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Die Verborgene

Roman | Dark Academia trifft Romantasy

©2017 462 Seiten

Zusammenfassung

Kann Liebe den Tod bedeuten? Entdecken Sie „Die Verborgene“ von Sarah Kleck jetzt als eBook bei jumpbooks.

Nach dem plötzlichen Tod ihrer geliebten Schwester ist Evelyn am Boden zerstört. Auch ihre Eltern hat sie vor vielen Jahren verloren. Nun fühlt sie sich ganz allein auf der Welt und sieht kaum noch Sinn in ihrem Leben. Dennoch beschließt sie, das Psychologie-Studium in Oxford aufzunehmen. Das Letzte, mit dem sie rechnet, ist, hier ihre große Liebe zu finden. Doch vom ersten Moment an verfällt sie den blauen Augen eines Mitstudenten, die sie seltsam in den Bann ziehen. Auch Jareds zur Schau getragenes Desinteresse ändert nichts an ihren Gefühlen. In Evelyns Augen scheinen sie und Jared füreinander bestimmt. Als ihre Liebe endlich erwidert wird, findet Evelyn heraus, dass diese bereits Jahrhunderte zuvor ihren Ursprung nahm. Doch eine alte Prophezeiung ruft ungeahnte dunkle Mächte auf den Plan …

Jetzt als eBook kaufen und genießen: „Die Verborgene“ von Sarah Kleck. Wer liest, hat mehr vom Leben: jumpbooks – der eBook-Verlag für junge Leser.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Über dieses Buch:

Nach dem plötzlichen Tod ihrer geliebten Schwester ist Evelyn am Boden zerstört. Auch ihre Eltern hat sie vor vielen Jahren verloren. Nun fühlt sie sich ganz allein auf der Welt und sieht kaum noch Sinn in ihrem Leben. Dennoch beschließt sie, das Psychologie-Studium in Oxford aufzunehmen. Das Letzte, mit dem sie rechnet, ist, hier ihre große Liebe zu finden. Doch vom ersten Moment an verfällt sie den blauen Augen eines Mitstudenten, die sie seltsam in den Bann ziehen. Auch Jareds zur Schau getragenes Desinteresse ändert nichts an ihren Gefühlen. In Evelyns Augen scheinen sie und Jared füreinander bestimmt. Als ihre Liebe endlich erwidert wird, findet Evelyn heraus, dass diese bereits Jahrhunderte zuvor ihren Ursprung nahm. Doch eine alte Prophezeiung ruft ungeahnte dunkle Mächte auf den Plan …

Über die Autorin:

Sarah Kleck, geboren 1984 in Baden-Württemberg, studierte Diplom-Pädagogik, Psychologie und Soziologie an der Universität Augsburg. Heute ist sie als Personalreferentin tätig und lebt mit ihrem Mann in Bad Saulgau in Oberschwaben. Die Verborgene ist ihr erster Roman.

Bei jumpbooks erschien auch der Folgeroman Die Macht der Verborgenen.

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eBook-Neuausgabe März 2017

Copyright © der Originalausgabe 2014 dotbooks GmbH, München

Copyright © 2017 jumpbooks Verlag. jumpbooks ist ein Imprint der dotbooks GmbH, München.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung eines Motivs von © shutterstock - LifePhotoStudio

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ml)

ISBN 978-3-96053-206-4

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Sarah Kleck

Die Verborgene

Roman

jumpbooks

Prolog

Die Zeit heilt alle Wunden, sagt man. Ich warte noch immer …

Solange ich lebe, kann ich mich nicht an einen Winter erinnern, der so kalt und hart war wie dieser. Eisiger Wind pfiff mir um die Ohren, als ich an jenem Tag die verschneite Anhöhe mühsam hinauf gestiegen war und das gezackte schmiedeeiserne Tor hinter mir mit einem metallischen Quietschen schloss. Das kreischende Geräusch schreckte eine Krähe auf, die sich nach ein paar aufgeregten Flügelschlägen krächzend auf einer schneebedeckten Baumkrone niederließ und mich missgünstig beäugte.

In den letzten Tagen hatte es so stark geschneit, dass selbst die mächtigen Linden, die zahlreich das gesamte Areal umsäumten, unter der weißen Last beinah zusammenzubrechen drohten. Im Moment schneite es kaum. Kleine, gewichtslose Flocken schwebten sanft vom weißgrauen Himmel herab, blieben in meinem Haar hängen und schmolzen auf meinem Gesicht. Eine ganze Weile wandelte ich stumm durch die Reihen und ließ die Stille auf mich wirken. Außer der Krähe war weit und breit keine lebende Seele zu sehen.

Vor einem ovalen, weißen Stein blieb ich schließlich stehen, atmete tief durch, schlang die Arme um meine Mitte und schloss die Augen. Das half mir sonst, das Chaos in meinem Kopf und den Schmerz in meinem Herzen auszublenden, um wenigstens für einen kurzen Moment einen klaren Gedanken fassen zu können. Dieses Mal funktionierte es nicht. Ich spürte eine schier übermächtige Verzweiflung in mir aufsteigen, die mir die Tränen über das Gesicht strömen ließ und in meiner Kehle brannte. Trauer und Wut ließen mich beinahe beben. Ich schlang die Arme noch fester um meinen Körper, um nicht zu zerspringen.

Warum hast du mich hier ganz allein zurück gelassen?

Siehst du nicht, dass ich das alles nicht schaffe ohne dich?

Sag mir, was ich tun soll!

Bitte sag mir, was ich tun soll ohne dich!

Bitte!

Du fehlst mir so sehr!

Kapitel 1

Ein endloser Strom Trauernder folgte der braunen Holzkiste, die von sechs in dunkle Uniformen gekleideten Männern die Anhöhe hinauf getragen wurde. Für Ende Oktober war es bereits ungewöhnlich kalt und während ich direkt hinter ihnen durch das dichte Herbstlaub stapfte, klammerten sich meine eisigen Hände um den weißen Flieder, den sie so sehr geliebt hatte. Es war nicht einfach gewesen, ihn zu dieser Jahreszeit zu bekommen, aber nun war es mir ein kleiner Trost, ihr wenigstens noch ein letztes Mal ihre Lieblingsblumen schenken zu können.

Ich ging weiter, ohne meine Beine zu spüren. Schritt für Schritt trugen sie mich vorwärts, bis ich strauchelte, als die sechs Männer abrupt stehen blieben. Zu meinen Füßen klaffte ein tiefes, schwarzes Loch. Ich blickte hinab. Sogleich wurde mein Körper von einem heftigen Zittern erfasst, das nicht von der beißenden Kälte herrührte. Hilflosigkeit machte sich in meinem Inneren breit. Ich spürte meinen Körper nicht mehr, glaubte beinah, über mir selbst zu schweben und von oben zu beobachten, wie sie die Kiste tief in die schwarze Erde hinab ließen. Dann überwältigte mich die Verzweiflung, nahm jede meiner Zellen ein und zwang mich in meinen gequälten Körper zurück. Jäh fuhr ein brennender Schmerz durch meine Brust und ließ mich keuchen. Aus der Ferne hörte ich einen markerschütternden Schrei, der mir jedes einzelne Haar zu Berge stehen ließ.

Das ist ihre Stimme.

Wo ist sie?

Ich muss zu ihr!

Hilfesuchend fuhr ich herum, doch erst als ich sah, dass mir die Gesichter der Anwesenden voller Mitleid zugewandt waren, wurde mir bewusst, dass ich es war, die geschrien hatte.

Eine entsetzliche, dumpfe Leere erfüllte mich und ließ mich nicht mehr los.

Ich beugte mich mit letzter Kraft vor und legte den Strauß aus weißem Flieder auf die braune Holzkiste, in der meine große Schwester für immer schlafen würde.

Fast drei Monate waren seither vergangen. Ich öffnete die Augen und las die Inschrift auf dem ovalen, weißen Grabstein:

Zara Lakewood

Geliebte Schwester

Wunderbarer Mensch

Sorgfältig wischte ich mir Tränen und geschmolzenen Schnee aus dem Gesicht und konzentrierte mich auf das, was mich hierher geführt hatte. Seit der Beerdigung war ich nicht mehr hier gewesen – ich hätte es wahrscheinlich nicht überlebt. Aber nun erinnerte mich das Gewicht in der Innentasche meines schwarzen Mantels daran, dass etwas passiert war – etwas, von dem ich meiner Schwester erzählen wollte. Mühsam fingerte ich den schweren Brief heraus und betrachtete ihn. Er war adressiert an: Evelyn Francis Kathrin Lakewood.

Darauf bedacht, die unter einer dünnen Eisschicht konservierten Blumen nicht zu zertreten, die noch immer zahlreich das Grab schmückten, legte ich den Umschlag auf ihren Stein und trat einen Schritt zurück.

»Ich habe eine Zusage von Oxford – was sagst du dazu?«

Nach meinem Schulabschluss hatten wir gemeinsam nach einer guten Uni für mich gesucht und auf Zaras Drängen hin hatte ich mich auch für Psychologie am Christ Church College in Oxford beworben, allerdings ohne mir allzu große Chancen auszurechnen. Doch nun hatte man mir einen Studienplatz für den Hilary Term ab Januar angeboten, da irgendein Trottel sein Studium bereits nach dem ersten Trimester geschmissen hatte und ich offensichtlich die Erste auf der Nachrückliste war. Also beschloss ich, zumindest in Betracht zu ziehen, nach Oxford zu gehen. Auch wenn ich keine Ahnung hatte, wie ich das finanzieren sollte. Ich wollte, dass Zara stolz auf mich war. Ich hatte ihr alles zu verdanken ...

Nachdem unsere Eltern bei einem Autounfall tödlich verunglückt waren, als ich noch klein war, hatte Zara wie eine Löwin um das Sorgerecht für mich gekämpft – und gewonnen.

Sie hatte dafür gesorgt, dass wir zusammen bleiben konnten und ich nicht in eine Pflegefamilie musste. Da uns unsere Eltern so gut wie nichts hinterlassen hatten, hatte sich Zara neben ihrer Ausbildung einen zusätzlichen Job gesucht, während es meine Aufgabe gewesen war, mich auf die Schule zu konzentrieren und die eine oder andere Aufgabe im Haushalt zu übernehmen. Regelmäßig war sie erst nach Mitternacht von ihrer Schicht im Restaurant nach Hause gekommen, nur um ein paar Stunden später wieder die Schulbank in der Polizeiakademie zu drücken. Zara war gerade achtzehn geworden und plötzlich verantwortlich für einen Haushalt und ein siebenjähriges Schulkind. Sie hatte sich die letzten zwölf Jahre um mich gekümmert, als wäre ich ihr eigenes Kind und nicht nur ihre kleine Schwester – hatte dafür gesorgt, dass die Rechnungen bezahlt wurden, etwas zu essen auf dem Tisch stand und ich immer etwas Sauberes anzuziehen hatte. Sie hatte sich nie anmerken lassen, wenn wir mal wieder pleite gewesen waren, und wann immer ich Geld für einen Schulausflug oder Ähnliches gebraucht hatte, hatte sie nur gesagt: »Ich kümmere mich darum, mach dir keine Sorgen«, und es irgendwie aufgetrieben.

Wenn ich nachts geweint hatte, hatte sie mich in den Arm genommen und getröstet, bis ich eingeschlafen war. Sie war mir Mutter, Vater, Schwester und Freundin zugleich gewesen, je nach dem, was ich gerade gebraucht hatte.

Sie war der beste Mensch gewesen, den ich kannte. Ich hatte sie über alles geliebt. Sie fehlte mir so sehr, dass es mich beinah umbrachte.

Kapitel 2

»Herzlichen Glückwunsch!«, rief Mrs. Prescott begeistert und drückte mich so fest an ihren üppigen Busen, dass ich fast keine Luft mehr bekam. Ich war, wie jeden Dienstag und Donnerstag, am Nachmittag zu den Prescotts gekommen, um auf den kleinen Timmy aufzupassen. Neben meinem Job bei Beamen’s, dem örtlichen Getränkemarkt, in dem ich die Woche über als Aushilfe arbeitete, war das Babysitting bei dem fünfjährigen Timmy meine einzige Einnahmequelle. Ich hatte Mrs. Prescott gerade erzählt, dass ich in ein paar Tagen das Psychologie-Studium in Oxford aufnehmen würde. Als ich mich nach Luft ringend von ihr löste, sah ich, dass sie Tränen in den Augen hatte.

»Nach dem, was mit deiner Schwester … passiert ist«, sie schluckte, »tut dir ein Tapetenwechsel bestimmt gut«, brachte sie noch heraus, ehe die ersten dicken Tränen über ihre gepuderten Wangen kullerten.

»Ja«, antwortete ich mit belegter Stimme, »das denke ich auch.«

»Weißt du denn schon, wie du das alles finanzieren wirst?«, fragte Mrs. Prescott besorgt, nachdem sie mich einen Moment lang nachdenklich betrachtet hatte.

»Na ja«, antwortete ich, »ich habe letzte Woche die Zusage für das Teilstipendium bekommen, für das ich mich beworben hatte, und das kommt zumindest schon mal für die Studiengebühren und das Wohnheim auf. Zusammen mit Zaras Lebensversicherung dürfte ich also erst mal klar kommen.«

Mrs. Prescott nickte benommen. »Wir werden dich sehr vermissen«, gestand sie schließlich, während ihr erneut Tränen in die Augen schossen, »besonders Timmy.«

»Ihr werdet mir auch sehr fehlen«, gab ich zu und bückte mich, um den kleinen Jungen hochzuheben, der sich an meinen Oberschenkel geklammert hatte. Mit festem Griff schlang er seine Ärmchen um meinen Hals. Ein Anblick, der die Lippen seiner Mutter erneut erzittern ließ.

»Ich gehe jetzt besser«, sagte sie schließlich, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und verschmierte dabei ihr sorgfältig aufgetragenes Augen-Make-up. Noch bevor ich sie darauf hinweisen konnte, hatte sie schon die Tür hinter sich zugezogen. Dana Prescott arbeitete am Empfang eines Nobelhotels und bis ihr Mann Jim, ein erfolgreicher Anwalt, der meist bis tief in die Abendstunden Kundentermine wahrnehmen oder an Geschäftsessen teilnehmen musste, nach Hause kam, passte ich auf den gemeinsamen Sohn auf. Die Prescotts waren erst spät Eltern geworden – beide waren über vierzig –, denn obwohl sie sich von Herzen ein Kind gewünscht hatten, hatte es einfach nicht klappen wollen. Doch dann, als sie die Hoffnung bereits aufgegeben hatten, wurde Dana schwanger mit Timmy, den sie liebevoll mein kleines Wunder nannte.

»Was wollen wir heute spielen, Timmy?«, fragte ich und löste mich aus seinem Klammergriff.

»Ich sehe was, was du nicht siehst«, antwortete er begeistert und strampelte voller Vorfreude, als ich ihn wieder absetzte.

Ich lächelte. Es gab absolut nichts, das mich noch an diesem Ort hielt – doch diesen kleinen Jungen würde ich wirklich vermissen.

Wenige Tage später war es so weit. Mit dem Packen war ich schon fast fertig, als mein Blick an dem eingerahmten Foto auf meinem hölzernen Nachttisch hängenblieb. Ich nahm es in beide Hände, um es besser betrachten zu können. Unwillkürlich breitete sich ein Lächeln auf meinem Gesicht aus. An jenem Tag waren Zara und ich auf dem Jahrmarkt gewesen und dreimal hintereinander die riesige Achterbahn gefahren, bis uns schlecht geworden war. Wir waren glücklich gewesen und hatten ausgelassen in die Kamera gelacht. Mein Blick blieb an einem funkelnden Gegenstand hängen, der um den Hals meines fotografierten Ichs baumelte. Unbewusst wanderte meine freie Hand zu meiner Kehle und ertastete die Umrisse des Amuletts unter meinem Pullover. Langsam zog ich es hervor und sah es – zum wahrscheinlich tausendsten Mal – an. An einer feingliedrigen Silberkette hing ein gleichschenkliges Dreieck aus blaugrünem Kristall, dessen Spitze nach unten zeigte und in dessen Mitte zwei übereinander liegende Wellen geschliffen waren.

Meine Mutter hatte es eines Tages, als sie hochschwanger mit mir gewesen war, auf einem Flohmarkt in London entdeckt. Der Verkäufer hatte einen stolzen Preis dafür verlangt. Also war sie, obwohl ihr das Amulett auf Anhieb gefallen hatte, gerade im Begriff gewesen, es zurück zu legen, als ich in ihrem Bauch wie wild angefangen hatte zu strampeln – sie hatte mir die Geschichte mindestens einhundert Mal erzählt. Es war, als hätte ich dieses Schmuckstück unbedingt haben wollen. Also hatte sie es gekauft. Für mich.

Am Abend meines sechsten Geburtstags, war sie in mein Zimmer gekommen und hatte sich zu mir aufs Bett gesetzt. Behutsam hatte sie sich das blaugrüne Amulett vom Hals genommen und mir angelegt.

»Es wird dich beschützen«, hatte sie eindringlich geflüstert, war mir liebevoll mit den Fingern durchs Haar gestrichen und hatte mich auf die Stirn geküsst. »Nimm es niemals ab.«

Ich spürte einen Kloß in meinem Hals und schluckte ihn mühsam hinunter. Reiß dich zusammen! Ich hatte jetzt wirklich keine Zeit, in Selbstmitleid zu zerfließen. Wenn ich mich nicht beeilte, würde der Zug noch ohne mich fahren. Vorsichtig wickelte ich den Bilderrahmen in ein Handtuch und verstaute ihn sicher in meinem Koffer. Als ich wieder aufsah, fuhr ich plötzlich vor Schreck zusammen. Im ersten Moment dachte ich, mir stünde jemand gegenüber, der wie aus dem Nichts aufgetaucht war. Doch eine Sekunde später musste ich beschämt feststellen, dass ich vor dem länglichen Spiegel an meinem Kleiderschrank stand und in mein eigenes erschrockenes Gesicht blickte. Du lieber Himmel! Mein Herz klopfte wie wild. In letzter Zeit war ich furchtbar schreckhaft geworden, was, wenn ich so darüber nachdachte, nur an diesem unheimlichen Typen liegen konnte, der mir bereits bei Zaras Beerdigung aufgefallen war. Er hatte etwas abseits gestanden und mich die ganze Zeit über beobachtet. Zuerst hatte ich mir nichts dabei gedacht, schließlich waren viele Leute zur Trauerfeier gekommen, die ich nie zuvor gesehen hatte. Aber dieser seltsame Kerl war mir in den letzten Wochen immer wieder über den Weg gelaufen. Zum ersten Mal ein paar Tage nach der Beerdigung. Da hatte er wie versteinert auf der anderen Straßenseite gestanden und mich unverhohlen angestarrt. Kurz darauf hatte er sich im Supermarkt an derselben Kasse angestellt und dann nur ein Päckchen Kaugummi gekauft. Und eines Abends, nachdem ich bei den Prescotts auf Timmy aufgepasst hatte, hatte ich sogar geglaubt, er wäre mir in der Dunkelheit bis nach Hause gefolgt. Und wie zur Bestätigung hatte er am darauffolgenden Morgen in genau dem Bus gesessen, mit dem ich täglich zu Beamen’s fuhr. Da war er dann stundenlang auf dem Parkplatz herumgeschlichen und hatte durch die Schaufenster in das Innere des Ladens gespäht. Ich war schon versucht gewesen, die Polizei zu rufen, aber als ich mich am Feierabend auf den Weg Richtung Bushaltestelle gemacht hatte, war er verschwunden, und seither hatte ich ihn nicht mehr gesehen. Doch noch immer erwartete ich jedes Mal, wenn ich um eine Ecke bog, ihn dort stehen zu sehen, die Hände in den Taschen seines dunkelgrauen Wollmantels, das schüttere Haar streng nach hinten gekämmt und mit dem immergleichen eingefrorenen Ausdruck im Gesicht, als wäre er ein Geheimagent aus den dreißiger Jahren. Dass mir dieser Kerl nicht geheuer war, war durchaus nachvollziehbar – aber dass mir sogar mein eigenes Spiegelbild Angst einjagte … Ich trat einen Schritt näher an den Spiegel heran. War das tatsächlich ich? Wann hatte ich das letzte Mal in einen Spiegel gesehen? Ich erkannte mich kaum wieder. Meine Wangen waren eingefallen und ich wirkte ausgezehrt. Wann hatte ich zuletzt etwas Richtiges gegessen? Ich konnte mich nicht erinnern. Mir war in den vergangenen Wochen der Appetit gründlich vergangen. An meinen Klamotten hatte ich zwar gemerkt, dass ich Gewicht verloren hatte, aber da ich keinen weiteren Gedanken daran verschwendet hatte, hatte ich lediglich den Gürtel etwas enger geschnallt und es dabei belassen. Ich war schon immer schlank gewesen, aber jetzt wirkte ich regelrecht zerbrechlich.

