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Schneeballflirt und Weihnachtszauber

Eine Liebegeschichte in 24 Kapiteln

©2016 190 Seiten

Zusammenfassung

Süße Küsse zwischen Mandelduft und Zimtgeschmack: „Schneeballflirt und Weihnachtszauber“ von Sissi Flegel jetzt als eBook bei jumpbooks.

Weihnachten ist für Katinka gelaufen – aber so was von! Nicht nur, dass ihr Freund einfach Schluss gemacht hat, nein, er hat sie auch noch für ihre beste Freundin sitzen gelassen. Und an den Festtagen wird ihre Großfamilie nichts anderes im Sinn haben, als sie zu trösten und über die Trennung auszuquetschen. Also nichts wie weg! Gemeinsam mit ihrer Cousine Melli will Katinka heimlich nach Berlin fahren. Doch als sie auf dem heimischen Weihnachtsmarkt plötzlich Flori begegnet, ist sie sich gar nicht mehr so sicher, wo sie wirklich hin möchte …

Ganz egal, ob du „Schneeballflirt und Weihnachtszauber“ wie einen Adventskalender – jeden Tag ein Kapitel – liest, oder Katinkas Geschichte in einem Rutsch erfahren möchtest: Dieses Buch bietet dir das perfekte Lesevergnügen in der schönsten Zeit des Jahres!

Jetzt als eBook kaufen und genießen: „Schneeballflirt und Weihnachtszauber“ von Bestsellerautorin Sissi Flegel. Wer liest, hat mehr vom Leben: jumpbooks – der eBook-Verlag für junge Leser.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Über dieses Buch:

Weihnachten ist für Katinka gelaufen – aber so was von! Nicht nur, dass ihr Freund einfach Schluss gemacht hat, nein, er hat sie auch noch für ihre beste Freundin sitzen gelassen. Und an den Festtagen wird ihre Großfamilie nichts anderes im Sinn haben, als sie zu trösten und über die Trennung auszuquetschen. Also nichts wie weg! Gemeinsam mit ihrer Cousine Melli will Katinka heimlich nach Berlin fahren. Doch als sie auf dem heimischen Weihnachtsmarkt plötzlich Flori begegnet, ist sie sich gar nicht mehr so sicher, wo sie wirklich hin möchte …

Ganz egal, ob du „Schneeballflirt und Weihnachtszauber“ wie einen Adventskalender – jeden Tag ein Kapitel – liest, oder Katinkas Geschichte in einem Rutsch erfahren möchtest: Dieses Buch bietet dir das perfekte Lesevergnügen in der schönsten Zeit des Jahres!

Über die Autorin:

Sissi Flegel, Jahrgang 1944, hat neben ihren Romanen für erwachsene Leser sehr erfolgreich zahlreiche Kinder- und Jugendbücher veröffentlicht, die in 14 Sprachen erschienen sind und mehrfach preisgekrönt wurden. Die Autorin ist verheiratet und lebt in der Nähe von Stuttgart.

Die bei jumpbooks erschienenen Mädchenbücher von Sissi Flegel findet ihr am Ende dieses Buches.

Die Autorin im Internet: www.sissi-flegel.de

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eBook-Neuausgabe November 2016

Copyright © der Originalausgabe 2011 cbj Verlag, München

Copyright © der Neuausgabe 2016 dotbooks GmbH, München

Copyright © 2016 jumpbooks Verlag. jumpbooks ist ein Imprint der dotbooks GmbH, München.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Deign unter Verwendung von shutterstock/brickrena (Hipstermädchen), sumkinn (Schneeflocken)

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN 978-3-96053-194-4

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Sissi Flegel

Schneeballflirt und Weihnachtszauber

Eine Liebesgeschichte in 24 Kapiteln

jumpbooks.

Kapitel 1
1. Dezember

Zitternd vor Kälte stand ich auf dem Speicher unseres alten Hauses. Es regnete in Strömen; der eisige Dezemberwind pfiff durch die Ritzen im Dach und wirbelte Staub auf, der als winzige silberne Pünktchen in der Luft schwebte.

Mit gerunzelter Stirn starrte ich in den fast blinden Spiegel und drehte mich unschlüssig um mich selbst. »Wie sehe ich aus? Findest du nicht, dass ich mich in dem Aufzug zum Affen mache?«

»Absolut nicht.« Melanie, meine Cousine, strich die Falten des langen weißen Nachthemds meiner Urgroßmutter glatt. »Du bist der schönste Engel, den ich je gesehen habe.«

»Kunststück! Ich bin ja auch der einzige, der dir je erschienen ist!« Melli kicherte. Sie befestigte die Flügel aus weißen Kunststofffedern auf meinem Rücken. »Du siehst einfach umwerfend aus; jeder wird stehen bleiben und dir was spenden. Hundert Pro.«

»Wenn du meinst? Mensch, Melli, das ist garantiert die verrückteste Idee des Jahrhunderts.«

»Spinnst du?. Sie ist einfach genial, und das weißt du auch.« »Hm.« Ich zupfte an den langen goldenen Locken meiner Engelshaare. Die Perücke saß ein bisschen lose auf meinem Kopf; wenn ich ihn schnell bewegte, rutschte sie mir übers linke Auge. »Jeder wird mich erkennen! Ich muss eine Sonnenbrille aufsetzen«, jammerte ich.

»Ja klar! Wie wäre es mit einem weißen Nikolausbart?«, spottete sie. »Ich weiß was Besseres. Du schiebst dir Wangenpolster in den Mund. Die verändern total das Gesicht.«

»Kann man damit Mundharmonika spielen? Und wo bekommt man sie?«

»Ich hab sie schon.« Melli holte ein Päckchen aus ihrer roten Tasche und wickelte es auf »Hier. Schieb sie dir in den Mund. Ich habe sie benutzt, als ich voriges Jahr den Clown in der Theater-AG gespielt hab. Erinnerst du dich?«

Melli ging in meine Paraklasse. »Klar erinnere ich mich. Hast wohl vergessen, sie zurückzugeben, was? Sag mal, klebt deine Spucke noch dran?«

»Ich hab sie gewaschen. Sogar mit warmem Wasser und Flüssigseife«, versicherte sie. »Los, worauf wartest du?«

Ich legte die Wangenpolster ein, und als Melli mir noch den Reif mit den goldenen Sternchen in die Engelslocken drückte, erkannte ich mich selbst nicht mehr, Flugs hielt ich die Mundharmonika an die Lippen und blies Kommet ihr Hirten.

»Na, geht doch.« Zufrieden tupfte Melli einen Klecks Rouge auf meine Backen. »Toll siehst du aus. Dein Foto in der Zeitung wird der Knüller Der schönste Engel macht Station in unserer Stadt. Womit haben wir das verdient?«

»Mit meinem Mega-Pech«, sagte ich düster. Wir sahen uns bedeutungsschwanger an. »Wie kann ein Mensch nur so ins Unglück geraten?«, fragte ich meine Cousine. Sie antwortete mit einem tiefen Seufzer. Der sagte alles.

Dann nahm sie mir den Reif aus den Haaren und die Flügel vom Rücken, ich zog das Urgroßmutter-Nachthemd aus und zerrte die Wackelperücke vom Kopf. Wir versenkten alles in einem Reisekoffer, der seit vielen Jahrzehnten auf dem Speicher Staub ansetzte, und gingen zum Aufwärmen in mein Zimmer.

»Ich kann nur zwei Lieder spielen«, sagte ich bedrückt. »Kommet ihr Hirten und Ihr Kinderlein kommet. Sag mal, warum kommet die Leute in den alten Liedern?«

Melanie zuckte die Schultern. »Null Ahnung. Könntest du nicht was Flotteres bieten? Ich denke an Jingle Beils.«

»Bist du wahnsinnig? Versuch das mal auf der Mundharmonika!«, protestierte ich entsetzt. »Das schaffe ich nie!«

»Na dann … macht nichts. Wenn du von jedem Lied alle Strophen spielst, reicht das für einen ganzen Nachmittag«, sagte sie entschieden. »Die Passanten kommen und gehen. Kein einziger wird sich alle Strophen anhören – ich jedenfalls würde das langweilig finden.«

»Genau das ist das Problem. Fünf Mal dasselbe Lied ist langweilig. Für mich und für die Hörer.«

»Na und? Das bisschen Langeweile dient einem guten Zweck. Vergiss das nicht, Katinka. Oder willst du etwa Weihnachten hier feiern?«

Ich nahm meinen Kopf in beide Hände und stöhnte laut. »Niemals! Ich hasse Weihnachten!«

Das war nicht gelogen. Und übertrieben schon gar nicht.

