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Das Haus Anubis - Band 5: Das Geheimnis der Winnsbrügge-Weslings

Der Roman zur TV-Serie

©2016 278 Seiten

Zusammenfassung

„Mach dir keine Sorgen um Maras Augen, Kleine. Wenn sie den Stein erst berührt, wird sie keine Schmerzen mehr haben. Nie mehr!“

Nachdem der Gral sich wieder im Grab von Amneris befindet, glauben die Sibunas, es kehre endlich Ruhe ein im Haus Anubis. Doch plötzlich haben alle denselben merkwürdigen Traum: Mara wird etwas Schreckliches zustoßen! Als dann auch noch der Geist von Victors verstorbenem Vater auftaucht und ein mysteriöser Fremder die Sibunas ausspioniert, ist klar: Im Haus Anubis sind noch viel größere Geheimnisse verborgen, als Nina und ihre Freunde ahnten …

Die Buchreihe zur Nickelodeon-Erfolgsserie – jetzt als eBook!

Jetzt als eBook: „Das Geheimnis der Winnsbrügge-Weslings“, der Roman zur Serie „Das Haus Anubis“. jumpbooks – der eBook Verlag für junge Leser.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Über dieses Buch:

Nachdem der Gral sich wieder im Grab von Amneris befindet, glauben die Sibunas, es kehre endlich Ruhe ein im Haus Anubis. Doch plötzlich haben alle denselben merkwürdigen Traum: Mara wird etwas Schreckliches zustoßen! Als dann auch noch der Geist von Victors verstorbenem Vater auftaucht und ein mysteriöser Fremder die Sibunas ausspioniert, ist klar: Im Haus Anubis sind noch viel größere Geheimnisse verborgen, als Nina und ihre Freunde ahnten …

Die Buchreihe zur Nickelodeon-Erfolgsserie – jetzt als eBook!

In der Serie Das Haus Anubis erscheinen bei jumpbooks auch die folgenden eBooks:
Das Haus Anubis: Der geheime Club der Alten Weide

Das Haus Anubis: Das Geheimnis des Grabmals

Das Haus Anubis: Der geheimnisvolle Fluch

Das Haus Anubis: Die Auserwählte

Das Haus Anubis: Die Träne der Isis

Das Haus Anubis: Pfad der 7 Sünden

Das Haus Anubis im Internet:
www.DasHausAnubis.de

www.DasHausAnubis-DerFilm.de

www.studio100.de

***

eBook-Neuausgabe April 2016

Copyright © der Originalausgabe 2011 Studio 100 Media GmbH

Text von Susanne Picard, basierend auf den Drehbüchern zur TV-Serie Het Huis Anubis von Hans Bourlon, Gert Verhulst und Anjali Taneja

Copyright © der Neuausgabe 2012 dotbooks GmbH, München

Copyright © 2016 jumpbooks. jumpbooks ist ein Imprint der dotbooks GmbH.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nicola Bernhart Feines Grafikdesign, München

Titelbildabbildung: © 2012 Studio 100 Media GmbH

E-Book-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN 978-3-96053-004-6

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Das Haus Anubis

Das Geheimnis der Winnsbrügge-Westerlings

Das Buch zur TV-Serie

jumpbooks

Prolog

Nina Martens schirmte die Augen gegen die kräftige Morgensonne ab und ließ ihren Blick über die endlose Landschaft gleiten. Strahlend blauer Himmel und goldgelbe Sanddünen, so weit das Auge reichte. Und mittendrin die weltberühmten Pyramiden.

Sie und ihre drei Freunde konnten es noch immer nicht fassen. Sie waren tatsächlich in Ägypten.

Im gemächlichen Tempo ritten Delia, Felix, Daniel und Nina auf ihren Kamelen einem neuen Abenteuer entgegen, und Nina spürte, wie ihr Herz allmählich schneller schlug. Mit jeder Sekunde wurde ihr klarer, warum sie hierhergekommen waren und wohin ihr Weg sie führte: Sie mussten das Liebesgrab von Tutanchamun und seiner Geliebten Amneris finden und den Fluch, der auf den beiden lastete, endgültig lösen.

Keine leichte Aufgabe, zumal Nina noch immer nicht wirklich begreifen konnte, was in den vergangenen Wochen alles geschehen war.

Nach vielen glücklichen Jahren hatte sie ihre geliebte Großmutter verlassen müssen und war in ein Internat gezogen, das Haus Anubis. Für Nina brach damals eine Welt zusammen. Außerdem war sie die Neue in der Schule – und das war alles andere als ein Zuckerschlecken!

Nina hatte von Anfang an schreckliches Heimweh, das alte Gebäude war gruselig und unheimlich, und der nicht weniger mysteriöse Hausverwalter Victor Rodemer führte ein strenges Regiment.

Auch die Mitbewohner verhielten sich merkwürdig und verlangten von ihr, als Mutprobe eine Nacht auf dem finsteren und verbotenen Dachboden des Internats zu verbringen.

Wenn Nina jetzt daran dachte, welche Abenteuer von jenem Moment an auf sie warteten!

Zuerst war da diese alte Frau im Seniorenheim ihrer Oma gewesen, die ihr ein Medaillon in Form eines Horausauges geschenkt hatte und von einem Schatz im Haus Anubis erzählte. Die alte Frau sprach auch von einem Fluch, den angeblich nur Nina lösen konnte.

Dann war Nina durch Zufall auf eine geheime Kammer, ein paar rätselhafte Wachsrollen und ein Porträt gestoßen, auf dem dieselbe Person zu sehen war wie auf dem Bild in dem Medaillon …

Nina musste kichern. Hier in der einsamen Wüste, so weit weg von zu Hause, schien es ihr geradezu lächerlich, wie verunsichert sie damals gewesen war und wie sehr sie sich vor all den neuen Dingen gefürchtet hatte. Zum Glück hatte sie sich bald darauf mit Daniel Gutenberg angefreundet, der sie und ihre Sorgen ernst nahm und mit ihr gemeinsam herausfand, dass es sich bei den Wachsrollen um alte Tonaufzeichnungen handelte.

Darauf hatte ein kleines Mädchen die ersten Hinweise auf den Schatz gesprochen, der angeblich im Haus Anubis versteckt war: Es war ein Gral – ein Kelch aus Gold und Edelsteinen, den Pharao Tutanchamun einst für seine Geliebte Amneris hatte anfertigen lassen.

Schon bald fanden sie den Namen des Mädchens heraus: Sarah Winnsbrügge-Westerling. Sie war die Tochter des Archäologenehepaars Winnsbrügge-Westerling, denen einst die Villa gehörte, in der Ninas Internat untergebracht war.

Immer mehr Einzelheiten über den Gral traten ans Tageslicht, außerdem stellte sich heraus, dass die alte Frau im Seniorenheim und Sarah ein und dieselbe Person waren!

Doch Nina und Daniel waren auf ihrer Schatzsuche nicht allein. Auch Victor Rodemer, der immer schlecht gelaunte Hausverwalter, und der Ägyptologe Zeno Trabas waren dem alten Kelch auf der Spur, den Sarahs Eltern von Ausgrabungen aus Ägypten mitgebracht hatten.

Und es war nur eine Frage der Zeit, wer den Gral zuerst finden würde …

Nina sah stolz zu ihrem Freund Daniel hinüber, der auf dem Kamel neben ihr durch die gleißende Sonne ritt. Ohne ihre Freunde hätte sie das nie geschafft. Sie, ihre Zimmergenossin Delia und Daniel hatten schließlich den Geheimen Club der Alten Weide gegründet, mit dem sie sich der Schatzsuche verschrieben.

Auch Luzy, die Nina zunächst nicht hatte leiden können, stieß zu guter Letzt dazu, ebenso Felix, der im Internat für seinen Erfindungsreichtum und seine Streiche bekannt war. Und zu fünft schafften sie es: Sie folgten Hinweisen auf den Gral – und fanden ihn in Victors altem, ausgestopften Raben!

Aber damit war das Abenteuer noch lange nicht vorbei. Denn als Nina durch Zufall entdeckte, dass man den Gral öffnen konnte, wurde ihre Oma vom Fluch des Pharaos Tutanchamun getroffen. Die alte Frau fiel ins Koma und wurde schwächer und schwächer. Es blieb nur eins: Sie mussten Tutanchamun und seiner Geliebten Amneris ermöglichen, zueinanderzufinden, um den Fluch zu lösen, der Ninas Oma getroffen hatte. Nur wie?

Wieder war es Daniel, der eine Antwort parat hatte. Sieben Aufgaben mussten sie meistern, erst dann würden sie herausfinden, wo sich das Liebesgrab von Tutanchamun und Amneris befand. Um den Fluch endgültig zu brechen, musste der Gral dorthin zurückgebracht werden. Und das war alles andere als einfach! Denn neben Zeno Trabas und Victor, die immer noch hinter dem Gral her waren, trat ein dritter Gegenspieler auf den Plan – Raven, der Mann mit der Rabenmaske.

Zeno Trabas war es schließlich sogar einmal gelungen, den Gral an sich zu bringen. Er hatte daraus getrunken, weil er sich dadurch ewiges Leben erhoffte, doch stattdessen war er wie Ninas Oma ins Koma gefallen.

Das hatte Nina und auch den anderen noch einmal vor Augen geführt, dass der Fluch unbedingt gebrochen werden musste. Und dazu mussten sie die sieben Aufgaben so schnell wie möglich bewältigen:

Als Erstes hatten sie einen Zaubertrank zu brauen. Das brachte die Sibunas, wie der Club sich nannte, darauf, dass eine Auserwählte die beiden Liebenden, Tutanchamun und Amneris, zusammenbringen musste. Die zweite Aufgabe war, eine Pyramide aus magischen Dominosteinen zu bauen. Danach sollten sie einen Lotus in Friedhofserde züchten und einen Liebestanz aufführen. Die fünfte Aufgabe erwies sich als besonders schwierig. Daniel und Felix hatten eine altägyptische Aurakamera gebaut, um der Blutlinie von Amneris und damit der Identität der Auserwählten auf die Spur zu kommen. Diese Aufgabe führte zu einer echten Überraschung – denn niemand anderes als Mara Minkmar, ihre Mitbewohnerin, die gar nichts mit dem Club oder dem Fluch zu tun hatte, war die Auserwählte! Das war für Nina ein besonderer Schock, schließlich hatte sie geglaubt, die Auserwählte zu sein und damit ihre Oma retten zu können. Hatte Sarah ihr gegenüber nicht immer wieder betont, dass sie die Einzige sei, die den Fluch brechen könne?

Dasselbe glaubte wohl auch Raven, denn er brachte Nina in seine Gewalt und führte mit ihr das Gralsritual durch. Da Nina den Gral aber nicht aktivieren konnte, war klar, dass jemand anders die Auserwählte sein musste …

Zusammen hatten sie bisher viel geschafft, die Widersacher waren ihnen allerdings immer dicht auf den Fersen. Nach der Lösung der fünften Aufgabe sah es fast so aus, als hätten sie den Wettlauf um den Ort des Liebesgrabs verloren, denn Mara wurde von dem geheimnisvollen Mann mit der Rabenmaske, bei dem alle Fäden zusammenzulaufen schienen, im letzten Augenblick entführt.

Doch das war immer noch nicht alles. Bevor sie Mara befreien konnten, stand ihnen die sechste Aufgabe bevor: Der Edelstein aus Ninas Amulett sollte verbrannt werden. Dann wussten sie, wo sie Mara suchen mussten! Nun fehlte nur noch das Ritual, das Tutanchamun und Amneris zusammenbringen sollte – und mit der Hilfe aller Freunde im Haus Anubis hatte der Club der Alten Weide es geschafft! Das Ritual wurde durchgeführt, der Fluch gebrochen und Raven vernichtet. Ninas Oma war wieder aus dem langen Koma erwacht.

Zum Dank hatten Tutanchamun und Amneris ihnen ein kleines Stück Papyrus hinterlassen, bevor ihre Geister sich endlich miteinander vereint aufgelöst hatten. Darauf waren die Koordinaten des Liebesgrabs verzeichnet, in das der Gral gebracht werden musste, um den Fluch ein für alle Mal zu brechen …

1
Der Gral kehrt zurück

Es war totenstill. Seit Jahrtausenden hatte niemand mehr diesen Ort betreten, niemand hatte die Grabesruhe gestört. Niemand hatte all die kostbaren Schätze und kunstvoll bemalten Wände bestaunt.

Doch nun durchbrach ein Scharren die majestätische Stille, und Staub rieselte in die dunkle Kammer.

»Hier! Ich fühle was!«

»Das muss der Eingang sein!«

»Helft mir mal!«

Noch mehr Staub fiel zu Boden, uralter Mörtel, fein wie Sand, rann die Wände hinab.

»Das ist zu schwer!«, jammerte eine Mädchenstimme.

»Na los, zusammen schaffen wir es!«, erwiderte ein Junge.