Meine langen mittelblonden Haare, die bis zur Mitte meines Rückens reichten, hatte ich mit einem Band am Hinterkopf locker zusammengeknotet, ohne sie zu kämmen. Früher hatten sie einen goldenen Schimmer, doch nun sahen meine Haare matt, farblos und ungesund aus. Ich trat noch einen Schritt näher an mein Spiegelbild heran, um mein Gesicht genauer in Augenschein zu nehmen. Ich war so blass, dass meine Haut fast durchsichtig wirkte. Deutlich zeichneten sich dunkle Ringe unter meinen Augen ab. Zara hatte wunderschöne, strahlend grüne Augen gehabt. Meine waren von einem ein paar Töne dunkleren Grün und hatten eine blaugraue Schattierung. Sie hatten ihr Leuchten verloren und wirkten leer und glanzlos. Auch meine Wimpern waren bei weitem nicht mehr so dicht und lang wie früher und meine ehemals vollen Lippen hatten fast die Farbe meiner Haut angenommen. Ich sah entsetzlich aus und hätte, da die ausnahmslos schwarzen Klamotten, die ich seit einiger Zeit trug, den Kontrast noch verstärkten, ohne Probleme als Leiche durchgehen können. Nur zu gern wandte ich mich von dem erschreckenden Anblick ab und konzentrierte mich auf das Packen.

Bei einem letzten Rundgang durch die kleine Wohnung versicherte ich mich, nichts vergessen zu haben. Erneut war ich erleichtert, dass der Nachmieter die Möbel und vor allem das schwere Ledersofa übernehmen wollte, sonst hätte ich mich darum auch noch kümmern müssen. Ich schloss ein letztes Mal die Tür und warf den Schlüssel, wie ich es mit dem Nachmieter vereinbart hatte, in den Briefkasten. Dann nahm ich mein Gepäck und ging, ohne mich noch einmal umzudrehen. Mein ganzes Leben, oder vielmehr das, was davon noch übrig war, passte in zwei Koffer und eine Umhängetasche.

Der silberne Minivan der Prescotts wartete bereits auf der Straße.

»Hier, Evelyn, hier«, rief Timmy aufgeregt und winkte mir zu. Wie ich erwartet hatte, waren sie alle gekommen, um sich zu verabschieden.

Meine Ersatzfamilie, dachte ich zynisch, doch auch mit einer Spur Wehmut. Schließlich waren diese drei Menschen für mich das, was einer Familie am nächsten kam. Und wenn ich ganz ehrlich zu mir selbst war, hatte ich sie alle ein Stück weit ins Herz geschlossen. Sie waren die Einzigen, mit denen ich gerne zusammen war. Die Einzigen, mit denen ich überhaupt Zeit verbrachte. Freunde hatte ich praktisch gar nicht. Mit Gleichaltrigen hatte ich nie viel anfangen können. Deswegen war ich in der Schule auch stets eine Einzelgängerin gewesen. Ich war irgendwie schon immer ein wenig erwachsener gewesen als meine Mitschüler. Für kindliche Albernheiten und jugendlichen Übermut hatte ich mich noch nie wirklich begeistern können und so hatte ich meist abseits gestanden und den anderen beim Spielen, Herumalbern und Pubertieren zugesehen. Meine Kindheit hatte mit dem Tod meiner Eltern ein jähes Ende gefunden, als ich sieben Jahre alt war. Wäre Zara nicht gewesen, wäre ich … wahrscheinlich hätte ich die übliche Karriere eines Waisenkindes durchlaufen: Herumgereicht von einer Pflegefamilie zur nächsten, hätte ich mit viel Glück einen mittelmäßigen Schulabschluss geschafft, nur um dann für den Rest meines Lebens irgendeinen Job zu machen, den ich hasste. Doch dank Zara war ich nun auf dem Weg nach Oxford, zu einer der besten Universitäten des ganzen Landes, vielleicht sogar der ganzen Welt.

Gentleman, der er war, stieg Jim Prescott aus, um mir das Gepäck abzunehmen und es in dem geräumigen Kofferraum zu verstauen. Ich ging ihm zur Hand und zog dann die Schiebetür des Vans auf, um mich auf die Rückbank neben Timmy zu setzen. Timmy versuchte mit aller Kraft, sich aus den strammen Gurten seines Kindersitzes zu befreien, um auf meinen Schoß zu klettern.

»Hast du dir das wirklich gut überlegt?«, fragte Mr. Prescott, als er auf dem Fahrersitz Platz genommen hatte. »Unser Angebot steht noch. Das Haus ist groß genug und …«, begann er, doch ich unterbrach ihn, um ihm zum hundertsten Mal zu versichern, dass mein Entschluss feststand. Ich wollte weg von hier. Einfach nur weg von dem Ort, der mich in jeder Sekunde an all das erinnerte, was ich verloren hatte.

Mrs. Prescott lächelte mich vom Beifahrersitz aus entschuldigend an.

»Ich hab gestern Abend noch mit Ruth telefoniert, meiner Cousine aus Oxford, erinnerst du dich?«, begann sie in dem üblichen fürsorglichen Tonfall.

»Ja, sie arbeitet dort als Taxifahrerin, nicht?«, überlegte ich laut.

»Ja, genau. Sie hat versprochen, dich heute Abend vom Bahnhof abzuholen«, fuhr Mrs. Prescott fort. »Keine Angst, ich hab ihr nur erzählt, dass Timmys Babysitterin ihr Studium in Oxford beginnt. Schließlich gehst du ja dorthin, um ein neues Leben zu beginnen, und da solltest du selbst entscheiden, wem du was und wie viel erzählst.«

»Danke«, brachte ich verwundert hervor. Dass man einer Fremden nicht gleich meine ganze Lebensgeschichte erzählte, hatte ich eigentlich für selbstverständlich gehalten.

Den Rest der fast zwanzigminütigen Fahrt von Fleetwood zum Bahnhof nach Blackpool schien jeder, bis auf Timmy, der noch immer mit seinem Kindersitz kämpfte, seinen Gedanken nachzuhängen. Als wir schließlich da waren, befreite ich den strampelnden Jungen aus seinen Gurten, wofür er sich mit einem Hechtsprung auf meinen Schoß bedankte. Dann folgte der Teil, vor dem ich mich schon von dem Moment an gefürchtet hatte, als ich den Prescotts erzählt hatte, dass ich wegziehen würde: der Abschied. Die sensible Dana war einem Nervenzusammenbruch nahe. Schluchzend vergrub sie das Gesicht in den Händen und schnäuzte geräuschvoll in ein Papiertaschentuch.

Solche Situationen waren mir schon immer unangenehm gewesen. Ich hatte nie gelernt, mit diesen Dingen umzugehen, und war mehr als erleichtert, als es vorüber zu sein schien und sie sich wieder einigermaßen beruhigt hatte.

»Wir haben noch eine Kleinigkeit für dich«, sagte Jim mit fester Stimme und drückte mir einen Briefumschlag in die Hand. »Damit dürftest du die erste Zeit über die Runden kommen.«

»Nein, das kann ich nicht annehmen. Sie müssen nicht …«, protestierte ich in meiner Überraschung.

»Keine Widerrede«, unterbrach Mr. Prescott mich streng und schloss meine Hand um den prall gefüllten Umschlag.

»Aber ich …«, setzte ich erneut an und erntete einen unnachgiebigen Blick von Jim, der den Arm noch immer tröstend um seine Frau gelegt hatte. »Danke«, sagte ich schließlich und steckte den Umschlag in die Tasche.

»Ruf mich an, wenn du angekommen bist«, verlangte Dana, löste sich von ihrem Mann und presste mich zum dritten Mal an sich. »Aber natürlich«, versicherte ich ihr glaubhaft, schüttelte Mr. Prescott die Hand und drückte Timmy einen schmatzenden Kuss auf die Wange. Dann ging ich schwer bepackt in Richtung Bahnhofshalle, wo ich der digitalen Anzeigetafel entnehmen konnte, dass mein Zug von Gleis vier abfuhr und zwar in genau drei Minuten.

Meine Tasche um den Hals und in jeder Hand einen schweren Koffer, rannte ich quer durch die Halle, weiter durch eine Unterführung und erreichte den Zug genau einen Augenblick bevor sich die Türen schlossen. Das war knapp – verdammte Abschiede!

Noch ganz außer Atem betrat ich das nächstgelegene Abteil auf der Suche nach einem freien Platz. Dann verstaute ich mein Gepäck in der Ablage, ließ mich erschöpft in einen Sitz plumpsen und zog meinen MP3-Player an dem Kopfhörerkabel aus der Tasche. Ein kleines dunkelblaues Buch, das sich in den Kabeln verheddert hatte, fiel mit heraus. Mein Sparbuch. Langsam klappte ich es auf und starrte kopfschüttelnd auf den Betrag. Ich konnte es noch immer nicht fassen.

Wie aus dem Nichts hatte ich das Bild des massiven Holzschreibtisches mitsamt dem breiten Sessel vor Augen, auf dem ich einige Wochen zuvor Platz genommen hatte.

»Zehntausend?«, hatte ich ungläubig ausgerufen.

»Zehntausend«, hatte der Notar ruhig wiederholt. »Ihre Schwester hat einige Vorkehrungen getroffen. Für den Fall, dass ihr etwas zustoßen würde, sollten sie abgesichert sein.« Er hatte gerade das Testament verlesen, in dem schlicht stand, dass ich Zaras gesamten Besitz bekommen sollte und als Begünstigte ihrer Lebensversicherung eingetragen war, die sie ohne mein Wissen abgeschlossen hatte. Obwohl sie es nie ausgesprochen hatte, wusste ich, wie wütend Zara auf unsere Eltern gewesen war, weil sie uns mit nichts als ein paar Stühlen und einem abgewetzten Sofa zurück gelassen hatten.

»Und nun noch eine persönliche Anmerkung Ihrer Schwester«, war der Notar mit dem Verlesen des Testaments fortgefahren und hatte sich verlegen geräuspert. »Mach was Sinnvolles damit. Ich liebe dich«, hatte er zitiert. Ich war in Tränen ausgebrochen. Ich liebe dich auch!

Bevor die Trauer mich erneut überwältigen konnte, steckte ich mir wütend die Kopfhörer meines MP3-Players in die Ohren, scrollte das Display auf und ab, bis ich gefunden hatte, wonach ich suchte – die unsanften Klänge von I’m shipping up to Boston der Dropkick Murphys schienen mir für diesen Anlass durchaus angemessen – und drehte die Lautstärke auf, bis ich meine Gedanken nicht mehr hören konnte. 

Insgesamt verlief die vierstündige Fahrt ruhig – ein paar Mal war ich sogar eingedöst – und als der Zug endlich in Oxford einfuhr, war die Dunkelheit schon über die geschichtsträchtige Stadt hereingebrochen. Vor dem Bahnhofsgebäude winkte mich, nachdem ich schwer atmend meine Koffer aus dem Zug gehievt hatte, eine Frau mittleren Alters zu ihrem freien Taxi. Das musste Ruth sein, Mrs. Prescotts Cousine.

»Hi, mein Name ist Evelyn Lakewood«, begann ich, als ich vor ihr stand. »Sind Sie Ruth?«

»Ja«, antwortete sie strahlend. »Hallo Evelyn, willkommen in Oxford.«

Mit vereinten Kräften verstauten wir das Gepäck im Kofferraum, bevor ich auf dem Beifahrersitz Platz nahm und ihr die Adresse meines künftigen Zuhauses nannte, die ich auf ein Post-it gekritzelt hatte.

»Das ist eines der Wohnheime der Universität«, stellte sie fest und fuhr mit einem freundlichen Nicken los. Als sie aus dem Augenwinkel sah, dass ich mir die kalten Hände rieb, drehte sie die Heizung bis zum Anschlag auf, woraufhin mir eine intensive Duftwolke entgegen stieß. Taxis haben einen ganz speziellen Geruch. Einen, den man mit dem Geruch anderer Fahrzeuge nicht vergleichen kann. Eine seltsame, drückende Mischung aus Leder, Kunststoffpolitur und Pfefferminz, die nun, da die aus der Heizung strömende Warmluft den Innenraum erfüllte, noch um ein Vielfaches verstärkt wurde. Während ich meine Hände über die Heizung hielt, blickte ich aus dem Fenster und stellte fest, dass man selbst in der Dunkelheit die Schönheit der alten Gebäude dieser ehrwürdigen Stadt bewundern konnte. Die Architektur der city of dreaming spires hatte mich schon immer fasziniert.

»Was studieren Sie denn, Liebes? Dana hat mir gar nichts darüber erzählt«, fragte Ruth nachdem wir die ersten paar Meilen gefahren waren, und riss mich damit aus meinen Gedanken.

»Psychologie am Christ Church«, antwortete ich und erwiderte ihr Lächeln. Sie wirkte beinahe mütterlich mit ihren weichen Gesichtszügen und den hellbraunen Locken, die sich unter der roten Baskenmütze kräuselten.

»Erstes Studienjahr?«

»Ja, morgen geht’s los. Ich bin im Nachrückverfahren angenommen worden«, erklärte ich und atmete geräuschvoll ein, »die anderen sind mir also ein ganzes Trimester voraus.«

»Dann sind Sie bestimmt nervös«, mutmaßte sie mit mitfühlendem Blick.

»Schon ein bisschen«, gab ich zu.

Sie lächelte verständnisvoll. »Meine Tochter hat hier letzten Sommer ihren Abschluss in Medizin gemacht. Sie arbeitet jetzt im St. Mary’s Hospital in London«, berichtete sie mit einem Strahlen.

»Dann sind Sie bestimmt stolz auf sie«, sprach ich das Offensichtliche aus.

»Oh ja, das bin ich«, nickte sie eifrig. »Ihre Familie ist bestimmt auch sehr stolz auf Sie, wenn Sie an einem so renommierten College studieren«, erkundigte sie sich kurz darauf mit einem erwartungsvollen Lächeln.

Ich schluckte schwer; Mrs. Prescott hatte tatsächlich dicht gehalten.

»Das hoffe ich«, brachte ich einen Augenblick später mit heiserer Stimme hervor, worauf Ruth mich fragend ansah.

»Meine Eltern sind gestorben, als ich noch klein war«, erklärte ich nach einer kurzen Pause, ohne zu wissen, warum ich dieser fremden Frau etwas so Privates erzählte. »Seitdem hat sich meine große Schwester Zara um mich gekümmert …« Ich ließ den Satz in der Luft hängen.

»Hat sich gekümmert?« erkundigte sich Ruth so vorsichtig, als sei sie nicht sicher, ob sie mir diese Frage stellen sollte oder nicht.

»Zara ist vor drei Monaten gestorben. Sie war Polizistin und ist im Einsatz getötet worden.« Meine Stimme bebte.

»Das tut mir sehr leid, Liebes«, beteuerte sie aufrichtig. Ich nickte nur, da ich befürchtete, von dem Kloß in meinem Hals überwältigt zu werden, wenn ich weiter redete, und so sagte eine ganze Weile keine von uns etwas.

»Wir sind da«, verkündete Ruth schließlich und deutete mit der Hand auf ein prachtvolles Gebäude mit der typischen Architektur des frühen siebzehnten Jahrhunderts, vor dessen Eingang sie das Taxi zum Stehen brachte.

»Ich danke Ihnen«, dafür, dass Sie einfach ein netter Mensch sind!

Sie kritzelte noch kurz etwas auf einen Zettel und stieg dann aus, um mein Gepäck aus dem Kofferraum zu wuchten. Ich beeilte mich, ihr dabei zu helfen und drückte ihr den Betrag, den ich auf dem Taxameter gelesen hatte, in die Hand, doch jede Bezahlung lehnte sie vehement ab. Nach dem üblichen Hin und Her wollte ich mich gerade verabschieden, als sie mich sanft am Arm festhielt.

»Das ist meine Telefonnummer«, sie streckte mir einen Zettel entgegen, »ruf mich bitte an, wenn du mit jemandem reden möchtest, Liebes.« Das plötzliche Du überraschte mich ein wenig. Behutsam legte sie das Stück Papier in meine Hand und schloss meine Finger darum. Ich wollte etwas darauf erwidern, doch ich brachte keinen Ton heraus. Obwohl ich mich dafür schämte, ließ ich mich von ihr in den Arm nehmen.

»Wenn der Schmerz nachlässt, bleibt die Liebe in ihrer reinsten Form«, klang ihre Stimme leise an meinem Ohr; und bei diesen Worten brachen alle Dämme. So sehr ich die Tränen auch zurückzuhalten versuchte, es gelang mir nicht. All die Trauer, die Wut und Verzweiflung; all die Gefühle, die ich so lange Zeit nicht hatte zulassen wollen, stürmten in diesem Moment mit voller Wucht auf mich ein. Sich dagegen zu wehren war aussichtslos – und so weinte ich an der Schulter einer Fremden.

»Geh jetzt besser rein, Evelyn, sonst erkältest du dich noch«, riet sie mir, sobald ich meinen Tränenfluss wieder unter Kontrolle hatte.