Ich hasste Weihnachten. Fürchtete Weihnachten. Würde es nie mehr feiern. Niemals nie. Never ever. Dabei hatte ich Weihnachten geliebt; früher hatte ich mich spätestens am Ende der Sommerferien darauf gefreut, denn Weihnachten wurde in meiner Großfamilie ausgiebig und mit allen Schikanen gefeiert; für uns war es DAS Fest im Jahr!

Warum? Meine Eltern, ich und meine jüngeren Zwillingsschwestern leben und wohnen mit meinen Großeltern und meiner Großtante Katrin, der unverheirateten Schwester meines Großvaters, mit Daisy, der Katze, und Popeye, unserem Schäferhund, in einem Haus am Rand unserer Kleinstadt mitten zwischen Feldern und Wiesen, die alle uns gehören. Das Haus ist riesig, weil es immer wieder an- und umgebaut wurde, mit dem Ergebnis, dass meine Schwestern und ich und unsere Freundinnen stundenlang Verstecken spielen können.

Das Leben in einer Großfamilie ist herrlich. Meine Großtante Katrin zum Beispiel hat mir letzten Winter Stulpen gestrickt, die sind erste Sahne. Sie sind so lang und haben ein so tolles Muster, dass meine Freundinnen vor Neid erblassten. Überhaupt ist Tante Katrin super und ein Meister in Multitasking. Sie kann drei Sachen auf einmal erledigen: Lesen, Radio hören und mehrfarbige schwierige Muster stricken. Außerdem hat sie einen zahmen Beo, der aus Indien kommt und Sahib heißt. Ein Beo ist ein Vogel, der aussieht wie eine schwarze Krähe mit einem gelben Streifen am Kopf Tante Katrin hat, während sie komplizierte Muster strickte, ihrem Sahib das Sprechen beigebracht. Faules Stück! Willst du einen Keks? Wo bleibt mein Futter? Gib Küsschen! Nimm die Pfoten weg, blöde Katze! – das krächzt er astrein. Etliche Flüche kann er auch; Tante Katrin behauptet aber, die habe er nicht von ihr gelernt.

Meine Großmutter dagegen kann Geschichten erzählen. Als meine Schwestern und ich noch kleiner waren, sind wir morgens immer zu ihr ins Bett geschlüpft und haben uns Märchen erzählen lassen. Das war toll.

Mein Großvater kann weder stricken noch Märchen erzählen. Als ich vier wurde, schenkte er mir ein Pony, auf dem ich und später auch meine Schwestern reiten lernten. Vorigen Sommer brachte er mir das Traktorfahren bei, was mein Vater und meine Mutter ziemlich ätzend fanden.

Alles in allem muss ich sagen, dass das Leben in einer Großfamilie einfach herrlich ist. Mit geringfügigen Ausnahmen natürlich, die man normalerweise vernachlässigen kann.

Normalerweise.

Was mir passierte, ist leider nicht normal. Es war, ehrlich gesagt, der absolute Horror. Ich übertreibe nicht!

Natürlich fing alles ganz harmlos und genial schön an: Ich verliebte mich.

Das Tolle war, dass Daniel mich genauso liebte wie ich ihn. Ständig waren wir zusammen. Ich dachte den ganzen Tag nur an ihn. In den Nächten träumte ich von ihm. Morgens beim Aufwachen freute ich mich auf ihn. Die Schule konnte mir gestohlen bleiben. Meine Zeit gehörte Daniel.

Klar, dass ich keinen Bock auf Hausaufgaben hatte, klar, dass ich miserable Noten schrieb. Klar, dass meine Versetzung gefährdet war und meine Eltern zu meiner Klassenlehrerin pilgerten, sich ihre Klagen anhören mussten und sich sehr elend fühlten.

Sie waren stocksauer und trieben einen Nachhilfelehrer auf. Der wohnte mitten in der Stadt. Das bot mir Gelegenheit, mich mit Daniel zu treffen.

Muss ich noch mehr sagen?

Jetzt drehe ich eine Ehrenrunde. Voll der Mist und großes Pech. Bis Halloween machte es mir im Grunde genommen wenig aus. Leider war es aber nur das erste Kapitel meiner Pechgeschichte. Zu Halloween wurde mir das zweite, noch viel schrecklichere, serviert. Es traf mich ohne Vorankündigung und ging so:

Die Leute von der SMV planten eine große Halloween-Party. Für mich war klar, dass Daniel und ich gemeinsam und in Pärchenverkleidung hingehen würden: er als Vampir ganz in Schwarz, und ich in einer langen schwarzen Robe, die ich mir von einer Freundin meiner Mutter geliehen hatte. Den blutroten Lippenstift und die weiße Schminke hatte ich mir natürlich auch schon besorgt.

Am Tag vor der Party sagte Daniel, er würde am Nachmittag zu mir kommen. War ja klar, dass ich dachte, die Kostümprobe stünde auf dem Programm, oder?

Jedenfalls – als er kam, schickte ihn Großtante Katrin in mein Zimmer. »Wo hast du dein Kostüm?«, fragte ich gleich und deutete auf die Robe, die ich schon mal aufs Bett gelegt hatte.

»Katinka«, nuschelte er. »Katinka, ich muss dir was sagen.«

»Was denn?«

»Die Party fällt flach. Das heißt, sie fallt nicht flach. Sie fallt nur für uns beide flach.«

»Ja was denn nun?«, fragte ich verdutzt. Ich stand voll auf der Leitung. »Wie kann die Party flachfallen, wenn sie doch nicht flachfällt?«

»Es ist so …« Daniel wand sich wie ein Wurm. Dann holte er Atem und sagte so schnell, dass ich mit Hören kaum nachkam: »Ich hab mich in Tina verliebt. Deshalb gehe ich nicht mit dir, sondern mit ihr zur Halloween-Party.«

»Aber –«

»Tut mir leid«, sagte er noch. Dann rannte er raus und war weg.

Ich starrte fassungslos auf die Tür. Was hatte Daniel gesagt? Er hatte sich verliebt. In wen hatte er sich verliebt? In Tina.

Tina ist – war – meine allerbeste Freundin. Seit der ersten Klasse saßen wir nebeneinander, bis ich die Ehrenrunde drehte.

Es dauerte, bis ich kapiert hatte, dass ich versetzt worden war. Dass sich meine allerbeste Freundin meinen ersten Freund gekrallt hatte. Dass die Halloween-Party Schnee von gestern war. Dass ich mir die Ausgaben fürs Make-up und den blutroten Lippenstift hätte sparen können. Dass ich gerade ganz umsonst ein Jahr meines Lebens für den miesen Kerl opferte.

Plötzlich wurde ich so wütend, dass ich das Fenster öffnete und das Make-up und den Lippenstift in hohem Bogen in den Garten schleuderte. Meine Schulbücher und die Hefte knallte ich an die Wand, mit einem Fußtritt beförderte ich den Stuhl in die Ecke – und dann standen Großtante Katrin und meine Oma im Zimmer. »Aber Katinka! Was ist denn in dich gefahren?«

Na ja … Meine Familie tat ihr Bestes, mir über meine Verluste hinwegzuhelfen: Die beste Freundin! Den ersten Freund! Einen solchen Schicksalsschlag verdaut man nicht so leicht, kann ich nur sagen. Ich wünsche niemand, dass er diese Erfahrung machen muss. Außer Tina und Daniel natürlich. Den beiden wünsche ich noch viel schlimmere Erfahrungen – sie sollen einen unheilbaren Ausschlag im Gesicht, ekligen Mundgeruch und Totalhaarausfall bekommen! Tausend Pro!!!

Zurück zur Großfamilie.

Das Atzende ist, dass jeder alles mitbekommt. Und genau das ist der Grund, weshalb ich jetzt Weihnachten hasse und fürchte wie die Pest. Wenn nämlich alle Onkel, Tanten, Cousinen und Cousins zu Heilig Abend wie die Heuschrecken in unser Haus einfallen, wird es nur ein Thema geben: Katinka.

Katinka, die wegen ihrer ersten Liebe eine Ehrenrunde dreht.

Katinka, die ja mit ihrem Freund ein solches Pech hatte.

Katinka, deren beste Freundin sich als biestiges Luder entpuppte. Katinka, der Unglückswurm, unsere Katinka, der wir über die schwere Zeit helfen müssen …

Prost Mahlzeit!

Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen, sagt man.

Ich habe den Schaden. Muss ich mir auch noch den Spott – und das Mitleid – antun?

Nein, muss ich nicht. Will ich nicht. Werde ich nicht. Ich werde Weihnachten entfliehen. Ich reise ab.

Doch dafür brauche ich Knete.