Dann mischte sich eine dritte Stimme ein: »Super-Felix ist der Stärkste!«

»Hau ruck! Na los, noch einmal, alle zusammen!«

Die gewaltige Steinplatte, die den Eingang zur Kammer verschloss, bewegte sich und stand endlich einen Spalt offen. Ein schmaler Streifen Sonnenschein fiel in die Jahrtausende alte Dunkelheit.

Langsam kletterten die Störenfriede hinein: zwei Jungen und zwei Mädchen, gekleidet wie Touristen, mit leichten Sommerklamotten, Sonnenbrillen und Sonnenhüten. Und so laut sie vorher gewesen waren, so still waren sie jetzt, wo das erste Mal seit vielen Hundert Jahren Licht auf den Inhalt der uralten Grabkammer fiel. Überall in der geheimen Kammer glitzerte und funkelte es. Es gab alte Truhen und Statuen aus Alabaster und Holz, vergoldete und fein gearbeitete Gegenstände, und in der Mitte stand ein großer, bunt bemalter Sarkophag.

Als Erster fand Felix die Stimme wieder. »Wow. Ist ja irre.«

»Felix, kneif mich mal!« Delia hüpfte aufgeregt auf der Stelle, angesichts der unzähigen Schätze, die um den großen Steinsarkophag herum angehäuft waren.

Grinsend zwickte Felix sie in den Oberarm.

»Au!« Delia rieb sich wehleidig den Arm. »Nicht so doll.«

Nina und Daniel dagegen strahlten sich nur an.

»Wir haben es geschafft«, sagte Daniel so leise, dass nur Nina es hören konnte.

Nina nickte. Beim Anblick der Schätze, die Tutanchamun hier für Amneris versteckt hatte, verschlug es ihr die Sprache. Sie stand im Liebesgrab! Zusammen mit Daniel, ihrem Freund. Wie gut alles passte.

Ein wenig verlegen wandte er sich ab. »Dieses Grabmal ist über dreitausend Jahre alt«, murmelte er ehrfürchtig.

»Wir sind wirklich im Grab von Tut und Amneris!«, bestätigte Nina. Sie war ein wenig nervös, als könne sie es noch gar nicht richtig glauben. War jetzt tatsächlich alles vorbei? »Endlich wird der Fluch ruhen. Tut und Amneris sind wieder zusammen!«

Ihr Blick fiel auf Daniel, der verliebt zurücklächelte.

Doch dann wurde er ernst. »Wir können nicht lange hierbleiben.«

Delia und Felix kümmerten sich nicht um die beiden anderen. Sie hatten sich bereits auf das Gold und die Juwelen gestürzt und hatten nur Augen für die Schätze.

»Dieser Tutanchamun muss Amneris wirklich sehr geliebt haben«, sagte Delia träumerisch und vergrub beide Hände in dem großen Berg Schmuck, der neben einer kaputten Vase aus Alabaster angehäuft war. Sie legte sich eine goldene Halskette um den Hals und benutzte einen Goldteller als Spiegel, um sich zu bewundern.

Felix fand die ganze Geschichte so aufregend, dass er zu rappen begann. »Yo, yo, yo! Felix is in da house. Wir befinden uns im crypt von Tut und seiner Schnecke Am-Ne-Riiiis!«

Delia kicherte und ahmte ihn nach. »Yo, Felix!«

»Yo, Delia!«

Daniel war davon ganz und gar nicht begeistert. »Leute! Wir dürfen uns nicht ablenken lassen.«

»Es ist Zeit, den Gral zurückzugeben«, fügte Nina hinzu.

Delia verzog schuldbewusst das Gesicht und legte den Halsschmuck wieder zu den anderen Juwelen. Dann hielt sie die Tasche auf, damit Nina den Gral herausnehmen konnte. »Wo ist denn das Medaillon?«, fragte sie plötzlich erstaunt.

»An einem sicheren Ort, wo Victor es niemals vermuten wird«, erwiderte Nina fest und hob den Gral hoch. Es wurde still. Nina sah sich ein wenig unschlüssig um. Irgendwo hier musste der Gral doch seinen Platz haben …

»Los, wir müssen den Platz finden, wo er hingehört«, erklärte Daniel.

»Klar«, grinste Felix. »Und wer ihn findet, kriegt diesen leckeren, weichen und warmen Schokoriegel!« Er hielt seinen Notproviant in die Höhe.

Aber nur Delia reagierte – und auch nicht so, wie Felix gehofft hatte: Sie rümpfte die Nase und wandte sich ab. »Ekelhaft!«

Nina ging derweil suchend an den Wänden entlang, auf denen noch die verblassten, altägyptischen Gemälde zu sehen waren. Irgendwo musste ein Hinweis sein, wo der Gral hingehörte ... Daniel, Delia und Felix folgten ihr langsam. Schließlich entdeckte Nina etwas. Ein kleines Sims, darüber ein Gemälde von Tutanchamun und einer Frau in einem weißen Gewand. Die Figuren schienen voneinander getrennt und irgendwie traurig. Vorsichtig fuhr sie mit der Hand über das Gemälde.

Delia verzog das Gesicht. »Pass auf, Nina! Das ist unheimlich!«

Nina runzelte die Stirn, entschied dann allerdings, dass nichts weiter dabei sei. Sie wischte Schmutz und Spinnweben von der Zeichnung. Nun waren Tutanchamun und Amneris deutlicher zu sehen.

»Das passt«, meinte Daniel. »Wir sind richtig.«

»Ja«, sagte Nina entschlossen. »Hier muss er hin.« Sie atmete durch und schaute ihre Freunde einen nach dem anderen an. »Der Augenblick der Wahrheit. Sibuna!«

Felix wirkte skeptisch. »Und du hast den Gral wirklich einfach so gefunden?«

»Ja«, antwortete Nina. »Ich wollte noch einmal zum Turm, um die Stelle zu sehen, an der alles passiert ist. Die Sache mit Raven, mit Mara und so. Da lag er einfach. Und deshalb können wir ihn auch jetzt zurückgeben.«

»Genau!« Delia war froh. Die unheimlichen Ereignisse, die sie in den letzten Monaten so in Atem gehalten hatten, würden schon bald ein Ende haben: die Aufgaben, die Amneris ihnen aufgetragen hatte; die Tatsache, dass Mara die Auserwählte gewesen war; die Entführung; Ravens Verrat ...

Doch nun war alles vorbei. Endlich konnten sie wieder wie normale Teenager in die Schule gehen! Und Delia war klar, dass Nina und Daniel auch so dachten.

Nur Felix schien ein wenig enttäuscht zu sein. Aber wer achtete schon auf den!

Alle nahmen sich gegenseitig an den Händen.

»Seid ihr bereit?«, fragte Nina.

»Ich schon!«, erwiderte Delia.

»Ich auch«, sagten Felix und Daniel.

Nina holte tief Luft. »Sarah wäre stolz auf uns.«

Damit stellte sie den Gral sorgfältig auf den Sims und rückte ihn noch einmal zurecht. Plötzlich schien das Bild von Tutanchamun und Amneris von innen zu leuchten. Für einen Augenblick wurde es so hell, dass die vier Sibunas blinzeln mussten. Als sie wieder hinsahen, hatten Tutanchamun und Amneris sich einander zugewandt.

»Juhuu!«, rief Delia begeistert. »Wir haben es geschafft!«

Nina war ein Stein vom Herzen gefallen. »Endlich ist der Fluch aufgehoben.«

Delia umarmte die Freundin. »Jetzt kann Mara und deiner Oma nichts mehr passieren! Lang lebe die Liebe!«

Daniel sah stolz zu Nina. »Lang lebe unsere Freundschaft! Sibuna!« Er legte die Hand vors Auge, die anderen folgten ihm.

»Sibuna!«, sagten sie im Chor.

Daniel hielt es nicht mehr aus. Er legte die Arme um Nina und küsste sie zärtlich.

Felix sah die beiden neidisch an. Wie schön wäre es, wenn auch ich und Delia ..., dachte er und nahm Delia in die Arme. Vielleicht war sie ja so begeistert, dass es ihr nichts ausmachte.

Aber er hatte Pech. Delia verzog das Gesicht und schubste ihn schnell weg. »Bloß nicht!«

Enttäuscht ließ Felix die Arme sinken und seufzte. Vielleicht ein anderes Mal! Er konnte nicht anders, als weiterzujubeln, er war ja selbst froh, dass nun alles gut ausgegangen war.

Doch schon im nächsten Moment erzitterte der Boden unter ihm und brachte die uralten Mauern des Grabmals ins Schwanken.

Die Eingangshalle war still wie ein Grab. Weiße Tücher bedeckten die Möbel.

Die Atmosphäre war beinahe gespenstisch. Den Bewohnern des Hauses Anubis jedenfalls hätte das sicher nicht gefallen. Die waren allerdings schon seit Wochen in den Ferien. Nur einer war hiergeblieben – und der fand diese Ruhe ausgesprochen angenehm.

Die Tür flog auf. Victor Rodemer, der Verwalter des Internats Haus Anubis, stürmte entrüstet ins Haus. Da hatte er endlich einmal ein paar Wochen die nervtötenden Gören vom Hals – und er musste das Chaos aufräumen, das der Gerichtsvollzieher vor den Ferien hinterlassen hatte! Was sich nicht verkaufen ließ, das hatte der Beamte vor die Tür packen lassen, damit der Sperrmüllwagen es mitnehmen konnte. Den Beamten hatte Victor inzwischen bezahlt. Den größten Teil der Sachen hatte er auch schon wieder ins Haus geholt, aber noch immer stand der ganze Flur voller Möbel, die von weißen Tüchern bedeckt waren und die an ihren Platz im Haus gebracht werden mussten.

Das Allerschlimmste jedoch war, dass dieser Unmensch selbst vor Victors geliebtem, ausgestopften Raben Corvuz nicht haltgemacht hatte.

Victor streichelte Corvuz über das struppig gewordene Gefieder. Und verzog gleich darauf angewidert das Gesicht: Eine halb verfaulte Bananenschale lag auf Corvuz’ Kopf.

»Wenn ich diesen Raven zu fassen kriege, kann ich für nichts mehr garantieren!«, knurrte Victor. »Aber der taucht wohl so bald nicht wieder auf … Mein armer gefiederter Freund. Wir waren so nah dran. Ich hatte den Gral in den Händen, und dann? Weg! Verschwunden.«

Victor sah sich mit finsterem Blick um. Da stand ihm ja eine schöne Aufräumarbeit bevor! In nur wenigen Tagen würden die Kinder aus den Ferien zurückkommen, und zu dem Zeitpunkt musste hier alles so aussehen wie zuvor. Was, wenn Herr S¸ahin oder Herr Seefeld erfuhren, dass ihre Kinder Kaya und Delia in einem Haus wohnten, das der Gerichtsvollzieher beinahe gepfändet hatte? Nicht auszudenken.

Dennoch, so anregend der Gedanke, für Ordnung zu sorgen auch war, Victor hätte sich viel lieber um Corvuz gekümmert als darum, die Möbel an ihren Platz zu schieben. Ärgerlich zog er an einem der weißen Laken. Es flog wie ein Geisterhemd auf den Boden. Victor warf der Standuhr, die sich darunter verborgen hatte, einen bösen Blick zu. Aber was war das? Der Uhrkasten stand offen! Und unter dem Pendel lag ein rotes Stückchen Samtstoff!

Victor bückte sich und holte es heraus. »Das kann doch nicht sein«, murmelte er. »Corvuz! Wenn es das ist, was ich denke!«

Der rote Samt war kein einfaches Stoffstück, sondern ein kleiner Beutel mit einem schweren Inhalt.

Hastig öffnete der Hausverwalter die schmalen Schlaufen des Säckchens und schüttete den Inhalt auf seine Handfläche. Das Amulett von Anubis!

Aber ... da war noch mehr. Vorsichtig steckte Victor die Finger in den Beutel und zog einen winzigen, rhombusförmigen Edelstein hervor.

Plötzlich wurde er in seiner Andacht gestört. »Victor! Victor, Victor! Hast du mich vermisst?«

Victor hatte das Amulett und den Edelstein kaum wieder in das Säckchen gesteckt, als Rosie, die Haushälterin und Köchin im Haus Anubis, ihm schon am Hals hing.

»Vermisst?«, brummelte er. »Ich wusste ja nicht einmal, dass du weg warst.«

Beleidigt ließ Rosie ihn los. Sie wühlte kurz in ihrer Tasche. »Ich war doch auf dem Workshop für Séancen und Geisterkontakt. Und rate, was ich da gelernt habe!«

Im nächsten Moment war Victor von einer Staubwolke eingehüllt. Und schlimmer noch: Sie roch ganz fürchterlich!

Er rümpfte die Nase und hustete. »Was ist das denn!?«

»Knoblauchstaub!«, entgegnete Rosie. »Darin können Geister in Erscheinung treten.

