluft.

»Schon besser. Wohin müssen wir?« Delia schaute sich suchend um.

»Neurologie«, sagte Nina flach.

»Eurologie? Was hat denn der Euro mit deiner Oma zu tun?«

»Neurologie«, wiederholte Nina.

Aber Delia hörte sie nicht. Ein ziemlich gut aussehender, dunkelhaariger Arzt kam um die Ecke und nickte ihr freundlich zu.

Delia starrte ihm mit offenem Mund hinterher und wäre beinahe gegen einen Teewagen mit Medikamenten gelaufen.

Nina schaute auf die blauen Türen: 4a, 4b, 4c …

»Wir sind da.« Sie blieb vor der geschlossenen Tür stehen. Ihr Herz klopfte wie wild. Sie traute sich nicht, die Hand auf die Klinke zu legen und die Tür zu öffnen. Sie spürte, wie Delia ihren Arm nahm.

»Bestimmt wird alles wieder gut«, sagte Delia entschieden und drückte die Tür auf.

Nina sah ihre Oma nicht sofort, weil eine große Schwester mit blondem Pferdeschwanz vor dem Bett stand. Sie hörte aber einen Herzschlag, der aus einem Monitor kam. Grüne Wellen bewegten sich im Takt des Tons.

Die Schwester drehte sich um und lächelte den beiden Mädchen zu, die im Türrahmen stehen geblieben waren. »Seid ihr Verwandte?«, fragte sie und trat einen Schritt zur Seite.

Jetzt sah Nina ihre Oma. Sie lag mit geschlossenen Augen unter einer weißen Decke.

»Kommt ruhig näher«, sagte die Schwester.

Nina trat vorsichtig ans Bett heran. Ihre Oma sah aus wie eine Wachspuppe. »Oma … Was ist …? Was ist mit ihr?«

»Wir wissen es noch nicht genau. Sie hatte heute um Mitternacht eine Art Anfall.«

»Wurde sie überfallen?«, fragte Delia erschrocken.

»Nein, es eine Art epileptischer Anfall«, erklärte die Schwester, während sie die Decke gerade zog.

Nina kam noch näher. »Hörst du mich?«, fragte sie leise, aber ihre Oma antwortete nicht.

»Vielleicht hört sie dich, aber sie wird im Moment nicht wach«, erklärte die Schwester ernst.

Nina erschrak. »Liegt sie … im Koma?«

Die Schwester nickte.

»Und das ist heute Nacht passiert?« Endlich traute sich Nina, nach der Hand ihrer Oma zu fassen. Sie fühlte sich kühl und trocken an, wie ein Stück altes Pergament.

»Die Nachtschwester war auf ihrer Zwölf-Uhr-Runde. Da geschah es«, erzählte die Schwester.

Ein eiskalter Schauder lief Nina über den Rücken, und einen Moment lang schien es, als würde das Zimmer hin und herschwanken. »Genau um zwölf?«

»Ich glaube ja.«

Nina drehte sich zu Delia, die mit großen Augen zu Ninas Oma sah. »Das war, als wir den Gral geöffnet haben«, sagte sie leise.

Delia zuckte zusammen. »Der Fluch!«

»Schscht!« Nina sah sich ängstlich nach der Schwester um, aber die ging gerade ins Bad und hatte sie nicht gehört.

»Das kann doch nicht wahr sein. Das gibt es nicht«, flüsterte Nina, aber die Angst schnürte ihr den Hals zu.

»Reiner Zufall, oder?«, meinte Delia kleinlaut und schaute zu Ninas Oma.

Nina drückte ihre schlaffe Hand und beugte sich vor. »Oma? Kannst du mich hören? Bitte, werde ganz schnell wieder gesund, verstehst du? Ich brauch dich doch!«, sagte sie liebevoll.

Sie schaute angespannt auf die Augenlider der alten Dame. Bewegten sich ihre Wimpern nicht ein wenig?

»Nina …« Delia zupfte Nina am Ärmel.

»Warte mal eben«, meinte Nina, aber Delia lockerte ihren Griff nicht und wiederholte Ninas Namen.

»Nina!« Delia zog ihre Freundin hoch und zerrte sie weg vom Bett.