Genau die erspiele ich mir mit der Mundharmonika und als Engel verkleidet in der Fußgängerzone. Ich schaffe das. Ich kann immerhin zwei Lieder spielen, wohingegen Melli nicht mal weiß, wo bei der Mundharmonika oben und unten ist.

Klar, Geige oder Flöte wären edlere Instrumente, aber leider reicht es bei mir nur zur Mundharmonika. Aber auch das ist ein schönes Instrument, finde ich. Die Frage ist nur, ob die Leute in der Fußgängerzone das auch finden.

Kapitel 2
2. Dezember

Wegen des starken Regens verschob ich mein Engelsdebüt auf den nächsten Tag. Traurig machte mich das nicht, denn ehrlich gesagt ahnte ich, dass ich mich mit meiner Mundharmonika bis auf die Knochen blamieren würde.

Ich setzte mich in die Fensternische in meinem Zimmer. Das ist mein Lieblingsplatz, den ich mit vielen Kissen gepolstert und gemütlich gemacht hatte. Der Wind heulte ums Haus, er peitschte die Regentropfen gegen die Scheibe und fegte die letzten Blätter von den Zweigen.

So ein Wetter liebe ich, weil es so schön schaurig ist!

Plötzlich klatschte ein großes braunes Kastanienblatt gegen das Glas und blieb daran kleben, ich erschrak, und wie eine Woge schlug die Erinnerung an mein Pech über mir zusammen.

Mensch, wegen eines Kerls ein ganzes Jahr länger zur Schule gehen zu müssen! Wie blöd kann man eigentlich sein, stöhnte ich und krallte meine Fingernägel so in die Handflächen, dass es richtig wehtat. Aber der Gipfel des Schlamassels war, dass er jetzt mit meiner allerbesten Freundin zusammen und meine ganze Liebe komplett umsonst gewesen war. Ich Volltrottel hatte den Kerl geliebt! Und meiner Freundin hatte ich vertraut! Ich war so sauer auf mich, dass ich mir jedes Haar hätte einzeln vom Kopf rupfen können.

Ein Windstoß brachte das Fenster zum Klirren und mich zur Besinnung: Da musst du durch, Katinka, sagte ich mir. Nichts wird besser, wenn du nur rumjammerst und als heulendes Weichei durch die Gegend schleichst. Also nimm dich gefälligst zusammen! Mach was draus, aber dalli!

Mein Blick fiel auf die Mundharmonika und erinnerte mich an Weihnachten. Eines war klar: Meine lieben Verwandten würden mich mit Sätzen zudröhnen wie Selbst schuld; das hast du davon, wenn du dich in den Falschen verliebst, oder Der Schmerz lässt bald nach, oder Lass dir das eine Lehre fürs Leben sein. Die würden mir wirklich den letzten Nerv rauben – ich musste Weihnachten abhauen!

Da platzte meine Cousine Melanie ins Zimmer.

»Mensch, Katinka! Ich bin am Ende! Total durch den Wind! Wie kann mein Vater mir das antun? Ich fass es nicht!«

Ich zog die Beine an, damit sie sich auch auf die Fensterbank setzen konnte. Vor drei Jahren ist Mellis Mutter gestorben. Seitdem lebt sie mit ihrem Vater, meinem Onkel Alois, ganz in unserer Nähe in einem kleinen Häuschen. »Was ist los?«

»Mein Vater hat ’ne Neue!«, platzte sie heraus. »Wie kann er mir das antun?«, wiederholte sie empört, »Wo doch meine Mutter erst seit drei Jahren tot ist! Ich meine, er kann doch nicht so tun, als habe es sie nie gegeben!«

»Klar«, sagte ich mitfühlend. »Eine Neue ist ein echter Schock für dich. Aber was macht es schon, wenn er ab und zu mal mit jemand ausgeht?«

»Das ist es ja gerade«, schrie sie. »Er hat mir erst heute gesagt, dass er sie schon seit einem Jahr kennt! Und jetzt, jetzt …!«

»Ja?«

»Jetzt will sie in unser Haus einziehen!«

»O Sch …! Das ist allerhand!«

»Eben! Die Tussi wird meine Stiefmutter! Kannst du dir das vorstellen? Ich bekomme eine Stiefmutter!« Bei dem Wort schlug sie die Hände vors Gesicht und stöhnte. »Stiefmutter! Mir geht es wie den armen Mädchen im Märchen, Katinka!«

»Nun mach mal langsam, Melli. Wann soll sie denn einziehen?«

»Bald! Im Frühjahr!«

»Ach so«, meinte ich beruhigend, »das ist noch lange hin. In ein paar Monaten kann viel passieren; wenn ich an den Kerl, an Daniel denke –«

Melli nahm die Hände vom Gesicht. »Du verstehst nicht, Katinka. Mein Vater will die Neue der ganzen Familie vorstellen. Wann ist dafür die beste Zeit? Wann sind alle zusammen? Wann sind sämtliche Großmütter, Großväter und so weiter und so fort in Feierlaune?«

Ich riss die Augen auf »An Weihnachten?!«

»Du sagst es. An Weihnachten wird er sie präsentieren. Aber das ist noch nicht alles.« Mellis Augen füllten sich mit Tränen. Normalerweise haut meine Cousine so leicht nichts um; wenn sie jetzt heulte, war die Sache ernst. Und sie war ernst – sie war sogar ein echter Schocker.

»Die Frau ist nicht allein. Die Frau –« Melli schluckte nervös, »– hat ein Kind. Das bringt sie natürlich mit.«

»Ach du Scheiße! Eine Stiefmutter und ein – was ist’s denn? Ein Sohn oder eine Tochter?«

Melli hob die Schultern. »Keine Ahnung. Als mein Vater mir sagte, sie wäre seit einem Jahr seine Freundin, bin ich abgehauen. Verstehst du? Ich wollte nichts mehr hören! Ich konnte es einfach nicht!«

»Klar. Wäre mir auch so gegangen. So ’ne Nachricht muss man erst mal verdauen.« Mir fiel etwas ein. »Kennst du sie eigentlich? Hast du sie schon mal gesehen?«

Melli schüttelte den Kopf »Sie wohnt in der Stadt.«

»Aha.« Die Stadt – das bedeutete nicht Unsere Kleinstadt, sondern die Großstadt, die zwanzig S-Bahn-Minuten entfernt war. »Wo? In welcher Straße?«

»Wieso? Was soll ich mit einem Straßennamen?«

»Wenn du wüsstest wo sie wohnt, könntest du dir einen Eindruck von ihr verschaffen. Überleg doch, Melli! Vielleicht findest du sie sogar ganz nett!«

»Ich sie nett finden?«, jaulte sie auf »Niemals nie! Selbst wenn sie heilig wie Maria und schön wie Heidi Klump wäre, würde ich sie hassen!«

»Tja dann.« Ich runzelte die Stirn und wusste nicht weiter.

»Eins sag ich dir, Katinka. Weihnachten ist für mich –«

In diesem Augenblick platzten meine Zwillingsschwestern Line und Lene ins Zimmer.

»Raus!«, fauchte ich sofort. »Ihr stört!« Dann stutzte ich. »Ist was?«

Line und Lene sind elf und somit zwei Jahre jünger als ich; sie sind, um es vorsichtig auszudrücken, eine einzige Katastrophe. Keine Woche vergeht, in der sie nicht etwas anstellen, und im Moment sah es ganz danach aus, als wäre wieder etwas passiert. »Ist was?«, wiederholte ich, aufs Schlimmste gefasst.

Line nickte. »Wir haben es aber nur gut gemeint!«

»Ja«, bestätigte Lene, setzte sich auf den Fußboden und zog ihre Schwester nach. »Wir wollten ja nur dich rächen, Katinka.«

»Genau. Es hat lange gedauert, bis wir uns was Pfiffiges überlegt hatten. Es war pfiffig, nicht wahr, Line?«

Die nickte. »Obersuper war es. Und genial einfach war’s auch.«

»Und geklappt hat es wie am Schnürchen«, versicherte Lene. »Das Blöde war nur, dass Daniel uns gesehen hat, wie wir über den Hof rannten. Eine halbe Sekunde später, und wir wären nie erwischt worden.«

Line hob die Hände und jammerte theatralisch: »Eine halbe Sekunde trennte uns vom Erfolg!«

»Gut, das wissen wir jetzt«, sagte ich ungeduldig. »Was habt ihr angestellt?«

»Angestellt haben wir eigentlich nichts.« Die beiden sahen sich an. »Ehrlich, Katinka, wir wollten dich nur rächen.«

»Und im Grunde genommen haben wir dich gerächt«, versicherte Line. »Nur dass wir eben dabei erwischt wurden. Sag mal«, wandte sie sich an Melli. »Hast du geheult? Warum denn?«

Ich hob die Hand. »Eins nach dem anderen. Zuerst berichtet ihr uns, wobei ihr erwischt wurdet.«

Wieder sahen sich die beiden an. Ihr Blick sagte mir, dass sie nicht mit der vollen Wahrheit rausrücken, sondern uns einen geschönten Bericht auftischen würden.

