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Coole Küsse, Meer & mehr: Fünfter Roman der Mimi-Reihe

©2016 190 Seiten

Zusammenfassung

Eine Insel zum Verlieben: „Coole Küsse, Meer & mehr“ von Erfolgsautorin Sissi Flegel jetzt als eBook bei jumpbooks.

Mimi freut sich auf ihren nächsten Auftrag als Reisejournalistin. Aber Sylt? Die Nordseeinsel ist nicht gerade bekannt für spannende Abenteuer, über die sie sonst immer ihre Artikel schreibt. Doch da sie auch ihren Freund Carlos mitnehmen darf, sagt Mimi natürlich nicht Nein. Und zwischen Dünen, Fischbrötchen und einer leichten Meeresbrise wird die Insel plötzlich doch ganz interessant – denn Mimi erwarten eine ganze Menge Schmetterlinge im Bauch. Klar, dass das Chaos bereits vorprogrammiert ist …

Jetzt als eBook kaufen und genießen: „Coole Küsse, Meer & mehr“ von Erfolgsautorin Sissi Flegel. Für Leser ab 12 Jahren. Wer liest, hat mehr vom Leben: jumpbooks – der eBook-Verlag für junge Leser.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Über dieses Buch:

Mimi freut sich auf ihren nächsten Auftrag als Reisejournalistin. Aber Sylt? Die Nordseeinsel ist nicht gerade bekannt für spannende Abenteuer, über die sie sonst immer ihre Artikel schreibt. Doch da sie auch ihren Freund Carlos mitnehmen darf, sagt Mimi natürlich nicht Nein. Und zwischen Dünen, Fischbrötchen und einer leichten Meeresbrise wird die Insel plötzlich doch ganz interessant – denn Mimi erwarten eine ganze Menge Schmetterlinge im Bauch. Klar, dass das Chaos bereits vorprogrammiert ist …

Über die Autorin:

Sissi Flegel, Jahrgang 1944, hat neben ihren Romanen für erwachsene Leser sehr erfolgreich zahlreiche Kinder- und Jugendbücher veröffentlicht, die in 14 Sprachen erschienen sind und mehrfach preisgekrönt wurden. Die Autorin ist verheiratet und lebt in der Nähe von Stuttgart.

Die bei jumpbooks erschienenen Mädchenbücher von Sissi Flegel findet ihr am Ende dieses Buches.

Die Autorin im Internet: www.sissi-flegel.de

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eBook-Neuausgabe August 2016

Copyright © der Originalausgabe 2004 Thienemann Verlag (Thienemann Verlag GmbH), Stuttgart/Wien

Copyright © der Neuausgabe 2016 dotbooks GmbH, München

Copyright © 2016 jumpbooks Verlag. jumpbooks ist ein Imprint der dotbooks GmbH, München.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung eines Bildes von Mia Schütz und Lena Starcevic

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN 978-3-96053-174-6

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Sissi Flegel

Coole Küsse, Meer & mehr

Roman

jumpbooks

Von den Bergen auf die Insel

»Hey, Mimi, gut, dass ich dich treffe! Ich wollte gerade zu dir!«

Ich drehte mich um. »Was gibt's?«

»Deine Abruzzenstory war ein toller Erfolg, was?«

»War ja auch eine tolle Reise!«

»Klar. Hättest du Lust auf eine neue? Eine neue Reise, meine ich.«

»Waaas?«

»Komm, ich lade dich zu einer Tasse Latte macchiato ein.«

Markus Fiesel, Redakteur unserer Tageszeitung, steuerte mir nichts, dir nichts auf unser bestes Straßencafe zu, zog mich auf den Stuhl neben sich und gab die Bestellung auf.

»Es geht um die Jugendseite im September«, erklärte er ohne Umschweife. »September, das bedeutet Ferienende, viele Erinnerungen, Beginn einer neuen Freundschaft, vielleicht auch das Ende einer solchen, Abschiedstränchen, Wehmut und letzte Küsse … du weißt schon.«

»Ich verstehe nur Bahnhof«, meinte ich verblüfft. »Wirklich, ich habe keine Ahnung, wovon du redest. Kannst du nicht deutlicher werden?«

»Bin schon dabei … Schau mal!« Er legte einen Packen Briefe auf das Tischchen. »Alles Fanpost! Begeisterte Kommentare zu deiner Abruzzenstory! Na, was sagst du dazu?«

Ich schüttelte benommen den Kopf. »Heißt das, die Leser lassen sich immer noch über mein Abruzzenabenteuer aus?«

»Exakt!«

»Was schreiben sie denn so?«

Markus Fiesel grinste. »Na, was wohl: tolles Mädchen, mutig, lustig, einfach große Klasse. Und sie wollen mehr von dir lesen.«

Die Getränke wurden gebracht und ich trank einen Schluck. Markus Fiesels Lob war mir nicht geheuer. »Na ja, ich kann ja was über die Schule schreiben«, meinte ich zögernd.

»Klar, später, im Herbst dann. Aber jetzt hast du noch zwei Wochen Ferien, stimmt's?«

»Zweieinhalb«, korrigierte ich ihn.

»Na, siehst du! In zweieinhalb Wochen kannst du eine Menge erleben. Deshalb haben wir uns gedacht –«

»Wer ist ›wir‹?«

»Die Redaktion, wer sonst? Wir stellen uns einen Beitrag vor, spannend, witzig, knackig. Thema: Was ein Mädchen auf der Insel erlebt. Du verstehst – Ortswechsel! Von den Bergen auf die Insel!«

»Aha. Und das soll ich mir wohl aus den Fingern saugen? Mann, ich war noch nie auf einer Insel. Das heißt, auf der Mainau und der Reichenau, den Inseln im Bodensee, da war ich schon mal. Aber an die denkst du wohl eher nicht, oder?«

»Na logisch! Wenn schon Insel, dann soll es auch die coolste, angesagteste sein. Denk doch mal nach, Mimi!«

Er machte eine dramatische Pause.

»Die coolste, angesagteste Insel?« Ich runzelte die Stirn. »Keine Ahnung, an welche du da denkst. Mallorca? Madagaskar? Mauritius? Sag es und ich packe sofort meinen Koffer.«

»Mensch, Mimi, warum denn immer in die Feme schweifen, wenn das Gute liegt so nah? Es gibt auch Inseln in Deutschland! Wir denken an die Insel aller Inseln. An Sylt.« Er grinste mich erwartungsvoll an. »Na, was hältst du davon?«

»Nichts.«

»Nichts? Wieso denn das?«

Ich holte tief Luft. »Markus, ich will die berühmteste Reisejournalistin aller Zeiten werden. Ich reise gerne, ich schreibe gerne – aber was, bitte schön, soll ich auf Sylt? Ich war in Chile, in Kanada, in Hongkong, in Marrakesch, in den einsamen Bergen der Abruzzen … Das waren Reisen, Markus! Keine Hüpfer vom Süden Deutschlands bis gerade mal zur Nordsee. Und außerdem: Sylt! Ist das nicht der Ort, wo sich diejenigen Leute treffen, die meinen, sie seien wer? Nee, Markus, die Insel ist nichts für mich. Dann noch lieber die Mainau.« Ich erwärmte mich so richtig für dieses Thema und schlug vor: »Radtour an den Bodensee, mit dem Segelboot auf die Mainau – und dann: Mord im Gewächshaus! Überfall zwischen den Salatköpfen! Niedergestochen mit einer Lauchstange!«

Jetzt grinste ich erwartungsvoll.

Markus Fiesel war ein hartgesottener Journalist und grinste frech zurück. »Nicht schlecht! Ich werde mir die Sache durch den Kopf gehen lassen. Aber nun wieder zu unserem Vorschlag, Mimi. Hast du dir schon mal überlegt, wie viele Leute sich einen Urlaub auf Mauritius leisten können? Allein der Flug kostet ein kleines Vermögen. Aber nach Sylt kommst du locker mit der Bahn, und dann kannst du dir aussuchen, wie du wohnen willst: in einem Luxusschuppen oder im Zelt auf dem Campingplatz.«

Ich rümpfte die Nase. »Ich habe ja nichts gegen ein Zelt. Aber wenn es ununterbrochen regnet, finde ich das ziemlich ungemütlich.«

»Heißt das, du streichst vorerst die Radtour zum Bodensee?«

Ich lachte. »Markus, du weißt, dass ich bei dem Wort ›Reise‹ einfach nicht Nein sagen kann!«

»Hab's mir doch gleich gedacht!« Markus legte freundschaftlich den Arm um meine Schultern, bestellte noch zwei Latte macchiato und kam dann zur Sache.