»Vielen Dank, Ruth. Für alles.« Sie streichelte mir mit dem Handrücken über die Wange, stieg in das Taxi und nachdem sie winkend weggefahren war, atmete ich tief durch, nahm meine Koffer und sah mich um. Ich stand bereits vor dem verschneiten Eingang des Wohnheims. Auch wenn ich noch nie zuvor hier gewesen war, kannte ich das Gebäude von Fotos aus dem Internet und wusste, dass ich an der richtigen Adresse war. Es war eines der beeindruckenden alten Bauwerke, die ich an dieser Stadt so bewunderte. Eine schwere, dunkle Holztür und hohe Fenster, die mit etlichen Spitzen und Ornamenten verziert waren, verliehen dem Haus eine Form von Würde, die man normalerweise ausschließlich Menschen beimaß. Inmitten der weißen Winterlandschaft hatte das Haus etwas Geheimnisvolles, ja beinahe Mystisches.

Im großzügigen Eingangsbereich wurde ich bereits von einer studentischen Hilfskraft erwartet. Ein pedantischer, pickliger Typ mit Brille, der aussah wie ein viel zu jung geratener Professor und sich auch genauso benahm. Er führte mich über eine breite, lackierte Holztreppe mit wackligem Geländer hinauf in den ersten Stock zu meinem Zimmer und ratterte schroff die Hausordnung herunter. Während ich mit halbem Ohr seinen Ausführungen und den Drohungen, was es für Folgen hätte, wenn man sich nicht an die Regeln hielt, lauschte, nahm ich das Zimmer genauer in Augenschein.

Es war hell. Größer, als ich erwartet hatte, und mit einem eigenen kleinen Badezimmer ausgestattet. Erleichtert atmete ich auf. Ich hatte mir schon ein Etagenbadezimmer ausgemalt, vor dem man sich morgens anstellen musste, bis man an der Reihe war, sich die Zähne zu putzen. Außerdem gab es in einem kleinen Erker ein großes, mit hellen Vorhängen umrahmtes Fenster, das tagsüber genügend Licht ins Zimmer lassen würde. Das Bett, inklusive Nachttisch, war groß genug, die Matratze so gut wie neu und die antik anmutende Kommode bot neben einem ebenso alten Kleiderschrank genug Platz für meine spärlichen Habseligkeiten. Ein schmaler Schreibtisch mit Holzstuhl vervollständigte die Einrichtung.

Schlicht, aber schön, stellte ich zufrieden fest und als der Pedant endlich die Tür hinter sich zugezogen hatte, machte ich mich mit einem Seufzen ans Auspacken. Zuerst verstaute ich meine überwiegend dunklen Klamotten im Kleiderschrank, dann bezog ich die Matratze mit meiner olivgrünen Lieblingsbettwäsche und räumte den Inhalt meines Waschbeutels in den Spiegelschrank des kleinen Badezimmers, das mit einem Waschbecken, einer Toilette und einer schmalen Dusche ausgestattet war. Obwohl ich es natürlich nicht erwartet hatte, war ich ein bisschen enttäuscht, dass es keine Badewanne gab. Ich liebte das Wasser und verschwand am liebsten ganz darin. Zu Hause in Fleetwood war ich innerhalb von ein paar Minuten am Wasser gewesen, hier würde ich mich mit der engen Dusche begnügen müssen. Aber wenigstens musste ich sie mit niemandem teilen. Dann schrieb ich noch eine knappe SMS an Mrs. Prescott, um ihr mitzuteilen, dass ich wohlbehalten angekommen war. Ein unter Umständen stundenlanges Telefonat mit ihr wollte ich mir im Moment lieber ersparen. Zuletzt positionierte ich zwei gerahmte Fotos auf dem kleinen Nachttisch. Das erste zeigte meine Eltern, als sie um die dreißig waren und sich verliebt in die Augen schauten, das zweite war der Schnappschuss von Zara und mir, den ihr damaliger Freund auf dem Jahrmarkt gemacht hatte. Wieder spürte ich den Kloß in meinem Hals und die Tränen in mir aufsteigen. Was, um Himmels willen, war heute nur los mit mir? Was sollte diese ständige Heulerei? Aber … ach, was soll’s?, dachte ich. Wenn ich schon mal mit dem Heulen angefangen hatte, konnte ich es auch gleich richtig machen. Dann hätte ich wenigstens für eine Weile meine Ruhe. Vorsichtig holte ich in Gedanken die kleine schwarze Kiste aus meinem Unterbewusstsein hervor und öffnete sie zaghaft. Nur eine oder zwei Erinnerungen, mehr wollte ich mir gar nicht ansehen. Nur ein paar Bilder. Bilder, die ich mir normalerweise verbot, weil sie zu schmerzhaft waren. Weil ich Angst hatte, daran zu zerbrechen. Doch nun ließ ich es ganz bewusst zu. Ich sah Mom und Dad vor mir. Sie hielten sich an den Händen, lächelten mich an. Zara. Sie war bei ihnen. Sah glücklich aus.

Schluchzend vergrub ich das Gesicht in meinem Kissen. Ich war vollkommen allein auf der Welt.

Kapitel 3

Licht drang durch den hellen Vorhang und weckte mich sanft.

Wo bin ich? Schlagartig fiel es mir wieder ein – ich war in meinem Wohnheimzimmer in Oxford. Wie spät ist es? Suchend tastete ich nach meinem Wecker auf dem Nachttisch. Er war nicht da. Mist! Er musste noch in einem meiner Koffer sein. Blitzschnell fuhr ich hoch und stellte fest, dass ich noch meine Klamotten vom Vortag trug. Ein Blick auf mein Handy zeigte, dass es bereits kurz nach halb acht war. Um acht begann meine erste Vorlesung und ich hatte noch keine Ahnung, wo ich eigentlich hin musste.

Na toll, das fängt ja super an!

Für eine Dusche war keine Zeit mehr, also begnügte ich mich damit, die Zähne zu putzen und mir ein bisschen kaltes Wasser ins Gesicht zu spritzen, um meine verheulten Augen abschwellen zu lassen. Da ich meine Bürste nicht finden konnte, fuhr ich mir mit den Fingern durchs Haar und knotete es wirr im Nacken zusammen.

Hastig schlüpfte ich in meine schwarzen Boots, warf den Mantel über, schnappte meine Tasche, ließ die Schlüssel hinein fallen und eilte zur Tür hinaus.

07:50 Uhr, verriet mein Handydisplay, während ich über das vereiste Kopfsteinpflaster der Innenstadt Oxfords hetzte. Schlitternd bog ich um die nächste Ecke, als ich plötzlich erstarrte. Aus dem Augenwinkel glaubte ich einen Mann gesehen zu haben – einen Mann mit schwarzen Lederhandschuhen und eingefrorenem Gesichtsausdruck. Mit weit aufgerissenen Augen fuhr ich herum. Doch dort, wo ich den Kerl vermutet hatte, konnte ich nur eine gewöhnliche Straßenlaterne erspähen. Allmählich machte ich mir ernsthaft Sorgen, den Verstand zu verlieren. Was sollte dieser Typ auch hier in Oxford wollen? Zweihundert Meilen von dem Ort entfernt, an dem ich ihn zuletzt gesehen hatte? Das war vollkommen absurd. Ich versuchte den Gedanken zu verbannen und rannte weiter. Wenigstens hatte ich alle Unterlagen, die ich für den ersten Tag brauchte, in einer Mappe gesammelt, die ich jetzt eilig, an verschiedenen Büchern vorbei, aus meiner Tasche zog, um herauszufinden wo meine erste Vorlesung stattfand.

Während ich unter dem gewaltigen Tor des Tom Tower, dem Haupteingang zum Christ Church College, hindurch und über den Innenhof rannte, überflog ich die Dokumente in der blauen Mappe und stieß schließlich auf meinen Stundenplan.

Montag, 08:00 Uhr, Vorlesung: Narzissmus und Destruktivität, Professor Carl Bronsen, Hörsaal 7, las ich auf dem handgeschriebenen Zettel.

Wo zum Teufel ist Hörsaal 7?

»Kann ich dir helfen? Du siehst aus, als hättest du dich verlaufen.« Eine junge Frau mit Burberry-Schal und schulterlangen roten Haaren grinste mich an.

»Ja«, antwortete ich verdutzt, »ich muss in fünf Minuten in Hörsaal 7 sein – weißt du, wo das ist?«

»Narzissmus und Destruktivität bei Bronsen?«, erkundigte sich die Rothaarige.

»Ja, genau!«, erwiderte ich erleichtert. Offensichtlich kannte sie sich aus.

»Da läufst du am besten hier nach rechts«, sie wies mit der Hand in die Richtung, die sie meinte, »biegst nach etwa hundert Meter an dem kleinen Brunnen rechts ab, gehst die Treppe bis ganz nach oben und dann stehst du direkt vor dem Eingang.«

Ich versuchte mir die Wegbeschreibung einzuprägen, dankte ihr und rannte los.

»Keine Ursache«, rief sie mir hinterher und klang dabei, als müsste sie ein Lachen unterdrücken.

Ich glaubte schon, zu weit gelaufen zu sein, als ich endlich den kleinen Brunnen erreichte. Wie die Rothaarige gesagt hatte, bog ich links ab, rannte die Treppe hinauf und blieb dann abrupt stehen, als ich mich direkt vor dem Speisesaal, der Dining Hall, wieder fand. Ich runzelte die Stirn und hielt Ausschau nach Hörsaal 7.

Nein, das war eindeutig die Dining Hall. Hier gab es gar keine Hörsäle.

Ich zog mein Handy aus der Tasche – es war 08:05 Uhr.

War ich zu früh abgebogen? Hatte die Rothaarige sich vertan? Hier war ich auf jeden Fall nicht richtig. Plötzlich fiel mir ein, dass ich irgendwo in meiner Mappe einen Lageplan des Collegegeländes haben müsste. Ich kramte in meiner Tasche und zog ihn schließlich hervor.

Okay, mal sehen … hier ist die Dining Hall, da der kleine Brunnen, an dem ich vorbei gelaufen bin, und dort müsste Hörsaal 7 sein.

Mich traf fast der Schlag. Ich war exakt die Strecke mit dem Finger auf der Karte nachgefahren, die ich gerade gerannt war. Dieses rothaarige Miststück hatte mich absichtlich in die falsche Richtung geschickt, als ich direkt vor dem Eingang gestanden hatte!

Ich lief den ganzen Weg zurück, fiel sogar einmal fast hin, als ich auf dem eisglatten Boden ausrutschte, stieß die Außentür auf und fand mich schließlich, völlig außer Atem, vor dem Hörsaal wieder. Die Zeitanzeige auf meinem Handy verriet mir, dass ich mittlerweile fast zwanzig Minuten zu spät war. Verdammt! Ich atmete einmal tief durch und schlüpfte so leise wie möglich durch die Tür. Auf Zehenspitzen schlich ich hinein, penibel darauf bedacht, kein Aufsehen zu erregen. Dann fiel mir ein freier Platz in der letzten Reihe ins Auge. Perfekt. Bis jetzt hatte mich glücklicherweise fast niemand bemerkt. Vorsichtig klappte ich die hölzerne Sitzfläche herunter und setzte mich mit einem erleichterten Seufzen, als im selben Moment der Sitz unter mir nachgab und ich mit einem dumpfen Knall auf dem Boden landete. Ein Wort, das ich niemals in der Öffentlichkeit benutzt hätte, drang über meine Lippen. Augenblicklich spürte ich, wie sich die Hitze in meinem Gesicht ausbreitete und meine Wangen in ein leuchtendes Rot tauchte.

Das darf doch nicht wahr sein, dachte ich und rappelte mich mühsam auf. Als ich dann aber aufsah und zu meinem Entsetzen feststellen musste, dass mir jeder einzelne Kopf im Hörsaal – es waren mindestens fünfzig – zugewandt war, wäre ich am liebsten gleich wieder unter dem Tisch verschwunden. Plötzlich flackerte das Licht. Irgendetwas stimmte wohl mit der Deckenbeleuchtung nicht, doch zu meinem Glück zog das die Aufmerksamkeit einiger Studenten auf sich und sie wandten den Blick ab. Verlegen sah ich mich um. Die Unterlagen aus der blauen Mappe und der restliche Inhalt meiner Tasche waren in einem Umkreis von mindestens drei Metern auf dem Boden verstreut. Seufzend machte ich mich daran, meine Sachen einzusammeln, und bemühte mich, das boshafte Kichern und etwas, das wie ein höhnisches »Alles klar, Blondie?« klang, zu ignorieren. Es war die Rothaarige, die sich einen Spaß daraus gemacht hatte, mich zur Dining Hall zu schicken und nun von oben auf mich herabblickte – keineswegs darauf bedacht, ihre Schadenfreude zurück zu halten.

Oh Gott, das darf doch alles nicht wahr sein!

Auf einmal streckte mir eine schmale Hand mit kurzen, knallbunt lackierten Fingernägeln mein Exemplar von Erich Fromms Anatomie der menschlichen Destruktivität entgegen. Sanfte grüngraue Augen in einem herzförmigen, von kinnlangen, dunkelrot-violett gefärbten Haaren umrandeten Gesicht begegneten meinem Blick.

»Hast du dir wehgetan?«, erkundigte sich das Mädchen aufrichtig und lächelte so breit, dass der Stecker in ihrem rechten Nasenflügel zu funkeln begann.

»Nein, alles in Ordnung«, brachte ich beschämt hervor und fügte hastig noch ein »Danke« hinzu.

»Komm, neben mir ist noch ein Platz frei«, bot sie mir flüsternd an, nachdem wir gemeinsam meine Sachen zusammengesammelt hatten. Und nun, da wir uns gegenüber standen, fiel mir auf, wie klein sie war – höchstens eins sechzig, denn ich überragte sie um gute zehn Zentimeter – und dass sie für ihre zierliche Figur eine auffallend üppige Oberweite hatte. Ich nickte dankend und folgte ihr. Der Professor hatte seine Ausführungen widerwillig unterbrochen und schüttelte sichtlich verärgert über die von mir verursachte Unruhe den Kopf.

»Augen nach vorne, die Show ist vorbei!«, mahnte er seine Studenten zur Konzentration.

Nachdem ich die Stabilität der Sitzfläche gründlich überprüft hatte, nahm ich neben meiner Helferin Platz, und obwohl ich sicher war, das Schlimmste überstanden zu haben, konnte ich das seltsame Gefühl beobachtet zu werden noch immer nicht abschütteln. Auf der Suche nach der Ursache dieses Unbehagens, hob ich zaghaft den Kopf – und dann sah ich … ihn. Seine leuchtend dunkelblauen Augen waren noch immer starr auf mich gerichtet, während sich alle anderen Köpfe wieder nach vorne gedreht hatten. Ich war wie hypnotisiert.

»Ich bin Sally«, flüsterte mir meine Nebensitzerin leise von der Seite zu, um den Professor nicht noch einmal zu verärgern, und riss mich damit aus dem Bann dieser unfassbar blauen Augen. Plötzlich war es mir fürchterlich peinlich, einen Fremden derart anzustarren, und ich drehte mich dem Mädchen zu.

»Ich bin Evelyn. Danke noch mal für deine Hilfe«, fügte ich nach einer kurzen Pause aufrichtig hinzu. Ich war ihr wirklich dankbar. Vor allem weil sie mir das Gefühl vermittelte, nicht nur von arroganten, selbstgefälligen Schnöseln umgeben zu sein, die einen aus purer Bosheit in die falsche Richtung schickten, sondern auch von ganz normalen Leuten.

»Hast du dir wirklich nicht wehgetan? Das sah ziemlich brachial aus«, erkundigte sie sich besorgt und ein wenig belustigt.

»Nein, alles in Ordnung.« Bei dem Gedanken an meine unfreiwillige Showeinlage, musste ich tatsächlich auch ein bisschen lächeln.

»Mann, da hat eben echt jeder hergesehen. Sogar der arrogante Calmburry. Und der interessiert sich normalerweise nur für sich selbst«, ergänzte Sally, sichtlich darum bemüht, ein Kichern zu unterdrücken.

»Calmburry?« Irgendwo hatte ich den Namen schon mal gehört. Wieder flimmerte die Deckenbeleuchtung. Was stimmte denn mit dem Licht hier drin nicht? Waren die Stromleitungen überlastet?

»Du bist wohl nicht von hier, was?«

»Nein, ich komme aus Fleetwood.« Irgendwie hörte sich das an, als müsste ich mich dafür schämen.

»Jared Lord of Calmburry. Der da vorne mit den kurzen braunen Haaren«, half sie mir auf die Sprünge und deutete mit dem Finger auf den Fremden mit den Indigoaugen, der mich eben noch angestarrt hatte. Sie hatte meine ungeteilte Aufmerksamkeit.

»Und … wer genau ist er?« fragte ich, sehr darum bemüht, mir meine Neugierde nicht anmerken zu lassen.

Sally sah mich an, als würde ich hinterm Mond leben. »Er ist der letzte Überlebende des Calmburry Clans«, erklärte sie langsam, als wäre ich schwer von Begriff.

»Seine Familie ist eine der ältesten Englands. Oder besser gesagt: war. Sie sind alle bei einem Flugzeugabsturz vor zwölf Jahren ums Leben gekommen – beide Eltern, die Schwester und der Onkel. Er war der Einzige, der überlebt hat. Es war überall in den Medien.« Verständnislos sah sie mich an. »Hast du davon echt nichts mitbekommen?«

»Nein.« Möglicherweise weil ich vor zwölf Jahren durch den Tod meiner eigenen Eltern etwas abgelenkt war?!

»Er tut mir echt leid deswegen«, fuhr sie fort, »aber ich kann ihn trotzdem nicht leiden.«

»Hmm«, war alles, was ich als Antwort zustande brachte. In meinen Ohren begann es bereits zu rauschen. Jared Calmburry war der Letzte seiner Familie … wie ich. Er hatte alles verloren … genau wie ich.

So unauffällig wie möglich musterte ich den vier Reihen vor mir sitzenden Fremden. Sein grauer Pullover machte einen ziemlich teuren Eindruck, die kurzen haselnussbraunen Haare, die an den Spitzen in einen dunklen Goldton übergingen, saßen perfekt – zumindest soweit ich das von seiner Rückansicht beurteilen konnte. Ich versuchte mir in Erinnerung zu rufen, wie sein Gesicht ausgesehen hatte, als wir uns ein paar Minuten zuvor in die Augen geblickt hatten.

Als hätte er meinen Gedanken gehört, neigte sich Calmburry leicht zur Seite und drehte den Kopf, um auf eine Frage seines Nebensitzers zu antworten, wie es schien. Er hatte ein wunderschönes Profil. Eine kleine, gerade Nase; dichte, dunkle Wimpern, die seine einzigartigen Augen umrahmten, und vollkommen glatte, reine Haut. Seine weichen, aber gleichzeitig maskulinen Gesichtszüge waren atemberaubend. Verstohlen begutachtete ich seinen Körper. Jared war weder schmächtig, noch ein aufgeblasener Muskelprotz. Vielmehr hatte er die Figur eines Athleten. Unwillkürlich fragte ich mich, welche Sportart einen derart perfekten Körper formen würde. Und vor allem, wie oft man diesen Sport betreiben musste.