»Also«, begann Lene vorsichtig, »es ist doch so, dass dich der garstige Daniel, der hundsgemeine Kerl mit dem treffenden Familiennamen Garstig, eiskalt versetzt hat.«

»Deshalb wollten wir uns an ihm rächen«, fuhr Line fort. »Und wir haben uns – ich meine, wir haben dich gerächt.«

Lene kicherte. »Wir wollten, dass sich seine neue Freundin vor ihm ekelt. Zuerst haben wir den Kragen seiner Jacke mit Knoblauchzehen eingerieben. Das hat vielleicht gestunken!«

»Wo und wie –«

»Das war einfach; wir wissen ja, an welchem Haken in der Schule seine Jacke hängt. Aber das war erst der Anfang. Immer wenn die beiden, Daniel und deine liebe Freundin Tina, auf dem Schulhof beieinander standen, haben wir in ihrer Nähe eine Stinkbombe zertreten. Aber das alles hat leider nicht so gewirkt, wie wir es uns vorgestellt hatten. Also–«

» – haben wir heute Mittag …«

»Voll der Wahnsinn war das! Und so einfach!« Line lachte lauthals.

»Daniels Eltern bewirtschaften doch die Sportgaststätte. An der Decke hängen diese Rauchmelder, und neulich haben wir im Fernsehen gesehen, wie man die auch ohne Feuer …« Die beiden lachten wie die Verrückten.

»Ich kapiere nichts«, beschwerte sich Melli. »Was genau habt ihr getan?«

Mir dämmerte längst, was meine Zwillingsschwestern angestellt haben könnten. »Habt ihr eine Kerze unter den Rauchmelder gehalten?«

Beide schüttelten gleichzeitig den Kopf »Nnnnein. Nicht nur. Im Fernsehen wurde gezeigt, wie einer auf einen Stuhl stieg und den Rauch seiner dicken Zigarre direkt in den Rauchmelder blies. Zuerst dachten wir –«

Line holte ein Päckchen Zigaretten aus der Jeanstasche. »Die haben wir gekauft und mal probegepafft, aber davon wurde uns schlecht. Deshalb –«

Lene deutete mit dem Zeigefinger zum Fenster. »Wir haben’s mit einem Tannenzweig gemacht. Weil doch jetzt Advent ist«, setzte sie hinzu.

»Ich steh voll auf der Leitung«, beschwerte sich Melli erneut.

Line warf ihr einen vernichtenden Blick zu. »Okay, damit auch du es kapierst, Melanie. In der Sportgaststätte von Daniels Eltern hängen in der Gaststube, im Flur und vorm Klo Rauchmelder an der Decke.«

»Wir wussten nur nicht, ob nur eine Sirene angehen oder ob sogar Wasser regnen würde«, erklärte Lene. »Beides war für uns in Ordnung. Also kamen wir durch den Hintereingang, schlichen uns erst mal ins Klo und horchten. Die Gaststube, das hatten wir gesehen, war zu Mittag gerammelt voll. Nach einer Weile holte ich eine der leeren Kisten, die im Hinterhof rumstehen, Line stand Schmiere, ich stieg auf die Kiste, zündete die Kerze an und hielt einen Tannenzweig in die Flamme. Sofort roch es nach Weihnachten, und der Qualm ringelte sich zum Rauchmelder hoch. Plötzlich – « Wieder lachten die beiden los. »Das Blöde war, dass ausgerechnet Daniel in den Hof radelte und uns gerade noch sah, wie wir um die Ecke spurteten.«

»Aber das Geschrei der Gäste haben wir noch mitbekommen«, sagte Lene zufrieden. »Die wurden nämlich patschnass!«

»Ach du grüne Neune! Das habt ihr heute Mittag gemacht?«

Line und Lene nickten.

»Und Daniel hat euch gesehen? Na, dann könnt ihr euch ja auf einiges gefasst machen.«

Sie nickten ein zweites und ein drittes Mal.

In diesem Augenblick hörten wir, wie ein Auto in den Hof fuhr und vorm Eingang bremste. Sofort hingen wir am Fenster. »Das ist das Auto von Daniels Vater«, flüsterte ich. »Was machen wir jetzt?«

»Rauf auf den Speicher mit euch«, sagte Melli hastig.

»Zu spät! Daniels Vater ist schon ins Haus gegangen.« Bei uns auf dem Land wird die Haustüre erst abends abgeschlossen. »Versteckt euch im Kleiderschrank!«

Gesagt getan. Melli und ich warteten.

Zuerst tat sich nichts, dann hörten wir aufgeregte Stimmen in der Halle, dann knarrte die Treppe unter den Schritten, dann stand Großtante Katrin im Zimmer. Sahib hockte auf ihrer Schulter und krächzte Gib Küsschen! und Wo bleibt mein Futter? »Halt den Schnabel, Sahib! Wir suchen Line und Lene.«

Hinter ihr drängelte Daniels Vater herein.

Melli und ich sahen erstaunt aus der Wäsche. »Du suchst Line und Lene, Großtante Katrin? Also wir beide sitzen schon seit einer Ewigkeit am Fenster.«

Großtante Katrin drehte sich um. »Hier sind die Zwillinge nicht. Überzeugen Sie sich selbst, Herr Garstig, schauen Sie nur auch unters Bett.«

Melli stieß mich an, Daniels Vater knurrte Unverständliches. Er gab zu, dass Line und Lene nicht zu erblicken waren und zog mit Großtante Katrin ab.

Melli und ich warteten. Wir holten die Zwillinge erst dann aus dem Schrank, als der garstige Herr Garstig abgefahren war. »Versteckt euch auf dem Speicher, ich bringe euch später etwas zu essen«, drängte ich. Dann schaute ich Melli streng an. »Was ist mit Weihnachten?«

Meine Cousine strich sich die Haare aus dem Gesicht. »Eins sage ich dir, Katinka. Weihnachten ist für mich –

Wie von einer Wespe gestochen fuhr sie zusammen. Ich schnellte vom Sitz und horchte. »W … was war das?«, stammelte ich.

Kapitel 3
3. Dezember

Der Krach kam von oben, vom Speicher«, sagte ich hastig und war auch schon an der Treppe. Melli und ich jagten hoch, vorbei an den gelbstichigen Fotos, die in schwarzen Rahmen meinen Urgroßvater Jobst auf seiner Wanderschaft durch die Schweiz und Italien zeigen, stießen die Türe auf – und standen in einer dicken grauen Staubwolke. Wir husteten und kniffen die Augen zusammen, bis wir endlich Line und Lene in einem Haufen alter Kleidungsstücke liegen sahen, und dicht daneben den umgestürzten wurmstichigen Schrank.

»Nix passiert«, sagte Line und nieste.

»Ne. Ehrlich nicht«, versicherte Lene sofort.

Plötzlich standen alle neben uns: Oma Anni, Opa Menno, Großtante Katrin mit Sahib auf der Schulter, Vater und Mutter, die ganz verzweifelt rief: »Ist euch etwas passiert, Kinder? Seid ihr verletzt?«

Opa Menno hatte nur Augen für den Schrank. »Das schöne gute Stück«, jammerte er. »Anni, dein Aussteuerschrank ist futsch!«

»Quatsch, Menno«, widersprach Großtante Katrin. »Du übertreibst mal wieder.« Sie beugte sich zu Line und Lene runter. »Warum steht ihr nicht auf?«

»Wir können nicht.« Line deutete auf etwas, das sich unter dem Haufen Kleidungsstücke verbarg. Mit einem Ruck zog Vater alles beiseite. Da sahen wir die Bescherung: Die beiden saßen in der Falle. Einer rot-gelben Falle. »Katrin«, sagte Oma Anni, »ist das nicht deine Hängematte?«

Da kam Leben in unseren Vater! »Was hattet ihr vor?«, brüllte er. Mit einem zitternden Finger deutete Line zuerst auf einen Balken, dann auf den umgestürzten Schrank. »Wir haben das eine Ende an dem Balken befestigt und das andere Ende der Hängematte in die Schranktüre geklemmt, aber –«

»Wir konnten ja nicht wissen, dass der Schrank auf morschen Füßen stand«, fiel ihr Lene ins Wort. »Aber uns ist ja nichts passiert, also macht kein solches Theater!«