»Wir haben uns das so gedacht, Mimi: Du fährst mit der Bahn nach Westerland, nimmst dir ein Taxi und lässt dich nach Kämpen bringen. Dort wohnt ein ehemaliger Kollege von uns. Er hat ein Friesenhaus geerbt und vermietet im Sommer zwei oder drei Zimmer. Du wohnst bei ihm, erkundest die Insel und er verschafft dir die nötigen Kontakte zu den Leuten, die sich dort auskennen. Übrigens«, Markus löffelte den Schaum aus, »von ihm stammt die Idee, dich zu fragen, ob du nicht mal etwas über Sylt schreiben könntest.«

»Von ihm? Er kennt mich doch überhaupt nicht.«

Markus Fiesel kniff ein Auge zusammen. »Als alter Hase und ehemaliger Kollege lässt er sich noch immer unsere ›Tagespost‹ schicken. Er hat deinen Bericht gelesen und meinte, Sylt wäre jetzt das absolut Richtige für dich.«

»Das kapiere ich nicht!«

»Nein? Dann helfe ich dir auf die Sprünge«, sagte Markus Fiesel liebenswürdig und zog ein zusammengefaltetes Blatt Papier aus seiner Brieftasche.

Liebe Mimi Muschalek!

Mit großem Interesse habe ich Ihre Artikel gelesen und mir auch von Ihren Reisen berichten lassen. Reisen sind wichtig, Reisen bilden (falls man etwas zum Bilden im Kopf hat!), Reisen regen die Phantasie an, Reisen machen wach und lassen uns aufmerksam für das ganz Andere, Neue, Ungewöhnliche werden. Aber:

DIE WAHREN ABENTEUER FINDEN IM KOPF STATT. Testen Sie, ob das stimmt! Kommen Sie zu uns auf die Insel. Sie ist nicht allzu weit weg von Stuttgart, sie ist klein und mit dem Rad zu erkunden. Statt Vulkanen haben wir Dünen, statt Orchideen den gemeinen Strandhafer, statt heißer Geysire kaltes Wasser, statt Felsstürzen weichen Sand. Wir hier fürchten uns vor dramatischen Naturereignissen und menschlichen Katastrophen. Kommen Sie! Ich freue mich darauf, Sie kennen zu lernen!

»Na so was!« Ich ließ das Blatt sinken. »Die wahren Abenteuer finden im Kopf statt. Was sind denn das für Abenteuer, Markus?«

»Genau das sollst du eben herausfinden, Mimi.«

»Hm. Und wenn ich keine finde?«

»Du findest sie.«

»Vielleicht … Und was ist mit Carlos? Der kriegt die Krise, wenn ich allein fahre.«

»Er kann mitkommen.«

»Wirklich?« Ich dachte nach.

»Klar. Eine Woche für euch beide. Ihr wohnt bei Lornsen. Albrecht Lornsen. Abgemacht?«

»Ich muss zuerst mit meinen Tanten sprechen. Wenn sie einverstanden sind, gebe ich dir Bescheid, ja?«

Markus Fiesel wusste, dass meine ältere Schwester Nicki und ich Vollwaisen sind. Als unsere Eltern – beide waren Geologen – kurz nach meiner Geburt bei einem Verkehrsunfall in der Türkei ums Leben kamen, haben uns unsere Tanten sofort zu sich genommen. Seitdem sind sie unsere Eltern und wir eine große glückliche Familie, der das Reisen im Blut liegt. Tante Anne ist Reisejournalistin und Fotografin. Tante Lise kümmert sich um das große Haus, hat den berühmten grünen Daumen und schreibt übers Kochen und Gärtnern. Wir lieben unsere Tanten und haben Verständnis für ihre sehr ausgeprägte Fürsorge.

Als ich ihnen von Markus Fiesels Angebot berichtete, riefen sie sofort diesen Herrn Lornsen an und stellten sicher, dass wir – natürlich! – zwei getrennte Zimmer bekämen und dass er mich wie seinen Augapfel hüten würde. Als ich protestierte und auf meine vorherigen, nicht ungefährlichen Reisen verwies, hob Tante Anne warnend den Finger: »Mimi, es gibt geografische, geologische und klimatische Gefahren. Mit solchen kannst du, wie wir wissen, recht gut umgehen. Aber die menschlichen Abgründe sind dir noch fremd. Davor wollen wir dich so lange wie möglich bewahren.«

»Das heißt, ihr vermutet menschliche Abgründe auf Sylt?«

Tante Anne wich meiner Frage aus. »Ganz so krass würde ich es vielleicht nicht ausdrücken, Mimi.«

Carlos rümpfte zuerst die Nase, genau wie ich, schaltete seinen Laptop ein und prüfte, ob die Insel geologisch gesehen etwas hergab. »Mensch, Mimi! Hör doch mal: ›Die Vielfalt der Küste ist das Resultat ineinander greifender und sich überlagernder geologisch-geomorphologischer Prozesse im Quartär. Insbesondere die geomorphologische Entwicklung seit der Saaleeiszeit vor rund 390.000 Jahren … ‹ Hörst du mir überhaupt zu? Egal. Ich begleite dich jedenfalls!«

»Na super! Die geologisch-geomorphologische Entwicklung würde mich auch vom Hocker reißen«, spottete ich und bastelte eine Karte in Quietschgelb mit der Aufschrift: ACHTUNG: DIE WAHREN ABENTEUER FINDEN IM KOPF STATT!!!

So kam es, dass wir am Freitag die Rucksäcke packten, am Samstagmorgen in Stuttgart in den Zug stiegen, abends gegen neunzehn Uhr in Westerland ankamen, uns von einem böigen Nordseewind die Haare zerzausen ließen und eine Viertelstunde später in Kämpen vor einem niedrigen, strohgedeckten Häuschen standen und auf den Klingelknopf drückten.

Freundlicher Empfang? Denkste!

Niemand öffnete.

»Versuch es noch mal«, sagte Carlos.

Nach dem fünften Dauerklingeln lehnten wir die Rucksäcke an die Tür und gingen ums Haus herum. Der saftig grüne, dichte Rasen hätte meine Tante Lise vor Neid erblassen lassen. Über die blühenden Rosen hätte sie sofort Pflegetipps ausgetauscht und außerdem auf der Stelle wissen wollen, warum das Haus keine Fensterläden hatte, was – wie ein Blick auf die Nachbarhäuser zeigte – hier offensichtlich üblich war.

Um das Grundstück zog sich eine hüfthohe Mauer aus aufgeschichteten Steinen, auf der allerlei Büsche wuchsen. Dann gab es noch ein paar kurze, verkrüppelte Kiefern und ein paar Bäume, die alle so schief standen, dass meine Tanten sie bestimmt mit kräftigen Pflöcken abgestützt hätten. Kein Mensch war im Garten, dafür stand die Terrassentür offen.

»Was meinst du? Sollen wir rein?«

»Weiß nicht«, antwortete Carlos unbehaglich. »Lieber nicht.«

Ich nickte zustimmend. »Und außerdem: Ich habe Hunger.«

Wir trugen die Rucksäcke hinters Haus und deponierten sie auf der Terrasse, dann machten wir uns auf den Weg ins Dorf. Da, wo ein paar Sträßchen zusammentrafen, entdeckten wir ein Gasthaus. Alter Dorfkrug hieß es, und weil es warm und die Sonne noch nicht ganz untergegangen war, saßen jede Menge Leute davor und ließen es sich schmecken.

»Hast du 'ne Ahnung, was ein Krug ist?«, fragte Carlos.

»Klar, ein Gefäß für Flüssigkeiten«, erklärte ich. »Für Milch zum Beispiel, oder Wein oder Saft. Wahrscheinlich bedeutet das Wort aber hier im Norden was ganz anderes als im Süden.« Ich runzelte die Stirn. »Bei uns zu Hause heißen Gasthäuser ›Löwe‹, ›Adler‹, ›Stauferburg‹ oder ›Zu den drei Mohren.‹«

Carlos hob die Schultern. »Was erwartest du dir hier? ›Düne eins‹, ›Düne zwei‹, ›Düne drei‹? Vermutlich ist ›Alter Dorfkrug‹ für hiesige Verhältnisse ein ziemlich phantasievoller Name.«

»Carlos! Bei uns gibt's auch keine Löwen!«

»Doch, in den Wappen«, erklärte er ungerührt und zog mich ins Haus, denn im Hof gab es wirklich kein einziges freies Plätzchen mehr.

Die Gaststube war dunkel, weil die Fenster klein waren und die Decke sehr tief nach unten hing. Die Stube war gerammelt voll, sodass wir uns an die Bar stellten.

»Wohl die einzige Kneipe im Dorf«, murrte Carlos und verlangte die Speisekarte.

»Moin«, sagte der Mann hinterm Tresen. Er sagte es sehr freundlich und es klang nicht so, als würde er uns auf den Arm nehmen. Aber er sagte tatsächlich »Moin«, was wir mit »Guten Morgen« übersetzten.

»Guten Abend!«, antwortete ich verdutzt. Es war schließlich kurz vor Sonnenuntergang.