Ärgerlich klopfte Victor den Schmutz von seinem blauen Arbeitskittel. Dann klemmte er sich Corvuz unter den Arm und stopfte den Samtbeutel in seine Tasche. »Tritt du mal lieber in Erscheinung! Und zwar, indem du dich nützlich machst und hier aufräumst!« Er warf der Haushälterin einen bösen Blick zu und stapfte in sein Büro. »Ha! Geister. So ein Quatsch, Corvuz!«

Mit diesen Worten nahm er ein dickes Buch aus dem Regal. Es war in brüchiges Leder gebunden und angefüllt mit altmodischen Zeichnungen. »Nein. Hier nicht«, sagte er, nachdem er eine Weile darin geblättert hatte. Plötzlich deutete er auf die Zeichnung eines Edelsteins, der die Form eines Wassertropfens hatte. »Ah! Hier ist es.«

In diesem Moment platzte Rosie herein. »Victor, ich habe schlechte Neuigkeiten ...!«

Erschrocken klappte Victor das Buch zu. »Noch schlechter als die, dass du mich ständig belästigst?«

»Victor, es ist ernst! Als du die Treppe hinaufgingst, habe ich ein Zittern gespürt!« Rosie sah den Hausverwalter eindringlich an.

»Wenn dir kalt ist, mach die Heizung an!«

»Du verstehst das nicht! Du wirst von einem Geist verfolgt! Wenn man zittert, während man jemanden anschaut, wird derjenige von einem Geist verfolgt, das habe ich in meinem Workshop so gelernt!«

Victor schnaubte böse. Plötzlich kam ihm eine Idee. »Ist dieser Geist vielleicht ein Quälgeist?«

Rosie nickte eifrig. Die gelbe Blume in ihrem Haar wippte im Takt auf und ab. »Ja, das ist gut möglich!«

»Dann hab ich die Lösung!« Victor ging auf Rosie zu, packte sie an den Schultern, schob sie aus dem Büro hinaus und warf die Tür zu.

»Quälgeist draußen«, knurrte er zufrieden.

Seufzend setzte er sich hinter das Buch und schlug es erneut auf. »Ha, Corvuz! Hier ist es. Die Träne der Isis.« Er nahm den orangeroten Edelstein aus dem Säckchen und hielt ihn neben die Zeichnung. »Ja, das könnte schon sein«, murmelte er. »Was sagst du, Corvuz? So brauche ich den Gral nicht! Ich brauche nur die Träne von Isis, um mein Lebenselixier doch endlich fertig brauen zu können!«

Aufgeregt nahm er den Stein und stopfte sich Amulett und Säckchen in die Tasche. Danach schnappte er Corvuz und huschte in sein Kellerlabor. Glücklicherweise hatte Rosie sich in die Küche verzogen – dort gehörte sie schließlich auch hin!

In einem Erlenmeyerkolben, den Victor über den Bunsenbrenner geklemmt hatte, köchelte bereits eine grünliche Flüssigkeit.

Victor schaute andächtig auf den winzigen Edelstein in seiner Hand. Er atmete durch und ließ ihn durch den engen Hals des Kolbens in die Mixtur fallen. »Es ist so weit!«

Vorsichtig rührte er um und goss den Inhalt in ein kleines Likörglas. »Ewiges Leben!« Er prostete dem ausgestopften Raben zu und nahm einen kräftigen Schluck.

In diesem Moment erzitterte der Boden und brachte die Mauern des Hauses ins Schwanken. Die Laborgläser klirrten, und Victor ließ das Likörglas auf den Tisch fallen, um sich festzuhalten.

Aus dem Flur, war ein lautes Krachen zu hören. Etwas fiel zu Boden, und es erklang ein Splittern, als wäre gerade ein Glas zerbrochen.

2
Hinter den Spiegeln

Das Beben hörte so plötzlich auf, wie es begonnen hatte.

Besorgt rannte Victor zur Kellertür, denn von oben waren erschrockene Rufe zu hören.

»Mein Gott! Das Bild der Winnsbrügge-Westerlings!«, kreischte Rosie und klatschte aufgeregt die Hände zusammen. »Es ist heruntergefallen. Victor! Victor! … Wo ist er denn nur? Er wird einen stärkeren Haken dafür in die Wand bohren müssen!«

Victor schnaubte. Als ob er keine anderen Sorgen gehabt hätte! Das Bild der ehemaligen Hausbesitzer würde warten müssen, was war das schon im Vergleich zu der Tatsache, dass er das Geheimnis des ewigen Lebens entdeckt hatte!

Er huschte zurück an seinen Labortisch. Zum Glück war keines der kostbaren Geräte kaputtgegangen. Er hob das Likörglas auf und füllte es nach. Nur diesmal führte er es nicht sofort an die Lippen.

»Starkes Zeug«, murmelte er nachdenklich. »So gesehen ist das Beben ein gutes Zeichen, was meinst du, Corvuz? Aber vielleicht ist es schlauer, auf Nummer sicher zu gehen.« Er sah sich um, bis sein Blick an einem alten Fliegenfänger hängen blieb. Mit spitzen Fingern zupfte er eine Fliege ab und legte sie auf den Labortisch. Dann nahm er eine Pipette und beträufelte den kleinen Kadaver mit dem Lebenselixier. »Du hast die Ehre, mein geflügelter Vorkoster«, flüsterte er.

Aber nichts geschah. Die Fliege blieb reglos liegen.

Victor runzelte die Stirn. »Na los«, befahl er, zog eine Lupe hervor und betrachtete das Insekt genauer. Irgendwie schien es um die Fliege herum zu blitzen. »Komm schon, breite deine Flügel aus.«

Wieder geschah nichts. Nur das geheimnisvolle Wetterleuchten ging weiter. Ärgerlich schnappte sich Victor die Fliege und warf sie in die Luft. »Du hast gefälligst lebendig zu werden!«, knurrte er. Es musste doch funktionieren! Denn jetzt war er sicher, dass sich das Licht veränderte, heftiger blitzte. Das war sicher die Magie des Tranks!

Aber die Fliege tat ihm den Gefallen nicht. Stumm, tot und völlig leblos fiel sie auf den Labortisch. Stattdessen erwachte etwas anderes zum Leben. Gleißendes Licht durchflutete mit einem Mal den düsteren Keller.

»Victor!«

Victor erstarrte. Diese Stimme. Sie kam ihm irgendwie bekannt vor, auch wenn er sie Jahre oder gar Jahrzehnte nicht mehr gehört hatte. Erschrocken fuhr er herum. Das Licht kam unter dem Schrank in der Ecke hervor! Langsam schlich er sich näher. Was war da los? Und woher kam diese Stimme?

»Hallo ...?«, rief er, aber nichts rührte sich.

Hastig räumte er ein paar Kisten und einen großen Spiegel weg, die vor dem Schrank standen. Nichts!

Da atmet doch jemand, dachte er. War er das selbst?

Victor hielt die Luft an und lauschte. Nein, das war er nicht! Und das Licht kam auch nicht aus dem Schrank. Es kam aus dem Spiegel!

»Victor!« Erneut erklang die unheimliche Stimme.

Vorsichtig trat der Hausverwalter näher und legte das Ohr auf den Spiegel. »Hallo?«

»Victor!«

Wie vom Blitz getroffen zuckte Victor zurück.

»Va... Vater?«

Langsam bildete sich auf dem Spiegel ein Bild. Victor sah genauer hin. »Das kann nicht sein ...«

»Victor, jetzt sei mal ein Mann!«

»Vater? ... Wie bist du denn in den Spiegel gekommen?«

»Victor ... rette die Eeeh...«

»Was meinst du?«

Victor wurde unruhig. Das Licht wurde schwächer, das Bild im Spiegel blasser. »Vater? Vater!«

Victor streckte die Hand aus, als wolle er die Gestalt im Spiegel festhalten.

Aber das Licht war erloschen und damit auch das Bild seines Vaters. Victor war wieder allein und fragte sich, ob es je anders gewesen war.

Sand und kleine Mauerstücke fielen überall um Nina herum auf den Boden. Das Schwanken der Wände hatte so viel Staub aufgewirbelt, dass sie unwillkürlich husten musste. Und warum war es auf einmal so dunkel?

»Daniel?«

»Nina, bist du da?«

»Hilfe, ich will hier raus!« Das war Delia.

»Sind alle okay?«, fragte Daniel.

»Ich denke schon.« Nina war erleichtert. Das war Felix gewesen. Immerhin waren sie alle wohlauf!

Plötzlich ging eine Taschenlampe an, und man konnte wieder etwas sehen!

Nina seufzte erleichtert auf, erschrak aber im selben Moment. Sah sie auch so ängstlich aus wie die anderen? Erneut erzitterte die Erde, doch diesmal etwas schwächer als zuvor.

Delia schluchzte.

Schnell nahm Nina ihre beste Freundin in den Arm. So ging es ihr selbst auch besser.

»Los, wir müssen nach dem Ausgang suchen«, sagte Daniel mit fester Stimme. Er und Felix gingen zu der Stelle hinüber, wo sich bis vor wenigen Sekunden noch ein Spalt nach draußen befunden hatte. Er war verschwunden.

Delia heulte auf. »Wir kommen hier nie mehr raus, irgendwann wird dieses Grabmal entdeckt und dann finden sie unsere Skelette, genau wie im Film!«

Nina tätschelte ihrer Freundin den Rücken. Bildete sie sich das nur ein oder sah Felix wirklich aus, als würde er Delias Vorstellung spannend finden?

»Wir schaffen das schon!«, erklang Daniels beruhigende Stimme. Wie gut, dass er da war! Er vermittelte eine Ruhe, die Nina selbst so gar nicht spürte. Und obendrein begann es unter ihren Füßen plötzlich erneut zu beben! Sie kniff die Augen zusammen. Hoffentlich ist es gleich vorbei!, dachte sie.

Als sie es wagte, die Augen zu öffnen, sah sie einen schmalen Lichtspalt, der vor ihr aufgetaucht war. Hatten Felix und Daniel etwa den Eingang freilegen können? Aber der war doch vorher ganz woanders gewesen ... Voller Neugier ging sie auf das Licht zu. Es kam aus dem Sarkophag! Vorsichtig steckte sie den Kopf hinein.

»Nein, Nina, nicht!«, quiekte Delia ängstlich.

Nina war viel zu abgelenkt, um auf die Freundin zu hören. »Ich sehe etwas!«

»Ist da was Unheimliches drin? Bitte lass es kein fleischfressendes Monster sein!«

Behutsam kletterte Nina in die Öffnung. Sie musste einfach herausfinden, was in dem Sarkophag war.

»Eine Kiste!«, murmelte sie überrascht. Die sah eigentlich gar nicht so aus, als hätte man sie zu Ehren von Amneris vor Tausenden von Jahren hergestellt.

»Pass auf!«, wisperte Delia furchtsam.

Felix war beeindruckt. »Cooles Mädel«, meinte er anerkennend.

»Meine coole Freundin«, antwortete Daniel stolz, als Nina ein wenig linkisch aus dem Sarkophag kletterte.

Sie hielt eine hölzerne Kiste in den Händen und achtete darauf, nicht zu stolpern. Die drei Zurückgebliebenen staunten.

»Was da wohl drin ist?«, fragte Delia.

Nina wusste genau, dass sie an etwas Wertvolles dachte.

»Eine riesige fette Spinne, die auf Blondinen steht«, meinte Felix gehässig.

»Da ist das Horusauge drauf!«, lenkte Daniel ab. »Wir sollten nachsehen, was drin ist.«

»Nein, das ist bestimmt ein Geist!«, wisperte Delia. »Mein Gefühl sagt mir, der Fluch ist gerade vorbei! Das Ding sollte verschlossen bleiben.«

Nina holte Luft und öffnete vorsichtig den Deckel. Dann zog sie eine Art Kette heraus, an der vier Amulette hingen.

»Vier Horusaugen«, murmelte Daniel.

Delias Furcht wurde von ihrer Gier übertroffen. »Für jeden von uns eins!«

»Ist noch was drin?«, fragte Felix neugierig.

»Ein Brief mit Hieroglyphen.« Nina zog ihn hervor und reichte ihn Daniel.

Felix sah Daniel über die Schulter. »Was steht da?«

»Das kann ich ohne mein Buch nicht entziffern«, sagte Daniel und runzelte die Stirn.

»Und hier ist eine Art ... Karte«, sagte Nina.

Daniel ließ den Brief sinken und sah sich die Karte an. »Das hier sind Felder. Sieht wie ein Lageplan aus, ein Grundriss. Und hier sind Isis, Osiris, Horus und Anubis.«

Delia war inzwischen damit beschäftigt, die Kiste weiter auf Schätze zu untersuchen.

Nina griff hinein und holte ein Päckchen heraus. »Was da wohl drin ist?«

Felix schnitt eine Grimasse. »Vielleicht der große Zeh von Tut. Oder die Nase von Amneris! … Darf ich es aufmachen?«, fragte er aufgeregt.

Nina musste lächeln und reichte dem Freund das Paket.

Kaum hatte er begonnen, es auszupacken, wurde er von Daniel unterbrochen.

»Stopp!«

Nina, Felix und Delia zuckten zusammen.

»Da ist eine Abbildung von Seth«, erklärte Daniel. »Er ist der Totengott. Vielleicht sollten wir es erst zu Hause aufmachen.«

»Aber das wäre doch klasse, ein echter Mumienfuß!«, entgegnete Felix.