»Ich weiß, dass er gut aussieht, aber glaub mir: Er ist die Mühe nicht wert!«, flüsterte mir Sally nachdrücklich ins Ohr. Ich war so sehr in seinen Anblick vertieft gewesen, dass ich vor Schreck beinahe vom Stuhl gefallen wäre, als sie mich ansprach.

»Außerdem verkehrt er nur mit Seinesgleichen. Solltest du also nicht mindestens eine Million auf dem Konto haben, vergisst du ihn besser gleich.«

Überaus beschämt darüber, Jared Calmburry so offensichtlich gemustert zu haben, wandte ich mich widerwillig ab und konzentrierte mich auf die Vorlesung. Mit mäßigem Erfolg. Mein Blick glitt unweigerlich immer wieder dorthin, wo er saß.

Als der Professor schließlich das Ende der Vorlesung verkündete, verabschiedete sich Sally mit einem »Wir sehen uns, bis dann« und eilte zur Tür hinaus. Ich hatte keine Zeit zu überlegen, wo sie so schnell hin wollte, denn einen Herzschlag später klebte mein Blick wieder an Jared, der zwischen den anderen Studenten durch die Stuhlreihen zum Mittelgang des Hörsaals drängte. Plötzlich versperrte mir jemand die Sicht.

»Da hast du dem guten alten Professor Bronsen aber ordentlich die Show gestohlen«, sagte eine freundliche Männerstimme.

»Ja. Scheint so«, gab ich geistesabwesend zurück.

»Er lässt sich während seines stundenlangen Monologs über Libido und Destrudo nicht gerne unterbrechen.« Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Du kannst nur hoffen, dass er deinen Namen nicht kennt, sonst zieht er dir in der Prüfung für deinen kleinen Stunt eine Note ab.« Das Lächeln des Studenten wurde noch breiter. Ich erwiderte es halbherzig und schielte gleichzeitig über seine Schulter, auf der Suche nach Jared. Vergeblich. Er war in der zum Ausgang drängenden Menge verschwunden.

»Ich bin übrigens Felix«, fuhr er unbeirrt fort und als ich nicht reagierte, fügte er belustigt hinzu: »Keine Angst, du kannst mir deinen Namen ruhig anvertrauen, ich verrate dem alten Bronsen kein Sterbenswörtchen.« Feierlich hob er die Hand wie zu einem Schwur und machte eine gespielt ernste Miene. »Versprochen!«

»Oh, entschuldige«, antwortete ich mit einem leichten Kopfschütteln und streckte ihm meine Hand entgegen, »Evelyn.«

»Nun, Evelyn«, er sprach meinen Namen beinahe zärtlich aus, »was hast du als Nächstes?«

Noch immer etwas überfordert mit diesem unerwarteten Gespräch, kramte ich in meiner Tasche, zog meinen mittlerweile zerknitterten Stundenplan heraus und warf einen Blick darauf.

»Einführung in die Psychologie bei Professor Harrison in Hörsaal 4.«

»Darf ich dich begleiten?«, bot er mir freundlich an. »Ich kenne jeden reparaturbedürftigen Stuhl in diesem College – eine Bruchlandung für heute reicht, oder?« Erneut breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus und als ich ihn nun erstmals richtig ansah, fiel mir auf, wie sympathisch Felix wirkte. Die zerzausten schwarzen Locken umrahmten sein ovales Gesicht und passten perfekt zu den dunklen Augen, um die sich bereits erste kleine Lachfältchen gebildet hatten. Er grinste so breit, dass sich auf seinen Wangen kleine Grübchen bildeten und seine strahlend weißen Zähne sichtbar wurden. Bei genauerem Hinsehen fiel mir auf, dass der linke Schneidezahn ein bisschen schief war und ein ganzes Stück über seinen rechten Nachbarn ragte. Alles in allem war Felix … hübsch. Ich konnte nicht anders, als sein Lächeln zu erwidern.

»Okay«, willigte ich ein, »nach dir.«

Wir bahnten uns zwischen den anderen Studenten einen Weg aus dem Hörsaal.

»Ich hab dich hier noch nie gesehen. Hast du das College gewechselt? Oder das Studienfach?«, fragte er neugierig, während wir ins Freie hinaustraten. Es hatte wieder angefangen zu schneien und dicke, nasse Flocken klatschten mir ins Gesicht. Da ich weder Schal, noch Mütze oder Handschuhe dabei hatte, blieb mir nichts anderes übrig, als meinen Mantel ein bisschen enger um mich zu schlingen und den Kopf einzuziehen, um mich vor dem Wetter zu schützen. Felix tat es mir gleich.

»Nein, heute ist mein erster Tag«, rief ich gegen den eisigen Wind. »Ich bin im Nachrückverfahren angenommen worden.«

»Na, dann war das heute ja ein gelungener Start ins Studium«, spielte er lächelnd noch einmal auf meinen Sturz an.

»Das kann man wohl sagen. Ich bin gestern Abend erst angekommen, heute Morgen hab ich verschlafen und … na ja, den Rest kennst du ja.« Dass die Rothaarige mich außerdem in die falsche Richtung geschickt hatte, verschwieg ich.

»In welchem Studienjahr bist du denn?«, erkundigte ich mich, nachdem wir ein paar Schritte über eine verschneite Wiese, abseits des Fußweges, gegangen waren und uns aus dem Studentenpulk gelöst hatten.

»Auch im ersten, aber ich hab schon letztes Jahr im Oktober angefangen.«

»Und wie gefällt es dir bis jetzt?«

»Die Vorlesungen und Seminare sind ziemlich gut«, er zögerte, »aber die Leute hier sind, sagen wir mal, gewöhnungsbedürftig.«

»Wie meinst du das?«

»Sieh dich doch mal um«, mit einem Mal schien er aufgebracht. »Lauter reiche Söhnchen. Die sind alle Mitglied in irgendeiner elitären Verbindung, haben Kohle ohne Ende und machen bei jeder Gelegenheit einen auf dicke Hose.«

Das erinnerte mich an das, was Sally vorhin gesagt hatte.

»Meinst du jemand Bestimmtes?«, hakte ich nach, da ich mir keinen Reim auf Felix’ plötzlichen Stimmungsumschwung machen konnte.

»Ach, die meisten hier sind so«, sagte er abfällig, »der Schlimmste ist aber glaub ich dieser Calmburry.« Ich horchte auf. »Immer von seinen Leuten umringt, die ihm auf Schritt und Tritt folgen. Am besten ist es, wenn man diesen Verbindungstypen von Anfang an aus dem Weg geht.«

»Hat er dir etwas getan?«, bohrte ich nach, begierig, noch mehr über Jared zu erfahren.

Felix lächelte mich bedeutungsvoll an. »Weißt du«, begann er seltsam gedehnt, »jemand wie ich muss sich im Leben alles hart erarbeiten – ich studiere hier mit einem Stipendium, für das ich mir den Arsch aufgerissen habe. Während jemand wie er sich einfach kaufen kann, was er möchte. Ich bin sicher, dass er seine Noten nur einer großzügigen Spende aus dem Erbe seiner stinkreichen Familie zu verdanken hat.« Felix’ unerwartete Feindseligkeit ließ mich ein bisschen zurückschrecken und wir gingen schweigend nebeneinander her, bis er fragte: »Was ist mit dir? Hast du Kohle?«

Einen Augenblick war ich verblüfft über diese direkte und indiskrete Frage, doch ein Blick in sein Gesicht verriet, dass er es nicht ganz ernst meinte.

»Soll ich darauf echt antworten?«, fragte ich mit hochgezogenen Augenbrauen.

»Das musst du nicht«, er hielt einen Moment inne und sah mich eindringlich an. »Ich habe vom ersten Augenblick an gesehen, dass du anders bist als die anderen hier.«

Was war das denn? Flirtete er etwa mit mir? Wir kannten uns gerade mal ein paar Minuten.

»Ähm … danke«, antwortete ich verlegen und verwundert zugleich, woraufhin er in schallendes Gelächter ausbrach.

»Wir sind da«, erklärte Felix, sobald er sich wieder gefangen hatte. »Hörsaal 4.«

»Vielen Dank«, erwiderte ich aufrichtig und schlüpfte an ihm vorbei zum Eingang.

»Evelyn«, rief er mir nach, kaum dass ich mich umgedreht hatte, »weißt du, wo die Dining Hall ist?« Das wusste ich nur zu gut, schließlich hatte ich am Morgen schon direkt davor gestanden.

»Ja, wieso?«

»Hast du Lust mit mir zu Mittag zu essen?«

»Ja, klar«, antwortete ich, ohne nachzudenken, und bereute meine überstürzte Zusage eine Sekunde später. Er strahlte über beide Ohren.

»Okay, dann treffen wir uns in der Mittagspause vor der Dining Hall. Bis nachher.«

Bevor ich darauf reagieren konnte, wandte er sich um und ging in die Richtung davon, aus der wir eben gekommen waren.

Oh Mann, ich musste mich unbedingt zusammenreißen. Der Tag hatte schon unmöglich angefangen – erst hatte ich verschlafen und war der Rothaarigen gründlich auf den Leim gegangen, dann hatte ein völlig Fremder mich mit einem einzigen Blick total aus dem Konzept gebracht und Felix hatte es zweimal geschafft, mich zu überrumpeln. Wenn ich mich nicht endlich sammelte, könnte noch weiß der Himmel was passieren.

Für einen Moment schloss ich kopfschüttelnd die Augen, atmete ein weiteres Mal tief durch und schritt durch die mächtige, mit Schnitzereien verzierte Holztür. Dabei schüttelte ich die dicken Schneeflocken von meinem Mantel und trocknete mein Haar behelfsmäßig mit einem Taschentuch, ehe ich mir einen Platz in Hörsaal 4 suchte. Nach und nach setzten sich auch meine Kommilitonen, und Professor Leonard Harrison begann pünktlich mit der Vorlesung Einführung in die Psychologie.

Harrison war ein Professor, wie er im Buche steht. Er trug die obligatorische Tweed-Jacke über dem dunkelblauen Pullunder, unter dem ein weißer Hemdkragen hervorblitzte. Abgewetzte schwarze Lederslipper und eine dieser zu hoch sitzenden Altmännerhosen vervollständigten sein Outfit. Um seine Stirnglatze zu verbergen, hatte er sich das spärliche graue Haar quer über den Kopf gekämmt. Die goldgeränderte Halbmondbrille saß ihm ganz vorne auf der Nasenspitze und als er zur Begrüßung lächelte, gab er den Blick auf eine Reihe krummer und schlecht gepflegter Zähne frei.

Den Großteil dessen, was er in der Vorlesung behandelte, wusste ich bereits aus meinem Psychologie-Vorbereitungskurs. Trotzdem schrieb ich sorgfältig mit, schließlich fehlten mir ein paar Monate Stoff im Vergleich zu den meisten anderen hier.

Als Professor Harrison seine Vorlesung beendet hatte, sah ich auf meinem Stundenplan nach, wo ich als nächstes hin musste und stellte zufrieden fest, dass sowohl Statistik als auch Geschichte der Psychoanalyse in Hörsaal 4 stattfanden. Ich konnte also einfach sitzen bleiben und mich zurücklehnen.

Statistik bei Professor Sigmund Gallert brachte mich etwas ins Schwitzen. Für Mathe hatte ich noch nie viel übrig gehabt und Gallerts Sprachfehler – eine Art nuschelndes Lispeln – machte es auch nicht gerade einfacher, den komplexen Berechnungen zu folgen, da ich mir ständig ein Kichern verkneifen musste. Wenigstens schien es meinen Kommilitonen nicht anders zu ergehen, wie ich erleichtert feststellte. Obwohl ich trotz allem einigermaßen verstanden hatte, was Professor Gallert versuchte zu vermitteln, musste ich unbedingt den verpassten Stoff nachholen. Vielleicht sollte ich mich einer Lerngruppe anschließen? Ich beschloss, mich möglichst bald nach einer umzusehen.

Froh, Gallerts befreiendes »Schluss für heute« zu hören, lehnte ich mich zurück und versuchte mich für einen Moment zu entspannen.

Dann, wie auch schon nach Einführung in die Psychologie, beobachtete ich, wie die meisten Studenten fluchtartig den Raum verließen und neue hereinkamen. Mit einem Unterschied: Diesmal wirkte alles sehr viel hektischer. An den Hinausströmenden vorbei drängten bereits kurz nach Vorlesungsende etliche Studenten herein, um sich einen Platz zu sichern. Schon nach ein paar Minuten versprach es richtig voll zu werden und selbst die sonst so unbeliebten Plätze in der ersten Reihe waren schnell vergeben. Sogar als alle Stühle besetzt waren, strömten noch immer Leute ins Innere und ließen sich, verärgert darüber, keinen Sitzplatz mehr ergattert zu haben, auf der Treppe im Mittelgang nieder. Meine Erwartungen an diese Vorlesung wuchsen von Minute zu Minute. Geschichte der Psychoanalyse, Professor Karen Mayflower, las ich noch einmal auf meinem zerknitterten Stundenplan und hob gespannt den Kopf, als die Dozententür an der Stirnseite des Hörsaals sich geräuschvoll öffnete und jemand eintrat.

Professor Mayflower war eine gut gekleidete, hochintelligente und durchaus attraktive Frau Mitte fünfzig, die mich vom ersten Moment an beeindruckte. Ich hing an ihren Lippen und saugte begierig jedes ihrer Worte auf. Eine Stunde später hatte ich bereits meinen halben Block mit Mitschriften vollgekritzelt. Ich hatte so viel geschrieben, dass es mich allmählich sogar ziemlich anstrengte, auf das weiße Papier zu starren. Bildete ich mir das nur ein, oder war es wahnsinnig hell hier drin? Ich überlegte gerade, ob sie hier ganz besonders starke Neonröhren verwendeten, als ich einen bohrenden Blick in meinem Hinterkopf spürte. Langsam drehte ich mich um, um diesem unbehaglichen Gefühl des Beobachtetwerdens auf den Grund zu gehen – und hielt wie vom Schlag getroffen mitten in der Bewegung inne. Jared Calmburry saß, durch das Gefälle im Hörsaal deutlich erhöht, etwa fünf Reihen hinter mir und starrte mich an. Als ich merkte, dass es sein Blick war, den ich auf mir gespürt hatte, erschrak ich so sehr, dass ich mich blitzschnell wieder nach vorn drehte. Im selben Moment begann das Licht urplötzlich zu flackern.

Was hat das zu bedeuten?

Noch immer spürte ich seinen Blick in meinem Nacken und kämpfte mit aller Kraft gegen den Drang, mich erneut umzudrehen. Waren seine Augen schon die ganze Zeit auf mich gerichtet gewesen und ich hatte es nur nicht bemerkt, weil ich auf Professor Mayflower konzentriert gewesen war? Oder bildete ich mir das Ganze doch nur ein und Calmburry beobachtete mich gar nicht. Wieso sollte er auch? Nach dem, was Sally und Felix mir erzählt hatten, würde er sich sowieso nicht mit jemandem wie mir abgeben. Aber warum spürte ich dann noch immer seinen Blick auf mir ruhen? Vorsichtig drehte ich mich erneut um und sah ihn an. Er blickte mir direkt in die Augen – mein Herz setzte einen Moment aus. Ich hatte mich also nicht getäuscht, Calmburry beobachtete mich tatsächlich. Selbst aus dieser Entfernung konnte ich seine tiefblauen Augen beinahe leuchten sehen. Die Kiefermuskeln hatte er deutlich angespannt und der Ausdruck in seinem Gesicht wirkte neugierig und ungläubig zugleich. Aber da war noch etwas anderes … Faszination? Ich konnte es nicht benennen.

»Hätten Sie wohl die Güte dem Unterricht zu folgen, meine Liebe?«

Ich erstarrte. Meinte sie mich? Hastig drehte ich mich wieder nach vorne und begegnete Professor Mayflowers tadelndem Blick. Doch dann, von einer Sekunde auf die andere, wandelte sich der Ausdruck auf ihrem Gesicht. Sie riss die Augen auf, öffnete ungläubig den Mund und blickte abwechselnd von mir zu dem ein paar Reihen hinter mir sitzenden Calmburry.

»Nimue«, murmelte sie perplex, »das ist unmöglich!« Für einen kurzen Moment sah die Professorin aus, als erleide sie gerade einen Schlaganfall. Dann schüttelte sie den Kopf, als wollte sie einen Gedanken vertreiben, stotterte etwas, das nach »Entschuldigung« klang, und verließ fluchtartig den Hörsaal, kurz bevor die Vorlesungszeit um war.

»Was hat sie gesagt?«, hörte ich das Mädchen neben mir ratlos fragen. Alle Anwesenden sahen Professor Mayflower verwundert nach, nur um gleich darauf wieder mich anzustarren, als wäre ich ein aus dem Zoo entlaufenes Tier. Zum zweiten Mal an diesem Morgen waren mir alle Köpfe zugewandt. Es war ein so unangenehmes Gefühl, dass ich im Boden versinken wollte.

Was zum Teufel hatte das zu bedeuten?

Auf der Suche nach einer Erklärung sah ich mich nach Jared Calmburry um, den Professor Mayflower genauso schockiert angestarrt hatte wie mich, doch sein Platz war leer. Er musste eben zur Tür hinaus gewitscht sein. Wie hatte er es nur geschafft, so schnell zu verschwinden?

Völlig verdattert streifte ich meinem Mantel über und verließ mit den anderen Studenten, die mich noch immer kritisch beäugten, das Gebäude. Draußen schneite es mittlerweile so heftig, dass ich den Kragen meines Mantels halb über den Kopf ziehen und die Augen zusammenkneifen musste, um in dem dichten Schneegestöber überhaupt noch etwas erkennen zu können. Eiskalt klatschten mir die schweren Flocken ins Gesicht.

»Ich dachte, bei diesem Wetter hole ich dich lieber ab. Nicht, dass du dich noch verläufst.« Felix trat mit einem Lächeln neben mich. Auch er hatte seine Jacke halb über den Kopf gezogen. Woher wusste er, wo ich …?

»Hi, nett von dir«, schrie ich gegen den Sturm an. Ich war tatsächlich erleichtert, ihn zu sehen. Er hielt mir seinen Arm hin und ich hakte mich ein, dankbar für den Halt, den er mir bot.

»Sag mal, starren die dich alle so an?«, fragte Felix, als ihm die Blicke unserer Kommilitonen aufgefallen waren, die sich nicht einmal durch einen Schneesturm vom Gaffen abhalten ließen.

»Keine Ahnung«, log ich und beschleunigte meinen Schritt durch das unerbittlich weiße Treiben. Bemüht, den misstrauischen und verwunderten Blicken so schnell wie möglich zu entkommen.

»Du bist doch nicht etwa schon wieder hingefallen, oder?« Er blieb stehen und sah mich besorgt an.

»Nein. Komm jetzt, lass uns gehen«, drängte ich, was ihm zu gefallen schien, denn er grinste zufrieden und ließ sich von mir mitziehen.