Carlos hatte die Preise studiert und schaute mich entgeistert an. »Entweder wir verhungern, oder wir suchen das nächste McDonald's, Mimi!«

»Geht nicht!«, jammerte ich. »Außer den beiden Butterbrezeln habe ich seit dem Morgen nichts gegessen! Gibt's keine Suppe? Oder Linsen mit Würstchen?«

Wir einigten uns auf das billigste Gericht, eine Kartoffelsuppe mit Wursteinlage. Während wir warteten, hörten wir dem Nachbarn zu unserer Linken zu. Er berichtete mit dröhnender Stimme, wie heute jemand auf der Luftmatratze aufs Wasser hinausgetrieben worden war und winkend auf sich und seine missliche Lage aufmerksam gemacht hatte.

»Tja, das haben wir uns eine Weile lang angeschaut, dann sind wir langsam mit dem Motorboot rausgetuckert und haben ihn reingeholt. War ja keine Gefahr nich bei, Wasser war ruhig, Wind gab's nich. Alles harmlos, nur der Typ auf seiner Matratze hat das nich so gesehen. War ziemlich fertig mit den Nerven, muss ich woll sagen.«

Ich verdrehte die Augen. Carlos flüsterte: »Siehste, Mimi? Lornsen hatte Recht: Der Luftmatratzenschwimmer erlebte sein Abenteuer im Kopf! Für den Retter war ›keine Gefahr nich bei‹.«

Wir grinsten uns an. »Wie weit ran kommen die Haie?«, fragte ich.

Der weißhaarige, tief gebräunte Mann hatte mich gehört. »Bei dem Wetter? Kommt auf die Strömung an: ein, zwei Meter vor der Küste machen sie Halt. Aber nur, wenn sie satt sind!«

Zum Glück kam jetzt unsere Kartoffelsuppe. Die Portion war allerdings für Leute auf Schlankheitstrip gedacht: Zehn Löffel, höchstens, dann war das Tässchen leer.

Nachdem wir das letzte Stück Brot freundschaftlich geteilt hatten, stieß mich der Nachbar an. »Frisch auf der Insel? Seeluft macht hungrig.«

Er lachte so kräftig, dass die niedrige Gaststube wackelte, und ich schaute mit knurrendem Magen auf die Teller und Schüsseln, die gerade in die Küche getragen wurden. Das Übriggebliebene hätte Carlos und mich locker satt gemacht.

»Ob Lornsen inzwischen zu Hause ist?«, fragte ich. »Er weiß doch, wann wir ankommen!«

Da sein Häuschen nicht weit vom Dorfkrug entfernt lag, marschierten wir zurück. »Mist! Der ist noch immer nicht daheim!«, schimpfte ich. »Komm, wir suchen den Weg zum Strand. Es geht doch nichts über ein erfrischendes Bad!«

Wir kramten unser Badezeug und die Handtücher heraus, stopften das Ganze in eine Plastiktüte und fragten nach dem kürzesten Weg. »Alte Dorfstraße lang bis zur Ampel. Die Richtung«, erklärte ein Mann, der gerade aus dem Nachbarhaus kam, und deutete mit seinem Stock Richtung Sonnenuntergang.

»Mensch, Mimi, das war ja wohl keine Glanzleistung von uns«, sagte Carlos. »Wenn du dir die Karte vorstellst, liegt das Wasser ganz klar im Westen. Und wo geht die Sonne unter?«

»Im Westen«, antwortete ich brav. »Carlos! Hier gibt's eine Bäckerei!«

Ich raste los, kaufte eine Tüte »Rundstücke« und bot die Wecken Carlos an. »Kaum zu glauben, wie anders die Menschen hier sprechen. Zum Abend sagen sie Morgen, zu den Wecken Rundstücke, und wenn ich mich nicht irre, heißt die Straße, in der Lornsens Haus steht, Sjipwai – was immer das bedeuten mag. Und das Tollste dabei ist, dass wir im eigenen Land geblieben sind!«

»Ja, ja, die wahren Abenteuer!«, spottete Carlos.

Wir bummelten die Alte Dorfstraße hoch und blieben an der Ampel stehen. »Krass! Voll krass«, stellte Carlos fest. »Wenn hier keine Ampel installiert worden wäre, kämen wir nie über die Straße! ›Ein nicht enden wollender Strom von Autos‹. So steht es doch immer in den Büchern, stimmt's?«

»Stimmt«, bestätigte ich kauend.

Kaum hatten wir die Straße überquert und waren ein Stück in Richtung Dünen gegangen, war es totenstill und menschenleer, obwohl wir rechts von uns einen Campingplatz sahen.

Wenige Augenblicke später lag die See vor uns.

Wir zogen die Sandalen aus, Carlos griff nach meiner Hand, und zusammen rasten wir bergab. Aber was heißt »bergab«! Dünenabwärts rasten wir!

Unten, wo der Sand fest war, fiel ich Carlos um den Hals. »Das war toll!«

Wir küssten uns, und dann, als ich die Augen wieder aufmachte, blieb mir die Luft weg. Vier Männer, alle splitterfasernackt, gingen an uns vorbei. Ich schluckte. »Carlos –«

Aber Carlos reagierte nicht. Der schaute gebannt nach rechts und ich stellte fest, dass ihm die Augen fast aus dem Kopf fielen. »Mensch, mach den Mund zu! Einem nackten Mädchen dermaßen hinterherzugaffen ist total unanständig«, fauchte ich und schüttelte ihn kräftig. »He! Carlos! Hier bin ich! Deine Mimi!«

Carlos wurde rot. »Hast du das gesehen? Ich glaube, hier sind alle nackt«, krächzte er. »Unglaublich!«

Ich schaute mich um. »Alle nicht, nur fast alle. Sollen wir auch … Was meinst du? Willst du auch ohne Badehose baden?«

Carlos kratzte sich am Kinn. »Ich weiß nicht so recht… Oder willst du…?«

»Nee. Das kommt mir irgendwie zu überraschend. Sag mal, haben wir vielleicht das Schild ›Nacktbadestrand‹ übersehen?«

»Glaube ich nicht. Ich finde aber, man sollte eines aufstellen, um Fremde wie uns vorzuwarnen. Ich muss sagen, dieses Mädchen gerade eben …«

»Nur ein einziges Mädchen?«, spottete ich. »Das ist ja gar nichts. Mein erster Blick fiel auf vier unbekleidete Männer, Carlos! Das muss ich erst mal verdauen!«

»O Gott, Mimi! Willst du tatsächlich baden?«

»Klar, ich hab mir extra einen neuen Bikini gekauft. Der muss eingeweiht und getragen werden, eine Fehlinvestition kann ich mir nicht leisten.«

Carlos grinste erleichtert. »Scheint so, als ob die Leute hier kein Geld hätten, um sich anständige Badeklamotten zu kaufen, was?«

Wir zogen uns in den Dünen um und stellten dann sehr schnell fest, dass das Wasser ziemlich frisch war.

»Ja, aber wenn du dich in die Wellen wirfst, ist es warm!«, rief Carlos und riss mich mit.

Es war einfach genial. Wir schwammen ein Stück raus, ließen uns von den Wellen an den Strand werfen und schwammen wieder raus. Dann zog Carlos mich unter Wasser. Ich tauchte auf, schwamm ihm nach und wollte es ihm gleichtun, aber denkste! Er war so viel stärker als ich, dass ich leider tüchtig Wasser schluckte und erst nach einiger Verzögerung Rache schwören konnte. Die aber würde kommen, da war ich mir ganz sicher!

Sie kam eher, als wir beide dachten. Als wir keuchend und außer Puste aus dem Wasser stiegen und zu unseren Kleidern gingen, joggte eine Superfrau an uns vorüber. Original wie aus der Werbung sah sie aus: ewig lange Beine, langes, blondes, wehendes Haar … Carlos war hin und weg. Mit rotem Kopf schaute er ihr nach, bis ich ihm die Augen zuhielt.

»Meinst du, ich finde das spaßig, wenn du ständig jedem hüpfenden Busen hinterherguckst?«, fauchte ich.

»Mensch, Mimi, ich muss mich doch erst mal an diesen Strand gewöhnen«, verteidigte er sich.

»Beeil dich mal ein bisschen damit, ja? Es wird höchste Zeit, dass du deine Sinne auf die geologisch-geomorphologischen Verwerfungen konzentrierst! O.k.?«

Wir hatten uns angezogen und standen einander wütend gegenüber, Plastiktüte und Latschen in der Hand. Gerade als ich versöhnlich die Hand ausstrecken wollte, joggte die Superfrau wieder zurück. Komisch – eine so kurze Strecke? Zehn Meter hin, zehn Meter zurück? Dafür musste es doch einen Grund geben.

Es gab auch einen. Er saß direkt an der Joggingstrecke, und alles, was er um sich herum ausgebreitet hatte, sah teuer, exklusiv und edel aus: das Badetuch, die Tasche, die Schuhe und sonst noch allerlei Kleinkram.