»Oder eine Kette mit goldenen Ohrringen!«, meinte Delia.

»Nein«, unterbrach Nina energisch. »Ich habe kein gutes Gefühl dabei. Wir lassen alles hier und nehmen nichts mit.«

Delia und Felix sahen enttäuscht aus, Daniel wirkte überrascht.

»Aber wieso? Du hast es doch selbst herausgeholt«, sagte Felix schließlich.

»Nein, alles muss hierbleiben.« Nina duldete keinen Widerspruch und packte alles sorgfältig in die kleine Kiste. »Sarah hat gesagt, dass der Fluch erst ruhen wird, wenn alles wieder im Grabmal ist. Anschauen ist erlaubt, aber mitnehmen dürfen wir es nicht!«

Delia schob die Unterlippe schmollend vor. »Aber Tut und Amneris sind doch wiedervereint.«

»Und das Päckchen ist vielleicht unsere Belohnung!«, fügte Daniel hinzu.

»Und was, wenn beides nicht der Fall ist?«, hielt Nina dagegen. »Ich will meine Oma nicht noch mal verlieren. Oder Mara! Das Zeichen ist doch schlecht, oder?« Sie wies auf den schwarzen Kopf von Seth.

Daniel nickte widerwillig. »Nina hat recht. Wir dürfen kein Risiko eingehen. Wir lassen alles hier. Einverstanden?«

Nina hatte den Eindruck, dass Felix alles andere als einverstanden war und lieber nachgesehen hätte, was in dem Päckchen steckte.

Aber schließlich nickte er auch.

»Sibuna!«, sagten beide gleichzeitig.

Nina legte das Paket zurück in die Kiste, schloss sie und verstaute sie sorgfältig im Sarkophag.

»Also los. Ab zum Eingang«, erklärte Daniel. Er ging voran und stemmte sich gleich als Erster gegen den Stein. Nina und Delia halfen, so gut sie konnten.

»Nancy Ninja!«, ächzte Delia und drückte aus Leibeskräften, aber die gewaltige Steinplatte rührte sich keinen Zentimeter. »Au!«

Daniel gab so schnell nicht auf. »Alle zusammen! Felix, hilf mal mit, sonst verpassen wir den Flieger und müssen nach Hause laufen!«

»Jaja«, tönte es aus der Dunkelheit. Es rumorte kurz, aber weder Nina noch Daniel oder Delia achteten auf das Gepolter. Sie waren zu sehr damit beschäftigt, die Steinplatte vom Eingang wegzuschieben. Doch wieder gelang es nicht, auch wenn Nina den Eindruck hatte, dass sich der Stein etwas bewegte.

»Felix, wo bist du denn?« Nun wurde Daniel ungeduldig.

In diesem Moment erschien Felix neben den anderen. Seinen Rucksack hatte er auf dem Rücken. »Super-Felix ist zur Stelle!«, sagte er, als würde er einen Befehl beantworten.

Nun schoben sie zu viert. Und diesmal gelang es! Die schwere Steinplatte ruckte erst langsam, dann immer schneller von der Wand fort, und schon bald war der Spalt groß genug, dass alle vier hindurchschlüpfen konnten.

Nina fiel dabei nicht auf, dass Felix das Grab nur zögernd verließ und seinen Rucksack ein wenig vor ihr und den anderen versteckte ...

3
Wieder Daheim

Victor schloss die Kellertür hinter sich ab. Die Gestalt im Spiegel hatte sich nicht mehr gezeigt, und auch von weiteren Experimenten mit dem Lebenselixier hatte er für den heutigen Tag genug.

Sorgfältig kontrollierte er das Schloss, denn im Wohnzimmer erschallten lustige und laute Stimmen. Nicht nur Rosie war aus ihren Ferien wiedergekommen, auch … Ja, das waren Luzy Schoppa und Charlotte Bachmann.

Victor seufzte. Vorbei war es mit der schönen Ruhe! Wenigstens hatte Rosie hier noch ordentlich aufgeräumt.

Gedankenverloren betrat Victor das Wohnzimmer. Doch kaum hatte er einen Fuß über die Schwelle gesetzt, spritzte Wasser in sein Gesicht. Und es roch nach Knoblauch!

»Bah!«, rief er entsetzt und wütend über das Gekicher, das nun ausbrach und wahrscheinlich von dieser frechen Göre Luzy Schoppa stammte.

Rosie kicherte vor Vergnügen. »Jetzt kann der Quälgeist dich nicht mehr riechen, Victor! Und du musst dich nicht einmal bedanken, denn ich habe bei dem Kurs gelernt, dass diese Arbeit keine Anerkennung bekommt!«

Wütend riss Victor der Haushälterin den Wassereimer aus der Hand. »Oh, ich möchte mich aber bedanken!«, knurrte er und goss der verdutzten Rosie den Inhalt über den Kopf.

Dann drehte er sich um und floh vor dem Gelächter. Das war ihm wirklich zu dumm! Nun musste er sich zu allem Überfluss auch noch waschen – und das mitten am Tag.

Missmutig schlurfte er ins Badezimmer und stellte sich vor den Spiegel, um sich mit einem kalten Waschlappen das Gesicht abzuwischen.

Ich sehe blass aus, bemerkte er, öffnete den Schrank, in dem sich die Medikamente befanden, und holte eine kleine Dose hervor.

»Beruhigungsmittel«, las er. Na, das hatte er auch dringend nötig. Er war so von seinem Lebenselixier besessen, dass er schon Gespenster sah – und noch dazu seinen längst verstorbenen Vater! Rosie hatte ihn mit ihrer Marotte angesteckt, kein Zweifel. »Chemische Wahnvorstellungen, nicht mehr und nicht weniger«, murmelte er. Er nahm ein paar Pillen ein und schüttelte den Kopf. »Vielleicht sollte ich mich etwas hinlegen.«

Damit ging er, ohne noch einmal auf den Spiegel zu sehen.

Was gut war, sonst hätte er gesehen, dass sein Spiegelbild nicht mit ihm verschwand, sondern blieb und die Augen aufschlug ...

»Nicht vergessen«, flüsterte Nina, als das Haus Anubis in Sicht kam. »Delia war in Thailand, ich mit meiner Oma im Schwarzwald, Felix auf Mallorca und Daniel in Südfrankreich!«

Delia schlug sich vor die Stirn. »Stimmt ja. Mein Hut!«

Nina verdrehte die Augen und schob Delia vor sich her. »Wir gehen zuerst. Ihr kommt nach, damit wir keinen Verdacht erregen!«, sagte sie zu den Jungs.

Daniel grinste. Erst als sein Blick auf Felix fiel, wurde er ernst. Sein Freund war immer noch ganz blass und verschwitzt! Und zwar, seit sie in Kairo ins Flugzeug gestiegen waren. Vielleicht hätte er sagen sollen, er sei in Norwegen gewesen und nicht zwei Wochen in der Sonne Mallorcas. »Ist dir immer noch schlecht vom Essen im Flugzeug?«

»Was? ... Ja, genau«, erwiderte Felix geistesabwesend.

Die Tür ging hinter Nina und Delia zu. Daniel atmete durch und sah auf die Uhr.

»Puh, das war knapp«, murmelte Nina und schloss die Badezimmertür fest hinter sich.

Gerade hatten sie ihr Gepäck aufs Zimmer bringen wollen, da waren sie auf Daniels Zimmergenossen Kaya getroffen. Natürlich hatte er wissen wollen, wo sie und Delia die Ferien verbracht hatten. Eigentlich eine ganz normale Frage – und eine, auf die sich die beiden Mädchen gut vorbereitet hatten. Und doch wäre die Ägyptenreise, die sie unbedingt geheim halten wollten, beinahe aufgeflogen!

»Dafür kann ich wirklich nichts!«, jammerte Delia. »Wer kann denn auch ahnen, dass Kaya mit seinem Vater ebenfalls auf Phuket war? Phuket! Ich weiß ja nicht mal, wo das liegt!«

Nina warf ihr einen mitleidigen Blick zu. Kaya hatte auch sie aus der Fassung gebracht. Denn er war wirklich auf Phuket gewesen – während Delia nur so hatte tun wollen, als sei sie dort gewesen. Er hatte Delia nach allen möglichen Dingen gefragt, die sie gar nicht hatte wissen können.

»Ärgere dich nicht«, sagte Nina beruhigend. »Du hast die Situation doch hervorragend gerettet!«

Delia ließ sich nicht aufheitern. »Ja, aber wie lange? Zum Glück kamen gerade Felix und Daniel herein und haben Victor mit ihrem Trick abgelenkt.«

Nina musste bei der Erinnerung an Felix’ Geschenk für Victor kichern. »Victor und Konfetti! Damit hat er bestimmt nicht gerechnet, als er sein Geschenk aufmachte.«

Nun musste auch Delia lachen. »Das tut ihm mal ganz gut, dem alten Miesepeter!« Aber im Handumdrehen war sie wieder ernst. »Niemand darf erfahren, dass ich gar nicht auf Phuket war … All inclusive!«, rief sie auf einmal so laut, dass Nina, die sich gerade das Gesicht abtrocknete, erschreckt zusammenzuckte.

»Wie bitte?«

Strahlend drehte Delia sich zu ihrer Freundin um. »Wir hatten einen Cluburlaub! Mein Vater und ich waren in einem ganz exklusiven All-inclusive-Familien-Urlaubsclub!«

»Ja!« Nina war begeistert über den Einfall. »Da hättest du Kaya gar nicht begegnen können!«

Delia grinste stolz. Doch erneut fiel ihr etwas ein, und das Lächeln auf ihrem Gesicht verschwand. »Was ist mit den Kreditkartenbelegen? Und dem Visum im Pass? Mein Vater hat gesagt, das soll ich alles für ihn aufheben.«

»Das kommt in unser Zimmer. In die Schrankschublade. Nein, besser unter deine Matratze«, überlegte Nina schnell.

»Hervorragend!«

»Jetzt musst du nur noch die Kette abnehmen, die du dir aus Ägypten mitgebracht hast, danach sind wir bereit«, sagte Nina.

Delia schob die Unterlippe vor. »Wie soll man denn dann sehen, wie gut sie zu meinem Kleid passt?«

Nina seufzte beinahe unhörbar auf. »Gibt es überhaupt noch jemanden, der nicht weiß, wie viel Geschmack du hast?« Nina nahm Delia am Arm und zog sie weg.

Beide sahen nicht, dass im Badezimmerspiegel ein Mann erschien und mit einem bösen Lächeln hinter ihnen hersah. Er sah fast aus wie Victor Rodemer, der Hausverwalter, nur hatte er dichtere Augenbrauen und einen Blick, der kälter und bösartiger war, als der von Victor es je hätte sein können.

Und er hatte alles gehört.

Felix konnte sich vor Neugier kaum noch beherrschen.

Nicht einmal sein Streich mit Victor hatte ihn wirklich ablenken können! Er wollte unbedingt wissen, was in der Kiste und in dem Päckchen war, das er aus dem Grab hatte mitgehen lassen.

Wieder fiel ihm Ninas Warnung ein. Nur nichts mitnehmen!, hatte sie gesagt.

Ein wenig schuldbewusst dachte Felix an den Fluch von Amneris, der nur ausgelöst worden war, weil sie den Gral geöffnet hatten.

Dabei hatten sie doch nur getan, was auf dem Gral geschrieben stand! Immerhin hatten Tutanchamun und Amneris sich nach Jahrtausenden der Trennung wiedergefunden, und das dank ihm, Nina, Daniel und Delia. Da hatten sie wohl ein wenig Anerkennung verdient, oder? Und genau aus diesem Grund hatte er die Kiste in einem unbeobachteten Moment mitgenommen. Es war doch klar, dass sie der Preis sein sollte für all die Mühen, die sie gehabt hatten!

Und den würde er nun in aller Ruhe auspacken.

Felix kontrollierte noch einmal, ob er die Zimmertür auch wirklich geschlossen hatte. Glücklicherweise war Magnus noch mit seinem Vater in Mexiko, also hatte er das Zimmer in der nächsten Zeit für sich.

Er setzte sich aufs Bett, holte langsam die kleine Kiste aus dem Rucksack und stellte sie neben sich. Vorsichtig wickelte er sie erst aus dem Pullover, den er darumgeschlungen hatte, damit sie im Flugzeug und auf dem Flughafen nicht beschädigt wurde, dann öffnete er sie langsam. Hoffentlich passierte auch nichts! Felix erinnerte sich an das Beben im Grab, das sie beinahe auf ewig eingesperrt hätte. Selbst hier, in seinem sicheren Zimmer konnte er das Schaudern, das die Erinnerung in ihm wachrief, nicht unterdrücken. Den anderen und besonders seinem Stolz zuliebe hatte er sich nichts anmerken lassen, aber für einen Moment hatte er sich genauso gefühlt wie Delia.