»Theater?«, schnaubte Vater. »Nur Theater?! Ich werde euch Beine machen! Zuerst setzt ihr Garstigs Kneipe unter Wasser, dann schrottet ihr den schönen alten Schrank! Das ist zu viel an einem einzigen Tag!«

Wie begossene Pudel zogen meine Schwestern mit der Familie ab. Melli und ich blieben zurück. »Mensch, wenn sie mein Engelskostüm gefunden hätten? Daran habe ich in der ganzen Aufregung überhaupt nicht mehr gedacht!«

»Ja. Nochmals gut gegangen«, sagte Melli knapp. »Übrigens – zum Thema Weihnachten: Das Fest ist für mich gelaufen. Katinka, du musst so viel Geld verdienen, dass ich mit dir abhauen kann.«

Ich starrte auf den Schrank und dachte gerade daran, dass er ja auch auf meine Schwestern stürzen und sie unter sich hätte zerquetschen können und entgegnete zerstreut: »Du? Wieso willst du abhauen?«

»Mensch, hast du mir nicht zugehört?«, empörte sich Melli. »Für mich ist das Fest auch gestorben! Überleg doch: Mein Vater hat ’ne Neue! Er will sie Weihnachten der Familie vorstellen! Erinnerst du dich jetzt?«

»Klar … «

»Die Neue bringt ihr Kind mit, Katinka! Meinst du, ich will wie das fünfte Rad am Wagen daneben stehen und zusehen, wie alle Bussi-Bussi machen und sich umarmen?«

»Du wärst das vierte Rad«, stellte ich richtig. »Und du weißt nicht, wie alt das Kind ist. Vielleicht ist es ein niedliches Baby mit Kulleraugen und einem winzigen Naschen – du weißt schon, so was Nettes zum Knuddeln.«

»Ich pfeif auf das Knuddelbaby«, fauchte Melli. »Ich haue ab. Und du musst mir dabei helfen, du musst uns die Knete erspielen.«

»Mit zwei Liedern auf meiner Mundharmonika. In der weihnachtlichen Fußgängerzone. Klar. Nichts leichter als das.« Ich funkelte Melli an. »Und was tust du? Womit scheffelst du Knete?«

»Ich kann kein einziges Instrument spielen. Singen kann ich auch nicht. Ich kann nichts, Katinka.«

»O doch! Du kannst was tun, Melanie! Du wirst den Leuten die Büchse unter die Nase halten und niemand, hörst du: niemand! vorbeilassen, bevor er nicht einen halben oder ganzen Euro eingeworfen hat.« Mann, war ich wütend! »Ich verstehe ja, dass du dem Familienschlamassel entkommen möchtest! Wir beide wollen das, klar, aber nur dasitzen und sagen: Katinka, scheffel Knete! – also da mache ich nicht mit.«

Es ging noch ein bisschen hin und her, dann war Melli einverstanden. »Gut, ich halte die Büchse. Aber nur so lange, bis ich eine bessere Idee habe. Kapiert?«

»Das ist mir nur recht. Wir brauchen nämlich viel Geld, Melli. Oder willst du etwa in einer gottverlassenen Jugendherberge Weihnachten feiern? Hinter den Bergen, bei den sieben Zwergen? Ohne Jungs, ohne Fernseher, ohne überhaupt nichts? Vielleicht mit Würstchen in Tomatensauce? Nee du, ich will was Schickes, Komfortables.«

»Was stellst du dir vor, Katinka?«

»Eine Jugendherberge fallt auf alle Fälle flach. Aber ich hab da neulich was über ein Jugendhotel gelesen. Junge, da ging die Post ab! Da waren alle Zimmer belegt; ein Drittel von Mädchen, zwei Drittel von Jungs. Männerüberschuss – stell dir das mal vor! Ein Fest, bei dem ein Mädchen zwischen zwei Jungs wählen kann!«

»Genial!«

»Genau! Verstehst du jetzt, weshalb wir massenhaft Knete brauchen? Und weshalb ich mich tierisch aufregen würde, wenn ich deinetwegen auf ein Jugendhotel verzichten und in einer billigen Herberge versauern müsste? Und das an Weihnachten, wo es sich hier alle gut gehen lassen und feiern, dass es nur so kracht?« Fast kamen mir die Tränen. Ich schluckte sie runter. »Okay, Melli. Wir schaffen das.«

»Klar.« Das kam nicht überzeugend rüber. »Ich hab was gespart.«

»Echt? Wie viel ist es denn?«

Melli runzelte die Stirn, so scharf dachte sie nach. »Zwanzig Euro werden es schon sein.«

Ich lachte verächtlich. »Das reicht nicht mal für einen lag, Melli!«

»Verstehe.« Plötzlich strahlte Melli mich an. »Ich werde meinem Vater sagen: Paps, dieses Jahr wünsche ich mir nur Geld.«

»Dann fragte er dich sofort, wofür du es haben möchtest.«

»Für neue Skier!«

»Die kauft er zusammen mit dir. Dann ist das Geld weg und du bist keinen Schritt weitergekommen.«

»Auch wahr.«

Weil bei uns miese Stimmung herrschte, blieb Melli nicht zum Abendessen. Mir war das nur recht; ich hatte nämlich eingesehen, dass zwei Lieder eindeutig zu wenig waren. Also verzog ich mich nach dem Abendessen in mein Zimmer und machte mich an Jingle Beils.

Den ersten Teil hatte ich ziemlich schnell intus, aber beim zweiten haperte es doch gewaltig. Na ja, sagte ich mir, ich würde es eben langsam anlaufen lassen und mich von Tag zu Tag steigern.

Ich malte mir aus, dass ich meine Zuhörer täglich mit einem neuen Lied überraschen würde. Meine Fans würden gespannt aufs neue Lied herbeiströmen … Voll der Hammer wäre das!

Ich schwelgte in meinem Wunschtraum und übte noch ein bisschen den zweiten Teil von Jingle Beils, in dem es heißt Wenn die Winterwinde wehn, wenn die Tage schnell vergehn, als mich ein Scharren und Schleifen stutzig machte. Das kam von oben, vom Speicher – du lieber Himmel! Mein Engelskostüm im Reisekoffer!

Die Mundharmonika landete in hohem Bogen auf dem Bett, und ich raste zum zweiten Mal an diesem Tag an den gelbstichigen Fotos meines Urgroßvaters vorbei nach oben. Dort traf mich der Schlag. Naja, nicht ganz, aber doch beinahe: Opa Menno hatte den Schrank aufgerichtet und mit Holzklötzchen unterlegt, sodass er nicht wieder Umfallen konnte, und Omi Anni und Großtante Katrin legten die alten Kleidungsstücke sauber gefaltet in die Fächer. Der Lederkoffer stand keinen halben Meter von ihnen entfernt.

Fieberhaft überlegte ich, wie ich die drei vom Speicher locken könnte. »Sagt mal, wollt ihr heute nicht Tatort gucken? Superspannend soll er sein, und –«

»Heute ist Tatort-Tag?« Großtante Katrin ließ einen lila Pullover aus dicker Wolle fallen. »Den muss ich sehen.«

»Musst du nicht«, entgegnete Omi Anni streng. »Zuerst wird Ordnung gemacht.«

»Hier ist es aber affenkalt. In eurem Alter, finde ich, muss man vorsichtig sein; ihr könntet euch den Tod holen«, warnte ich. »Und überhaupt – morgen ist auch noch ein Tag.«

Opa Manno zwinkerte mir zu. »Den Tatort lasse ich mir nicht entgehen«, meinte er entschieden. »Das Kind hat recht; es ist kalt, und das Licht ist viel zu schwach für unsere Augen, Anni.«

Omi Anni ließ sich nicht umstimmen. »Ihr setzt euch vor den Fernseher. Ich machte hier Ordnung.«

»Wie du meinst!« Opa Manno hielt nichts von Meinungsverschiedenheiten. Er warf einen letzten Blick auf den Schrank, pfiff vergnügt vor sich hin und eilte nach unten.

»Ich kann dich nicht allein lassen«, jammerte Großtante Katrin. »Aber den Tatort will ich sehen. Komm doch mit, Anni.«

»Deine Hände sind schon ganz rot vor Kälte, Omi. Was hast du davon, wenn dir morgen die Nase läuft?« Ich trat von einem Fuß auf den anderen. Wenn Omi Anni allein hier oben bliebe, würde sie unweigerlich mein Engelskostüm entdecken! »Komm schon!«

Omi Anni schüttelte störrisch den Kopf »Später!«

Ich sah ein, dass ich sie mit vernünftigen Argumenten nicht umstimmen konnte. Also musste eine List her! »Dann«, sagte ich und streichelte ihre kalte Wange, »bringe ich dir eben einen heißen Tee nach oben.« Ich drehte mich um, ging über die staubigen Dielen in Richtung Tür und – stieß einen fürchterlichen Schrei aus. »Huch!!! Da … da … das war ’ne Maus!«

Omi Annis Schrei war schrill und drang mir durch Mark und Bein. »Iiiii«! Sie ließ fallen, was sie gerade in den Händen hielt und rannte so schnell und so dicht an mir vorbei, dass ich einen Satz zur Seite machte. Ha, das hatte geklappt! Ich grinste; Mut war Omi Annis Markenzeichen. Sie fürchtete nichts und niemand; mit einer Ausnahme: Mäuse!