»Du kommst zu spät, Carlos«, sagte ich halblaut und deutete mit dem Kinn auf den Sitzenden. »Aber mithalten hättest du sowieso nicht können.«

Carlos schluckte. »Wohl eine kleine Wanda, was?«

»Carlos!«, schrie ich und fiel ihm um den Hals. »Du hast ja echt was gecheckt!«

Wanda hieß das Biest, das sich in Marokko Carlos zuerst gnadenlos an den Hals geworfen und ihn dann, als sie einen reicheren und älteren Typ kennen gelernt hatte, wie eine heiße Kartoffel hatte fallen lassen. Auf mich hatte Carlos damals nicht hören wollen. Erst als es schon fast zu spät war, sozusagen in allerletzter Minute, kapierte er, dass Wanda ihn nur zum Zeitvertreib und als Übungsobjekt benutzt hatte. Seiner Eitelkeit hatte das mächtig zugesetzt.

Jetzt legte er den Arm um mich. Wir stapften die Dünen hoch durch den Sand bis dorthin, wo der Weg begann. Dort drehten wir uns um und schauten aufs Wasser hinunter.

Die Sonne war untergegangen, der Himmel spannte sich wolkenlos in einem tiefen dunklen Blau übers fast schwarze Meer. Die Wellen liefen ruhig und gleichmäßig auf den Strand und hinterließen weiße Schaumränder, die sich auflösten, wieder ersetzt wurden, sich auflösten und aufs Neue formten …

Während wir so standen und schauten, hob sich der Mond aus dem Wasser.

Carlos zog mich an sich. Ich spürte seinen Herzschlag, hörte seinen Atem und den des Meeres. Wir rührten uns nicht von der Stelle. Eine Ewigkeit lang beobachteten wir, wie der Mond, schimmernd wie ein runder Perlmuttknopf, am schwarzblauen Himmel höher und höher glitt. Noch nie hatten wir uns einander so nah gefühlt. Beide scheuten wir uns, den Bann zu brechen.

Das besorgten schließlich ein paar Leute, denen wir im Weg standen. Wir traten beiseite und ich räusperte mich: »Schau mal, Carlos, wir müssen nicht auf dem gleichen Weg zurück ins Dorf. Hier führt einer zwischen den Dünen hindurch.«

Nachdem wir mehrmals über struppiges Heidekraut und Strandgras gestolpert waren, gingen wir doch lieber hintereinander und stellten bald fest, dass wir tatsächlich im Dorf und in der Kurhausstraße landeten.

Bei nächster Gelegenheit bogen wir rechts ab und kamen in eine Straße, die Carlos schon wieder den Atem verschlug. Das heißt, es war nicht die Straße, sondern die dort parkenden Autos. »Mimi«, japste er. »Mimi! Schau dir nur diesen Sportwagen an! Das neueste Modell! Und das da! Mensch, das muss eine Sonderanfertigung sein!«

Autos lassen mich ziemlich kalt. Klar, ich hatte ja noch nicht mal einen Führerschein. Aber die Geschäfte, vor denen die Autos parkten, hatten es ebenfalls in sich: Noch nie in meinem Leben war ich so vielen Edelmarken auf so kurzer Strecke begegnet.

Aber was uns dann vollends aus den Latschen kippte, war etwas ganz anderes.

Ein Stück zurückgesetzt und ziemlich am Ende der Straße entdeckten wir eine Kneipe. Bei uns im Süden hieß es »Biergarten hinten im Hof« und meistens sind die Biergärten auch eine ganz gemütliche Angelegenheit. Mit alten Kastanien, deren Früchte im Herbst ins Glas plumpsen, oder mit anderen Bäumen, die Schatten spenden und in deren Ästen die Vögel zwitschern.

Hier befand sich der Hof vor der Kneipe. Wir bemerkten dekorative Zierbäumchen in edlen Kübeln und eine geballte Menge fröhlicher Menschen. Und wen erspähte ich in der vordersten Reihe?

»Carlos! Siehst du sie?«

»Wen? Guck mal, Mimi, dieses Modell habe ich bisher nur als Foto in Auto, Motor und Sport gesehen. Göttlich, findest du nicht auch?«

»Das Auto?«

»Was sonst?«

»Ach Carlos! Du bist ja süß! Hast du Wanda zwo noch nicht entdeckt?«

»Wanda zwo? Wer soll das sein? Mensch, das Ding hat extra breite Reifen! Und Radkappen, die müssen –«

»O.k. Bleiben wir stehen.«

Es war die langbeinige, blonde Joggerin vom Strand. Sie hatte ein Glas in der Hand und flirtete auf Teufel komm raus mit dem Typ … Mit dem Typ? Nein, es waren wohl eher die Typen. Mimi, sagte ich mir, pass gut auf, hier lernst du was fürs Leben!

Plötzlich packte mich Carlos am Arm. »Hey, Mimi, der Kerl da drüben macht dich ganz schön an. Los, komm, das gefällt mir nicht.«

»Hab ich gar nicht bemerkt«, sagte ich. »Aber weißt du was? Die Blonde vom Strand ist viel jünger, als ich dachte. Mein Alter. Eher siebzehn als achtzehn. Carlos! Du brauchst mich nicht so hinter dir herzuziehen! Ich bin nicht deine Gefangene!«

»Entschuldigung!« Er ließ mich los. »Der Typ hat mich echt aufgeregt. Wie der dich angestarrt hat – also ehrlich!«

Ich kicherte, dann lachte ich los. »Was wir seit unserer Ankunft schon alles erlebt haben, Carlos! Unglaublich ist das!«

Carlos hatte seine gute Laune noch nicht wiedergefunden. »Mimi, wenn dieser Albrecht Lornsen noch immer nicht zu Hause ist, mache ich mir echt Sorgen. Dann hat er uns entweder vergessen oder es ist ihm was passiert. Weißt du, ob es hier im Dorf eine Jugendherberge gibt?«

»Carlos! Du stellst Fragen! Warte doch erst einmal ab, ob Lornsen da ist, bevor du dir den Kopf zerbrichst!«

»Na gut… Aber Mimi, wenn er nicht da ist, dann können wir uns nur ein Bett in der Jugendherberge leisten. Wenn ich an den Preis der Kartoffelsuppe denke …«

»Ich hab doch gesagt, du sollst jetzt noch nichts denken, Carlos!«

Zum dritten Mal an diesem Abend standen wir vor Lornsens Tür. Ich beruhigte Carlos mit einem schnellen Kuss, dann drückte ich auf die Klingel.

Licht ging an, wir hörten eine Stimme: »Bin schon auf dem Weg!«, die Tür wurde aufgerissen, jemand sagte: »Herzlich willkommen!« – und dann leckte eine heiße, feuchte, riesige, schlabbrige Zunge über mein Gesicht.

Der dazugehörige Hund hatte seine Vorderpranken auf meinen Schultern deponiert und war völlig unsensibel für mein Schubsen und Stoßen.

»Widerstand zwecklos«, sagte die Stimme lachend, dann hörte ich ein energisches: »Noballs, Platz!«

Die Zunge wischte noch einmal über mein Gesicht, dann nahm der Köter die Pfoten runter und trottete lammfromm ins Haus.

»W-warum heißt der Riese Snowball?«, fragte ich und fischte mein Taschentuch aus der Hosentasche. »Er hat doch ein dunkles Fell, braun, fast schwarz.«

»Der Hund heißt nicht Snowball. Er musste in jungen Jahren kastriert werden, deshalb tauften wir ihn ›Noballs‹ – No Balls. Klar? Aber jetzt kommt endlich herein. Ich habe euch schon längst erwartet.«

»Erwartet?«, wiederholte ich empört. »Wir standen schon zwei Mal vor Ihrer Tür!«

»So? Wirklich? Nehmt Platz, ich bin sofort zurück. Ich hole nur noch das Tablett mit dem Tee. Wir trinken hier nämlich zu jeder Tages- und Nachtzeit eine Tasse Tee.«

Inzwischen waren mir ziemliche Bedenken gekommen. Hatte Markus Fiesel nicht gesagt, Albrecht Lornsen sei im Ruhestand? Wie ging das an: Er hatte uns erwartet und war trotzdem nicht zu Hause gewesen? Das entsprach nicht unserer Auffassung von Gastfreundschaft. Es war eigentlich ein ziemlich unhöfliches Verhalten, oder? Hoffentlich war der Mensch noch nicht komplett vertrottelt…

Herr Lornsen stellte das Tablett auf ein Tischchen neben seinem Sessel und sagte: »So, du bist also Mimi. Und du bist Carlos, ja? Ich heiße Albrecht. Wie wollt ihr den Tee? Mit Sahne und Zucker?«

»Pur. Mit nichts, bitte.«

»So habe ich ihn anfangs auch getrunken. Mal sehen, wie er euch am Ende der Woche schmeckt … Und was habt ihr seit eurer Ankunft schon entdeckt?«, fragte er unvermittelt.