»Wie’s aussieht«, bemerkte Felix mit einem spöttischen Unterton, nachdem wir kaum weiter als ein paar Meter gekommen waren, »schleimt sich Calmburry wieder bei der Mayflower ein!« Alarmiert fuhr ich herum und erhaschte einen Blick auf Professor Mayflower, die, einigermaßen geschützt von Schnee und Wind, zusammen mit Jared Calmburry in einer schmalen Gasse zwischen zwei Gebäuden stand und wild gestikulierend auf ihn einredete. Seine Haltung hingegen wirkte eher beschwichtigend. Als hätte er meine Anwesenheit gespürt, sah Jared auf und fixierte mich mit seinen indigoblauen Augen. Zuerst schien er neugierig, doch als sein Blick auf Felix hängen blieb, wirkte er plötzlich misstrauisch. Professor Mayflower drehte sich blitzartig um, als sie Jareds verändertes Verhalten bemerkte und warf mir einen wütenden und zugleich verzweifelten Blick zu.

»Was hat die denn für ein Problem?«, fragte Felix gelassen und schob mich weiter in Richtung Dining Hall. Widerwillig löste ich meinen fragenden Blick von Jareds Gesicht und lief weiter. So langsam glaubte ich wirklich, verrückt zu werden.

Als wir die Dining Hall betraten, klopfte ich die dicken, wattebauschähnlichen Flocken von meinem Mantel. Felix schüttelte seine schwarzen Locken so heftig, dass er mich an einen nassen Hund erinnerte, und verspritzte halbgeschmolzenen Schnee im gesamten Eingangsbereich. Es sah so lustig aus, dass mir, trotz dem, was gerade passiert war, unwillkürlich ein Kichern entfuhr.

Als wir die Treppen hinauf gestiegen waren, erklärte mir Felix, während ich voll und ganz damit beschäftigt war, die vielen Eindrücke, die sich mir in diesem geschichtsträchtigen Saal boten, zu verarbeiten, gut gelaunt das System der Essensausgabe. Da ich eigentlich gar keinen Hunger hatte und noch immer verwirrt war wegen Professor Mayflowers und vor allem Jared Calmburrys seltsamen Verhaltens, nahm ich das Erste, das ich identifizieren konnte – Nudeln mit Tomatensoße – und setzte mich gegenüber von Felix an eine der riesigen, sich über den ganzen Raum erstreckenden Tafeln. Unwillkürlich ließ ich meinen Blick über die dunklen Wandvertäfelungen schweifen, auf denen unzählige, zum Teil lebensgroße Gemälde von berühmten Absolventen des Christ Church angebracht waren.

»MacMillan, du wirst dich doch nicht gleich an die Neue ranmachen?« Sally stand, ein volles Tablett in den Händen, direkt hinter Felix und lächelte mich an.

»Nichts für ungut, Evelyn, aber bei dem hier musst du aufpassen.«

Sie zwinkerte mir zu und setzte sich neben Felix, der darüber alles andere als begeistert schien.

»Willst du dich nicht lieber woanders hinsetzten, Sally?«, fragte er genervt.

»Ich wollte nur sehen, wie es meiner neuen Freundin geht«, entgegnete sie frech, »und da finde ich sie hier mit dir – dem Schlimmsten von allen!«

Ich musste ihr ins Gesicht schauen, um zu sehen, wie ernst sie meinte, was sie da eben gesagt hatte. Ich kam zu dem Schluss, dass tatsächlich eine kleine Warnung in ihrer scherzhaften Bemerkung mitschwang.

»Ich nehme an, ihr kennt euch«, mutmaßte ich mit einem Lächeln, weil es so offensichtlich war.

»Wir sind in derselben Lerngruppe«, erklärte Felix, woraufhin Sally angriffslustig »aber meistens unterschiedlicher Meinung« ergänzte.

»Nein, du bist einfach nur immer dagegen, egal worum es geht. Deswegen sind wir mittlerweile auch nur noch zu zweit – alle anderen haben schon genug von dir!«, fuhr Felix sie sichtlich erbost an.

»Ist das so?«, fragte Sally bissig.

Bei dem Gedanken daran, wie die beiden mit endlosen Diskussionen und Sticheleien die gesamte Lerngruppe vergrault hatten, musste ich unweigerlich lächeln.

»Wenn Evelyn mitmacht, sind wir wieder zu dritt – was hältst du davon?«, fragte sie mich ungerührt.

»Ja, das wär’ super, ich wollte mich sowieso einer Lerngruppe anschließen.« Beide grinsten mich an, doch dann kam mir ein Gedanke und ich zog die Unterlippe zwischen die Zähne. »Wie gut … kennt ihr beiden euch denn in Statistik aus?«, fragte ich zögerlich. Hoffentlich würde ich keine Antwort bekommen, die mich dazu zwingen würde, eine andere Lerngruppe zu suchen.

»Statistik ist mein Spezialgebiet«, gab Felix stolz zurück, »überhaupt alles, was mit Zahlen zu tun hat, ist kein Problem für mich!«

Erleichtert atmete ich auf.

»Jetzt spiel dich nicht so auf, du Angeber.« Sally verdrehte die Augen.

»Was denn? Ich bin nun mal gut in Mathe«, sagte er schulterzuckend.

»Ein gesundes Selbstbewusstsein hast du jedenfalls«, erwiderte ich lächelnd. »Trotzdem schön, das zu hören – ich bin heute in Statistik nämlich mehr schlecht als recht mitgekommen«, verlieh ich meiner Erleichterung Ausdruck.

»Keine Sorge«, sagte Sally vergnügt, »unser Mathegenie hier wird dich schon auf Kurs bringen.«

»Reg dich ab, Sally«, zischte er.

Als wir mit dem Mittagessen fertig waren – das heißt, als ich damit fertig war, in meinen Nudeln herumzustochern – räumten wir unser Geschirr in die bereitstehenden Wagen und gingen hinaus in den Innenhof des quadratischen Collegekomplexes. Es schneite noch immer. Allerdings bei weitem nicht mehr so heftig wie zuvor. Dennoch war es bitterkalt, als ich mit Sally zu meinem nächsten Seminar ging. Wie wir beim Essen festgestellt hatten, besuchten wir am Nachmittag dieselben Lehrveranstaltungen.

Verhaltenspsychologie bei Professor Marvin Fisher war hochinteressant. Neben der klassischen Konditionierung nach Pawlow behandelte Fisher auch die Operante Konditionierung nach Skinner, was mich schon immer brennend interessiert hatte. Menschliches Verhalten mittels Belohnung oder Bestrafung zu beeinflussen fand ich äußerst spannend, wenn auch sehr gefährlich.

Sally hingegen schien weniger begeistert und lümmelte lustlos auf ihrem Stuhl herum.

»Willst du denn nicht mitschreiben?«, fragte ich sie beiläufig. »Das könnte alles in der Prüfung dran kommen.«

»Ich hab die ganzen Mitschriften von einer aus dem zweiten Jahr«, antwortete sie gelangweilt und stöhnte ein paar Minuten später laut auf, als Fisher mit seinem Vortrag am Ende angelangt war. Das nächste Seminar war gleichzeitig das letzte an diesem Tag. Danach hätte ich es überstanden.

Als wir den Raum betraten, wirkte Sally auf mich plötzlich nervös. Ständig strich sie sich durchs Haar und überprüfte ihr Make-up mehrmals in einem kleinen Taschenspiegel. Ich konnte mir keinen Reim auf ihren plötzlichen Verhaltenswandel machen, doch als ich mich umsah, fiel mir auf, dass sich die meisten anwesenden Mädchen, genau wie Sally, irgendwie seltsam benahmen. Alle schienen mit ihrem Äußeren beschäftigt zu sein. Auf der Suche nach einer Erklärung schaute ich ein weiteres Mal auf meinen mittlerweile völlig malträtierten Stundenplan – heute Abend würde ich ihn neu schreiben müssen.

Kommunikationspsychologie bei Professor Irvin Martin, stellte ich fest, ohne irgendeine Besonderheit zu erkennen. Doch dann betrat der Professor den Raum und mir wurde schlagartig klar, warum sich nahezu alle anwesenden weiblichen Wesen in schmachtende Groupies verwandelt hatten. Professor Martin war ein umwerfend gut aussehender Mann Mitte vierzig, der geradewegs einem Werbeplakat für Herrenanzüge entsprungen zu sein schien. Und obwohl er keiner der anwesenden Studentinnen irgendein erkennbares Signal sendete, himmelten diese ihn unverblümt an. Ob er verheiratet war? Auf der Suche nach einem Ehering glitt mein Blick über seine Hände. Am Ringfinger der rechten Hand trug er einen nach Familienerbstück aussehenden Siegelring. Er war aus Gold und auf der ebenen, ovalen Oberfläche war ein glatter, dunkelblauer Edelstein eingefasst, auf dem etwas, das aussah wie ein Wappen, eingraviert war. Das war die Art Ring, die man erhielt, wenn man Mitglied in irgendeinem elitären Club war, aber eindeutig kein Ehering. Wie es schien, war Professor Martin also nicht verheiratet – was die Avancen der anwesenden Damen erklärte, denn offensichtlich rechneten sie sich realistische Chancen bei ihm aus. Auf mich hingegen wirkte er einfach nur sympathisch, vielleicht sogar ein wenig väterlich.

Das war’s – der erste Tag ist geschafft, dachte ich und verabschiedete mich von Sally, die noch immer kaum den Blick von Professor Martin lösen konnte. Müde und frierend machte ich mich auf den Weg ins Wohnheim, während ich mein Handy aus der Tasche zog und Mrs. Prescotts Nummer wählte, um einen Lagebericht meines ersten Tages in Oxford abzugeben.

Erst als ich sie darauf hinwies, dass mein Akku nicht mehr lange durchhalten würde, schaffte ich es, ihren Redefluss zu unterbrechen, und legte auf. In meinem Wohnheim angekommen, befreite ich mich aus dem durchnässten Mantel, streifte mir die schweren Boots von den Füßen und begab mich ins Badezimmer. Dort zog ich mich schließlich vollständig aus und stellte mich seufzend unter die Dusche. Lange Zeit stand ich einfach nur da, genoss das Gefühl wohliger Wärme auf meiner Haut und dachte über den Tag nach. Das war nicht gerade ein gelungener Start. Erst hatte ich verschlafen, dann die Rothaarige und nicht zu vergessen: meine filmreife Bruchlandung in der ersten Vorlesung. Alle hatten mich angestarrt. Alle. Aber einer ganz besonders: Jared Calmburry …

Was war bloß mit ihm? Bisher hatte ich mir nie viel aus Jungs gemacht, doch nun war ich über mich selbst erstaunt, wie sehr dieser mich faszinierte. Ich verspürte einen regelrechten Drang, ihn wieder zu sehen, versuchte mir sein makelloses Gesicht in Erinnerung zu rufen, stellte mir seine perfekten Züge vor – seine unbeschreiblich blauen Augen. Wie es sich wohl anfühlen würde, wenn er …

Was zum Teufel ist eigentlich los mit mir? Ich sollte wirklich nicht auf diese Weise an Jared denken – schließlich kannte ich ihn überhaupt nicht. Heftig schüttelte ich den Kopf, um diesen lächerlichen Gedanken zu vertreiben. Was nämlich viel wichtiger war: ich hatte tatsächlich Anschluss gefunden. Sally und Felix wollten mich sogar in ihrer Lerngruppe haben. Wenigstens etwas Gutes hatte dieser Tag gebracht. Nach und nach lösten sich nun auch die Verspannungen in meinem Nacken und meinen Schultern, während ich mir das Haar großzügig mit meinem nach Apfelblüten duftenden Lieblingsshampoo einschäumte. Als das Wasser dann allmählich kälter wurde, drehte ich es ab und wickelte ein großes Handtuch um mich. Ein anderes schlang ich um meine tropfnassen Haare. Dann räumte ich die zuvor achtlos im Zimmer verstreuten Klamotten auf, drehte die Heizung hoch und nachdem ich meine langen Haare sorgfältig gebürstet hatte, legte ich eine weiche Fleece-Decke um meine Schultern und setzte mich an den Schreibtisch. Am folgenden Tag wollte ich besser vorbereitet sein als an diesem. Zuerst nahm ich den unbrauchbaren Stundenplan aus meiner Tasche und fing an, ihn auf ein neues Blatt Papier zu übertragen. Dann zog ich den Lageplan des Collegegeländes hervor und versuchte ihn mir einzuprägen – ganz besonders die Wege zu den Gebäuden, in denen am folgenden Tag meine Vorlesungen und Seminare stattfinden würden. Als ich genug davon hatte, sortierte ich die Unterlagen in meiner Mappe, die noch kreuz und quer in meiner Tasche lagen. Als ich auch damit fertig war, holte ich meinen Laptop aus der obersten Schublade der alten Kommode und öffnete die Homepage der Universität, um mich ein bisschen besser über meine Professoren zu informieren. Angefangen bei Professor Irvin Martin, dessen von Abenteuerlust bestimmter Lebenslauf mich nachhaltig beeindruckte, über den eher langweiligen Professor Gallert, bis ich schließlich bei Karen Mayflower angelangt war. Bei dem Gedanken an ihr sonderbares Verhalten, bekam ich feuchte Hände. Ich klickte den Link zu ihrer Vita an. In chronologischer Reihenfolge war nebst der beeindruckenden wissenschaftlichen Ausbildung ihr beruflicher Werdegang beschrieben. Darunter waren etliche Publikationen aufgelistet. Neben einer Litanei furchtbar trocken klingender Buch- und Aufsatztitel, stachen mir Werke wie Von den Rittern der Tafelrunde zur modernen Demokratie – eine anthropologische Betrachtungsweise oder Avalon – eine psychologische Annäherung und Excalibur – Symbole der Macht, besonders ins Auge. Ich runzelte die Stirn. Offensichtlich hatte Professor Mayflower etwas für altenglische Mythen übrig. So hätte ich sie überhaupt nicht eingeschätzt. Plötzlich hatte ich ein Bild vor meinem geistigen Auge. Ich sah förmlich vor mir, wie sie wild gestikulierend auf Jared eingeredet hatte. Jared Calmburry … da war er wieder und nahm all meine Gedanken für sich ein. Unwillkürlich tippte ich etwas auf der Tastatur und als mein Blick zurück zum Bildschirm glitt, zeigte Google mehrere zehntausend Suchergebnisse zu seinem Namen an. Ich überflog die ersten paar Überschriften. Neben der obligatorischen Meldung Jared Calmburry ist bei Facebook stieß ich auf die Abbildung eines uralt anmutenden Familienwappens. Doch es war etwas anderes, das meinen Blick auf sich zog. Mehrere Zeitungsberichte mit Fotos eines brennenden Flugzeugwracks – von der Größe her musste es sich um einen Privatjet handeln – huschten über den Bildschirm. Es war ein grauenhafter Anblick. Wie konnte Jared diese fürchterliche Katastrophe überlebt haben? Den Fotos nach zu urteilen, schien es unmöglich. Doch er hatte überlebt … und dabei alles verloren. Ein Gefühl, das mir nur allzu vertraut war. Sein Verlust war mir in diesem Moment so schrecklich bewusst, dass er sich beinahe anfühlte wie mein eigener. Ich teilte sein Schicksal. Ich fühlte seinen Schmerz. Etwas öffnete sich, das besser verschlossen geblieben wäre. Sofort strömten die Bilder auf mich ein. Ein zerquetschter Kleinwagen. Die mit Kreide gezeichneten Umrisse zweier Menschen auf der Straße. Zara, die mich an der Hand hält, als wir vor den beiden schwarzen Särgen stehen. Mich zwingt, ihr in die Augen zu sehen, als ich nicht mehr atmen kann – keine Luft mehr bekomme. Ich … alleine vor einem weiteren Sarg. Dunkelbraun. Weißen Flieder in den Händen. Nein! Heftig schlug ich mit dem Ballen der rechten Hand gegen meine Stirn. Einmal, zweimal, dreimal. Versuchte die Bilder zu vertreiben. Viermal, fünfmal … Krampfhaft sog ich Luft ein, füllte meine Lungen mit Sauerstoff, atmete tief ein und versuchte mich zu beruhigen. Einatmen. Ausatmen. Einatmen. Ausatmen. Einatmen …

In Gedanken sperrte ich meine Erinnerungen wieder in die kleine schwarze Kiste, aus der sie entkommen waren, verschloss sie sorgfältig und vergrub sie in meinem Inneren. Tief. So tief, dass niemand sie finden konnte. Am allerwenigsten ich selbst.

Kapitel 4

Der Wecker klingelte um 06:00 Uhr. Obwohl ich früh eingeschlafen war, fühlte ich mich wie gerädert. Ich schob es auf die ungewohnte neue Umgebung und die Ereignisse der vergangenen Monate, die mir noch immer schwer zu schaffen machten. Trotzdem stand ich auf, ohne noch einmal auf die Snooze-Taste zu drücken, was ich normalerweise getan hätte. Heute wollte ich auf Nummer sicher gehen und lieber zu früh als zu spät bei meiner ersten Vorlesung auftauchen. Rasch ging ich ins Bad, um mich für den Tag fertig zu machen. Ich putzte meine Zähne, wusch mein Gesicht, kämmte die Knoten aus meinen langen Haaren und band sie im Nacken zusammen. Nachdem ich einen Blick aus dem mit Eisblumen übersäten Fenster geworfen hatte, entschied ich mich, Skiunterwäsche unter meine normale Kleidung – eine schwarze Jeans und einen langen dunkelgrauen Wollpullover –, die ich bereits am Vorabend zurecht gelegt hatte, zu ziehen. Zusätzlich streifte ich ein zweites Paar Socken über, bevor ich in meine schwarzen Boots schlüpfte. Obwohl ich noch viel zu früh dran war, beschloss ich nach draußen zu gehen und mich vor der ersten Vorlesung noch etwas auf dem Gelände des Christ Church College umzusehen.

Es war ein wunderschöner Morgen. Die Sonne stieg mit einem kräftig rosé-orange farbigen Leuchten langsam am Horizont empor und offenbarte einen klaren, wolkenlosen Himmel, an dem noch immer vereinzelt die Sterne der vergangenen Nacht prangten.

Die kahlen, mit weißem Raureif überzogenen Äste und Zweige der zahllosen uralten Bäume, zwischen denen sich schmale Fußwege hindurch schlängelten, boten eine wunderbare Kulisse für die schneebedeckten Gebäude dieser altehrwürdigen Universität. Ein kleiner, zugefrorener Ententeich am Ufer der Themse auf der Rückseite des Hauptgebäudes vervollständigte das Bild. Eine Winterlandschaft, die direkt aus einem Märchen der Gebrüder Grimm entsprungen zu sein schien.

So früh am Morgen war weit und breit noch niemand zu sehen und ich genoss die Ruhe. Zara würde es hier auch gefallen, dachte ich wehmütig und spürte Tränen in mir aufsteigen. Sie hatte gewollt, dass ich hier her kam. Ohne ihr Drängen hätte ich mich gar nicht erst beworben. Sie war davon überzeugt gewesen, dass dies der richtige Weg für mich sein würde. Dass es mein Weg sein würde.