Schnell verdrängte er die Angst und wandte sich wieder der Kiste zu. Er zog die seltsame Kette mit den vier Amuletten hervor. Horusaugen waren es, hatte Daniel gesagt. Jedes hing an einem schwärzlich gefärbten Draht und war an die anderen geknüpft. Vorsichtig legte er sie mit dem Brief, den Nina entdeckt hatte und der voller Hieroglyphen war, neben sich. Eigentlich hätte er gern gewusst, was in der Nachricht stand, aber selbst der schlaue Daniel hatte die Zeichen nicht ohne sein Wörterbuch übersetzen können. Felix bedauerte, dass er niemals erfahren würde, was die Botschaft war.

Er setzte sich erneut auf, um das große Päckchen aus der Holzkiste zu holen.

Doch in diesem Moment kam jemand den Flur entlang.

Felix erschrak. Hastig sah er sich um und warf die Horusaugen und den Brief in die Holzkiste. Aber es war schon zu spät, um auch das Päckchen wieder hineinzustecken. »Nein! Bitte kurz warten!« Schnell warf Felix die Bettdecke über Kiste und Paket – und sich selbst gleich auf den verräterischen Hügel, der sich darunter abzeichnete.

Erst als sich die Tür öffnete und Daniel seinen Kopf hereinsteckte, fiel ihm ein, was für ein dummes Bild er gerade abgeben musste. Auf dem Bauch, auf einem Extrakissen!

Wie dämlich er wirklich aussah, war an Daniels Gesicht abzulesen. »Hast du mich gerufen? Sprichst du mit mir?«

Felix sah ihn mit großen Augen an. »Wolltest du nicht zu mir?«

»Nein, ich wollte eigentlich in die Küche. Dann hab ich dich rufen hören … Was machst du denn da?«

Felix überlegte fieberhaft. »Ich ... ich mache Schwimmübungen gegen meine Bauchschmerzen! Das heilende Bauchschwimmen. Ein ... ein altes Rezept aus dem Mittelalter!«

Daniel musste grinsen. »So was gibt’s?«

»Ja«, antwortete Felix und versuchte, entschlossen zu klingen. »Hilft gegen Übelkeit und Magenschmerzen. Man muss laut Schwimm, schwimm! rufen.« Er ruderte mit den Armen.

Daniel konnte kaum glauben, was Felix ihm erzählte.

Felix wusste genau, wie sein Freund fühlte, aber zugeben, dass er die Kiste hatte? Auf keinen Fall. »Schwimm, schwimm!«, sagte er noch einmal laut.

»Und? Hat es schon geholfen?«, fragte Daniel schließlich.

»Ich bin erst zwei Bahnen geschwommen«, winkte Felix ab und machte weiter. Hoffentlich verschwand Daniel bald wieder!

Und richtig, Daniel sah noch ein paar Augenblicke zu und ging kopfschüttelnd hinaus.

Gott sei Dank! Felix richtete sich auf und seufzte erleichtert. Er schlug die Bettdecke zurück und betrachtete noch einmal kurz seine Schätze. Dann packte er alles zusammen und schob die Kiste unters Bett.

Das Abendessen wartete, und Rosies Kartoffelsalat hätte er nicht einmal für diese Kiste verpassen wollen!

Alles war wie immer. Schwaches Kerzenlicht erhellte den Raum, es reichte, um sich gegenseitig zu erkennen – und die vielen Streichhölzer auf dem Boden, die Felix verbraucht hatte, um sie anzuzünden.

Nina genoss die sanfte Stimmung, die die kleinen Flammen verbreiteten. Selbst das aufdringliche Rosa von Delias Zimmerhälfte sah gar nicht mehr so grell aus. Und dass Daniel direkt neben ihr saß und ihre Hand hielt, machte ihre gute Laune perfekt.

»Wir sind wieder hier, und alles ist in Ordnung«, seufzte sie. »Wie schön!« Dabei sah sie Daniel an, der zärtlich zurücklächelte.

Delia nickte eifrig. »Und Kaya hat mich auch nichts mehr über Thailand gefragt. Der ist mit seinen Gedanken sicher schon beim nächsten Urlaub!«

»Also weiß niemand, wo wir wirklich waren. Das soll auch so bleiben!«, sagte Nina und warf Delia einen bedeutsamen Blick zu. Die Reisepapiere lagen nun sicher unter Delias Matratze. Dort würde sie niemand finden! Nicht einmal Daniel oder Felix hatten sie etwas davon erzählt.

Delia nickte unmerklich.

Nina lächelte kurz, wurde dann aber ernst. »Und deshalb möchte ich einen Vorschlag machen.«

Felix grinste. »Nichts mit Küssen! Dazu bin ich echt nicht in der Stimmung.«

»Wer würde dich schon küssen wollen!«, antwortete Delia schnippisch.

Doch Nina achtete nicht auf die beiden Streithähne.»Vielleicht ist es eine gute Idee, den Club aufzulösen.«

Stille breitete sich aus.

War wirklich alles vorbei? Natürlich, es hatte jede Menge Aufregung gegeben, sie hatten viele gefährliche, ja sogar lebensbedrohliche Situationen überstanden. Aber hatte es nicht auch Gelegenheiten gegeben, in denen sie gespürt hatten, was gute Freunde und eine richtige Freundschaft wert waren?

Und das aufgeben? Keiner war von der Idee so richtig begeistert. Im Grunde auch Nina nicht.

»Aber warum denn?«, platzte Felix nach einer kurzen Pause heraus.

»Das Geheimnis ist gelöst«, erwiderte Nina und sah sich um, als bräuchte sie eine Bestätigung ihres Vorschlags.

Delia nickte eifrig.

»Der Gral ist in Ägypten. Meiner Oma geht es besser.«

»Und Mara geht es auch wieder gut!«, fügte Delia hinzu.

Felix sah enttäuscht zu den Mädchen hinüber, ihm fielen allerdings keine Gegenargumente ein.

Auch Daniel war nicht sicher, was er von Ninas Idee halten sollte. »Ich weiß nicht so recht«, meinte er zögernd.

»Aber es ist doch alles gut! Es ist vorbei«, erklärte Nina.

»Machen wir keine Treffen mehr?«, fragte Felix.

»Woher weißt du, dass wirklich alles vorbei ist?«, wollte auch Daniel wissen.

»Ich fühle es!«, versicherte Nina.

»Keine Rätsel mehr lösen? Keine Hieroglyphen mehr entziffern? Und keine Geister mehr?« Felix war enttäuscht. Er überlegte, ob er etwas von der Kiste erzählen sollte. Nein! Besser nicht.

»Vielleicht hast du recht. Alles ist ruhig«, meinte Daniel zu Nina.

Aber Felix gab nicht auf. »Nie mehr Sibuna?«

»Es wird nur schlimmer, wenn wir es hinauszögern«, antwortete Nina. »Wir müssen schnell machen.«

»Wie bei einem Pflaster: ratsch!«, sagte Felix. Wenn die anderen es so wollten, würde er nicht weiter protestieren. Plötzlich fiel ihm wieder etwas ein. »Was ist mit Luzy?«

»Die gehört nur offiziell noch dazu«, gab Daniel zu bedenken.

»Und außerdem interessiert sie sich nicht mehr für uns. Ich glaube, ihr ist das egal«, bemerkte Delia.

»Okay«, sagte Daniel. »Dann sprecht mir nach. Hiermit erklären wir ...«

Die anderen wiederholten seine Worte: »Hiermit erklären wir, der Geheime Club der Alten Weide, dass wir bis in unser Grab über die Geheimnisse schweigen und unsere Kenntnisse nicht missbrauchen werden.«

Es wurde für einen Moment still, als alle fertig gesprochen hatten. Beklommen sahen sie sich an.

»Der Club ist hiermit aufgelöst und die geheime Verbindung zwischen uns unterbrochen«, fuhr Daniel fort.

Nina holte Luft, um ihrem Freund auch das nachzusprechen, aber kein Ton kam über ihre Lippen.

Denn plötzlich bauschte ein Windstoß die Gardinen auf und wehte sie weit ins Zimmer, direkt in Delias Gesicht. Sie quiekte laut. Noch bevor Felix ihr helfen konnte, sich von dem dünnen Tüll zu befreien, sprang die Tür auf und flog mit einem lauten Knall gegen die Wand. Der Wind war so heftig, dass sogar die Kerzen erloschen und Streichhölzer durch die Luft flogen.

Dann verebbte der Sturm genauso schnell, wie er begonnen hatte.

Geistesgegenwärtig stand Felix auf und schaltete das Licht an.

Im nächsten Moment schrie Delia auf.

Auch Nina erschrak. Ihr Blick folgte dem ausgestreckten Zeigefinger der Freundin.

Als hätte der Wind schreiben können, waren die Streichhölzchen in eine bestimmte Form gefallen und bildeten eine Botschaft, die jeder verstehen konnte: SOS.

4
Der Hilferuf

SOS.

Felix starrte sprachlos auf den Boden. So viel Zufall gab es gar nicht!

Hastig stand Daniel auf und schloss das Fenster, obwohl es längst nicht mehr stürmte. Aber man konnte ja nie wissen.

»Jemand bittet uns um Hilfe!«, sagte er und setzte sich zurück zu Nina. Seine Stimme klang unruhig und nicht so fest wie sonst.

Felix schluckte. Ob das mit ...?

»Aber wie kann das sein?«, unterbrach Nina seine Gedanken. »Wir haben doch alle Aufgaben gelöst! Und der Gral ist wieder in Ägypten!«

Delia runzelte die Stirn. »Was ist mit der Kiste?«

Felix erschrak. Hatte Delia vielleicht gesehen, dass er ...?

»Nein«, wehrte Daniel sofort ab. »Die Kiste ist sicher im Grabmal. Daran kann es nicht liegen!«

Hilfe suchend wandte sich Delia an Felix. »Was sagst du denn dazu? Und was ist eigentlich los mit dir? Warum bist du so still?«

»Ich?« Felix suchte fieberhaft nach einer Ausrede. »Nichts, alles in bester Ordnung. Ich hab mich nur erschreckt!«, stotterte er verunsichert.

»Du bist doch Horrorfan«, meinte Delia verwirrt. »Da erschrickt man nicht so einfach vor ein paar Streichhölzern …«

Felix nickte. »Ich finde, wir sollten jetzt ins Bett gehen und uns nichts dabei denken. Ich bin jedenfalls müde, morgen fängt die Schule wieder an!« Er täuschte ein Gähnen vor und streckte sich.

Die anderen sahen sich noch einmal unsicher an. Hatte Nina tatsächlich recht? War der Fluch gelöst? Und war es wirklich das Beste, die Sache auf sich beruhen zu lassen und schlafen zu gehen?

Irgendwie beschlich alle plötzlich das seltsame Gefühl, dass der Geheime Club der Alten Weide noch lange nicht aufgelöst war. Im Gegenteil: Es schien, als hätte eine fremde Kraft ihn zu neuem Leben erweckt.

In dieser Nacht schlief Felix so unruhig wie selten. Ständig träumte er von geheimnisvollen Kisten und Gräbern, die ihn in ihrer Finsternis einschlossen. Und am Morgen wurde er vor Müdigkeit kaum wach.

Erst als Rosie zum dritten Mal gegen die Tür klopfte, war er bereit, sich aus dem Bett zu wälzen und in seine Klamotten zu schlüpfen. Ein kurzer Blick auf die Uhr sagte ihm, dass er das Frühstück verpasst hatte. Es war an der Zeit, zur Schule zu gehen. Er war schon fast an seiner Zimmertür, als er sich noch einmal umdrehte.

Bevor er überlegen konnte, was er da tat, zog er die Holzkiste unter seinem Bett hervor und öffnete sie. Wieder einmal fiel sein Blick auf die geraubten Schätze. Was hatte er sich nur dabei gedacht, die Kiste aus dem Grab mitzunehmen? Und hatte der Sturmwind gestern Abend, der die Auflösung des Clubs unterbrochen hatte, wirklich etwas mit der Kiste zu tun?

»Felix! Was ist denn heute mit dir los? Aufstehen, du musst zur Schule!« Rosie ließ nicht locker.

»Ja, ja!«, antwortete er schnell, schloss die Holzkiste und schob sie zurück unters Bett. Da war sie vorerst sicher. Oder sollte er sie vielleicht in die Schule mitnehmen? Nein, dafür war sie zu groß. Plötzlich ging er sich selbst auf die Nerven. Er dachte wirklich nur noch an die Kiste und ihren Inhalt!

Entschlossen öffnete er die Tür. Halt, er hatte seine Tasche vergessen! Eines Tages würde er noch mal seinen Kopf zu Hause lassen!

Er nahm sich vor, für den Rest des Tages nicht mehr an diese verflixte Kiste zu denken.

Victor rieb sich die Augen.

Was war das nur für ein Getrampel hier im Haus! Ärgerlich sah er auf seine Armbanduhr. Diese Gören, nie können sie Ruhe geben, dachte er. Seine Augen weiteten sich. Oje, es war bereits halb acht Uhr morgens! Er war wohl über dem Arbeitstisch im Kellerlabor eingeschlafen. Und einen hässlichen Albtraum hatte er gehabt! Wie früher war er von seinem Vater bedroht worden. Victor hasste ihn dafür, obwohl er lange nicht mehr daran gedacht hatte. Umso schlechter war seine Laune nun, weil der Traum ihn daran erinnerte.