Albrecht musste etwas in den Tee gemischt haben, das uns mitteilsam werden ließ. Wir berichteten ihm von den saftigen Preisen, den Nackten am Strand und den Leuten im Hof der Kneipe, und Carlos beschrieb natürlich die Autos in ihrer ganzen Herrlichkeit.

Die Sache mit dem Mond ließen wir aus. Die gehörte nur uns allein.

»Ihr habt sicher gedacht, ich sei ein alter, vergesslicher Trottel«, sagte Albrecht endlich. »Senil und ungastlich.«

Ich spürte, wie ich rot wurde, denn genau das hatte ich ja tatsächlich gedacht.

Albrecht grinste mich ziemlich frech an. »Vielleicht bin ich schon alt, senil und vergesslich. Aber ungastlich bin ich nicht. Denn wisst ihr, ich habe euch nur getestet.«

»Was war ein Test?«, fragte Carlos verständnislos.

»Meine Abwesenheit«, antwortete Albrecht cool.

Markus Fiesel war wirklich fies. Er hätte mich vor Albrecht warnen müssen. »Wenn Sie abwesend waren«, sagte ich ziemlich schroff, »konnten Sie uns gar nicht testen.«

»Doch!«

»Und wie?«

Albrecht hob die Hand und zählte mit den Fingern auf: »Erstens: Die Terrassentür war nicht verschlossen. Trotzdem seid ihr nicht ins Haus gegangen. Ihr habt die Rucksäcke vor der Tür deponiert.«

»Man geht nicht einfach in fremde Häuser«, sagte ich.

»Nein, das gehört sich nicht. Aber manche hätten meine Abwesenheit als die perfekte Gelegenheit zum Schnüffeln genutzt.«

Ich zuckte die Schultern. »Es gibt solche Leute.«

»Zu denen gehört ihr glücklicherweise nicht«, stellte Albrecht fest. »Ihr hattet Hunger, ihr habt den einzigen Bäcker gefunden, ihr habt den Strandschocker- und ohne Streit überlebt. Gratuliere! Ich freue mich, dass ihr meine Gäste seid!«

Ich war noch immer sauer. »Testen Sie alle Ihre Gäste? Ich meine, das ist doch auch so was wie Schnüffeln, oder?«

Albrecht wiegte den Kopf hin und her. »Seht ihr, ich vermiete nur im Notfall die Zimmer, bin also nicht auf die Einnahmen angewiesen. Und dich, liebe Mimi, muss ich bei deinen Recherchen unterstützen. Aber bist du die Unterstützung wert? Das war die Frage.«

»Die Frage«, sagte Carlos plötzlich, »die Frage hätte ich Ihnen beantworten können. Mimi ist jede Unterstützung wert.«

Albrecht war so überrascht, dass er sich verschluckte, jämmerlich hustete, aber schließlich japste: »Du auch, Carlos!«

Jetzt endlich sah ich mich um. Das Zimmer war winzig, die Wände waren mit blau-weißen Fliesen gekachelt. Überm Kamin hing ein Bild, das ein Schiff mit mehreren Segeln zeigte. Irgendwie war es anders als die Bilder, die ich kannte. Ich stand auf. »Das ist ja ein richtig gebasteltes Schiff im Glaskasten!«

Albrecht nickte. »Es ist die Nachbildung des Schiffes, das einem der letzten Walfischfänger der Insel gehörte. Peter Eschels hieß er. Sein Schoner, so nennt man diese Art Schiff, fror vor Grönland im Eis fest. Mit drei Schaluppen, das sind Ruderboote, und 23 gefangenen Walrossen machten sie sich übers Eis auf den Weg, um andere Schiffe zu finden und sich in Sicherheit zu bringen. Mit unsäglichen Mühen schleppten sie die Schaluppen übers unebene Eis und ließen sie schließlich, nach 19 Tagen Wanderung, zurück. Nur mit dem Notwendigsten versehen zogen sie weiter, trafen dann am 22. Tag auf offenes Eis und ruderten auf einer Scholle dem Land zu. Dort stießen sie auf ein Haus, in dem sie zu ihrem Schreck und Entsetzen die Leichname von 18 erfrorenen Seeleuten fanden. Deren Schiff lag ziemlich beschädigt an der Küste. Sie machten es wieder flott und segelten am 47. Tag, nachdem sie im Eis eingeschlossen worden waren, los und erreichten glücklich Hammerfest in Norwegen.«

»Wann war das? Und warum haben Sie ausgerechnet dieses Bild aufgehängt?«, wollte ich wissen.

»Peter Eschels ist ein sehr, sehr entfernter Verwandter«, antwortete Albrecht. »Er ging nach diesem Abenteuer nicht mehr auf Walfang – die goldenen Zeiten waren sowieso vorüber sondern befuhr auf Handelsschiffen die Weltmeere. Sein Schiff kenterte vor der Küste Englands. Das war im Jahr 1852. Damals war Peter 48 Jahre alt.«

»Ziemlich gefährlicher Job war das«, meinte Carlos nachdenklich. »Und alt geworden ist Ihr Verwandter ja auch nicht.«

Albrecht nickte zustimmend.

»Was meinten Sie mit: ›Die goldenen Zeiten waren sowieso vorüber‹?«, wollte ich wissen.

»Im 15. und 16. Jahrhundert lebte die hiesige Bevölkerung hauptsächlich vom Herings- und Schellfischfang«, erklärte Albrecht. »Aber dann, als die Bestände dezimiert waren, verlegten sich die Fischer auf den Walfang. 1777 ließen etwa 270 Seeleute ihr Leben: Die riskante Jagd auf Walfische im Treibeis vor Grönland wurde ihnen zum Verhängnis, denn die scharfkantigen, mächtigen Eisschollen zerdrückten ihre Schiffe. Im 19. Jahrhundert waren auch die Walbestände so zurückgegangen, dass sich die meisten Fischer auf Handelsschiffen anheuern ließen. Übrigens, eines der Inselfeste soll auf den gefährlichen Walfang zurückgehen. Das ›Biikebrennen‹, das Abbrennen großer Treibholzstapel am 21. Februar, war das Abschiedsfest für die Seefahrer. So behaupten zumindest einige. Ich glaube das aber nicht. Solche Feuer haben unsere Vorfahren überall zur Wintersonnwende entzündet.«

Ich gähnte verstohlen. Diese Walfangstorys waren ja wirklich spannend, aber ich war nach der langen Fahrt und dem aufregenden Abend ziemlich müde geworden.

»Ich zeige euch jetzt eure Zimmer«, erklärte Albrecht. »Und morgen solltet ihr zuallererst Tom Thoms kennen lernen. Mehr verrate ich fürs Erste aber nicht!«

Mein Zimmer war ja so was von winzig! Ich glaube, der größte Gegenstand darin war mein Rucksack. Das Bett war wie ein schmaler, länglicher Kasten unter der Dachschräge eingebaut. Das Tollste daran war, dass ein blau karierter Vorhang zum Zuziehen davor hing. Ich kuschelte mich in die Federn und stellte fest, dass ich oben mit dem Kopf und unten mit den Füßen ans Holz stieß. Ob Carlos' Bett länger war? Hoffentlich, der Ärmste musste sonst mit angezogenen Beinen schlafen!

Holly

Am Morgen wachte ich ausgeruht und unternehmungslustig auf. Ich sprang aus dem Kastenbett, stieß mit dem Kopf gegen die Dachschräge, fluchte leise und stellte mich unter die Dusche. Mensch, Mimi, dachte ich, wie sich die Zeiten ändern! Damals in Chile schämte ich mich in Grund und Boden, weil Carlos mich in diesem unsäglich peinlichen Nachthemd am Fenster gesehen hatte. Ich heulte wie ein Schlosshund wegen Rory, dem untreuen Typ, von dem ich dachte, er liebe mich! Und jetzt? Jetzt war ich mit Carlos auf Sylt!

Ich zog meine besten Jeans an und mein pink-orangefarbenes Lieblingshemd. Zugegeben, es war etwas gewöhnungsbedürftig. Die Farben waren ziemlich schrill, aber ich fand, es stand mir wie kein zweites.

Dann band ich meine Haare (nein, nicht lang, seidenglatt und goldblond, sondern braun und kraus) mit drei umeinander geschlungenen Bändern in Pink, Orange und Jeansblau zusammen, tuschte die Wimpern, trug Lipgloss auf – und war bereit für den ersten Inseltag.

Albrecht war Single, das wusste ich von Markus Fiesel. Er hatte eine Haushälterin, die stand in der Küche, hieß Märthe, war klein und beleibt und ihr Gesicht war voller Lachfältchen. Sie hatte ein üppiges Frühstück gerichtet, schaufelte Eier mit Speck und gebratenen Pilzen auf die Teller und stellte den Brotkorb daneben. Carlos polterte die Treppe herab, gab mir einen Guten-Morgen-Kuss, und dann kam auch Albrecht angeschlurft. Gestern hatte ich gar nicht bemerkt, wie klein, grauhaarig und verschmitzt er war – eigentlich sah er aus wie ein in die Jahre gekommener freundlicher Zauberer aus einer Fantasy-Story.