Nina begriff nicht, was Delia wollte, und schaute sie verärgert an. Delia sah ihren Blick nicht, weil sie mit großen Augen auf Ninas Hals starrte. Mit zitternden Fingern zeigte sie auf das Medaillon. Das Medaillon, das Sarah Winnsbrügge-Westerling Nina geschenkt hatte.

Der große, rote Stein in der Mitte glühte furchterregend wie ein Teufelsauge.

4
Ein neues Gesicht

»Es ist um Mitternacht passiert«, erzählte Nina düster.

»Genau um zwölf!«, stimmte Delia ihr zu.

Felix, Luzy und Daniel sahen sich verblüfft an. Die flackernden Kerzen warfen tiefe Schatten auf ihre blassen Gesichter. Sie hatten sich zu einem streng geheimen Treffen in Delia und Ninas Zimmer versammelt, nachdem Victor mit seinem Abendritual durch war. Jetzt saßen sie im Dunkeln im Kreis.

»Was genau ist denn nun geschehen?«, fragte Luzy gespannt nach.

»Das wissen wir nicht«, entgegnete Nina und seufzte. »Aber meine Oma liegt seit zwölf Uhr heute Nacht im Koma.«

»Es ist der Fluch. Das kann gar nicht anders ein. Um zwölf Uhr haben wir den Gral geöffnet«, berichtete Delia aufgeregt. Auf ihren Wangen erschienen rote Flecken. »Und dann leuchtete plötzlich Ninas Medaillon!«

Die anderen schauten ungläubig von Delia zu Nina, doch ehe jemand reagieren konnte, ertönte über ihren Köpfen ein gewaltiges Poltern.

»Was war denn das?«, fragte Delia.

»Bestimmt Victor. Der ist doch ständig auf dem Dachboden«, antwortete Luzy flüsternd.

»Belauscht er uns?«, vermutete Felix erschrocken.

Wieder ertönte ein Poltern, dann wurde etwas verschoben, und schließlich hörten sie einen Bohrer.

»Wenn er das vorhätte, würde er wohl kaum so einen Lärm machen«, meinte Daniel gelassen.

Er schaute zu Nina, die ausdruckslos vor sich hin starrte. »Nina? Dein Medaillon? Es hat geleuchtet?«

Nina nickte.

»Und jetzt?«

Sie nahm das Medaillon und zeigte es den anderen. Es sah wieder ganz normal aus, aber sie wollte es nicht mehr tragen.

»Darf ich es mal sehen?«

Mit zitternden Händen ließ Nina das Medaillon in Daniels Hände gleiten. Er betrachtete es von allen Seiten, konnte jedoch nichts Besonderes entdecken.

»Was meinst du mit: Es hat geleuchtet?«

»Er hat rot geleuchtet.« Delia zeigte auf den Stein in der Mitte des Schmuckstücks. »Das war supergruselig.«

»Bist du dir sicher?«, fragte Daniel skeptisch. Er wusste, dass Delia maßlos übertreiben konnte.

»Ganz sicher!« Delia verzog das Gesicht. »Es ist der Fluch, der Fluch des Pharaos. Darum liegt Ninas Oma im Koma.«

Sie schauten alle zu Nina, die nickte und auf den Boden schaute. Ihre langen Haare verdeckten ihr Gesicht, und sie spielte nervös mit ihren Händen.

»Was machen wir denn jetzt?«, fragte Luzy leise.

»Wenn wir den Fluch wirklich ausgelöst haben, müssen wir ihn doch auch wieder rückgängig machen können, oder?«, meinte Nina plötzlich entschlossen und schaute die anderen fest an. Ihre braunen Augen glänzten streitlustig. »Wir müssen herausfinden, was auf der Papyrusrolle steht. Vielleicht erfahren wir dann, was wir tun müssen, um den Fluch loszuwerden.«

Angesteckt von Ninas Streitlust sprang Felix auf. »Ich hole sofort das Papier!«, sagte er, und ehe jemand etwas entgegnen konnte, ging er los, um das Stück Papyrus aus der feuerfesten Kiste unter seinem Bett zu holen. Die anderen redeten leise über den Fluch und ob er vielleicht auch Einfluss auf andere Menschen hatte, denn Rosie war in letzter Zeit nahezu besessen von Geistern und dem Thema Wahrsagerei. Ständig versuchte sie, allen aus Kaffeesatz oder Teeblättern die Zukunft vorherzusagen. Ihre Anti-Geister-Mittel hingen überall im Haus: Knoblauch, Traumfänger, Federn und Zweige.