Ich eilte ihr hinterher. »Wo sind die Mausefallen?«

»Frag deinen Großvater«, keuchte Omi Anni. »Bevor ich die tote Maus nicht mit eigenen Augen gesehen habe, setze ich keinen Fuß auf den Speicher!«

Das war mir nur recht. Aber eines war natürlich klar: mein Engelskostüm musste raus aus dem alten Lederkoffer. Oder sollte ich doch lieber …? Auf der Treppe machte ich kehrt, ging zum dritten Mal an diesem Tag an den gelbstichigen Fotos vorbei, schnappte den Koffer und schleppte ihn in mein Zimmer, wo ich ihn unters Bett schob.

Man soll nicht auf halbem Weg stehen bleiben, sagte ich mir, riss ein liniertes Blatt vom Block und schrieb:

Nicht öffnen! Weihnachtsgeschenke!

Erst nachdem ich das Blatt mit Tesa aufs Leder geklebt hatte, war ich zufrieden und ging runter ins Wohnzimmer.

Die dicke Luft hätte ich schneiden können! Die Erwachsenen saßen mit ernsten Gesichtern vorm Fernseher und sahen aus, als wären die Mörder in unserer Familie zu suchen – Line und Lene. Die Zwillinge heulten leise; ich wusste, dass das nur Show war. Sie können nämlich etwas, was ich leider nicht kann: auf Knopfdruck heiße Tränen produzieren, mit denen sie im Handumdrehen jeden hartherzigen Erwachsenen erweichen. Damit kamen sie aber heute nicht zum Ziel. »Eine Woche haben wir Hausarrest«, schluchzte Line. »Und das nur, weil wir dich rächen wollten, Katinka.«

»Eure Schwester kümmert sich schon selbst um ihre Angelegenheiten«, schnauzte Vater.

»Klar«, bestätigte ich und dachte daran, dass das bereits morgen der Fall sein würde. »Klar«, wiederholte ich. »Was sein muss, muss sein.« Vor Aufregung schlotterten mir zwar schon jetzt die Knie, aber der Gedanke, dass ich fröhliche Weihnachten in einem schicken Jugendhotel (in dem garantiert lag und Nacht der Bär brummte!) und ganz ohne neugierige Fragen feiern würde, brachte meine Zitterknie zum Stillstand. Dann kehrte ich die verständnisvolle ältere Schwester heraus. »Trotzdem war’s toll, dass ihr euch für mich so ins Zeug gelegt habt. Paps, findest du nicht, dass der gute Wille zählt und eine Woche Hausarrest übertrieben lang ist?«

Line und Lene stöpselten sofort ihre Tränendrüsen zu.

»Blödsinn! Die beiden haben nur einen Anlass gesucht, um jemandem einen Streich spielen zu können!«, fauchte er. »Und überhaupt! Deinen ersten Freund haben sie schon immer für einen Dummkopf gehalten. Ich übrigens auch«, schloss er und warf mir einen Blick zu, der ganz klar sagte, dass er auch mich für einen Dummkopf hielt. »Beim nächsten Freund machst du besser die Augen auf Katinka!«

Line und Lene ließen ihren Tränen wieder freien Lauf.

Ich hielt meine Tränen der Wut zurück und brüllte; »Jeder Mensch hat das Recht, eigene Erfahrungen zu machen!« Dann stürmte ich aus dem Zimmer. Aber was Großtante Katrin sagte, hab ich noch mitbekommen. Sie sagte: »Adrian (so heißt mein Vater), wenn Katinka mit ihrer Meinung ernst macht, steht uns noch einiges bevor.«

War Großtante Katrin eine Hellseherin? Konnte sie in die Zukunft blicken?

Kapitel 4
4. Dezember

Sonntag, den 2. Advent, fasste ich mir ein Herz und trabte todesmutig mit der Sporttasche, in der sich meine Ausrüstung befand, auf den Marktplatz. Dort flitzte ich ins Klohäuschen und stand bald darauf zwischen Wurstbude und Christbaum auf dem Marktplatz – mit zwei Polstern im Mund, dem sternchengeschmückten Reif in den Engelslocken, den dekorativen Flügeln und dem wallenden bodenlangen Gewand meiner Urgroßmutter über Jeans und Anorak. Zuerst stellte ich den Topf fürs Geld aufs Pflaster, dann schaute ich mich um.

Zum Glück war zur Mittagszeit nicht viel los. Gut so; vor Aufregung schlotterten mir nämlich die Knie, und heiß war mir! So heiß wie im Hochsommer, obwohl der Himmel wolkenverhangen war und nichts Gutes verhieß. Mein Magen knurrte, und von der Wurstbude wehte ein köstlicher Geruch rüber, aber ich ignorierte ihn. Katinka, sagte ich mir, du hast keine Wahl, du musst Geld scheffeln! Wenn du das nicht tust, droht dir ein grauenhaftes Weihnachtsfest inmitten deiner schadenfrohen Großfamilie. Also mach schon … Zögernd hielt ich die Mundharmonika an die Lippen und blies Ihr Kinderlein kommet. Na, geht doch, frohlockte ich und setzte gleich zum zweiten Vers an. Niemand blieb stehen, niemand warf einen Euro in den Pott, nur drei Männer in schwarzem Lederoutfit vom Typ Easy-Rider, die sich Bratwurst mit Pommes in den Mund stopften, grinsten zu mir rüber. »Hallo! Lockenkopf!«, rief einer. »Ist das alles, was du auf Lager hast? Das eine Lied?«

Ich schüttelte den Kopf und ging zu Kommet ihr Hirten über. Sie klatschten und stießen sich an. Einer machte eine Bemerkung, worauf alle in fieses Lachen ausbrachen. Schließlich hatten sie ihre Wurst und Pommes gegessen und warfen mir ein paar Münzen in den Topf dreißig Cent waren es, zu wenig für meine Mühe, fand ich. »Wie kann man nur so geizig sein!«, schrie ich ihnen hinterher.

»Üb noch ein bisschen«, spottete einer. »Dann läuft das Geschäft besser!«

Idioten!

Eine Stunde und zwei Euro zehn später legte ich eine Pause ein und verlangte beim Würstchenmann eine heiße Rote mit doppelt Senf Er deutete auf ein total verkohltes Exemplar. »Die könntest du zum halben Preis bekommen.«

Mir war kalt. Ich zog die Nase hoch und beäugte das Angebot. Die Wurst sah aus, als läge sie schon seit einem ganzen Jahr auf dem Rost.

»Na, wie ist’s? Willst du oder willst du nicht?«

»Drei Brötchen, doppelt Senf und Ketchup und die vertrocknete Wurst«, verlangte ich. »Halber Preis.«

»Drei Brötchen? Wir komme ich dazu, dir drei Brötchen zur Wurst zu verkaufen?«

»Meine Lieder bekommen Sie gratis!«

»Ach, das waren Lieder?«, höhnte er. »Ich frag mich schon die ganze Zeit, wo die jaulende Katze sitzt. Weil –« Er hielt eine leere Bierflasche hoch, » – ich sie damit in die Flucht schlagen werde. Das Gejammer ist ja nicht auszuhalten.«

»Ach? Sie verstehen wohl nichts von Musik? Liegt’s an den Ohren? Oder war Ihr Musiklehrer eine Niete?«

Er schüttelte kummervoll den Kopf »Für einen Engel bist du ganz schön frech, Mädchen. Wie heißt du denn?«

Meine Familie war in der Kleinstadt bekannt wie ein bunter Hund. Es war ausgeschlossen, ihm meinen Namen zu verraten. »E … Excelsia«, sagte ich geistesgegenwärtig. »Wir Engel heißen entweder Gloria oder Excelsia.« Weil er so bescheuert aus der Wäsche guckte, setzte ich freundlich hinzu: »Das kommt, weil wir oben im Himmel Tag und Nacht Gloria in excelsis Deo jubilieren. Aber klar, Sie können das nicht wissen, wo Sie doch die Totalniete als Musiklehrer hatten. Bekomme ich jetzt meine Bestellung?«

»Für eine Excelsia hau ich noch ein Brötchen extra drauf« Er schob einen großen Pappteller mit vier Brötchen, der schwarzen Roten samt echt viel Senf und Ketchup über den Tresen. Mit den Dips schmeckte die Wurst wie sonst auch, nur die Brötchen waren ein bisschen leer. Ich lehnte an der Budenwand und ließ mir Zeit.