»Ich bin ein Morgenmuffel«, sagte er. »Nach der dritten Tasse Kaffee könnt ihr mich ansprechen.«

Carlos und ich grinsten. In null Komma nichts hatten wir die Eier verdrückt und schmierten »Rundstücke« mit Butter und Erdbeermarmelade.

Irgendjemand fehlte: klar, Noballs, der Köter!

»Wo ist denn der Hund?«, erkundigte ich mich.

Als hätte ich ihn gerufen, kratzten in diesem Augenblick Krallen gegen Holz. Die Tür wurde aufgestoßen, Noballs kam auf mich zugetrottet, legte seinen Kopf auf meine Knie und schaute mir seelenvoll in die Augen.

»Hast du Hunger? Hast du heute noch nichts zu fressen bekommen?«, fragte ich mitfühlend.

»Der?« Märthe lachte und erklärte etwas in einer Sprache, die wir nicht mal in Bruchstücken verstanden.

Albrecht kicherte und Märthe schlug die Hand vor den Mund. »Versuch es noch mal«, forderte Albrecht sie auf.

Märthe tat ihm wohl oder übel den Gefallen. »Noballs will sein zweites Frühstück erbetteln. Aber gib ihm nichts, du wirst ihn sonst nie wieder los!«

»Er schaut aber so hungrig aus!«

»Ist 'n perfekter Schauspieler«, knurrte Albrecht. »›Mit dem Hungertod ringender Köter‹ ist seine Lieblingsnummer.«

Es fiel mir schwer, den flehenden Augen standzuhalten. »Geh zu deinem Herrchen«, forderte ich ihn auf. Er latschte aber zu Carlos und leckte ihm die Schuhe sauber.

»So, jetzt habe ich den Kaffee intus«, verkündete Albrecht plötzlich. »Los geht's, ihr Lieben. Draußen stehen zwei Räder bereit. Mit denen bewegt ihr euch nach Wenningstedt. Hier ist die Karte von der Insel. Ihr fahrt die Alte Dorfstraße runter, überquert an der Ampel die Straße und biegt auf den Radweg ein. Klar? In Wenningstedt fahrt ihr bis zum Dorfteich. Dort wohnt mein bester Freund, Tom Thoms heißt er. Sollte er nicht zu Hause sein – man weiß nie, was er gerade vorhat –, ist seine Tochter Elli da. Elli betreibt eine Pension für Gäste. Ach ja, noch etwas. Ellis Tochter heißt Holly. Ich mag sie.«

»O.k. Und was sollen wir bei Tom Thoms?«, erkundigte ich mich.

Albrecht löffelte die Erdbeermarmelade einfach aus dem Glas – meine Tante Lise hätte die Krise bekommen!

»Was ihr dort sollt? Er hat die tollsten Storys über die Insel auf Lager. Aber woher soll ich wissen, was euch interessiert? Keine Ahnung. Also fragt selbst, was ihr wissen wollt.«

Ich schwieg verblüfft. Am liebsten hätte ich gesagt: Woher soll ich wissen, was ich wissen will? Doch als angehende beste Reisejournalistin aller Zeiten stellt man eine solche Frage nicht. Das ist unprofessionell. Total uncool ist das.

Also sagte ich zum zweiten Mal an diesem Morgen »O.k.«, stand auf und wartete ungeduldig, bis Carlos seine Tasse ausgetrunken hatte.

Albrecht ging ins Nebenzimmer und kam mit einem Päckchen zurück, das er mir in die Hand drückte. »Kleines Geschenk für die angehende Journalistin«, erklärte er. »Ein Notizbuch, wie es die berühmten Schriftsteller benutzten. Du bekommst auch noch was von mir, Carlos. Ich weiß nur noch nicht, was es sein soll, weil ich dich noch nicht gut genug kenne.« Er lachte. »Aber es wäre das erste Mal, dass mir nichts Passendes einfallen würde!«

Das Wetter sah ziemlich unentschlossen aus, also holten wir noch rasch unsere Anoraks und radelten los: auf echten Oldtimern, mit Rücktrittbremse und drei Gängen!

Wenningstedt ist das Dorf südlich von Kämpen. Man braucht, oldtimermäßig gesprochen, höchstens eine Viertelstunde, um es zu erreichen. Der Dorfteich ist auch nicht zu verfehlen, er liegt nämlich ganz in der Nähe der Kirche, die aus dunkelroten Backsteinen erbaut ist.

Wir klingelten da, wo in kleinen Lettern Thoms und in sehr großen Pension Dünenblick stand – und warteten.

»Wir müssen wohl erst wieder einen Test bestehen«, schimpfte ich und klingelte ein zweites Mal.

Jetzt hörten wir ein ziemliches Gerumpel, die Tür wurde aufgerissen und ein Mädchen in meinem Alter stand vor uns. Mir war sie sofort sympathisch, von Carlos erfuhr ich später, dass er sie auch ganz in Ordnung fand.

»Ja?«, fragte das Mädchen.

»Du musst –«, stotterte ich, »bist du Holly?«

»Warum? Wollt ihr ein Zimmer? Pech gehabt, die sind alle belegt.« Das Mädchen war verdammt energisch. Und temperamentvoll. Und sah supergut aus. Einfach Klasse. Fremdländisch. Exotisch. Sie hatte eine Haut wie Latte macchiato, schwarze Augen und lange schwarze, krause Haare, die sie zu zwei dicken Zöpfen geflochten hatte.

»Mensch, wir wollen keine Zimmer. Wir haben schon welche. Wir wollen Tom Thoms besuchen. Soll dein Großvater sein, sagte Albrecht Lornsen.«

Da strahlte uns Holly an. »Sagt es doch gleich! Ihr müsst Mimi und Carlos sein, stimmt's? Albrecht hat euch angekündigt! Kommt rein, los!«

Sie führte uns in die Küche, die, bis auf ein paar Töpfe hin oder her, genauso aussah wie Albrechts Küche.

»Tee? Kaffee?« Ohne unsere Antwort abzuwarten, füllte Holly zwei riesige Henkeltassen mit Kaffee, löffelte Zucker rein, goss Milch dazu und stellte sie uns vor die Nase.

»Also: Mein Großvater ist heute nicht da. Morgen vielleicht auch noch nicht. Wenn wir Glück haben, kommt er übermorgen. Begräbnisse enden so oft in fröhlichen Festen, findet ihr nicht auch? Was ich damit sagen will: Ich helfe in den Ferien meiner Mutter bei der Arbeit. Betten machen, Waschbecken putzen, Staub saugen, das Übliche eben. In einer Viertelstunde bin ich fertig, dann habe ich Zeit für euch. Einverstanden?«

»K-k-klar«, stotterte Carlos. »Albrecht sagte allerdings, dein Großvater –«

»Junge, der ist bei der Beerdigung von einem alten Freund! Sagte ich doch, oder? Drüben auf Amrum. Kein Mensch weiß, wann er zurückkommt. Also übernehme ich den Job, o.k.?«

Plötzlich musste ich lachen.

»Was ist los?«

»Albrecht sagte, er mag dich! Jetzt weiß ich, warum er dich mag!«

»So?«

»Ja! Du hast ein Tempo an dir, das ist echt turbo! Der Wahnsinn ist das!«

»Muss an meiner jamaikanischen Ururgroßmutter liegen«, meinte Holly. »Alle meine männlichen Vorfahren bis zu meinem Großvater …«

»Der, der jetzt auf der Beerdigung ist?«, fragte ich.

»Genau. Bis zu dem waren alle Handelsfahrer und …«

»… Walfänger«, warf Carlos ein.

»Ihr wisst aber gut über mich Bescheid«, stellte Holly fest. »Dann wisst ihr sicher auch, dass der besagte Ururgroßvater eine Frau aus Jamaika mitbrachte? Er war noch nicht verheiratet, es war also nichts Unrechtes dabei.«

»An so etwas hätten wir nie im Leben gedacht«, sagte Carlos und mimte den Geschockten.

»Gut für euch, ich –«

»Holly! Wo steckst du denn?«, rief jemand.

»Meine Mutter«, erklärte Holly. »Wartet hier in der Küche, ich beeile mich, ja?«

Wir warteten nicht lange. Holly kam, zusammen mit ihrer Mutter Elli, mit Eimern und Schrubber und Lappen aller Art und Größe zurück. »Ich kann jetzt gehen«, erklärte sie atemlos. »Was wollt ihr sehen? Erfahren? Kennen lernen? Vögel? Pflanzen? Ortschaften?«

»Menschen, Meer – und mehr«, sagte ich schnell.

»Gut, das passt mir. Ich schlage vor, wir gehen zuerst mal ins Hotel Hinter den Dünen. Eins der besten Hotels auf Sylt. Meine Freundin Maike jobbt dort während der Ferien als Zimmermädchen. Die müsste euch mit jeder Menge toller Storys versorgen können.«

Ihre Mutter nickte zustimmend. »Das ist eine gute Idee. Es ist zwar ein weiter Weg mit dem Rad, aber –«

»Mutter! Bei diesem herrlichen Wetter ist die Fahrt ein Genuss!«, rief Holly.