Nach einer Minute kam Felix außer Atem ins Zimmer gerannt und zog die Papyrusrolle triumphierend aus seinen Socken.

Felix und Daniel machten sich ans Kopieren der Rolle, damit sie nicht die ganze Zeit mit dem Original herumlaufen mussten.

»Sollten wir das Original nicht getrennt von der Kopie aufbewahren?«, schlug Luzy vor, als sie fertig waren.

Das fanden die anderen auch, aber wo? Der Spülkasten war viel zu gefährlich. Wenn das Papier nass wurde, war es verdorben.

Plötzlich sprang Nina auf und griff nach einem alten Teddybären, der auf ihrem Bett saß.

»Oh, du spielst mit deinen Kuscheltieren!«, zog Felix sie auf.

Nina streckte ihm die Zunge heraus. »Er hat ein Loch im Nacken, das ist ein super Versteck.«

Sie schoben die brüchige Rolle vorsichtig zwischen die Füllung des verschlissenen Bärenkörpers. Danach vereinbarten sie, dass Daniel gemeinsam mit Felix versuchen sollte, die Hieroglyphen zu entziffern.

In den folgenden Tagen geschah jedoch etwas, was den Geheimen Club der Alten Weide fast auseinanderbrechen ließ. Wegen ihrer Oma war Nina gerade sehr abgelenkt und dachte viel seltener an Daniel. Der Verkupplungsversuch mit den Mikrofonen war ins Wasser gefallen, und jetzt sah Delia es als ihre persönliche Aufgabe, Nina und Daniel zusammenzubringen. Das war zwar gut gemeint, wäre aber beinahe danebengegangen. Beim Frühstück erzählte sie Kaya nämlich, Nina fände wirklich nichts an so einem Streber wie Daniel. Delia sagte das, weil sie Daniel zu verstehen geben wollte, dass Nina eine Burg auf dem Felsen sei – also schwer zu erobern. Sie erreichte damit allerdings nur, dass Daniel sich Nina gegenüber sehr schroff verhielt, als sie sich vor der Schule trafen.

Nina verstand überhaupt nichts mehr, aber sie hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, weil es genau in diesem Moment zur ersten Stunde klingelte.

Sie rannte zu Frau Engels Klassenzimmer, während sie versuchte herauszufinden, ob sie nun Französisch oder Deutsch hatte. Als sie den Raum betrat und das Wort Oxymoron an der Tafel stehen sah, wusste sie es immer noch nicht. War das Französisch?

Sie setzte sich schnell neben Delia, die sich in einem Taschenspiegel betrachtete und reichlich Lipgloss auf ihrem Mund verteilte. Nina warf einen kurzen Blick auf Daniel, der ein paar Bänke hinter ihr saß und so tat, als sei sie Luft. Ein seltsames Gefühl breitete sich in ihrem Magen aus. Was war bloß los?

Frau Engel brachte ihre Frisur in Ordnung und räusperte sich. Dann drehte sie sich zur Klasse und zog einen dicken Kreidestrich unter das Wort an der Tafel.

»Oxymoron. Wer kann mir sagen, was das ist?« Sie schaute erwartungsvoll in die Klasse, aber niemand meldete sich.

»Daniel?« Frau Engel zog fragend die Augenbrauen hoch.

Nina sah ihn an.

Er zögerte, als wolle er eigentlich keine Antwort geben, aber letztendlich tat er es doch. »Oxymoron kommt von den griechischen Wörtern oxys und moros, die bedeuten in etwa schlau und dumm. Ein Oxymoron ist also ein scheinbarer Gegensatz, zum Beispiel ohrenbetäubende Stille, Hassliebe«, zählte er auf, während er kurz zu Nina schaute und dann zu seiner Lehrerin.

»Ja, danke, Daniel, das reicht schon«, unterbrach sie ihn. »Wie immer bist du ein strahlendes Vorbild für die Klasse.«

Daniel sah Nina mit einem Blick an, den sie nicht verstand, als wolle er sie herausfordern. Was sollte das nur?