Er streckte sich mühsam und hörte, wie seine Rückenwirbel knackten. Er zuckte zusammen und warf Corvuz einen wehleidigen Blick zu.

»Nie wieder diese Beruhigungspillen!«, stöhnte er. »Die bringen nichts als Unheil, nicht wahr, Corvuz?«

Er stand auf und wollte nach oben gehen. Wenn er schon so schlecht geschlafen hatte, wollte er wenigstens einen ordentlichen Becher Kaffee!

»Victor!«

Der Hausverwalter wirbelte herum. Der Spiegel! Schon wieder! Beinahe ängstlich starrte er auf die gläserne Fläche. Das Spiegelbild des leeren Kellers verschwand langsam und machte einer Gestalt Platz, die Victor nur allzugut kannte.

»Vater ...?« Aber wie konnte das sein? Der war schon seit Jahren tot, er war doch selbst auf der Beerdigung gewesen!

Victor blinzelte, rieb sich die Augen und trat an den Spiegel heran.

»Vater, bist du das?«, fragte er beunruhigt.

»Komm näher!«, antwortete die Stimme im Flüsterton.

Mechanisch ging Victor noch einen Schritt auf den Spiegel zu und streckte die Hand aus. Vielleicht war das ja gar kein Spiegel. Oder es war Schmutz darauf und verzerrte sein eigenes Bild so sehr, dass ...

Als seine Fingerspitzen die glatte und kühle Glasfläche berührten, war er für eine Sekunde erleichtert. Es war zum Glück ein ganz normaler Spiegel.

Plötzlich blendete ihn ein Blitz. Er zuckte zurück, es war, als hätte ihn jemand geschlagen. Im nächsten Moment fand er sich in einem dunklen Zimmer wieder. Die einzige Lichtquelle war ein Fenster. Ein schmutziges Fenster, das auch nicht nach draußen wies, sondern in einen Kellerraum. Einen Kellerraum mit Laborgeräten und einem Tisch, auf dem ein Rabe stand. Ausgestopft.

Nun dämmerte Victor, wo er war. Er befand sich im Spiegel!

»Neeiin!«, schrie er laut und versuchte, die Scheibe beiseitezuschieben. Vergeblich. Dann sah er die Gestalt, die kurz davor im Spiegel gewesen war. Wie er trug sie einen blauen Arbeitskittel, nur mit einem gemusterten Tuch um den Hals. Und mit dichteren Augenbrauen, als er sie hatte.

Entsetzt hämmerte Victor gegen die verschmutzte Glasscheibe, die allerdings keinen Zentimeter nachgab.

»Vater! Nein, lass mich hier raus!«

Erneut schlug er gegen die Innenseite des Spiegels.

Aber niemand hörte ihn.

Victor Rodemer Senior klopfte sich den Staub vom Mantel und sah zurück zum Spiegel. Er hatte es tatsächlich geschafft, in die Freiheit zu gelangen!

Ist dieser Nichtsnutz wirklich mein Sohn?, dachte er. Hätte ich geahnt, was aus ihm werden würde … ich hätte schon viel früher andere Seiten aufgezogen …

Wie auch immer. Victor Senior konnte ein Grinsen nicht unterdrücken, als sein verdutzter Sohn nun von innen gegen den Spiegel klopfte. Ja, jetzt sieht der kleine Dummkopf, wie es sich anfühlt, wenn man eingesperrt ist und der Einzige, der etwas dagegen unternehmen kann, nichts, aber auch gar nichts begreift!

Sein Blick fiel auf den ausgestopften Raben, den Victor ständig mit sich herumschleppte. Höhnisch sah er noch einmal zu seinem Sohn, der immer noch bettelte, freigelassen zu werden, dann gab er dem muffigen Raben einen Schubs und beförderte ihn damit vom Tisch. Ja, er war nun frei und konnte endlich tun, was er wollte. Und nie wieder würde er sich so lange einsperren lassen, nie wieder!

Er überlegte kurz. Dass diese Kinder, die jetzt hier lebten und die er durch die Spiegel beobachtet hatte, etwas mit seiner Befreiung zu tun hatten, und nicht sein unfähiger Sohn, lag auf der Hand. Also erst einmal nach oben, hinaus aus diesem dumpfen Kellerloch.

Sorgfältig schloss er die Kellertür hinter sich ab. Das Geheimnis um den Spiegel sollte niemand entdecken!

In Victor Juniors – nein, seinem eigenen! – Büro machte er Zwischenstation. Wie unaufgeräumt es hier aussah!

»Was hat er nur aus meinem Büro gemacht!«, knurrte er. Überall diese grässlichen ausgestopften Tiere, die nichts weiter waren als Staub- und Schmutzfänger! Im Regal lauter Gläser mit in Alkohol und Formaldehyd eingelegten Tieren. Ein toter Schwan hing unter der Decke, ein ausgestopftes Frettchen stand neben dem Telefon auf dem Schreibtisch.

Missbilligend schüttelte Victor Senior den Kopf. »Ich habe es immer gewusst, wenn man der Unordnung und dem Schmutz keinen Einhalt gebietet, dann entsteht Chaos.«

Angewidert verließ er den Raum. Er musste das Zimmer dieser Delia finden. Sie hatte von einem Geheimnis und einem ägyptischen Grab gesprochen, also würde er dort sicher irgendwelche Hinweise finden.

Und tatsächlich, schon nach kurzer Zeit wurde er fündig. Nicht weit vom Badezimmer entfernt, wo er Delia und ihre Freundin Nina belauscht hatte, war auch ihr Zimmer. Schon beim ersten Blick, nachdem er die Tür geöffnet hatte, war ihm klar, dass er am richtigen Ort war. Eine Hälfte des Mädchenzimmers war komplett in Pinktönen gehalten. Auf dem Bett mit dem rosafarbenen Überwurf lag ein rosafarbenes Kleid. Das musste Delia gehören. Er wollte unbedingt wissen, wo sich dieses Modepüppchen in letzter Zeit aufgehalten hatte!

Schnell riss er Überwurf, Steppdecke und Kissen zurück, um die Matratze anheben zu können. Und tatsächlich, auf dem Lattenrost lag, wonach er suchte: Er hob einen Pass mitsamt Flugticket auf und betrachtete ihn genauer. Delia Seefeld hieß sie also. Aha, und das Flugticket war auf vier Leute ausgestellt. Die Kinder heutzutage haben viel zu viel Geld!, dachte er.

Dann fiel sein Blick auf einen aktuellen Eintrag. Hatten die Mädchen nicht gesagt, Delia sei in Thailand gewesen? Das lag doch in Asien! Und das hier waren eindeutig arabische Schriftzeichen!

Victor Senior betrachtete den Stempel genauer. Die Gören waren tatsächlich in Ägypten und wollen es geheim halten, dachte er und runzelte die Stirn.

Im selben Moment kamen Schritte den Flur entlang.

Erschrocken sah Victor Senior sich um. Der Schrank! Er riss hastig die Tür auf und versteckte sich zwischen den nach süßem Parfum duftenden Mädchenkleidern. Ihn schauderte. Wenn ich hier das Sagen hätte, ging es ihm durch den Kopf, würde ich als Erstes diese Gören aus dem Haus werfen!

Er lauschte. Die Schritte waren verklungen. Konnte er jetzt wieder …?

Plötzlich öffnete sich knarrend die Zimmertür. Sind diese widerlichen Kinder etwa nicht in der Schule!? Bestimmt schwänzen sie, wie das bei der Jugend von heute so üblich ist!

»Victor?«, erklang überraschend eine freundliche Stimme. »Du warst die ganze Nacht im Keller. Möchtest du nicht eine schöne Tasse Kaffee haben?«

Das war mit Sicherheit Rosie, diese lästige Haushälterin, von der sein Sohn des Öfteren sprach, kein Zweifel. Eine alberne Person, immer viel zu bunt angezogen und viel zu laut. Und natürlich mischte sie sich in ihrem Drang, sich um alles zu kümmern, in Dinge ein, die sie nichts angingen. Am liebsten wäre er ...

Aber da brummelte Rosie schon wieder vor sich hin. »Komisch. Ich dachte, er wäre hier drin. Wie man sich täuschen kann!«, sagte sie, verließ das Zimmer und schloss hinter sich die Tür.

Victor Senior schaute vorsichtig aus dem Schrank. Zum Glück, sie war weg!

Ärgerlich wischte er sich einen Kleiderärmel aus weißem Tüll mit rosa Schleifen aus dem Gesicht und schob ihn in den Schrank zurück. Der Blick auf das Kleid brachte ihn allerdings auf eine Idee.

Ja. So würde sich diese Delia in Zukunft zuverlässiger beobachten lassen!

Und dann fand er sicher auch heraus, warum diese Kinder, die im Haus eines Ägyptologen lebten, heimlich nach Ägypten gefahren waren ...!

»Und? Hast du es?« Die Stimme klang heiser und so, als hätte der Sprecher große Schwierigkeiten beim Atmen.

Beruhigend kümmerte sich der Helfer um die Gestalt, die verloren in den weißen Laken lag, und legte die Hand auf die heiße Stirn. »Ganz ruhig, alles wird gut.«

»Ich bin nicht ruhig!«, krächzte die Stimme wieder. Man hörte, wie viel Anstrengung das Sprechen kostete. »Hier geht es um das ewige Leben, verstehst du?«

»Ja, ich weiß. Niemand hat bisher mitbekommen, dass ich das Haus Anubis im Blick habe, keine Sorge.«

»Es geht um alles!«, stöhnte die Gestalt im Krankenbett. »Wenn du versagst, dann ist das nicht nur mein Ende, sondern auch deines!«

»So weit wird es nicht kommen.«

»Du musst an eines von den Kindern heran! Weißt du schon welches? Was ist mit Nina Martens?«

Beruhigend tätschelte der geheimnisvolle Helfer die Hand der kranken Gestalt. »Ich werde es genau vorbereiten.«

Die Atmung der kranken Gestalt wurde etwas gleichmäßiger. »Das ewige Leben. Ich muss es haben ...« Die letzten Worte waren kaum noch zu verstehen.

Der Mann, der den Kranken versorgte, nickte langsam. »Du kannst dich auf mich verlassen. Ich werde dich nicht im Stich lassen.«

5
Meine Sachen, deine Sachen

Da hämmerte etwas.

War das oben an der Kellertür oder in seinem Kopf? Victor zuckte zusammen und verschob die Beantwortung der Frage auf einen Zeitpunkt, an dem sein Kopf nicht mehr so furchtbar schmerzte wie im Moment!

Vorsichtig versuchte er zu blinzeln. War er wirklich in seinem Kellerlabor? Er rieb sich die Augen, aber da war keine angelaufene Glasscheibe mehr zwischen ihm und den Glaskolben und Bunsenbrennern auf dem Arbeitstisch. Und Corvuz war auf den Boden gefallen.

Mit einem Mal fiel Victor alles wieder ein. Sein eigener Vater hatte ihn hinter einen Spiegel gesperrt – und Corvuz misshandelt! Was für ein schrecklicher Traum. Das konnte nur der Stress sein, den er ständig mit diesen elenden Kindern hatte. Man konnte sich auf nichts mehr konzentrieren!

Er stand auf und ächzte. Der schreckliche Lärm, das Klopfen an der Tür, sie waren immer noch da, und irgendjemand rief schrill seinen Namen.

Nein, das war mit Sicherheit keine Einbildung, das war eindeutig Rosie. Hatte er denn keinen einzigen Moment Ruhe vor ihr?

»Victor! Victor! Nun sag endlich was! Ist alles in Ordnung mit dir? Victor!«

»Herr Rodemer!«

»Sind Sie da drin?«

Nun hämmerten sie schon zu dritt!

Vorsichtig hob er den zu Boden gefallenen Raben auf und untersuchte ihn sorgfältig. Das Gefieder schien etwas struppiger als sonst, aber Victor strich es glatt. Dann klemmte er sich den ausgestopften Vogel unter den Arm und marschierte die Treppe hinauf, um zornig die Tür aufzureißen. »Was soll denn dieser Lärm?«

Auch wenn sein Kopf noch so vor Schmerz pochte, hatte er wenigstens die Genugtuung, dass er in drei entsetzte und erschrockene Gesichter sehen durfte.

Rosie fand als Erste die Sprache wieder. Sie hatte gerade versucht, ihren Mopp als Rammbock zu benutzen, als er die Tür geöffnet hatte. »Aber Victor!«, sagte sie vorwurfsvoll.

Doch Luzy unterbrach sie. »Rosie sagte, Sie haben Kopfschmerzen!«

»Ja!«, knurrte Victor. »Die habe ich von eurem Geklopfe!«

»Aber Victor!«, sagte Rosie erneut und legte fürsorglich ihren Arm auf seinen. »Du erzählst mir jetzt, was los ist! Du warst oben in den Mädchenzimmern, und danach bist du plötzlich im Keller verschwunden. Und hast dich nicht mehr gerührt!«

Ärgerlich riss Victor sich los. »Lass mich einfach mal in Ruhe!«, schrie er, als auf der Mädchenetage ein grässlicher Schrei ertönte.