Herrliches Wetter? Bei uns hätte man dazu »trüber Tag« gesagt.

Wir radelten los, ohne gefragt zu haben, wo dieses Hotel zu finden sei: Wir waren einfach nicht dazu gekommen.

Holly schoss wie der Blitz voraus. Ich war ziemlich gut in Form, aber die Sandpfade, die Holly als Abkürzungswege bevorzugte, erforderten meine ganze Aufmerksamkeit. Carlos folgte mir – bis zu dem Schrei, den er ausstieß, als er ins Heidekraut stürzte.

»Nichts passiert«, versicherte er rasch und achtete darauf, dass Holly von seinem Sturz nichts mitbekam. Männer!

Leider ging mir ziemlich schnell die Puste aus. Mit letzter Kraft schrie ich: »Holly! Halt mal an!«

»Was ist? Machst du schlapp?«

»Quatsch! Aber wenn du so durch die Gegend düst, bekomme ich ja überhaupt nichts davon mit! Ich will was sehen! Ich will keine Rekorde aufstellen! Das kann ich auch zu Hause!«

»Klar. Hast ja Recht«, rief Holly und wendete.

»Ich mag nicht gemütlich fahren, ich finde, das macht so müde. Außerdem kenne ich den Weg.«

»Eben!«, japste ich.

Wir gondelten langsamer weiter. Die Gegend gab zwar nicht viel her: weiter Himmel, Heide und Weiden, trotzdem und unerklärlicherweise fand ich sie schön. Ich grübelte darüber nach, was sie so besonders machte, aber bevor ich zu einem Ergebnis kam, erreichten wir ein Dorf. »Keitum« stand auf dem gelben Ortsschild und wir folgten den weißen Wegweisern zum Hotel.

Es ging eine lange, gekieste Auffahrt entlang, dann sprangen wir von den Rädern.

»Wo ist Maike?«, fragte Holly das Mädchen an der Rezeption.

»Maike? Die hat heute ihren freien Tag.«

»Pech gehabt«, kommentierte Holly enttäuscht. »Was machen wir jetzt?« Einer ihrer Zöpfe war aufgegangen. Sie kämmte mit den Fingern die schwarze Krause und flocht ihn von neuem. »Na, vielleicht treffen wir jemand am Pool. Kommt mit.«

Inzwischen blinzelte die Sonne zaghaft durch die Wolken, also war der Pool vielleicht gar keine schlechte Idee.

Johanna

Wir schlenderten hinter das Gebäude. Der Garten, besser: der Park, war so angelegt, dass meine Tante Lise bestimmt ins Schwärmen geraten wäre. Rund um den Pool standen Strandkörbe und tatsächlich reckten einige Gäste ihre Gesichter in die müde Sonne.

Plötzlich hielt Carlos mich fest. »Mimi, dort drüben … Ist das nicht die Joggerin vom Kampener Strand?«

»Wo? Ach da … Mensch, Carlos, das ist sie!«

»Kennt ihr jemand?«, fragte Holly.

»Kennen nicht. Nur haben wir die Blonde schon mal gesehen. Gestern Abend bei uns in Kämpen.«

Das Mädchen saß auf einer Matte. Neben ihr ließ ein Junge die Beine ins Wasser baumeln.

»Hi«, sagte Holly und baute sich vor den beiden auf. »Wie geht's? Wie steht's?« Sie setzte sich. »Wollt ihr meine Freunde kennen lernen? Mimi und Carlos. Ich heiße Holly. Und wie heißt ihr?«

»Das war die schnellste Anmache meines Lebens«, murmelte Carlos neben mir. »Muss ich mir merken, Mimi.«

»Klar, Carlos!« Ich grinste ihn an. »Ich finde, die beiden freuen sich nicht gerade über unsere Gesellschaft.«

»Hm. Das Mädchen nicht, der Junge schon eher.«

»Nun kommt schon!«, rief Holly uns zu.

Der Junge lachte. »Ich bin Constantin!«

»Hi!«

»Hi!«

Das Mädchen hatte noch immer nichts gesagt.

»Na, wie ist's? Hast du nun einen Namen oder konnten sich deine Eltern bei deiner Geburt nicht einigen?«, bohrte Holly.

»Sie heißt Johanna«, antwortete Constantin an ihrer Stelle.

»Ihr stört«, sagte Johanna.

Na gut, sie hätte diese Tatsache auch krasser ausdrücken können. »Ihr stört« war ziemlich gemäßigt, wenn man ihren erbosten Gesichtsausdruck dabei betrachtete.

Constantin hob die Augenbrauen. »Quatsch«, sagte er unerwartet entschieden. »Ihr stört überhaupt nicht. Im Gegenteil! Wohnt ihr auch hier?«

»Nein.« Holly schüttelte den Kopf. »Ich habe eine Freundin gesucht, aber die hat heute ihren freien Tag.«

»Was? Deine Freundin arbeitet hier?«, wollte Johanna wissen.

»Manche Menschen müssen arbeiten«, erklärte Holly freundlich. »Ehrlich gesagt, mir wäre es ohne Arbeit ziemlich langweilig.«

»Was arbeitest du?«, fragte Johanna nach.

»Eigentlich gehe ich noch zur Schule, aber in den Ferien helfe ich meiner Mutter. Wir haben eine Pension in Wenningstedt. Und was machst du, wenn du nicht in Ferien bist, Johanna?«

»Ich studiere bald. Kunstgeschichte. Oder Architektur. Ich weiß es noch nicht. In einem Jahr mache ich Abitur.« Sie legte ihre Hand auf Constantins Bein.

»Dann bist du so alt wie ich«, meinte ich.

»So? Ich dachte, du bist älter als ich.«

Wummm, das saß! Noch nie hatte jemand behauptet, dass ich alt aussehen würde! Ich schnappte nach Luft.

Holly hatte das wohl bemerkt, denn sie lenkte ab: »Und du, Constantin? Du vertreibst dir hier die Zeit mit deiner Freundin?«

»Wie kommst du denn auf diesen Blödsinn?«, fragte er entgeistert.

»Na, weil Johanna dich anhimmelt, als wärst du der tolle Typ aus der Levi's-Werbung. Deshalb! Obwohl –« Holly legte den Kopf schief und lächelte. »Obwohl du, abgesehen von Johanna, wahrscheinlich ein super Kumpel bist.«

»Wie soll ich das verstehen?«

Holly kicherte und sagte mit einem bedeutungsschwangeren Blick auf Johanna: »Sag mir, mit wem du umgehst, und ich sag dir, wer du bist!«

Constantin lachte. »Mensch, Holly, das predigte mir mein Vater jeden zweiten Tag!«

Johanna stand auf. Sie streckte sich und warf die langen Haare zurück, dann stippte sie den großen Zeh ins Wasser und meinte: »Hey, Constantin, ich geh dann mal. Sehen wir uns heute Abend?«

»Weiß nicht. Vielleicht. Wo würde ich dich denn finden?«

»Gleicher Ort, gleiche Zeit: in der Malabar.« Johanna griff nach dem Badetuch. »Und ihr? Müsst ihr Armen heute Abend nicht arbeiten?«

»Ich arbeite immer«, antwortete ich lässig.

»Ich auch«, unterstützte mich Carlos.

»So? Und was machst du denn?« Johanna sah ihn aufmerksam an. Garantiert bemerkte sie, dass mein Carlos eine No-Name-Jeans trug und ein ziemlich verwaschenes Polohemd. Und seine Schuhe machten auch nicht viel her. Sie hatte ihn ganz richtig als mittellosen Schlucker eingeordnet, rümpfte die Nase und fragte bissig: »Gehst du noch zur Schule oder jobbst du auch im Gaststättengewerbe?«

»Weder – noch«, antwortete Carlos. »Ich studiere. Nichts Besonderes, mal dies, mal das. Hauptsächlich … aber das wird dich bestimmt nicht interessieren, Johanna.«

»Ganz recht. Ich habe andere Interessen. Tschüss dann!«

»Und tschüss!«

»Wow!«, meinte Holly. »Das ist ein ganz schönes Biest. Was gefällt dir so an ihr, Constantin?«

»Nichts. Weiß der Geier, wo ich sie kennen gelernt habe«, antwortete er kopfschüttelnd. »Wahrscheinlich hat sie mich kennen gelernt. Irgendwie war sie nämlich plötzlich da.«

»Bist du ganz alleine?«

»Nein, ich bin mit meiner Mutter hier. Versteht mich nicht falsch. Es ist nur so, dass mein Vater vor ein paar Monaten gestorben ist. Da wollte ich meine Mutter nicht… ich wollte –«

»Brauchst uns nichts erklären«, unterbrach ihn Holly schnell. »Ist doch klar, dass du deine Mutter begleiten musst. Aber warum seid ihr nach Sylt gekommen? Gibt's dafür einen Grund?«

Constantin nickte. »Hier hat sie meinen Vater kennen gelernt. Übrigens, da kommt sie.«

Er sprang auf und eilte ihr entgegen, kam dann zurück und sagte: »Heute Abend in der Malabar, ja? Bis bald!«

»Das wär's dann hier. Kommt, ich zeige euch noch was von der Insel!«, versprach Holly.