In diesem Moment fehlte sie mir so sehr, dass es mir fast körperliche Schmerzen bereitete.

Auf einmal hörte ich Schritte im Schnee, die rasch näher kamen. Da joggte jemand. Ich wandte mich um und erspähte einen dunkel gekleideten Läufer, der, den Fußweg entlang zwischen den Bäumen hindurch, in meine Richtung lief. Er war nur noch wenige Meter entfernt und trabte in großen, gleichmäßigen Schritten auf mich zu. Als ich sein Gesicht erkannte, stockte mir der Atem. Auch er riss überrascht die Augen auf. Plötzlich stob wie aus dem Nichts und ohne, dass ich einen Windstoß oder dergleichen gespürt hatte, meterhoch Schnee um mich herum auf und nahm mir die Sicht. Einen Wimpernschlag später war das weiße Treiben vorüber und der aufgewirbelte Schnee schwebte sanft zu Boden. Hatte ich mir das gerade nur eingebildet? Der Läufer verlangsamte sein Tempo, bis er schließlich direkt vor mir zum Stehen kam. Einen Moment standen wir uns stumm gegenüber und sahen einander in die Augen, dann öffnete Jared den Mund.

»Warum weinst du?«, fragte er so einfühlsam, dass beinahe meine Beine unter mir weggesackt wären. Völlig perplex angesichts seiner direkten Frage – ohne sich zuerst vorzustellen oder eine der üblichen Begrüßungsfloskeln zu verwenden – antwortete ich wie in Trance.

»Ich … ich vermisse meine Schwester.« Es war die Wahrheit. Schlicht und einfach. Aber warum war ich so schonungslos ehrlich zu einem völlig Fremden? Warum hatte er diese Wirkung auf mich?

Das Geräusch sich nähernder Schritte im Hintergrund ließ mich wieder zu mir kommen. Ich blinzelte – das erste Mal seit wir uns gegenüber standen – und entdeckte vier weitere Läufer, die sich zielstrebig auf uns zu bewegten. Sie trugen die gleiche Laufkleidung wie Jared. Er musste der Schnellste von ihnen sein und sich einen Vorsprung verschafft haben. Beinahe hatten sie uns erreicht.

»Ich bin Jared«, sagte er hastig, als auch er die anderen Läufer bemerkt hatte, und löste seinen Blick von mir. Ich war wie gelähmt.

»Wie ist dein Name?«, fragte er ungeduldig und blickte immer wieder zwischen mir und den anderen Läufern hin und her.

»Evelyn«, antwortete ich, war aber nicht in der Lage, einen vollständigen Satz zu bilden.

Zärtlich lächelte er mich an und entblößte eine Reihe perfekter, blendend weißer Zähne. Dann wandte er sich um und schloss sich just in dem Moment den anderen Läufern an, als sie mit uns auf gleicher Höhe waren. Einer der vier – der mit den dunkelsten Haaren – blickte mich im Vorbeilaufen missbilligend an. Zwei andere runzelten fragend die Stirn und der vierte, ein großer Kerl mit grünen Augen, schenkte mir ein breites Lächeln. Wie ein Volltrottel blieb ich einfach stehen, wo Jared mich zurückgelassen hatte, und blickte ihnen nach. Was zum Teufel war da eben passiert? Was zum Teufel war da eben mit mir passiert? Warum hatte ich mich nicht mehr unter Kontrolle, wenn Jared in der Nähe war?

Motivationspsychologie bei Professor Warden begann erst um acht. Bis dahin war es noch fast eine Stunde. Ich beschloss, mir in dem kleinen Café unweit des Haupteingangs, das mir auf dem Hinweg aus der Ferne aufgefallen war, noch einen Kaffee zu holen. Es war eines dieser altmodischen kleinen Frühstückscafés mit dunkler Holzvertäfelung, über dessen Eingang noch nicht der Name irgendeiner riesigen Kette prangte. Zu meinem Glück hatte es geöffnet. Ein paar Studenten und Professoren standen bereits gähnend in der Schlange vor der Kasse. Ich bestellte einen Kaffee zum Mitnehmen und war gerade dabei, den weißen Plastikdeckel über den wulstigen Rand des dicken Pappbechers zu stülpen, als mir jemand auf die Schulter tippte.

»Guten Morgen«, begrüßte mich Felix lächelnd.

»Oh, guten Morgen«, erwiderte ich überrascht. Ich war froh, ihn zu sehen. Er gab mir das Gefühl von Normalität und half mir dabei, meine Gedanken zu sortieren.

»Heute hast du nicht verschlafen, wie’s aussieht.«

»Nein«, gab ich lächelnd zurück, »heute nicht.«

Felix bestellte sich ebenfalls einen Kaffee.

»Wollen wir uns dort hinsetzten?« Er deutete auf einen kleinen runden Tisch in einer ruhigen Ecke des Cafés. Ich nickte – immerhin waren es noch über vierzig Minuten bis zum Beginn meiner Vorlesung.

Felix übernahm den Großteil der Unterhaltung, worüber ich recht froh war. Zuerst redete er über sein Wohnheim und dass man dort wegen der ständig stattfindenden Partys oft kein Auge zubekam. Deshalb setzte er sich zum Lernen meist in die Bibliothek. Dann sprach er über seine Familie. Er erzählte mir, dass er in einem der einkommensschwächsten Viertel Londons aufgewachsen war und seine Mutter einen zweiten Job hatte annehmen müssen, um ihn und seinen jüngeren Bruder auf eine teure Privatschule schicken zu können. Die beiden sollten es, im Gegensatz zu ihrem Alkoholiker-Vater, einmal zu etwas bringen, hatte sie gesagt, als sich Felix Tag für Tag über seine versnobten Mitschüler beschwert hatte. Dann begann er, von seinem Bruder zu erzählen, und als ich bemerkte, welche Richtung dieses Gespräch einschlug – eine die ich momentan unbedingt vermeiden wollte –, schaute ich übertrieben auffällig auf die Uhr und teilte ihm mit, dass es nun an der Zeit war, aufzubrechen. Felix, der Motivationspsychologie ebenfalls belegt hatte, begleitete mich zum Hörsaal, während er unablässig weiter redete. Es war angenehm, ihm einfach nur zuzuhören, und da ich seinen Redefluss nicht unterbrechen wollte, steuerte ich lediglich ab und zu ein »ah« oder »hmm« zu der Unterhaltung bei.

Im Hörsaal angekommen plauderte er, selbst als Professor Warden bereits die ersten Folien zeigte, unbeirrt weiter. So gern ich mich mit Felix unterhielt, fiel es mir doch schwer, dem Unterricht zu folgen und mich auf die Schaubilder zu konzentrieren, die der Professor mit einem Beamer an die Wand projizierte. War es sehr unhöflich, ihn zu bitten, während der Vorlesung die Klappe zu halten?! Ich setzte gerade dazu an, ihn zu fragen, ob wir unsere Unterhaltung nicht doch besser auf nach der Vorlesung verlegen sollten, als sich in der Reihe vor uns ein orangeroter Haarschopf umdrehte und zischte, Felix solle endlich sein blödes Maul halten. Ich erkannte das Gesicht sofort. Es war meine neue Freundin, die sich am Vortag einen Spaß daraus gemacht hatte, mich in die falsche Richtung zu schicken.

Plötzlich war ich nicht mehr so erpicht darauf, dem Unterricht zu folgen, und beteiligte mich stattdessen lebhaft an der Unterhaltung mit Felix. Ich erzählte ihm von meinem Wohnheim, beschrieb ausführlich mein Zimmer und legte dar, was mir an den alten Gebäuden hier so gut gefiel. Felix fing beinahe an zu glühen vor Freude über die Entwicklung unseres Gesprächs. Ganz im Gegensatz zu der Rothaarigen, die uns in regelmäßigen Abständen hasserfüllte Blicke zuwarf.

»Seit wann bist du eigentlich mit Sally befreundet?«, fragte ich, nachdem ich alle Besonderheiten und Vorzüge der gotischen Architektur aufgezählt hatte, die mir auf die Schnelle eingefallen waren.

»Befreundet? Ich bin mir nicht sicher, ob man das wirklich so nennen kann. Es ist eher eine Art Freindschaft – halb Freund, halb Feind. Sie versucht immer, mich zu übertrumpfen. Daraus hat sich im Lauf des ersten Trimesters ein regelrechter Wettkampf entwickelt, wer die besseren Noten einfährt«, erklärte er und fügte mit einem selbstgefälligen schiefen Lächeln hinzu: »Meistens gewinne ich.«

Als die Vorlesung vorüber war – ich musste beschämt feststellen, dass ich eigentlich gar nichts mitbekommen hatte und mein Notizblock fast leer war –, schwang die Rothaarige ihre sündhaft teure Handtasche so stürmisch über ihre Schulter, dass sie mich damit im Gesicht erwischt hätte, wenn Felix die Tasche nicht im letzten Moment abgefangen hätte.

»Ich hab’s dir ja gleich gesagt …«, sagte er etwas lauter als nötig, » … die sind gewöhnungsbedürftig.« Wieder ernteten wir einen vernichtenden Blick. Ich bedankte mich mit einem Nicken für sein Eingreifen. Sie hätte mir mit der blöden Tasche mit Sicherheit ein blaues Auge verpasst.

Der Rest des Vormittags verlief relativ ruhig. Felix begleitete mich in die meisten meiner Kurse und als wir mittags gemeinsam zur Dining Hall gingen, entdeckte ich, gerade als wir uns setzen wollten, Sally mit ein paar Leuten, die ich vom Sehen kannte, etwas weiter vorne an der riesigen Tafel sitzend. Sie winkte mich lächelnd zu sich.

»Schau mal, da ist Sally. Komm, wir setzen uns zu ihr«, sagte ich und hob mein Tablett wieder hoch. Felix schien wenig begeistert, sich zu den anderen zu setzen, folgte mir dennoch auf dem Fuße. Die drei Mädchen und zwei Jungs, mit denen Sally am Tisch saß, diskutierten angeregt über die Integrationspolitik der britischen Regierung und nickten Felix und mir zur Begrüßung nur kurz zu, um sich gleich wieder der hitzigen Debatte zu widmen.

»Folgst du Evelyn jetzt auf Schritt und Tritt, oder was?« Taktgefühl zählte wirklich nicht zu Sallys Stärken.

»Halt die Klappe«, murmelte Felix. Ich musste mir ein Lächeln verkneifen.

»Treffen wir uns am Donnerstag?«, fragte Sally dann in meine Richtung.

»Donnerstag?«, fragte ich und überlegte, ob ich eine Verabredung vergessen hatte.

»Donnerstags treffen wir uns immer, um zu lernen. Und da du jetzt auch zu unserer Lerngruppe gehörst …« Sie zuckte mit den Schultern.

»Ja, klar. Wo?«

»Wir treffen uns abwechselnd bei einem von uns zu Hause«, erklärte sie. »Bei mir würde es gehen – meine Mom hat Spätschicht im Krankenhaus, dann hätten wir für ein paar Stunden unsere Ruhe.«

»Wohnst du nicht in einem Wohnheim?«, fragte ich verwundert.

»Nein, ich bin in Oxford aufgewachsen und wohne noch bei meiner Mom.«

»Ach so. Gut, dann kommen wir am Donnerstag zu dir. Muss ich irgendwas mitbringen, außer meinen Unterlagen?«, erkundigte ich mich.

»Ich würde sagen, viel Geduld, wenn du Felix’ endlosen Ausführungen folgen willst«, sagte Sally und nickte in seine Richtung. Sie ließ wirklich keine Gelegenheit aus, ihn zu provozieren.

»Du meinst wohl deinen ewigen Ausführungen«, gab er genervt zurück.

Sally verdrehte die Augen und wandte sich wieder mir zu.

»Bist du nachher auch in Persönlichkeitsstörungen

»Nein, ich hab Emotionspsychologie bei Professor Helen Ginsburgh. Persönlichkeitsstörungen ist bei mir am Freitag dran«, antwortete ich, nachdem ich mich mit einem Blick auf meinen Stundenplan rückversichert hatte.

»Tja, Felix, dann musst du in der nächsten Stunde wohl mit mir Vorlieb nehmen«, feuerte sie erneut eine Spitze auf ihn ab. Er zog die Augenbrauen hoch und sah Sally warnend an.

»Was denn?«, fragte sie mit Unschuldsmiene. »In Persönlichkeitsstörungen bist du goldrichtig, mein Freund.«

Nachdem wir unsere Handynummern ausgetauscht hatten, verabschiedete ich mich von den beiden und war recht froh darüber, mich nun voll und ganz auf meinen nächsten Kurs konzentrieren zu können. Am Gebäude angekommen – ich hatte es dank meinen Lageplan-Studien am Vorabend schnell gefunden – stieg ich die Stufen zum Eingang hoch und wollte gerade hinein gehen, als mir schlagartig die Luft weg blieb. Direkt unter dem steinernen Torbogen stand … Jared Calmburry und hielt die schwere Holztür für mich auf. Vor lauter Überraschung klappte mein Mund auf, was ihm ein atemberaubendes Lächeln auf sein makelloses Gesicht zauberte.

»Wird’s bald?«, raunte eine ungeduldige Stimme hinter mir und im selben Moment spürte ich, wie ich geschubst wurde. Ich hatte überhaupt nicht bemerkt, dass ich den Eingang zum Hörsaal blockierte und sich hinter mir bereits eine Menschentraube gebildet hatte. An dem amüsiert lächelnden Jared vorbei, beeilte ich mich nach drinnen zu kommen, setzte mich auf den erstbesten Platz und blickte mich sofort wieder nach ihm um.

»Ist hier noch frei?« Mein Herzschlag setzte aus. Urplötzlich stand er neben mir und deutete mit dem Zeigefinger auf den Stuhl zu meiner Rechten, den ich als Ablage benutzte.

»Ja … sicher«, stotterte ich und räumte meinen Mantel und meine Tasche beiseite, damit er sich setzen konnte.

Reiß dich zusammen und stottere nicht rum wie ein Blödmann, ermahnte ich mich selbst. Er hatte mich an der Tür so eiskalt erwischt, dass meine Hände noch immer zitterten. Ich betete, dass er es nicht bemerkt hatte.

»Entschuldige, dass ich heute Morgen so schnell wieder verschwunden bin«, begann er mit samtweicher Stimme und schaute mir dabei direkt in die Augen. Dieses unbeschreiblich tiefe Blau war mit nichts zu vergleichen.

»Bist du im Laufsport aktiv? Ich meine, läufst du auch Wettkämpfe?«, fragte ich unbeholfen. Oh Mann, hättest du dir keine bessere Frage einfallen lassen können?!

»Halbmarathon und Marathon«, antwortete er geistesabwesend, ohne den Blick von meinen Augen abzuwenden.

»Wow«, brachte ich beeindruckt hervor. Laufen war nie mein Sport gewesen und ich bewunderte jeden, der einen Halbmarathon oder gar einen Marathon durchhielt.

»Ich laufe jeden Morgen mit meinen Teamkollegen etwas über sechs Meilen«, erklärte er.

»Und du bist der Schnellste von ihnen.« Ich fragte nicht, ich stellte fest.

Prüfend sah er mich an. »Ja. Meistens«, antwortete er, ohne dabei überheblich zu klingen.

»Was ist mit dir?«, fragte er mich neugierig. »Läufst du auch?«

Ich legte die Stirn in Falten. Ich und laufen? Das war im Schulsport schon immer eine Tortur für mich gewesen. »Nein, Laufen ist nicht wirklich mein Ding«, erklärte ich wahrheitsgemäß, was ihn ein wenig schmunzeln ließ. »Ich war schon immer eine Schwimmerin.« Unwillkürlich musste ich lächeln, als ich mich daran erinnerte, wie verdutzt mein Vater gewesen war, als ich mit gerade mal zwei Jahren meine Schwimmflügel abgestreift hatte und einfach los geschwommen war. Diese Dinger waren mir immer mehr Behinderung als Hilfe gewesen. Genau genommen fühlte ich mich im Wasser sogar wohler als auf festem Boden. Dieses sorglose Gefühl der Schwerelosigkeit und das sanfte, liebevolle Streicheln von Wasser auf nackter Haut war … einfach wunderbar.

»Das Wasser ist mein Element«, brachte ich es auf den Punkt und schenkte Jared ein Lächeln. Doch noch bevor ich den Satz beendet hatte, riss er entsetzt die Augen auf und sah mich an, als hätte ich ihm eine Ohrfeige verpasst.

»Was … hab ich … was Falsches gesagt?«, fragte ich wie vor den Kopf gestoßen.

Als müsste er sich konzentrieren, kniff Jared die Augen zusammen und rieb sich die Stirn. Dann sah er mich wieder an. »Nein«, beantwortete er meine Frage schroff und wandte den Blick ab. Im selben Moment betrat Professor Ginsburgh den Raum und begann mit der Vorlesung.

Jared machte keine Anstalten, sich weiter mit mir zu unterhalten, und folgte aufmerksam den Ausführungen der Professorin. Verstohlen blickte ich ihn alle paar Minuten aus dem Augenwinkel heraus an. Ich war wegen seines plötzlichen Stimmungsumschwungs total verunsichert und hatte keinen Schimmer, wie ich mich verhalten sollte. Ein paar Mal war ich kurz davor, ihn anzusprechen, doch immer im letzten Moment verließ mich der Mut. Er schien mich überhaupt nicht mehr wahrzunehmen.

Als Professor Ginsburgh schließlich, nach einer quälenden Ewigkeit, am Ende angelangt war, erhob sich Jared ruckartig mit einem förmlichen »Auf Wiedersehen, Evelyn« und eilte zur Tür hinaus.

Auf Wiedersehen Evelyn?, wiederholte ich in Gedanken.

Was war das denn bitte?

Ich überlegte. Wir hatten uns über das Laufen unterhalten. Ich hatte gesagt, dass ich nicht gerne lief, sondern lieber schwamm ... Hatte er etwas gegen das Schwimmen? Das war absurd. Aber irgendetwas musste ihn doch gestört oder eher schockiert haben. Es ergab absolut keinen Sinn. Was mich an der ganzen Sache aber am meisten beunruhigte, war, dass ein kleiner Teil von mir – ungeachtet der vielen Fragezeichen in meinem Kopf – genoss, wie es sich angefühlt hatte, als er meinen Namen ausgesprochen hatte. Auch wenn es in Verbindung mit einem Auf Wiedersehen gewesen war.

Als eine der Letzten im Hörsaal stand ich auf und schlenderte, noch immer in Gedanken versunken, zur Tür. Gerade als ich die Treppe hinunter gestiegen und nach draußen ins Freie getreten war, stieß ich unvermittelt mit dem Fuß gegen etwas Hartes. Ich stolperte ungeschickt, strauchelte und gewann erst im letzten Moment das Gleichgewicht zurück.

»Hey, Blondie, willst du dich jetzt an Jared ranmachen, oder was?«, tönte es boshaft direkt hinter mir. Nicht zu fassen – die Rothaarige hatte mir tatsächlich ein Bein gestellt. Einen Moment lang war ich gottfroh, dass ich ihr nicht die Genugtuung verschafft hatte und der Länge nach hingeknallt war. Dann stieg Wut in mir auf.