Delia beugte sich zu Nina. »Er ist echt ein Streber«, flüsterte sie leise.

Jetzt verstand Nina gar nichts mehr. Warum sagte Delia so etwas? Sie wollte gerade fragen, was Delia meinte, als es an der Tür klopfte und der Direktor eintrat. Er nickte Frau Engel, die plötzlich knallrot wurde, freundlich zu und richtete sich an die Klasse.

»Heute kommt jemand Neues in diese Klasse«, verkündete er feierlich.

In der Bank vor Nina schnellte Luzy plötzlich hoch. Sie griff nach dem Arm von Mara, die neben ihr saß. »Ein neuer Schüler!«, flüsterte sie begeistert.

Mara zuckte mit den Achseln. »Ja und?«

»Das hat Rosie vorhergesagt! Ich werde ihm begegnen, und er ist meine große Liebe!«, sagte Luzy begeistert.

Nina musste lachen. Sogar die skeptische Luzy glaubte ein wenig an Rosies Prophezeiungen. Nina warf wieder einen kurzen Blick zu Daniel, der jedoch, ohne aufzusehen, etwas in sein Heft schrieb. Sie seufzte. Warum benahm er sich plötzlich so seltsam? Vielleicht sollte sie Rosie auch einmal bitten, Kaffeesatz für sie zu lesen. Doch vorher wollte sie Delia fragen, was sie mit ihrer Bemerkung gerade gemeint hatte. Sie schaute noch einmal zu Daniel und versuchte, Blickkontakt mit ihm aufzunehmen, aber er starrte stur nach unten. Was hatte sie nur verbrochen?

Nach der Stunde folgte sie Delia in Richtung Mädchentoilette. Delia blieb vor dem Spiegel stehen und trug noch mehr Lipgloss auf.

»Delia, hast du etwas zu Daniel gesagt?«, fragte Nina.

Delia schaute erstaunt. »Nein, natürlich nicht. Wieso?«

»Ich glaube, er ist sauer auf mich, und ich weiß wirklich nicht, was ich getan haben könnte«, sagte Nina zögernd. »Und warum hast du vorhin gesagt, dass er ein Streber ist?«

Delia schnippte mit den Fingern. »Ach, das. Ja, Kaya hat mich heute Morgen gefragt, wie du Daniel findest, und da habe ich gemeint, dass er bloß nicht glauben sollte, du seist an einem solchen Streber interessiert. Gute Aktion, oder?«, meinte sie triumphierend. Sie steckte das Lipgloss in ihr goldenes Täschchen und warf ihrem Spiegelbild einen zufriedenen Blick zu.

Nina war baff.

»Du bist eine Burg auf dem Felsen, weißt du noch?«, sagte Delia und zwinkerte Nina zu.

Da verstand Nina, und sie spürte eine enorme Wut aufsteigen. »Meine Oma stirbt vielleicht. Ohne Daniel kann ich ihr nicht helfen, und wegen dir kann ich diese Hilfe jetzt wohl vergessen!«, meinte sie hitzig. »Wie konntest du nur so blöd sein?«

Delias zufriedenes Lächeln verschwand schneller als eine Maus vor einer Katze. »Oh nein«, stöhnte sie, als ihr klar wurde, was sie angerichtet hatte.

Nina konnte sich nicht mehr beherrschen – alle Frustration der letzten Tage hatte sich angesammelt und suchte einen Weg nach draußen.

»Das war echt das Letzte!«, rief sie laut und stampfte aus den Toiletten. Sie knallte heftig mit Luzy zusammen, doch das war ihr in diesem Moment egal. Vielleicht war es nicht richtig von ihr, Delia so anzugreifen, aber wie konnte sie denn nur so dämlich sein? Sie hätte sich da raushalten sollen! Nun war Daniel wütend auf sie, weil er glaubte, sie mochte ihn nicht, und bestimmt würde er das Rätsel nicht mehr lösen wollen. Nina schaute wild um sich.

Wo sollte sie jetzt hin? Sie fasste einen Entschluss und ging schnell zur Sitzecke in der Hoffnung, er wäre noch da ...

Und zum Glück – Daniel saß mit Felix an einem Tisch. Dort lag ein riesiger Bücherstapel, und sie schauten angestrengt auf das Papier vor ihnen, die Kopie der Papyrusrolle aus dem Gral.