»Was esst ihr Engel so?«, fragte der Würstchenverkäufer.

»Im Himmel nehmen wir keine Nahrung zu uns«, antwortete ich fromm. »Nur hier auf Erden haben wir Hunger.« In diesem Augenblick kamen fünf, nein, es waren sogar sieben Leute aus der nahen Kneipe, dem Ratskeller. Flugs schob ich den Pappteller beiseite.

»Nicht wegwerfen!«, sagte ich rasch, sprintete an meinen Platz zurück und blies Ihr Kinderlein kommet. Die sieben blieben stehen. »Na, du kleiner Engel! Bei dir hat es wohl nicht zu einer Harfe gereicht, was?«, meinte einer, und eine dünne Frau mit mickrigen braunen Haaren schüttelte sogar den Kopf »Eine Mundharmonika! Ich wusste gar nicht, dass es das Instrument noch gibt!«

Was für eine blöde Tussi … Vor lauter Wut kam ich aus dem Takt und machte jede Menge Fehler. Die Leute lachten, hielten sich die Ohren zu und gingen ohne eine einzige Münze in den Pott zu werfen weiter. »Banausen!«, schrie ich ihnen nach und ging wieder zur Würstchenbude. »Haben Sie das gesehen? Wie kann man nur so fies sein«, wütete ich. »Auch ein Künstler lebt schließlich nicht von Luft, oder?«

»Nimm’s nicht so tragisch«, beruhigte mich der Würstchenmann. »Wenn sich’s erst mal rumgesprochen hat, dass so ein netter Engel auf dem Marktplatz steht, läuft das Geschäft wie geschmiert. Aber das dauert natürlich.«

»War’s bei Ihnen so?«, erkundigte ich mich. »Ich meine, dass Ihr Geschäft erst lief als Sie bekannt waren?«

»Genau. Aber da ist noch was: Die Qualität muss stimmen.« »Ohhh.«

»Ja. Vielleicht übst du noch ein bisschen? Übrigens – ich bin der Ferdi.«

Die Mittagszeit war vorüber, und der Marktplatz belebte sich. Wo nur meine Cousine Melli blieb? Sie sollte doch den Leuten den Pott unter die Nase halten … Keine Spur von Melli. Verdammt aber auch!

Eine Stunde später spielte ich Ihr Kinderlein kommet und Kommet ihr Hirten astrein, und ich hatte tatsächlich mehr als fünf Euro eingenommen. Wenn ich so weitermachen und täglich, sagen wir mal, zehn Euro einspielen würde, hätte ich an Weihnachten genug Knete für ein tolles Jugendhotel. Allerdings müsste Melli ihren Beitrag selbst aufbringen, was nur fair wäre, wo sie mich ja nicht unterstützte. Vor lauter Begeisterung über meinen Erfolg wagte ich mich an Jingle Beils. Der erste Teil klappte, den zweiten Teil blies ich ganz langsam, um nicht zu viele Fehler zu machen. Klasse, dachte ich stolz, absolut super! Keine Ahnung, wie viele Strophen das Lied hatte – Tatsache war, dass ich Jingle Beils nach sechsmaligem Spielen echt flott hinbekam und gegen vier Uhr neun Euro achtzig verdient hatte. Ehrlich gesagt verdankte ich das Geld Ferdis Unterstützung; er forderte seine Kunden nämlich auf das Wechselgeld in meine Büchse zu werfen, was die meisten auch taten. Das war sehr anständig, aber okay, jeder junger Künstler war beim Start seiner Karriere auf Hilfe angewiesen. Jedenfalls – noch zwanzig Cent, dann konnte ich Schluss machen.

Ich klopfte gerade die Spucke aus der Mundharmonika, als mir vor Schreck das Herz stehen blieb: Omi Anni und Großtante Katrin!

Beide trugen ihre großen Einkaufstaschen – na klar, an den Adventssonntagen hatten die Läden aufmarschierten quer über den Marktplatz und kamen direkt auf mich zu!!!

Sofort verwandelten sich meine Beine in Wackelpudding: Was soll ich tun? Wo ist das nächste Mauseloch? Was, wenn sie mich erkennen? Du lieber Himmel!!!

Todesmutig setzte ich die Mundharmonika an die Lippen, blies Jingle Beils und ließ die beiden nicht aus den Augen. Vor mir blieben sie stehen.

»Was für ein netter Engel«, sagte Omi Anni. »Und wie gut er spielen kann! Besser als unsere Katinka, nicht wahr, Katrin?«

Wie gemein!

Großtante Katrin legte den Kopf schief »Ich weiß nicht so recht, Anni. Findest du nicht auch, dass der Engel unserer Katinka ein bisschen ähnlich sieht? Die Größe stimmt …«

»Die Größe schon. Aber sieh dir doch das Gesicht an. Ne, Katinka ist das nicht. Die würde sich nie auf den Marktplatz stellen, meinst du nicht auch?«

»Warum sollte sie auch? Und überhaupt – so mutig wäre sie nicht, wo sie doch kaum ein Lied fehlerlos spielen kann.«

Beide warfen ein paar Münzen in den Pott, lächelten mich fröhlich an, gingen weiter – aber Omi Anni drehte sich um. »Irgendwie kommt mir das Nachthemd bekannt vor, Katrin.«

»Das Nachthemd?« Großtante Katrin kniff die Augen zusammen. »Ich weiß nicht so recht … Ich glaube, es handelt sich einfach um ein gängiges Modell der damaligen Zeit. Komm endlich, Anni, du weißt doch, wie …«

Puh, das war noch mal gut gegangen! Aber was für eine schlechte Meinung sie von mir hatten! Unglaublich war das!

Verbissen spielte ich Jingle Beils weiter und blies gerade die letzten Töne, als mich der nächste Schreck ereilte: Daniel, mein fieser Ex-Lover und Tina, die gemeine Schlange! Hand in Hand kamen sie aus dem Kaufhaus, verlangten von Ferdi zwei heiße Rote mit Pommes und zwei Cola, stellten sich an einen der drei hohen Tische, küssten sich, bissen einen Happen ab, küssten sich wieder, nahmen einen Schluck, küssten sich nochmals. Jingle Beils konnte ich nicht schon wieder spielen, also ging ich zu Ihr Kinderlein kommet über. Tina kicherte. »Ein Kindergartenlied«, spottete sie.

»Klar«, stimmte Daniel ihr zu. »Aber der Engel ist echt süß.«

»Findest du?«, widersprach Tina spitz. »Das Nachthemd ist unmöglich und die Perücke sitzt schief Und die Flügel – also wirklich, Daniel! Nicht mal für tausend Euro würde ich mich so in die Öffentlichkeit wagen!«

Meine Ex-Freundin war echt die allerletzte Schlange!

»Wieso? Du siehst in jedem Outfit zum Anbeißen aus«, sülzte Daniel und küsste die fiese Schlange. Tina kicherte wieder und wuschelte ihm durch die Haare. »Du bist ja so süß, Dani«, hauchte sie.

Einkünfte hin oder her – am liebsten hätte ich Tina den Geldpott ins Gesicht geschleudert. Stattdessen schüttete ich die Münzen in einen Beutel, stopfte ihn und die Mundharmonika in meine Tasche, winkte Ferdi zum Abschied zu und wollte gerade gehen, als der rief: »He, Gloria in Excelsior! Komm mal her!«

Mist, jetzt musste ich auch noch meine Stimme verstellen!

»Hmmm?«, machte ich.

»Kommst du morgen wieder?«

»Hm-hm.«

»Gut. Ich meine, wenn du knapp bei Kasse bist und das Geld für eine Wurst sparen möchtest, könnte ich dir ein Angebot machen.«

»Hm-m?«

Er runzelte die Stirn und deutete auf meinen Mund. »Wunde Lippen vom Blasen?«

»Mmm!«

»Schmier Salbe drauf, dann sind sie bis morgen wieder gebrauchsfähig.« Er grinste. »Was ich sagen wollte: Es soll kälter werden. Bedeutend kälter. Bring einen heißen Tee mit; ich stelle ihn für dich zum Warmhalten auf den Grill – natürlich nur, wenn du möchtest.«

»Mmmm!« Ich nickte, was das Zeug hielt.

»Abgemacht. Ach, und noch was: Am Anfang warst du wohl ein bisschen aufgeregt, vermute ich. Gegen Ende zu wurde deine Performance nämlich immer besser.«

»Hmmm!« Ich strahlte ihn an.