Die erste Sehenswürdigkeit war die Keitumer Kirche St. Severin. »Da soll in germanischer Zeit ein Heiligtum Odins gewesen sein«, erklärte Holly. »Odin war ein heidnischer Gott. Na, und als die Insel missioniert wurde, haben sie auf dem alten Platz eine Kapelle errichtet. Das war praktisch, die Leute mussten sich nicht an sehr viel Neues gewöhnen. Später kam dann der Turm dazu, damit sich die Seefahrer orientieren konnten.«

Wir spazierten auch durch den Friedhof, der mit seinen alten Bäumen und sorgfältig gestutzten Büschen aussah wie ein Park, und radelten dann weiter. Zuerst fuhren wir Richtung Westen, dann bog Holly scharf ab nach Süden. Irgendwann machte sie Halt und erklärte, dass sie bis zur Südspitze wolle, um uns dort das Vogelparadies zu zeigen.

»Seid ihr damit einverstanden?«

»Warum nicht?«, entgegnete Carlos.

»Na dann!«

Am Nachmittag standen wir wirklich am äußersten und südlichsten Punkt der Insel. Der Strand war durch riesige schwarze Steinbrocken geschützt. Carlos behauptete, es sei Basalt. Der Wind blies kräftig und wehte uns Gischt ins Gesicht. Ich küsste Carlos. »Schmeckst du das Salz auf unseren Lippen? Dein Kinn ist auch salzig«, stellte ich fest, nachdem ich es mal kurz abgeleckt hatte.

»Mimi!«, rief Carlos entsetzt. »Bist du vielleicht Noballs?«

Holly deutete auf verschiedene Vögel und nannte deren Namen. Aber sosehr ich mich auch anstrengte, ich fand, dass sie sich alle ähnlich sahen.

»Das ist eine Silbermöwe! Und das ein Sandregenpfeifer! Und schaut nur, das ist ein Austernfischer!«

»Alles klar! Weißt du was, Holly?«, brüllte Carlos gegen den Wind. »Mir wird kalt! Können wir uns nicht irgendwo aufwärmen?«

»In der Malabar!«, lachte sie.

Inzwischen knurrte mein Magen. »Sag mal, Holly, hast du keinen Hunger?«

»Warte, bis du in der Malabar bist, o.k.?«

Wir stiegen also wieder auf die Räder und traten in die Pedale. Das Schicksal meinte es nicht gut mit uns. Wir hatten kräftigen Gegenwind und einmal stieg ich sogar ab, weil ich dachte, im nächsten Augenblick vom Rad geweht zu werden.

Schließlich und endlich erreichten wir die Malabar. Auf dem Parkplatz standen so viele Autos, dass wir kaum ein Plätzchen für unsere Räder fanden. Die Kneipe – eigentlich ist es eine große Hütte, ähnlich wie in den Alpen, nur hat sie riesige Fenster und liegt direkt am, nein, fast über dem Wasser – hat natürlich einen tollen Blick und ist total angesagt. Das ließ sich an der Zahl der Gäste leicht erkennen: Sie saßen innen, davor und sogar zwischen den Dünen.

Ich interessierte mich zunächst nur für die Speisekarte und ignorierte die Preise. Erst als ich eine der Spezialitäten des Hauses, Currywurst mit Pommes, verspeist hatte, nahm ich meine Umgebung wahr.

Und die war wirklich sehenswert! Hier saß jede Menge Material für meine Storys!

»Schau mal, Mimi, das da am Nebentisch ist ein Ansager vom Fernsehen. Daneben ist die, die in ›Gute Zeiten, Schlechte Zeiten‹ …«

Ich kam aus dem Staunen gar nicht heraus und notierte fieberhaft ihre Infos.

»Was machst du denn da, Mimi? Schreibst du Ansichtskarten für die Lieben zu Hause?«

Ich schaute auf. »Johanna!«

Johanna setzte sich ohne zu fragen zu uns. »Constantin ist noch nicht hier?«, erkundigte sie sich beiläufig.

»Wenn er nicht am Tisch sitzt…?« Carlos sah sich betont aufmerksam um.

Johanna zuckte die Schultern. »Also, Mimi, warum schreibst du? Du bist doch nicht von der Presse, oder?«

»Nein, nein, sie übt Schönschrift«, erklärte Carlos mit liebenswürdiger Miene.

»Quatsch!« Johanna schaute mir ungeniert ins Notizbuch. »Du bist doch von der Presse!«

»Bin viel zu jung dazu«, wehrte ich ab. »Es ist schon so, wie Carlos sagt: Ich übe Schönschrift.«

Johanna verstand keinen Spaß. Sie rümpfte die Nase, zog einen Spiegel aus ihrer Handtasche und trug Lippenstift auf, obwohl noch kaum etwas von der Farbe abgegangen war. »Sag ehrlich: Warum schreibst du auf, wer alles hier ist? Und wie die Leute aussehen?«, beharrte sie.

Holly beugte sich über den Tisch und flüsterte vertraulich: »Sie ist noch sehr jung, aber sie ist ein Genie, musst du wissen! Sie ist wirklich von der Presse, sie soll jede Menge Artikel über die Berühmtheiten der Insel schreiben. Ganz ehrlich und ohne Witz! Ich habe ihr schon die seltenen Vögel gezeigt, und nun sind wir hier, um –«

»Für welche Zeitung schreibst du denn?«, unterbrach sie Johanna unhöflich. »Für die Sylter?«

»Klar, für die auch. Aber nicht nur«, bestätigte Carlos stolz, wenn auch nicht ganz wahrheitsgemäß.

ich musste mir das Lachen verkneifen, denn Johanna setzte sich in Positur und wurde plötzlich katzenfreundlich. »Ich habe dir«, begann sie und hustete diskret, »als wir uns am Pool trafen, nur unvollständige Informationen zukommen lassen. Es ist so, dass ich zwar nächstes Jahr das Abitur mache, aber bereits jetzt jobbe ich regelmäßig bei einer angesagten Modelagentur. Ich bin auch nur deshalb auf der Insel, weil mich mein Agent bekniete, doch am diesjährigen Modelwettbewerb teilzunehmen. Der Event findet am Wochenende statt und mein Agent ist überzeugt, dass ich als Siegerin daraus hervorgehen werde. Totaler Stress, aber natürlich wichtig für die Publicity, vor allem, weil mein Agent mich groß aufbaut«, schloss sie seufzend.

»Stimmt das?«, fragte ich Holly. »Findet am Wochenende wirklich eine Modelwahl statt?«

Holly nickte.

»Wo? In Westerland?«

»Am Flughafen. Wir haben da eine Halle für Partys und besondere Veranstaltungen wie zum Beispiel die Modelwahl.«

»Cool!« Ich notierte Termin und Ort. »Tolles Thema für einen Artikel!«

Johanna hüstelte wieder. »Ich komme dir gerne entgegen. Wenn es dir recht ist, stehe ich dir für ein Interview zur Verfügung. Ich denke, mein Agent wird nichts dagegen haben.«

Jetzt wurden wir drei anderen von einem fürchterlichen Hustenanfall geschüttelt.

»Vielleicht«, keuchte Carlos, »vielleicht steht ihr auch dein Agent zur Verfügung? Ginge das, Johanna?«

»Gute Idee, Carlos«, lobte ich. »Wer ist denn dein Agent, Johanna? Der, an dem du am Strand vorbeigejoggt bist? Oder einer, mit dem du dich in der Kampener Kneipe unterhalten hast?«

Irritiert schüttelte Johanna ihre Haare zurück. »Weder – noch. Zurzeit ist er nicht auf Sylt.«

»Ach, wie schade. Na, dann werde ich mir das mit dem Interview mal durch den Kopf gehen lassen«, meinte ich.

»Klar. Ich denke natürlich an ein Exklusivinterview«, erklärte Johanna.

»Was denn sonst? Mit kleinen Fischen gebe ich mich nicht ab«, versicherte ich lässig. Mein Gott, diese Johanna schien ziemlich beschränkt und für Spott total unempfindlich zu sein.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Neuausgabe
Jahr
2016
ISBN (eBook)
9783960531746
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (September)
Schlagworte
eBooks ab 12 Jahren fuer Maedchen frech Liebe Freundschaft Abenteuer reisen Urlaub Ferien Sylt Nordsee Insel Jungs verliebt sein kuessen
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Titel: Coole Küsse, Meer & mehr: Fünfter Roman der Mimi-Reihe
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