Nina ging schnell auf sie zu, bevor sie der Mut verlassen würde. »Daniel!«

Die beiden Jungen sahen erstaunt auf.

»Ich weiß, dass es vielleicht dumm von uns ist, und alle denken sich ihren Teil über uns, und das habe ich satt«, sagte Nina ohne Pause. »Ich bin durcheinander, aber was Delia dir gesagt hat, was ich gesagt haben soll, das stimmt überhaupt nicht. Und was ich ganz sicher nicht möchte, ist, dich zu verlieren.«

Nina schwieg und schaute auf ihre Schuhe.

Daniel und Felix sahen sie sprachlos an.

»Du wirst mich nie verlieren, ich verspreche es dir«, sagte Felix ernst, doch seine Augen glänzten.

Trotz allem musste Nina lachen. »Ich meinte eigentlich …«

»Es ist wahr!«, unterbrach Daniel sie. »Es ist wahr, was Felix sagt. Du wirst mich nie verlieren. Das verspreche ich.«

»Wirklich?«

Daniel nickte und sah sie liebevoll an. Eine Welle der Erleichterung durchströmte Nina.

»Super, dann wollen wir ja alle dasselbe«, sagte Felix froh und sprang mit ausgebreiteten Armen auf. »Gruppenumarmung!« Er drückte Daniel und Nina fast zu Brei und ließ erst los, als Nina piepste, sie würde keine Luft mehr bekommen.

»Zum Glück!« Nina strahlte und setzte sich neben die beiden Jungen. Sie lächelte Daniel zu, der ihr Lächeln erwiderte.

»Okay, Felix, was meintest du nun mit einem Kamel?«, fragte er und schaute auf das Papier vor ihnen.

»Kein Kamel. Ein Hund ... oder vielleicht ein Esel.« Felix tippte auf eines der ägyptischen Zeichen, die sie entziffern mussten, und schob Daniel das Blatt mit den Hieroglyphen zu.

»Du hältst es verkehrt herum«, sagte Daniel trocken.

Felix wurde rot und wendete schnell das Blatt.

Nina hatte sich umsonst Sorgen gemacht. Daniel und Felix waren bei der Entschlüsselung der ägyptischen Zeichen ein super Team. Und bis zur Mittagspause hatten sie alles enträtselt.

Danach versuchte Daniel, wie ein zerstreuter Professor (mit Brille auf der Nase), Nina und Luzy zu erklären, was genau dort stand. Das war nicht so leicht, weil Felix alles, was er von sich gab, wie eine Art nervöser Assistent wiederholte.

Nina und Luzy verstanden nur noch Bahnhof. Und wo war Delia? Nina hatte sie seit ihrem Streit in der Toilette nicht mehr gesehen.

»Erklär du’s doch einfach«, sagte Daniel plötzlich zu Felix und drückte ihm das Papier in die Hände.

»Wirklich?« Felix schaute stolz wie ein Pfau auf die Notizen.

»Hallo!«, erklang plötzlich eine Stimme.

Da stand Delia. Sie schaute scheu von einem zum anderen und drehte die Absätze in den Boden.

»’tschuldigung, wir haben schon mal angefangen«, erklärte Nina schnell.

»Macht nichts, ich geh einfach wieder.« Delia drehte sich um.

»Delia?«

Delia hielt inne. Sie schaute traurig. »Ich höre damit auf«, warf sie in die Runde.

»Was?« Alle schauten sie völlig erstaunt an.

Delia nickte, und Nina konnte sehen, dass sie feuchte Augen hatte. »Zum allerletzten Mal also ... Sibuna.« Sie machte das geheime Zeichen und wollte weglaufen, aber Nina sprang von der Bank, hielt sie zurück und zog sie mit zu den anderen. »So einfach geht das nicht.«

Delia schaute den Club ängstlich an. »Nicht?«

Felix kniff die Augen zusammen und sah sie ernst an. »Nein, du musst erst deinen linken kleinen Zeh opfern.«

Delia sperrte die Augen weit auf. »Was?«

»Nun hab dich nicht so, alle wollen, dass du bleibst!« Nina kniff Delia in die Schulter.