»Hast du … mir ernsthaft ein Bein gestellt?«, fragte ich, während ich sie mit meinem Blick durchbohrte. Flankiert von einer Freundin, stand sie vor mir und sah mich aus zusammengekniffenen Augen heraus an. Am liebsten hätte ich ihr eine geknallt.

»Der Adel sollte sich nicht mit dem Pöbel abgeben, meinst du nicht auch?« Ihre Stimme triefte vor Überheblichkeit.

»Was zum Teufel hast du für ein Problem mit mir?«, verlangte ich zu wissen.

»Weißt du …«, begann sie nachdrücklich. »Das Christ Church war früher ein richtig gutes College, aber seit sie hier einfach jeden studieren lassen …«, sie machte eine abfällige Handbewegung in meine Richtung, »sinkt das Niveau von Jahr zu Jahr!«

»Evelyn, da steckst du ja!« Sallys Stimme durchkreuzte mein Vorhaben, der Rothaarigen eine zu kleben. Mit Felix im Schlepptau kam sie eilig auf mich zu.

»Madison, meine Liebe, wie geht es dir heute?«, fragte Sally mit zuckersüßer Stimme. »Musst du nicht irgendwo ein paar Welpen im Fluss ertränken?«

Felix trat neben mich, als müsste er mich vor dieser Madison und ihrer Freundin beschützen. Madison erkannte wohl, dass es nun besser war zu gehen, schnappte ihre Freundin am Jackenärmel und stapfte mit hochrotem Kopf davon.

»Haut und Haare – Ton in Ton«, sinnierte Sally, als würde sie ein Gedicht rezitieren, woraufhin Felix in schallendes Gelächter ausbrach.

»Sag mal, was wollte die blöde Kuh eigentlich von dir?«, erkundigte er sich, nachdem er sich wieder gefangen hatte.

»Sie hat mir ein Bein gestellt, als ich zur Tür hinaus wollte.«

»Sie hat was?«, fragte Sally entsetzt.

»Ja«, gab ich empört zurück. »Ist das zu fassen?«

»Bist du hingefallen?«, warf Felix besorgt ein. Ich verdrehte die Augen. Glaubte er etwa, dass ich ständig hinfiel?

»Nein«, antwortete ich gereizt.

»Hat sie auch etwas zu dir gesagt?«, fragte Sally weiter und ignorierte Felix, wie sie es so oft tat.

»Ja, so was in der Art wie: Der Adel sollte sich nicht mit dem Pöbel abgeben

»Der Adel? Wen hat sie denn damit gemeint?«

»Ich weiß nicht so recht«, gab ich zurück, »wahrscheinlich Jared Calmburry.«

»Was hast du denn mit Calmburry zu schaffen?«, fragte Felix vorwurfsvoll. Ich hatte mich wohl verhört – was gab ihm das Recht, in einem solchen Ton mit mir zu sprechen?

»Er hat sich im Hörsaal neben mich gesetzt«, gab ich barsch zurück.

»Wieso? War kein anderer Platz mehr frei?«, warf Sally ein. Ich zog die rechte Augenbraue hoch und sah sie an.

»Nein, nein, nicht, wie du denkst«, erklärte sie schnell und versuchte mich zu beschwichtigen. »Ich meine nur … normalerweise setzt er sich ausschließlich neben seine Kumpels. Wie ich dir schon mal gesagt habe: Die bleiben eben gerne unter sich. Und was Madison angeht – jeder weiß, dass sie seit einer Ewigkeit in Calmburry verknallt ist und alles dafür tun würde mit ihm zusammen zu kommen. Sie führt sich bei jedem Mädchen, das ihr in die Quere kommt, auf wie eine Furie.«

»Was wollte Calmburry denn von dir?« fragte Felix und ließ immer noch eine ordentliche Portion Vorwurf in seiner Frage mitschwingen.

»Nichts«, antwortete ich genervt. »Was soll er schon gewollt haben?«

»Worüber habt ihr gesprochen?«, fuhr er unbeirrt fort. Ich kam mir vor wie in einem Verhör. Mit wem oder über was ich sprach, ging Felix nun wirklich nichts an. Ich antwortete nicht und war Sally dankbar, dass sie ihn mit einem »Was geht dich das an, du Stalker?« zum Schweigen brachte.

Da wir alle Sozialpsychologie als letzte Vorlesung an diesem Tag hatten, gingen Felix, Sally und ich gemeinsam zum Hörsaal. Ich hatte keine Lust, mich mit den beiden zu unterhalten – oder besser gesagt, mich dem Kreuzverhör auszusetzen –, also konzentrierte ich mich auf den Professor und machte mehr Notizen als nötig.

Als die Vorlesung vorüber war, verabschiedete ich mich knapp. Ich sehnte mich nach einer ausgiebigen warmen Dusche.

Auf dem Weg ins Badezimmer zog ich mich vollständig aus und hinterließ eine Spur aus Kleidungsstücken von der Zimmertür bis zur Duschkabine. Wie immer half das warme Wasser sofort. Ich konnte allmählich klarer denken und meine Muskeln begannen sich zu entspannen. Ganz so, als würde das Wasser meine Zellen mit Energie versorgen und mir zu neuer Kraft verhelfen. Ich schloss die Augen, öffnete den Mund und ließ das Wasser über mein Gesicht rinnen. Erst als die Temperatur deutlich nachließ, drehte ich den Hahn zu und trocknete mich ab. Dann streifte ich eine Jogginghose und ein T-Shirt über, bevor ich die Kleidungsstücke auflas, die ich zuvor achtlos hatte fallen lassen, und sie in den improvisierten Wäschekorb warf – einen meiner Koffer. Zum Glück gab es im Keller des Wohnheims eine Waschküche und ich würde mich nicht quer durch die Stadt auf die Suche nach einem Waschsalon machen müssen.

Da ich nichts Besseres zu tun hatte, schnappte ich mir meinen Wäschekorbkoffer und ging vorbei an zwei Mädchen, die sich mitten auf dem Flur lautstark stritten, in Richtung Keller. Auf der Treppe wäre ich beinahe mit dem Pedanten zusammengeknallt, der mir am ersten Abend mein Zimmer gezeigt und die Hausregeln erklärt hatte. Offensichtlich war er von dem Lärm der zankenden Mädchen angelockt worden und schien wild entschlossen, für Ruhe zu sorgen. Er erinnerte mich an einen dieser Trillerpfeifen-Polizisten aus den Schwarz-Weiß-Stummfilmen des vergangenen Jahrhunderts.

Insgesamt gab es drei Waschmaschinen, von denen eine gerade in Betrieb war, und einen Trockner. Auf dem wackligen Regal, das über den Geräten an die Wand geschraubt war, standen neben einer kleinen Kasse mit der Aufschrift Unkostenbeitrag Waschmittel und Weichspüler bereit. Ich begann meine Klamotten in eine der freien Maschinen zu stopfen, gab Waschmittel und Weichspüler in die dafür vorgesehenen Einschübe und schaltete sie ein. Dann kramte ich ein paar Münzen aus meiner Hosentasche und warf sie in die Kasse.

Nachdem ich eine ganze Weile einfach dagestanden und die kreisenden Bewegungen der Waschtrommel beobachtet hatte, stellte ich auf der digitalen Anzeige der Waschmaschine fest, dass es erst kurz nach sechs war – eindeutig zu früh, um schlafen zu gehen. Aber was sollte ich jetzt noch unternehmen, um den Abend zu füllen? Mir fiel ein, dass ich noch gar nicht in der Bibliothek gewesen war. Und soweit ich wusste, hatte sie bis um zehn Uhr geöffnet. Also ging ich wieder nach oben, wo die picklige studentische Hilfskraft noch immer gebieterisch versuchte, die beiden Mädchen davon abzuhalten, sich die Augen auszukratzen, trocknete mein Haar sorgfältig, um mich nicht zu erkälten, zog mir eine ordentliche Hose an und machte mich auf den Weg.

Draußen war es mittlerweile stockdunkel und trotz der Straßenbeleuchtung fürchtete ich mich ein wenig. Seit dem Tod meiner Eltern hatte ich schrecklich Angst in der Dunkelheit. Die erste Zeit danach hatte Zara für mich sogar immer nachts das Licht anlassen müssen, da ich sonst nicht hätte einschlafen können. Mit den Jahren war es besser geworden und irgendwann hatte ich das Nachtlicht nicht mehr gebraucht. Doch jetzt, wo Zara … nicht mehr da war, war es beinahe so schlimm wie damals. Besonders seit mir dieser seltsame Typ immer wieder begegnete. Konnte es tatsächlich sein, dass er mir nach Oxford gefolgt war?

Ich eilte über die verschneiten Gehwege, wobei ich mich alle paar Schritte gründlich umsah, und erreichte die Bodleian Library nach wenigen Minuten.

Sie war beeindruckend. So riesig und imposant, dass ich nicht wusste, wo ich überhaupt anfangen sollte, mich zu orientieren.

Feiner Stuck und unzählige Ornamente schmückten die gleichmäßig gewölbte Decke. Mehrere riesige Regale erstreckten sich zu beiden Seiten des Mittelganges. Sie waren gefüllt mit unerschöpflich vielen, nach System geordneten und nummerierten Büchern, die diesen typischen Geruch nach abgegriffenem Leder, vergilbtem Pergament und Tinte verströmten. Ich schloss die Augen und sog den Duft ein. Bücher rochen immer gleich. Auf der ganzen Welt. Für mich hatte das schon immer etwas Vertrautes gehabt. Etwas Beständiges. Und ich genoss es für einen Moment.

»Guten Abend«, begrüßte mich eine ältere, farbenfroh gekleidete Dame mit kurzen grauen Haaren an der Information.

»Guten Abend«, erwiderte ich etwas überrascht. Ich hatte sie beim Hereinkommen gar nicht bemerkt, aber wenn sie schon da war, konnte sie mir auch gleich helfen.

»Können Sie mir sagen, wo ich die Psychologie-Abteilung finde?«

Mit Hilfe eines Gebäudeplanes, der unter einer dicken Schicht Klarsichtfolie auf den dunklen Holztresen der Information geklebt war, erklärte sie mir den Weg. Dann lächelte sie mich freundlich an und widmete sich wieder der Zeitschrift, die sie zuvor beiseitegelegt hatte, um mich zu begrüßen. Ich bedankte mich und ging, vorbei an den breiten dunkelbraunen Lesetischen, an denen vereinzelt Studenten Platz genommen hatten und unter dem Schein grüner Leselampen in eines oder mehrere Bücher gleichzeitig vertieft waren, in die Richtung, die sie mir gewiesen hatte.

Ich passierte die riesigen Regale mit wissenschaftlicher Literatur. Einige Bücher waren ziemlich neu, andere hatten schwere, abgewetzte Einbände, denen man ansah, dass sie schon durch etliche Hände gegangen waren. Für diese Art von Büchern hatte ich schon immer eine Schwäche gehabt. Ihr Geruch, wie sie sich anfühlen, alles an diesen alten Büchern war irgendwie magisch.

Während ich bedächtig durch die Gänge schritt, stach mir eine Abteilung ganz besonders ins Auge. Sie war mit einem großen E gekennzeichnet und beherbergte ausschließlich uralte in Leder gebundene Bücher, von denen jedes seine eigene Vergangenheit zu haben schien. Ich konnte nicht widerstehen und glitt mit den Fingern über die abgegriffenen Buchrücken, als würde ich auf diese Weise Teil ihrer Geschichte werden.

Autsch!

Unvermittelt zuckte ich zurück, als hätte ich von dem Buch, das ich eben berührt hatte, einen elektrischen Schlag bekommen. Ich zögerte. Was war das denn gewesen? Ebenso verwundert wie neugierig zog ich das Buch aus dem Regal und nahm es genauer in Augenschein. Es war sehr alt und schien im Laufe der Zeit bereits mehrmals restauriert worden zu sein. Auf der Vorderseite des abgewetzten Ledereinbands war eine mittlerweile beinahe flache, kaum mehr zu erkennende Prägung auszumachen. Sanft strich ich mit den Fingerspitzen darüber und zeichnete die zarten Linien nach. In der Mitte der Abbildung glaubte ich ein Schwert zu erkennen, das sich mit einem Stock oder einem Stab kreuzte. Darüber waren in einer Kugel – stilisiert – Sonne, Mond und ein Stern abgebildet. Irgendwie kam mir dieses Zeichen bekannt vor. Ich war fast sicher, es schon einmal gesehen zu haben. Nun war meine Neugierde endgültig geweckt.

Vorsichtig schlug ich das Buch auf und begann die ausgeblichene Schrift zu entziffern. Bemüht, die mittelalterlichen Buchstaben in meinem Kopf zu sinnvollen Begriffen zusammenzufügen, überflog ich den schwer zu entschlüsselnden Text, was sich als sehr mühselig herausstellte. Deshalb spielte ich schon ein paar Seiten später mit dem Gedanken, das Buch einfach wieder zurück ins Regal zu stellen, als mir mitten im Satz ein Wort ins Auge stach – Calmburry.

Mir wurde heiß.

Hastig klappte ich das Buch wieder zu und betrachtete erneut die in das Leder des Einbands geprägte Zeichnung.

Aber natürlich! Wieso war mir das nicht gleich aufgefallen?

Es war ein Wappen. Das Familienwappen der Calmburrys. Ich war im Internet darauf gestoßen, als ich Jareds Namen gegoogelt hatte.

Meine Hände wurden feucht. Mit einem Mal beschlich mich das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun. Ich wollte unter keinen Umständen mit diesem Buch in den Händen erwischt werden. Misstrauisch blickte ich über meine Schulter, um mich zu vergewissern, dass ich nicht beobachtet wurde. Niemand war zu sehen. Ich konnte lediglich hören, wie die Bibliothekarin an der Information ihre Zeitschrift umblätterte. Bedächtig schlug ich das Buch wieder auf, atmete tief durch und begann erneut zu lesen.

Der Familienstammbaum der Calmburrys reichte bis ins tiefste Mittelalter zurück. Soweit ich es entziffern konnte, war die Rede von einem Kenneth Calmburry, der um 500 n. Chr. gelebt und Ländereien im Nordwesten von Wales besessen hatte, die sich vom heutigen Liverpool bis tief in den Snowdonia Nationalpark erstreckten.

Er und seine Frau Eowyn zeugten gemeinsam elf Kinder, von denen nur acht das erste Lebensjahr erreichten. Weitere zwei Kinder starben später bei einer großen Hungersnot, die das ganze Land schwer getroffen hatte. Die vier verbliebenen Söhne Mael, Byron, Kelby und Myrddin sowie die Erstgeborene Imogen und die Jüngste Moyra, bei deren Geburt Eowyn gestorben war, sollten die Ländereien nach dem Tod des Vaters gerecht untereinander aufteilen. Doch unter ihnen entbrannte ein heftiger Streit um das Erbe. Neid, Habgier und Misstrauen trieben einen Keil zwischen die Geschwister und es entstanden zwei Fronten. Die drei Ältesten, Imogen, Mael und Byron, stritten heftig um das Erbe des Vaters, während Kelby, Myrddin und die junge Moyra um des Friedens willen auf ihren Anteil verzichteten. Über den Streit vergingen vier Jahre, in denen das Land brachlag und nicht bewirtschaftet wurde.

Als die älteren Geschwister dann eines Tages im Haus des Vaters zusammenkamen, um den Besitz endgültig unter sich aufzuteilen, geschah ein fürchterlicher Unfall. In der Nacht schlich sich Imogens jüngster Sohn in den Stall, um nach den Pferden zu sehen. Dabei entzündete er versehentlich mit einer Öllampe das Futterheu der Tiere. Mael, Byron und Imogen kamen mitsamt ihren Familien in dem Feuer um.

Nach einiger Zeit der Trauer um die verlorenen Geschwister teilten die Jüngeren das Land des geliebten Vaters gerecht untereinander auf und bewirtschafteten es. Schon bald siedelten sich immer mehr Menschen an und erbauten kleine Dörfer, in denen die Erträge des Ackerbaus und der Viehzucht auf Märkten verkauft wurden. Die drei Geschwister zeigten sich zufrieden mit ihrer Arbeit und waren stolz, das Andenken des Vaters bewahrt zu haben. Kelby, der den nördlichsten Teil der Ländereien besaß, heiratete eine bildschöne Frau, die er sehr liebte und der er stets die Treue hielt, obwohl sie ihm keinen Nachkommen schenkte. Moyra fand ihre Bestimmung im Glauben und ging, nachdem irische Mönche das Christentum in ganz Wales verbreitet hatten, nach Irland, um in einem Kloster zu leben.

Myrddin hingegen zog es hinaus in die Welt. Auf seinen Reisen durch ganz Europa ging er bei unzähligen Heilern und Meistern in die Lehre. In jedem Land, das er bereiste, nahm er sich eine Frau und jede gebar ihm einen gesunden Nachkommen. Einige Jahre später kehrte er schließlich nach England zurück und …

»Ding Dang Dong«, hallte es geräuschvoll durch die Gänge der Bibliothek. Ich erschrak so sehr, dass mir das schwere Buch aus der Hand fiel und mit einem lauten Knall auf dem Boden landete.

»Die Bibliothek schließt in wenigen Minuten«, ertönte die Stimme der Dame an der Information über mehrere Lautsprecher. Unmöglich! Das konnte nicht sein. Ich zog mein Handy aus der Hosentasche. Tatsächlich – es war bereits kurz vor zehn. Wie lange hatte ich gelesen? Es mussten über drei Stunden gewesen sein. Hastig sammelte ich meine Sachen zusammen und hob das Buch wieder auf. Ich war hin und her gerissen. Sollte ich es zurück ins Regal stellen und am nächsten Tag wieder kommen oder sollte ich es ausleihen und damit mein Interesse an der Familiengeschichte der Calmburrys– wenn sie es denn tatsächlich war – preisgeben? Für einen Moment zögerte ich und biss mir unentschlossen auf die Unterlippe.

Ich konnte einfach nicht anders – also schnappte ich das Buch und begab mich, obwohl ich am liebsten gerannt wäre, so ruhig wie möglich zur Information.

»Hallo«, grüßte ich die Bibliothekarin hinter dem Tresen. »Ich möchte das hier gerne ausleihen«, fuhr ich beherrscht fort und schob zaghaft das Buch zu ihr hinüber, damit sie es in die Hände nehmen konnte.

Sie hob beide Augenbrauen, nahm ihre rotgesprenkelte Brille, die an einer Schnur um ihren Hals hing, zwischen Daumen und Zeigefinger und setzte sie auf die Nasenspitze. Wahrscheinlich litt sie unter schwerer Altersweitsichtigkeit, denn trotz der Brille musste sie das Buch so weit von sich weg halten, wie es die Länge ihrer Arme zuließ. Wie hatte sie es vorher nur geschafft, ihre Zeitschrift zu lesen?