Es war Delia!

Luzy war die Erste, die in Delias Zimmer stürmte – und abrupt beim Anblick des unglaublichen Chaos stehen blieb.

»Was ist denn hier los?«, fragte sie irritiert, während auch Lotte und Rosie eintrafen.

Als Letzter schlurfte Victor herein, der Corvuz immer noch fest an sich gedrückt hatte und den Mädchen einen griesgrämigen Blick zuwarf.

»Was soll dieses hysterische Gekreische?«, fragte er ungeduldig, als würde er die Unordnung nicht sehen.

»Meine ganzen Sachen wurden gestohlen!«, jammerte Delia.

»Und was ist das?« Victor wies mit der freien Hand auf den bunten Berg Klamotten, der sich auf Delias Bett türmte.

Aus Delias Jammermiene wurde ein böses Stirnrunzeln. »Diese hässlichen Sachen?«

Entrüstet stemmte Luzy die Hände in die Hüfte. »Hässlich? Also, ich bitte dich, das sind meine Klamotten. Und überhaupt, was willst du denn mit meinen Sachen?«

»Pah!«, schnaubte Delia. »Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich diesen billigen Kram klauen würde!«

»Und wie kommen sie dann bitteschön hierher?«, fragte Luzy wütend. Wollte Delia sie vor all den andern auf den Arm nehmen?

Delia zuckte mit den Achseln.

Plötzlich kam ihr und Luzy mit einem Schlag die gleiche Idee: Victor.

»Und warum seht ihr mich jetzt so an?«, fragte der Hausverwalter entnervt, als er die Blicke der Mädchen auf sich spürte.

Luzy war entsetzt. Sie packte Lotte am Arm und zog sie in ihr eigenes Zimmer. Sie hörte kaum, wie Rosie hinter ihr Victor zur Rede stellte. Es war ja nichts Neues, dass er die Zimmer durchwühlte. Dass er dabei allerdings ein derartiges Chaos anrichtete, war noch nie vorgekommen. Und richtig, als sie und Lotte in ihrem Zimmer ankamen, fand Luzy auf ihrem Bett ebenfalls einen großen Berg Klamotten vor. Über allem lag eine Decke mit einem afrikanischem Muster. Und die gehörte eindeutig nicht ihr!

»Ist das ein schlechter Scherz?«, rief Luzy zornig und wusste selbst nicht, wem sie diese Frage stellte.

»Sind das deine Sachen?«, wollte Victor wissen und schaute drohend zu Delia, die verzweifelt auf den Kleiderberg sah und den Kopf schüttelte.

»Das sind Maras Sachen«, erklärte Lotte.

Nun hatte Luzy genug. Sie wollte endlich wissen, was los war! »Herr Rodemer, was soll das?« Sie sah den Hausverwalter direkt an. War er wirklich ein wenig unsicher oder schien ihr das nur so? Da war auch ein unmerkliches Zögern, bevor er antwortete.

»Das ist eine neue Zimmereinteilung«, verkündete er.

Luzy konnte es kaum fassen. »Kommt gar nicht infrage! Ich bleib bei Lotte im Zimmer!«

»Nichts da«, bestimmte Victor. »So ist es eben. Gewöhnt euch einfach daran.«

»Und … äh … wo bitteschön sind eigentlich meine Sachen?«, wollte Delia wissen. Sie klang, als würde sie gleich losheulen.

Victor antwortete nicht sofort.

Es war Luzy, die die richtigen Schlussfolgerungen zog. »Aber wenn meine Sachen bei Nina … und Maras Sachen hier sind, dann ...«

Delias Augen weiteten sich panisch. »... dann muss ich auf den Dachboden!?«, schluchzte sie auf. »Oh nein, bitte nicht, das überlebe ich nicht!«

Rosie kam herbeigeeilt und nahm sie tröstend in den Arm.

»Victor, wieso reißt du die Mädchen auseinander?«, fragte sie vorwurfsvoll.

Doch Victor ließ sich nicht erweichen. »Ihr könnt flehen, so viel ihr wollt!«, knurrte er. »Aber mein Wille ist Gesetz in diesem Haus! Ich bin hier der Boss. Und nun lasst mich in Ruhe!« Damit drehte er sich um und wollte gehen.

»Nein«, schrie Luzy. Sie wollte das einfach nicht akzeptieren!

»Victor, geht es dir wirklich gut?«, fragte Rosie besorgt hinter ihm her. Aber auch sie bekam keine Antwort.

Rosie seufzte. »Na, kommt erst mal mit nach unten. Ich mache euch Pfannkuchen zum Abendbrot, danach sieht die Welt schon ganz anders aus!«

Sie strich Delia tröstend über die Wange und huschte hinunter in die Küche.

Luzy, Lotte und Delia folgten ihr langsam.

»Ich weiß wirklich nicht, was das soll!«, heulte Delia niedergeschlagen. »Womit hab ich eigentlich verdient, auf den Dachboden zu kommen?«

Luzy blieb am Fuß der Treppe stehen und fuhr zu Delia herum. »Das weißt du ganz genau!«, zischte sie. »Victor hat alles durchschaut, und deshalb reißt er uns auseinander. Wärt ihr doch nur vorsichtiger gewesen!«

»Sorry mal grade!«, protestierte Delia. »Ich bin ja wohl viel schlechter dran als ihr!«

»Wieso?«, entgegnete Luzy.

Plötzlich fuhren die beiden Streithähne auseinander. Denn in diesem Moment waren Mara, Nina und Daniel hereingekommen.

»Victor hat die Zimmer getauscht!«, stieß Luzy wütend hervor.

»Und ich muss auf dem unheimlichen Dachboden schlafen!«, heulte Delia.

»Aber ich habe doch gar nichts dagegen, weiter auf dem Dachboden zu schlafen«, sagte Mara verständnislos.

»Ich schon!«, heulte Delia. »Nur Victor interessiert das überhaupt nicht. Und jetzt schläfst du bei Lotte und Luzy bei Nina. Und ich allein!«

»Und wer daran schuld ist, könnt ihr euch wohl denken!«, motzte Luzy. Delias Mitleidstour ging ihr auf die Nerven. »Das ist einfach nur gemein!«

»Wir finden das mindestens genauso gemein!«, sagte Delia. »Als ob du nichts damit zu tun hättest!«

»Davon hab ich in letzter Zeit aber wenig gemerkt!«, konterte Luzy. So weit kam es noch. Sie hatte mit den neuerlichen Geheimnistuereien des Clubs wohl kaum etwas zu tun!

»Luzy, sie können doch nichts dafür!«, versuchte Lotte zu beschwichtigen. »Das ist einfach eine total bescheuerte Victor-Aktion.«

Luzy hörte gar nicht zu, sie kam nun erst richtig in Fahrt. »Warum tut ihr alle so unschuldig? Ihr wisst genau, wovon ich spreche!«

»Hui, das ist ja eine Bombenstimmung hier!«, witzelte Felix, der gerade hereingestürmt kam.

Luzy schnitt ihm eine Grimasse. Felix mit seinen Sprüchen hatte ihr gerade noch gefehlt! Sie holte tief Luft, um etwas zu sagen.

»Luzy, aus!«, fiel Lotte ihr plötzlich ins Wort.

Luzy fuhr herum, aber Lotte sah sie streng an.

»Ja!«, meinte Felix begeistert. »Luzy, sitz!«

Luzy streckte ihm die Zunge heraus und verschränkte die Arme. »Ich bin ja mal neugierig, wie dein Zimmer aussieht!«, meinte sie giftig.

Das saß. Es war kaum zu fassen, wie schnell Felix von der Bildfläche verschwand. War sein Zimmer vielleicht auch durchsucht?

Daniel schloss sich ihm an.

Luzy war so böse, dass sie den beiden beinahe wünschte, Victor hätte auch ihr Zimmer verwüstet und getauscht. Aber die Schadenfreude hielt nicht lange an, denn nun beschimpfte jeder jeden, jeder beklagte sich über alles, und ein schrecklicher Lärm entstand.

»Moment!«, schrie Delia plötzlich. Schlagartig waren alle still. »Ich habe eine Idee. Ein Anruf, und alles ist, wie es war!«

Überrascht starrten alle Delia hinterher, die die Treppe hinauf in Victors Büro rannte ...

Hervorragend! Victor war nicht in seinem Büro.

Hastig schloss Delia hinter sich die Tür und drehte an der Wählscheibe des altmodischen Telefonapparats. Eine Nummer, die sie auswendig kannte. Sie war stolz auf sich und ihren guten Einfall! Bald würde wieder alles beim Alten sein, und sie würde nicht auf dem unheimlichen Dachboden schlafen müssen! Schon der Gedanke jagte ihr einen Schauder nach dem anderen den Rücken hinunter.

Als sie die Stimme ihres Vaters hörte, leuchtete ihr Gesicht auf. »Hallo, Papi! Ich hab dich so vermisst! ... Ja, du musst mir unbedingt helfen. Victor dreht völlig am Rad! Er hat alle Zimmer durcheinandergebracht, und stell dir vor: Nina und ich ...«

Delia hielt einen Moment inne. Warum klang ihr Vater eigentlich so streng und wollte ausgerechnet jetzt wissen, was sie in Ägypten zu suchen hatte!

Das Lächeln verschwand von ihrem Gesicht. Sie hatte doch ein ganz anderes Problem!

»Aber woher weißt du das?« Sie war entrüstet.

Ihr Vater war allerdings noch lange nicht fertig.

Fassungslos lauschte Delia der Strafpredigt, die er vom Stapel ließ: »Victor war so freundlich, mich darüber in Kenntnis zu setzen, was du so treibst. Ich habe dich ein bisschen verantwortungsbewusster eingeschätzt, Delia. Ich habe dich nicht auf ein Internat geschickt, damit du mein Geld ausgibst. Und Victor bin ich sehr dankbar, dass er Maßnahmen ergreift, denn offensichtlich brauchst du die noch. Du wirst deine Reisekosten bis auf den letzten Cent zurückbezahlen. Und das Taschengeld für das nächste halbe Jahr kannst du komplett vergessen.«

Delia wollte ihren Ohren nicht trauen. Sechs Monate kein Taschengeld?

»Nein, Papi, das kannst du mir nicht antun!«, schluchzte sie.«

Aber ihr Vater hatte genug gehört. »Und ob ich das kann. Ich muss los, Delia. Ich habe einen wichtigen Termin.« Es klackte im Hörer.

Entsetzt starrte Delia auf den Hörer, aus dem nun das Freizeichen ertönte. Ihr Vater hatte aufgelegt! Er war stinksauer.

Delia kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er es ernst meinte und tun würde, was er ihr angedroht hatte. Und dabei war sie noch nicht einmal so weit gekommen, ihm zu erklären, dass Victor sie von Nina fortreißen und allein in die Dachkammer stecken wollte.

Zögernd legte sie den Hörer auf die Gabel. Sie überlegte kurz, ob sie ihren Vater noch einmal anrufen und ihm alles erklären sollte. Aber vielleicht war es besser, bis zum Abend zu warten, wenn er aus seinen Sitzungen wieder nach Hause gekommen war. Bis dahin hatte er bestimmt schon etwas über die Sache nachgedacht und war zu der Einsicht gekommen, dass er seine einzige Tochter nicht so hart bestrafen konnte!

In diesem Moment ging die Tür auf.

»Was machst du in meinem Büro?« Victors Stimme klang zornig.

Delia schwieg und warf noch einen letzten Blick aufs Telefon. Dann würde sie es eben heute Abend noch einmal zu Hause versuchen! Mit hoch erhobenem Kopf ging sie an Victor vorbei, ohne ihn und den widerlichen ausgestopften Raben, den er immer noch im Arm hatte, eines Blickes zu würdigen.

Die Kiste!

Felix war nach Luzys Ansage sofort in sein Zimmer gestürzt. Eilig kniete er sich nun vor sein Bett und schlug die Tagesdecke hoch.

Ihm fiel ein Stein von Herzen. Da war sie! Und scheinbar ganz unberührt – wie er sie zurückgelassen hatte. Er zog die Kiste hervor, stellte sie auf dem Bett ab und überlegte, ob er sie öffnen sollte. Die kostbaren Horusaugen, den Brief, die Karte. Und das in Pergament gewickelte Päckchen mit dem Zeichen des Todesgottes Seth. Sollte er das wirklich alles auspacken?

Noch während er überlegte, klopfte es an der Tür. Er hatte gerade noch Zeit, den Deckel der Kiste zuzuschlagen und die Tagesdecke darüberzuwerfen.

Daniel streckte seinen Kopf zur Tür herein. »Ist bei euch alles okay?«, fragte er.

»Ja, ja, alles bestens. Und bei dir und Kaya?«

Daniel verdrehte die Augen. »Victor war nur oben bei den Mädchen. Wir haben echt Glück gehabt.«

Felix schloss für einen Moment die Augen. »Das kannst du laut sagen!« Da war der Kelch gerade noch einmal an ihm vorübergegangen!