»Nein, nicht alle!«, entgegnete Luzy.

Delia bekam einen noch größeren Schrecken, aber Luzy grinste plötzlich breit. »Kleiner Scherz!« Sie streckte ihre Zunge heraus. »Nur gemeinsam sind wir der Club der Alten Weide!«

»Glaubst du’s jetzt endlich?«, fragte Nina und hielt sich die Hand vor das Auge. »Sibuna.«

Delias Augen fingen an zu leuchten. »Sibunaaaaa!«, rief sie begeistert und setzte sich schnell zu Felix auf die Bank. »Was habt ihr entdeckt?«

Felix tippte auf das Papier. »Wir müssen uns auf die Suche nach einer geheimen Wand machen ... Wenn wir den Zeichen folgen, wenn man in seinem Element ist, dann feiert man das mit … äh …«

Nina verstand kein Wort. Sie sah Delia an, die Felix mit offenem Mund anstarrte.

»Äh ... ich bin ein wenig durcheinander«, stotterte Felix und blätterte durch die Papiere.

Luzy reichte es. Sie riss Felix die Unterlagen aus den Händen und gab sie Daniel. »Bitte, erklär du es uns, dann versteht man es wenigstens«, sagte sie entschieden und ignorierte Felix’ enttäuschtes Gesicht.

Daniel erzählte, dass sie nach einer geheimen Wand suchen mussten. Dort würden Zeit und Ort stehen, an dem die Auserwählte erfahren könnte, wo sich das Liebesgrab befindet. Es war niemals gefunden und geöffnet worden, weil Amneris nach Tutanchamuns Tod mit ihrer Tochter verschwunden war.

Delia verstand es nicht und fragte nach: »Was ist eine Auserwählte?«

»Ein besonderer Mensch, der dazu auserkoren ist, eine Rolle in der Geschichte zu erfüllen«, erklärte Daniel. »In diesem Fall muss diese Person an einem bestimmten Zeitpunkt irgendwo stehen, sodass der Ort, an dem sich das Grab befindet, enthüllt wird.«

»Aber ist diese Person nicht schon längst gestorben?«, fragte Nina besorgt.

Daniel zeigte auf ein paar unverständliche Zeichen. »Hier steht, dass immer jemand anderes der oder die Auserwählte sein kann.«

»Also … kann ich es auch sein?«, fragte Delia begierig.

Luzy fuhr Delia über den Mund und nickte Daniel zu, er solle mit seiner Geschichte fortfahren. Er glaubte, dass Winnsbrügge-Westerling die geheime Wand, die in den Hieroglyphen genannt wurde, aus Ägypten mitgenommen und irgendwo im Haus Anubis versteckt hatte.

»Weil er sie in Sicherheit bringen wollte«, sagte Nina.

»Aber wie sollen wir sie dann finden? Und warum sollte sie hier sein und nicht in Ägypten?« Luzy schaute skeptisch.

»Ich denke, es ist eine Art magische Wand«, meinte Daniel. »Es ist egal, wo sie ist: Sobald der Gral geöffnet wird, geht irgendwas los, was uns letztendlich zum Liebesgrab führt.«

»Was geht dann los?« Man konnte an Luzys Gesicht sehen, dass sie das alles viel zu vage fand.

»Hier steht, dass wir den vier Elementen folgen müssen, um die Wand zu finden«, erklärte Daniel.

»Wasser, Erde, Luft und Feuer!«, rief Felix laut.

Daniel nickte. »Und dazu haben wir sieben Tage Zeit – von dem Augenblick an, in dem wir den Gral öffnen ... also, geöffnet haben.«

»Woher weißt du das?«, fragte Nina.

Daniel zeigte auf ein anderes Zeichen: »Sieben Mal die Runde von Ra, das macht sieben Tage.«

Details

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Erscheinungsform
eBook-Lizenz
Jahr
2016
ISBN (eBook)
9783960530022
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (April)
Schlagworte
eBooks TV-Serie Buch zur Serie Kinderbuch ab 10 Jahre Jugendbuch fuer Maedchen fuer Jungen Nickelodeon Spannung Freundschaft Abenteuer Internat Geheimnisse
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Titel: Das Haus Anubis - Band 3: Der geheimnisvolle Fluch
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