»Klar, aber einen Tipp gebe ich dir trotzdem: Ihr Kinderlein kommet ist echt ein schönes Lied. Nichts dagegen einzuwenden, ehrlich nicht. Nur – gegen ein paar fetzige Weisen hätte ich nichts. Die würden die Leute anlocken wie der Honigtopf den Bären.« Er lehnte sich über den Tresen und bekam ganz glänzende Augen.

»Hmmm???«

»Mädchen, wir würden das Geschäft unseres Lebens machen: Dir würden die Münzen nur so in den Topf hageln, und bei mir würden die Leute Schlange stehen.«

Ich rückte meine Perücke gerade und runzelte die Stirn. Fetzige Weisen zu Weihnachten – gab es das überhaupt?

Ferdi ließ nicht locker. »Wer sagt denn, dass ein Engel nur fromme Weihnachtslieder spielen muss? Na? Die alten Lieder tönen aus jeden Kaufhauslautsprecher. Spätestens am zweiten Advent hat man die über, stimmt’s?«

Ich nickte, verdrehte die Augen und deutete verstohlen auf die zwei am Stehtisch.

Ferdis Augenbrauen schossen in die Höhe. »Kennst du die Turteltäubchen?«, flüsterte er.

»Hmmm.«

Er kniff ein Auge zu. »Kapiert. Bis morgen dann; aber lass dir meine Idee durch den Kopf gehen, ja?«

Ich hob zustimmend den Daumen und verkrümelte mich.

Als ich um die Ecke bog, sah ich zurück. Da, wo ich noch vor einer Minute stand, kniete jetzt ein Typ am Boden. Was machte er? Was hatte er vor?

Ein paar Sekunden später sah ich eine goldglänzende Trompete. Dann – nicht schon wieder! – tönte Ihr Kinderlein kommet durch die Luft.

Kapitel 5
5. Dezember

Meine Schwestern Line und Lene saßen auf meinem Bett und teilten sich eine Tüte gebrannte Mandeln. »Von Omi Anni und Großtante Katrin«, sagte Line. »Hier, nimm dir eine Mandel. Sag mal, wo warst du eigentlich? Du hattest doch keine Schule, oder?«

Ich schob eine Mandel in den Mund. »Weihnachtsgeheimnis«, antwortete ich einsilbig.

»Echt? Für wen hast du etwas eingekauft? Für uns? Mensch, Katinka, du hast uns nicht gefragt, was wir wollen«, beschwerte sich Lene. »Wir wünschen uns nämlich was ganz Besonderes. Weißt du eigentlich – «

Omi Anni streckte ihren Kopf herein. »Da bist du ja, Katinka. Wo warst du?«

»Weihnachtsgeheimnis!«, riefen Line und Lene.

»Wirklich? Stell dir vor, Katinka, auf dem Marktplatz spielt ein Mädchen Mundharmonika. Sie ist etwa so groß wie du und trägt ein Hemd, das uns ziemlich bekannt vorkam. Kann es sein, dass du das Mädchen bist?«

Line und Lene brüllten vor Lachen. »Das ist aber nicht dein Ernst, Omi Anni! Katinka würde sich niemals als Musikerin outen! Und überhaupt – stell dir nur vor, der fiese Daniel würde sie sehen! Oder Tina!«

»Eben«, sagte ich cool. »Nie im Leben würde ich mich so blamieren wollen.«

»Aber während der letzten Tage haben wir immer wieder gehört, wie du gespielt hast«, beharrte Omi Anni.

»Na und? Ist doch nicht verboten!«

Nachdem Omi Anni und die Zwillinge abgezogen waren, saß ich böse in der Klemme, denn natürlich hatte ich ein neues Lied üben wollen. Das ging nun nicht mehr; Omi Anni würde sofort auf der Matte stehen und eine Erklärung verlangen. Ich verschob die Lösung des Problems auf später und erledigte erst mal die Hausaufgaben. Leider schoben sich immer wieder gewisse Bilder vor die Zahlen und Buchstaben: Tina, wie sie Daniel küsste. Daniel, wie er Tina küsste.

Es war ja nicht so, dass ich an Tinas Stelle sein und von Daniel hätte geküsst werden wollen – igitt noch mal! Ne, die Zeiten waren ein für allemal vorüber. Aber verdammt noch mal, in der Adventszeit, der Zeit der Liebe, wollte ich geküsst werden. Nicht von einem Mitglied meiner Großfamilie, sondern von einem supertollen Jungen, von einem, der um Klassen besser aussah als Daniel, supernetter war und meinen fiesen Ex-Lover in jeder Hinsicht übertrumpfte. Das war nicht zu viel verlangt; nach meinem Mega-Pech hatte ich jetzt eine gehörige Portion Glück verdient. Fand ich. Nur leider fiel einem ein Junge nicht einfach in den Schoß. So wie es aussah, musste ich mich bis zum Weihnachtsfest in einem Jugendhotel gedulden. Mensch, dort herrschte Männerüberschuss, dort kamen auf ein Mädchen zwei Jungs!

In Rekordzeit erledigte ich die Hausaufgaben, dann zog ich die dicke Jacke an, steckte die Mundharmonika in die Tasche und stahl mich heimlich aus dem Haus und in den Schuppen, in dem unser Traktor parkte. Es war zwar affenkalt, aber hier würde mich niemand hören, wenn ich … ja, welches Lied denn eigentlich? – üben würde.

Und Melanie! Warum hatte mich meine treulose Cousine versetzt? Das musste ich unbedingt wissen, also fischte ich mein Handy aus der Jeanstasche und rief ihre eingespeicherte Nummer auf »Ihr Gesprächspartner ist vorübergehend nicht zu erreichen. Versuchen Sie es später noch einmal.« Fassungslos starrte ich aufs Handy. Das gab’s doch nicht! Das hatte es ja noch nie gegeben! Melli war nicht zu erreichen? Voll der Wahnsinn; meine Cousine musste sterbenskrank sein …

Inzwischen regnete es wieder, und weil ich nur meine Sneakers anhatte, raste ich über den Hof um Gummistiefel anzuziehen. Vorm Haus stand ein Auto, das nur Onkel Alois, Mellis Vater, gehören konnte. Na bitte! Bestimmt war Melli auch hier und hatte aus einem unerfindlichen Grund ihr Handy ausgeschaltet. Oder vergessen, es wieder einzuschalten, obwohl ihr das überhaupt nicht ähnlich sah. Ich riss die Haustür auf stand in der Diele und lauschte, weil ich Stimmen hörte. Aufgeregte Stimmen. Vorsichtig pirschte ich mich an die Tür und lugte durchs Schlüsselloch. Richtig, auf dem Sofa saß Onkel Alois.

Von Melli sah ich nichts. »Und ausgerechnet an Heilig Abend willst du uns deine Freundin vorstellen?«, hörte ich meinen Vater sagen. »Ist das nicht ein bisschen heftig für sie?«, erkundigte sich meine Mutter. »Eine komplette, neugierige Großfamilie kann einem schon zusetzen.«

Onkel Alois nuschelte etwas, das ich nicht verstehen konnte.

»Aha. Soso.« Das war wieder mein Vater. »Was sagt denn Melli zu der Sache?«, ließ sich nun Großtante Katrin vernehmen.

Oho, jetzt wurde es aber spannend!

» … hat volles Verständnis für mich«, antwortete Onkel Alois. Ne, das stimmt aber nicht, dachte ich und hielt die Luft an. Melli hat überhaupt kein Verständnis für dich, lieber Onkel Alois!

»Schön für dich und deine Neue«, ließ sich jetzt Omi Anni vernehmen. »Und sehr anständig von deiner Tochter. Wo ist sie denn? Ist sie überhaupt mitgekommen?«

Ich hörte, wie sich Onkel Alois räusperte. »Sie ist bei der Geburtstagsfeier einer Freundin.«

Wie bitte? Also das nahm ich meinem Onkel nun wirklich nicht ab; kein Mädchen schaltet ihr Handy aus, wenn sie bei einer Freundin ist.

»Ja.« Das war wieder Onkel Alois. »Wie ist es nun? Kann ich Heilig Abend mit meiner Freundin kommen?«

»Selbstverständlich«, hörte ich Omi Annis Stimme.

»Da ist noch etwas …« Wieder räusperte sich Onkel Alois. »Meine Freundin hat ein Kind.«

Details

Seiten
Erscheinungsform
Neuausgabe
Jahr
2016
ISBN (eBook)
9783960531944
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (November)
Schlagworte
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Titel: Schneeballflirt und Weihnachtszauber
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