»Wir können uns nicht mehr in Ninas Zimmer treffen«, sagte Daniel.

Felix nickte heftig. Er fühlte sich überhaupt nicht wohl dabei, etwas vor Daniel und den anderen Sibunas zu verheimlichen – und auch noch etwas so Wichtiges, dass sogar die Zimmer der Mädchen durchwühlt worden waren. Felix hatte ein schlechtes Gewissen. Er war wohl wirklich an allem schuld. Wenn er die Kiste nicht mitgenommen hätte ...

»Heute Abend Clubversammlung bei dir?«, unterbrach Daniel seine Gedanken.

Felix nickte erneut. »Okay. Super-Felix besorgt schon mal die Süßigkeiten!«

Daniel musste grinsen und verschwand.

Felix wartete ab, bis die Tür endgültig ins Schloss gefallen war, dann schlug er die Decke zurück und nahm sich die Kiste noch einmal vor. Er starrte die Kette mit den Horusaugen, die Papiere und das Paket nachdenklich an.

Schließlich fasste er einen Entschluss.

Später, bei der Clubversammlung, würde er seinen Freunden gestehen, dass er die Kiste mitgenommen hatte, obwohl abgesprochen war, sie im Grab der Amneris zu belassen.

Entschlossen schob Felix die Kiste unter das Bett und fühlte sich gleich viel besser.

6
Sarahs Bitte

»Sechs Monate lang kein Taschengeld!«, jammerte Delia im Kreis der Sibunas. Alle vier hatten sich bei Kerzenlicht in Felix’ Zimmer versammelt.

Delia war untröstlich, sie saß in einem Meer von zusammengeknüllten Taschentüchern. Seit dem Nachmittag hatte sie nicht mehr aufgehört zu weinen, und Felix erwischte sich bei dem Gedanken, sie in den Arm nehmen zu wollen, um sie zu trösten. Er konnte nur hoffen, dass Nina und Daniel ihm diesen Wunsch nicht von den Augen ablasen! Das wäre ganz schön peinlich gewesen!

»Stellt euch vor: sechs Monate!« Delia schluchzte pausenlos und schnaubte laut in ihr Taschentuch.

Gerne hätte Felix ihr die Hand gereicht, aber er traute sich nicht und gab ihr stattdessen ein neues Taschentuch.

»Ich will nicht auf den Dachboden!«, wimmerte Delia. »Da gibt es Geister!«

Nina tätschelte der Freundin die Schulter. »Nein! Die sind nicht mehr da«, meinte sie tröstend. Doch es half nichts.

»Trotzdem!«, heulte Delia in ihr Tuch, knüllte es zusammen und warf es achtlos auf den stetig wachsenden Berg von weißen Knäueln.

Felix zupfte ein weiteres Tuch aus der Box und hielt es ihr hin.

»Was hat das Leben denn jetzt noch für einen Sinn?«, schnüffelte Delia herzerweichend. »Ich bin ein armer Schlucker und muss in der Pause um mein Brot betteln!« Dieser furchtbare Gedanke gab ihr den Rest und ließ sie erneut aufschluchzen.

Nina seufzte und wandte sich an Daniel. »Wenn Victor Delias Vater informiert hat, was weiß er dann noch?«, fragte sie besorgt.

Felix schluckte und vergaß Delia für einen Moment. Vielleicht bedeutete die Tatsache, dass der Hausverwalter die Zimmer der Jungen noch nicht durchsucht hatte, nur einen Aufschub. Die Kiste war auf keinen Fall sicher!

Er warf einen verstohlenen Blick unter sein Bett und erschrak. Jeder konnte das Ding sehen! Rasch zog er seine Tagesdecke ein Stück tiefer, damit sie verdeckt war.

Aber auch Daniel schien beunruhigt. »Du meinst, außer der Tatsache, dass wir in Ägypten waren?«

»Er kann überhaupt nicht wissen, was wir da gemacht haben, oder?«, fragte Nina.

Ratlos zuckte Daniel mit den Achseln.

»Wir müssen vorsichtig sein!«, gab Nina zu bedenken.

Felix schnaubte. »Da sagst du was!« Er nahm sich vor, seine Kiste noch besser im Auge zu behalten.

»Victor führt irgendetwas im Schilde!«, überlegte Nina weiter.

»Warum nur haben wir die Kiste nicht mitgenommen!«, ärgerte sich Daniel. »Dann könnte ich die Hieroglyphen auf dem Brief entziffern! Und was war das überhaupt für eine Karte?«

Resigniert schüttelte Nina den Kopf. »Das finden wir niemals heraus.«

Das war das Stichwort. Und der passende Moment, um den Freunden zu beichten, dass er die Kiste mitgenommen hatte, obwohl Nina dagegen gewesen war!

Felix holte einmal tief Luft, danach begann er zu erzählen. »Leute«, sagte er mit erstickter Stimme. »Ich glaube, ich muss euch was sagen ...«

Aber Delia fiel ihm ins Wort. »O Gott!«, schrie sie plötzlich auf, als sei ihr ein neuer, fürchterlicher Gedanke gekommen. »Ich muss in Zukunft Secondhandklamotten tragen! Ich werde ein Penner, und niemand wird sich mehr nach mir umdrehen!« Sie weinte lauter denn je und schnaubte einmal mehr kräftig in ihr Taschentuch.

Nina nahm sie in die Arme und murmelte ihr tröstende Worte ins Ohr.

Sogar Daniel hatte ein wenig Mitleid.

Nur Felix wäre ihr in diesem Moment am liebsten an den Hals gesprungen.

Nina verkroch sich trübsinnig unter ihrer Decke.

Das war eine Clubsitzung gewesen, die sie so ratlos verlassen hatte, wie sie hineingegangen war. Sie hatte so sehr gehofft, dass alles vorbei war! Wozu waren sie eigentlich nach Ägypten gefahren? Für umsonst? Immer noch hatten sie Victor gegen sich, immer noch geschahen seltsame Dinge im Haus. Das konnte doch alles nicht sein!

Ständig überlegte sie, was sie falsch gemacht hatten. Sie setzte sich auf und schaute zu Delias Bett.

Was war denn das? Wo war das weiße Netz? Und warum war Delias Bettbezug auf einmal schwarz-rot?

Dann fiel es ihr wieder ein. Ab heute schlief Luzy ja bei ihr – und Delia auf dem Dachboden.

Nina seufzte und kroch zurück unter ihre Decke. Luzy gehörte zwar offiziell noch zum Club, aber sie hatte selbst gesagt, es sei besser, sie nicht mehr ins Vertrauen zu ziehen. Zu groß war die Gefahr, dass sie sich bei ihrer besten Freundin Charlotte verplapperte. Und die war alles andere als dumm, hatte schnell eins und eins zusammengezählt.

Das war Nina bewusst. Ihre Gedanken wirbelten durcheinander. Was sollte sie tun? Beinahe wünschte sie …

»Nina«, unterbrach jemand ihre Überlegungen.

Nina erschrak bis ins Mark. Die Stimme war zittrig und hallte wie in einem riesigen Kirchenschiff. Sie hielt sich die Ohren zu.

»Nina!«

Sie wagte kaum, die Decke zurückzuschlagen.

»Nina! Lass mich nicht allein! Bitte!«

Mit weit aufgerissenen Augen starrte Nina in die Dunkelheit. Da, an der Tür, da war doch ein Schatten. Und Delia hatte sich beschwert, es wäre so unheimlich auf dem Dachboden!

»Nina! Ich brauche dich mehr denn je!«

»Sarah?« Nina sah genauer hin.

Da stand tatsächlich Sarah Winnsbrügge-Westerling! In einem geisterhaften Nachtgewand!

»Sarah, bist du das?«

»Nina ... du musst mir helfen! Es ist noch lange nicht vorbei!«

Nina schlug die Decke zurück und tapste barfuß zu Sarah. Die blasse Geistergestalt wich nicht zurück. Seltsam starr sah sie aus.

Nina schauderte. Ihr war kalt. Das Gespenst hob einen Finger und winkte damit, als wolle es Nina damit noch näher heranlocken.

Aber Nina blieb steif stehen. Was wollte Sarah nur von ihr? Hastig wandte sie sich um und sprang wieder in ihr Bett.

»Nina ...«

Jetzt war die Stimme des Gespenstes nur noch wie aus weiter Ferne zu hören. Ein eisiger Windhauch strich über Nina hinweg wie Spinnweben ... oder war das der Geist?

Sie rang nach Luft und stellte fest, dass sie aufrecht im Bett saß.

»Nina? Was ist denn los?« Das war Luzy, die aufgewacht war und die kleine Lampe an ihrem Bett anknipste. Plötzlich erhellte orangefarbenes Licht das Zimmer.

Und Sarahs Geist war verschwunden.

»Hast du schlecht geträumt?«

»Hast du ... hast du das gehört?«

»Du hast geschrien«, erklärte Luzy ein wenig ungeduldig. »Passiert dir das öfter?«

Nina schluckte. Auf einmal erschien ihr der Gedanke, dass Sarah ihr im Traum erschienen sein sollte, ziemlich albern. Sie war doch nicht Delia!

Nina atmete tief durch.

»Na, dann gute Nacht!«, knurrte Luzy, löschte das Licht und drehte sich demonstrativ auf die andere Seite.

Nina starrte noch lange in die Dunkelheit.

»He, Nina, was ist los?« Daniel legte seiner Freundin fürsorglich ein halbes Brötchen mit Erdnussbutter auf den Teller. So still und geistesabwesend kannte er sie überhaupt nicht!

»Das kann auch nur ein Junge fragen«, lästerte Delia. »Schon mal dran gedacht, dass man einfach nur müde ist?«

»Na«, gab Daniel zurück. »Du hast ja wohl auch nicht so toll geschlafen, oder?«

Delia zog eine Grimasse und sah zu Nina, die immer noch Löcher in die Luft starrte.

»Nina? Was ist los?«, fragte sie jetzt auch.

Nina schien die Antwort schwerzufallen. Sie schob das Brötchen, das Daniel so liebevoll für sie zubereitet hatte, auf dem Teller hin und her. »Ich hatte einen Albtraum«, sagte sie schließlich halblaut. Dabei sah sie Felix, Nina und Daniel schuldbewusst an.

»Von mir?«, fragte Felix.

Delia rümpfte die Nase. »Wieso von dir?«

Felix strich mit gespieltem Selbstbewusstsein seine dunklen Locken zurück. »Na, Super-Felix kann ganz schön gruselig sein.«

»Pah«, schnaubte Delia. »Felix ist nicht gruselig, sondern bekloppt!«

Nina achtete nicht auf das Geplänkel der beiden. »Ich hab von Sarah geträumt. Sie sagte, es sei noch nicht vorbei! Sie schrie um Hilfe!«

Daniel sah sie mit offenem Mund an. »Das Streichholz-SOS!«

Delia verzog das Gesicht. »Es fängt doch hoffentlich nicht wieder an zu spuken, oder?«

»Keine Ahnung. Aber ich versteh es auch nicht«, sagte Nina. »Es war eigentlich alles vorbei!«

Daniel nickte. »Das war es auch. Wir haben alle Aufgaben gelöst! Aber vielleicht haben wir etwas falsch gemacht?«

Nina sah ihn ratlos an. »Vielleicht.«

Felix wurde blass. Schuldbewusst zerrte er am Kragen seines T-Shirts.

Daniel staunte. Was war denn mit seinem Freund los?

Delia runzelte die Stirn. »Alles gut bei dir?«

Er nickte hastig. »Mir ist nur warm.« Hastig begann er, sich mit einer Brotscheibe Kühlung zuzufächeln.

In diesem Moment kamen die anderen Hausbewohner herein. Daniel bemerkte gar nicht, dass Felix aufstand und schnell verschwand.

Für Felix war es der längste Schultag seines Lebens. Nicht nur, weil er sein schlechtes Gewissen bezüglich der Kiste kaum beruhigen konnte. Es standen auch die langweiligsten Fächer aller Zeiten auf dem Stundenplan: Physik, Deutsch und Geschichte! Mit ellenlangen Vorträgen von Herrn Altrichter über radioaktive Strahlung, Frau Engels (oder hieß sie seit ihrer Hochzeit nun Altrichter?) endlosen Ausführungen über Hermann Hesses Glasperlenspiel und im Geschichtsunterricht, den neuerdings auch Frau Engel übernommen hatte, über Verrat im Laufe der Zeit anhand der Fälle Brutus, Judas und General Wallenstein.

Details

Seiten
Erscheinungsform
eBook-Lizenz
Jahr
2016
ISBN (eBook)
9783960530046
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (Mai)
Schlagworte
eBooks TV-Serie Buch zur Serie Kinderbuch ab 10 Jahre Jugendbuch fuer Maedchen fuer Jungen Nickelodeon Spannung Freundschaft Abenteuer Internat Geheimnisse Geister Mythologie
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Titel: Das Haus Anubis - Band 5: Das Geheimnis der Winnsbrügge-Weslings
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