»Oh«, begann sie überrascht und sah mich an. »Es tut mir sehr leid, aber dieses Buch ist nicht zum Verleih freigegeben. Genau genommen darf es nicht mal aus dem E-Bereich entfernt werden. Ich muss sie also bitten, es wieder zurück zu stellen.« Langsam schob sie den Folianten über den Tresen wieder zu mir herüber.

»Oh … okay«, erwiderte ich verdutzt und griff danach. Die ältere Dame sah mich prüfend an.

»Wissen sie was? Ich mach das für Sie«, sagte sie nach einer kleinen Pause und schnappte sich das Buch so unvermittelt, dass ich keine Chance hatte, zu reagieren. Wahrscheinlich hatte sie Angst, ich würde versuchen, es mitgehen zu lassen.

»Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend.« Das war deutlich.

»Ja … ich Ihnen auch«, erwiderte ich misstrauisch und sah ihr noch einmal in die Augen, bevor ich kehrtmachte und in Richtung Ausgang davon ging. In dem Fall blieb mir nichts anderes übrig, als am folgenden Tag wieder zu kommen.

Während ich durch die Straßen Oxfords zurück zu meinem Wohnheim lief, ärgerte ich mich darüber, mein Interesse an dem Buch offenbart zu haben und dass ich es dennoch nicht hatte mitnehmen dürfen. Wahnsinn! Die Stunden, die ich in der Bibliothek verbracht hatte, waren mir wie Minuten vorgekommen. Die Geschichte der Calmburrys hatte mich derart in ihren Bann gezogen, dass ich vollkommen darin abgetaucht war. Sobald meine Vorlesungen am folgenden Tag vorbei wären, würde ich wieder in die Bibliothek gehen, um weiter zu lesen. Ich konnte es kaum erwarten.

In dieser Nacht träumte ich von Eowyn. Ihr langes, schwarzes Haar wehte sanft im Wind und das strahlend weiße Gewand, in das sie gehüllt war, umspielte in sanften Wellen ihren vollkommenen Körper. Sie war umgeben von einem wunderbaren Leuchten, das ihre ganze Gestalt in Licht hüllte. Überirdisch schön stand sie einfach nur da und betrachtete ihren jüngsten Sohn Myrddin. Er kniete zu ihren Füßen und sah voller Ehrfurcht und Liebe zu seiner engelsgleichen Mutter auf. Mit der Andeutung eines Lächelns beugte sich Eowyn nach vorne und küsste ihn zärtlich auf die Stirn. Als ihre Lippen seine Haut berührten, ging ein Teil ihres goldenen Strahlens auf ihn über.

Kapitel 5

Am darauffolgenden Morgen erwachte ich mit dem Gedanken an das Buch. Ich konnte kaum erwarten, mehr über Myrddins Geschichte zu erfahren. Aber dazu musste ich zuerst den Tag hinter mich bringen. Übereifrig putzte ich meine Zähne, wusch mein Gesicht und zog mich an. Als ich mich auf den Weg zu dem Hörsaal machte, in dem um acht Uhr Gedächtnispsychologie unterrichtet wurde, sah ich Felix bereits aus der Ferne winken. Obwohl ich ihm noch immer übel nahm, in welchem Ton er am Vortag mit mir gesprochen hatte, beschloss ich, mir nichts anmerken zu lassen.

»Hey, da bist du ja«, begrüßte er mich strahlend. »Du warst gestern so schnell weg, dass ich mich gar nicht richtig verabschieden konnte.«

»Ja, ich war total müde«, schwindelte ich. Vielleicht sollte ich ihm sein Verhalten nachsehen, schließlich hatte er mir ja nur helfen wollen, oder?

»Hm, als ich angefangen habe zu studieren, war ich eine Zeit lang auch ganz schön fertig. Aber das legt sich«, versprach er mir lächelnd.

»Das will ich hoffen.« Ich lächelte zurück.

»Hast du heute Nachmittag schon was vor?«, fragte Felix dann ohne Umschweife.

»Na ja«, begann ich zögerlich, »ich hatte eigentlich vor, in die Bibliothek zu gehen, also …«

»Oh gut, dann begleite ich dich. Ich kann dich ein bisschen herumführen«, plapperte er drauflos. Damit hatte ich nun wirklich nicht gerechnet. Nichts gegen Felix, aber ich wollte dort viel lieber alleine hin, um in Ruhe weiter zu lesen.

»Das ist nett von dir, aber du musst mich nicht begleiten. Du hast bestimmt etwas Besseres vor, als den Nachmittag in der Bibliothek zu verbringen.«

»Schon in Ordnung, ich mach das gerne.« Offensichtlich ließ er sich nicht mal von dem sprichwörtlichen Wink mit dem Zaunpfahl entmutigen. Ich seufzte.

»Wollen wir?«, fragte er gut gelaunt und hielt mir die Tür auf. Ich rang mir ein Lächeln ab und betrat den Hörsaal. Felix setzte sich neben mich, sobald ich Platz genommen hatte, und wie schon tags zuvor schien er sich mehr für mich als für den Professor zu interessieren. Doch heute wollte ich wirklich aufpassen. Und da außerdem Madison nicht in der Nähe war und ich somit keinen Grund hatte, während der Vorlesung mit Felix zu plaudern, bat ich ihn, unsere Unterhaltung auf die Mittagspause zu verschieben. Kaum, dass ich den Mund geschlossen hatte, hörte ich es unmittelbar hinter mir kichern. Da amüsierte sich wohl jemand darüber, wie ich Felix zum Schweigen gebracht hatte. Neugierig drehte ich mich um und erblickte einen vergnügt dreinblickenden jungen Mann mit moosgrünen Augen. Freundlich zwinkerte er mir zu, woraufhin er von seinem mürrischen Nebensitzer prompt einen kräftigen Tritt unter dem Tisch kassierte. Beide kamen mir bekannt vor.

Aber woher?

Plötzlich fiel es mir wieder ein. Ich hatte sie laufen sehen. Mit Jared. Ich erinnerte mich, dass der mit den grünen Augen mich im Vorbeilaufen angelächelt hatte. Und der andere, der Dunkelhaarige, … hatte mich angesehen, als hätte ich gerade seinen Hund überfahren.

»Kennst du die beiden?«, wollte Felix wissen.

»Nein«, antwortete ich und konzentrierte mich wieder auf den Professor, ehe Felix versucht war, unsere Unterhaltung doch noch fortzusetzen. Gezwungenermaßen verbrachte ich die nächste Stunde schweigend, die Augen aufmerksam nach vorne gerichtet. Obwohl ich mir fest vorgenommen hatte, mich zu konzentrieren, schweiften meine Gedanken immer wieder ab. Das Buch ließ mich einfach nicht los. Handelte es sich tatsächlich um Jared Calmburrys Familienchronik? Er ging mir einfach nicht aus dem Kopf.

Zur Mittagszeit wartete Felix bereits vor der Dining Hall und begrüßte mich freudestrahlend.

»Du entwickelst dich ja wirklich zum Stalker«, begann Sally lächelnd, nachdem wir sie in der Schlange der Essensausgabe entdeckt und uns zu ihr gestellt hatten.

»Sehr witzig«, entgegnete Felix trocken.

»Wie hältst du das nur den ganzen Tag aus mit der Nervensäge, die dir an der Backe klebt?«, fragte sie mich in gespieltem Entsetzen. Sally ließ wirklich keine Gelegenheit aus, Felix zu ärgern.

Ich zuckte mit den Schultern. »Bin eben hart im Nehmen«, erwiderte ich scherzhaft und brachte sowohl Sally als auch Felix zum Lachen. Da ich keinen großen Hunger hatte, nahm ich mir einen Teller Obstsalat und stocherte darin herum, während ich Sallys Bericht über ihr morgendliches Missgeschick lauschte, in dem eine Schale Müsli, ihre Katze, über die sie gestolpert war, und ein Flokati-Teppich, den sie nach der Aktion wohl würde wegschmeißen müssen, die Hauptrollen spielten.

Bevor wir uns voneinander verabschiedeten und jeder in eine andere Richtung davon ging, schlug Felix vor, dass wir uns im Anschluss an die nächste Vorlesung am Eingang zur Bibliothek treffen könnten. Wollte ich heute noch ein paar Minuten mit dem Calmburry-Buch alleine sein, müsste ich jetzt meine Chance nutzen: Ich würde meinen Kurs schwänzen und gleich dorthin gehen. Obwohl ich deswegen ein fürchterlich schlechtes Gewissen hatte – schließlich stand ich noch ganz am Anfang meines Studiums und wollte das Schwänzen gar nicht erst zur Gewohnheit werden lassen –, siegte die Neugierde. Wenige Augenblicke später fand ich mich in der Bibliothek wieder, wo mich eine vollschlanke Brünette mittleren Alters an der Information begrüßte. Ich grüßte zurück und ging, an ihr vorbei, schnurstracks zum E-Bereich. Erwartungsvoll trat ich vor das Regal, in dem ich am Abend zuvor auf die Calmburry-Chronik gestoßen war und hob bereits meine Hand um das Buch heraus zu ziehen, als ich bemerkte, dass es nicht da war. Genau an der Stelle, an der es gestern noch gestanden hatte, klaffte ein Loch. Ich begutachtete die anderen Bücher im Regal. Es war nicht dabei. Wo konnte es sein? Da fiel es mir wieder ein. Die grauhaarige Bibliothekarin – sie hatte es zurück stellen wollen. Möglicherweise hatte sie es einfach vergessen. So ruhig wie möglich ging ich zurück zum Tresen.

»Hi«, begann ich und versuchte, meine Aufregung zu unterdrücken. »Ich suche ein Buch. Es steht nicht an seinem Platz. Vielleicht können Sie mir helfen.« Die Frau lächelte mich freundlich an.

»Welches Buch suchen Sie denn?«

»Eins aus dem E-Bereich«, plapperte ich aufgeregt. »Ich wollte es gestern ausleihen – ich wusste nicht, dass die Bücher aus dem E-Bereich nicht verliehen werden dürfen – also hat ihre Kollegin gesagt, sie würde es zurück an seinen Platz bringen. Da ist es aber nicht und ich dachte, vielleicht ist es noch hier und sie hat vergessen, es zurück zu stellen.« Na toll, du klingst wie eine Verrückte!

»Ich seh mal nach«, erwiderte die Frau ruhig und verschwand in ein kleines Büro. Ungeduldig klimperte ich mit den Fingern auf dem Tresen herum, während ich wartete. Kurze Zeit später kam sie mit leeren Händen zurück.

»Tut mir leid, es ist nicht da. Zeigen Sie mir bitte, wo Sie das Buch gefunden haben.«

Die Bibliothekarin begleitete mich zum E-Bereich und ich wies auf die Lücke, in der gestern noch das Calmburry-Buch gestanden hatte.

»Oh«, sagte sie, »da muss ich Meldung machen. Sie müssen wissen, die Bücher aus diesem Teil des E-Bereichs sind sehr alte und sehr seltene Erstausgaben. Überaus wertvoll!«, betonte sie voller Ehrfurcht und ging zurück, um zu telefonieren.

Fieberhaft begann ich, die benachbarten Regale zu durchforsten, und sah sogar auf dem Boden darunter nach. Möglicherweise hatte jemand das Buch einfach ins falsche Regal gestellt – das hoffte ich zumindest. Wie besessen suchte ich eines nach dem anderen ab und blendete meine Umgebung dabei fast vollständig aus, bis ich wie aus dem Nichts so heftig mit etwas zusammenstieß, dass ich jäh davon abprallte und auf Händen und Knien landete. So schnell ich konnte, rappelte ich mich wieder auf und rieb meinen schmerzenden Arm, der den Großteil des Aufpralls abbekommen hatte.

»Nicht so stürmisch, Kleines!« Strahlend grüne Augen sahen mich besorgt an. »Alles in Ordnung?«

Oh nein! Ich war tatsächlich mit Jareds Teamkollegen zusammengestoßen, der am selben Morgen hinter mir gesessen und mir zugezwinkert hatte.

»Hi, ich bin Colin«, sagte er mit einem umwerfenden Lächeln und streckte mir die rechte Hand entgegen. Mir war im Hörsaal gar nicht aufgefallen, wie groß und muskulös er war. Kein Wunder, dass ich mich fühlte, als wäre ich gegen einen Baum gerannt.

»Evelyn«, sagte ich und schüttelte seine Hand.

»Ich weiß.« Sein spitzbübisches Lächeln wurde noch breiter.

»Und woher weißt du das?«, fragte ich skeptisch.

Colin legte den Kopf schief und bedachte mich mit einem bedeutungsvollen Blick. »Wenn ein Mädchen an die Uni kommt, das so aussieht wie du«, er machte eine Handbewegung, die mich in meiner ganzen Erscheinung erfassen sollte, »dann spricht sich das schnell rum. Vor allem, wenn man schon am ersten Tag so viel … Aufsehen erregt.« Damit konnte er nur meine Bruchlandung im Hörsaal meinen. Hatte das eigentlich jeder hier mitbekommen?

»Ah«, war alles, was ich darauf entgegnen konnte. Colin, der meine Reaktion auf sein vermeintliches Kompliment anscheinend irre komisch fand, lachte laut auf und fing sich damit einen mahnenden Blick der Bibliothekarin ein. Energisch verwies sie auf ein Schild mit der Aufschrift Absolute Ruhe.

»Oh«, kicherte er, »mit der möchte ich mich lieber nicht anlegen. Wir sollten ein bisschen leiser sein.«

»Du meinst wohl, du solltest ein bisschen leiser sein«, gab ich lächelnd zurück. Dieser Colin schien ein wirklich netter Kerl zu sein.

»Hast du eigentlich was Bestimmtes gesucht?«, fragte er aufmerksam. »Du hast vorhin so hilflos ausgesehen.«

»Ja, ich hab gestern ein Buch entdeckt, das ich … na ja … das mir sehr gut gefallen hat, aber als ich heute wieder kam, war es verschwunden.«

»Vielleicht hat es jemand ausgeliehen«, mutmaßte er.

»Das denke ich nicht. Als ich es gestern ausleihen wollte, sagte man mir, dass es nicht zum Verleih freigegeben sei und eigentlich nicht mal aus dem E-Bereich entfernt werden dürfe.«

»Es war ein Buch aus dem E-Bereich?«, fragte er mit plötzlichem Interesse. »Welches?« Todernst sah er mich an. Auf einmal war ich mir nicht mehr sicher, wie viel ich ihm erzählen konnte, oder besser: erzählen wollte.

»Eins … mit einer Zeichnung auf dem Einband«, begann ich vorsichtig.

»Eine Zeichnung? Wie sah sie aus?«, hakte er gespannt nach und strich sich mit der Hand durch sein kurzes dunkelblondes Haar.

»Warum interessiert dich das überhaupt?«, fragte ich misstrauisch. Colin lächelte sanft. »Ich bin auf deiner Seite, Kleines. Du kannst mir vertrauen.«

»Auf meiner Seite? Ich wusste gar nicht, dass ich eine Seite habe. Also, wovon zum Teufel redest du?« Er sah mir tief in die Augen. Dieser Kerl meinte tatsächlich ernst, was er sagte – was auch immer das zu bedeuten hatte.

»Also, wie sah die Zeichnung aus?«, fragte er erneut. Doch nun mit weicherer Stimme.

»Es war eine Art … Wappen. Mit einem Schwert in der Mitte, das sich mit einem Stab kreuzt …«

»Und darüber sind in einer Kugel die Gestirne abgebildet«, vervollständigte er meinen Satz in ruhigem Tonfall.

»J… Ja.« Ungläubig starrte ich ihn an.

»Weißt du«, sagte er langsam und schaute mir dabei direkt in die Augen, »vielleicht solltest du Professor Mayflower mal einen Besuch abstatten.« Dann drehte er sich ohne ein weiteres Wort um und ging.

»Warte, was meinst du?«, brachte ich einen Augenblick später hervor, doch da war Colin schon um die Ecke gebogen.

»Ach, da bist du! Ich dachte, wir wollten uns draußen treffen«, rief Felix. Ich brauchte einen Moment, um ihn zwischen den deckenhohen Bücherregalen auszumachen. Mit einem leicht frustrierten Gesichtsausdruck schlenderte er auf mich zu.

»Oh, hi. Tut mir leid, mir war so kalt draußen, dass ich gleich rein gegangen bin«, log ich. Es war das Beste, was mir spontan als Ausrede eingefallen war. Zu meinem Glück war es draußen wirklich eiskalt und er schluckte meine kleine Notlüge.

»Also«, entgegnete er versöhnlich, »soll ich dir eine Führung geben?«

»Ja, gerne«, antwortete ich überschwänglich.

Während Felix mich durch die riesige Bibliothek lotste, schossen mir immer wieder Colins Worte durch den Kopf. Ich bin auf deiner Seite – was hatte er damit nur gemeint? Und wieso sollte ich Professor Mayflower einen Besuch abstatten?

»Das war’s, glaub ich«, beendete Felix eine halbe Stunde später seine Führung.

»Danke, das war echt … lieb von dir«, erwiderte ich und zauberte damit ein zufriedenes Lächeln auf sein Gesicht. Dann sah er mich einen Moment lang aufmerksam an.

»Hast du Lust, mit mir heute Abend noch was trinken zu gehen?«, fragte er schließlich. »Mittwochs ist es im Berry’s immer ganz nett. Die haben bis neun Happy Hour.«

Sollte das etwa ein Date werden? Ich dachte kurz darüber nach.

»Ja … wieso nicht?«, antwortete ich. Schließlich hatte ich nichts vor und meine Wäsche hatte ich am Vortag schon gewaschen. Außerdem war Felix ein netter Kerl. Aber gleich ein richtiges Date? Wenn ich darüber nachdachte, war das vielleicht doch keine so gute Idee. Ich musste irgendwie noch die Kurve kriegen.

»Sollen wir Sally auch fragen? Mit mehr Leuten ist es bestimmt witziger, oder?« Geschafft!

»Ja«, antwortete er ein bisschen entmutigt. »Klar können wir sie auch fragen.« Felix Worte passten nicht zu seinem Gesichtsausdruck.

»Super, ich ruf sie gleich an.«

Das Berry’s war ein ziemlich in die Jahre gekommener Pub mit Holzfußboden und dunkel verkleideten Wänden, bei dem einem schon beim Hereinkommen eine Dunstwolke aus Schweiß, Bier und Kondenswasser entgegen schlug. Im hinteren Teil befanden sich mehrere Billardtische und Dartscheiben, um die sich einige junge Leute – vermutlich alles Studenten – geschart hatten. Der Raum war gut gefüllt, selbst auf den harten Barhockern direkt am Tresen hatten es sich die Leute gemütlich gemacht und steckten die Köpfe zusammen, um sich über die laute Musik hinweg unterhalten zu können. Sally erspähte einen Tisch auf der linken Seite, von dem gerade ein Pärchen aufstand. Hektisch schnappte sie meine Hand und zog mich drängelnd durch die Menge, um den gerade frei gewordenen Tisch zu ergattern.

»Perfekt«, sagte sie zufrieden, als wir uns gesetzt hatten. »Von hier aus haben wir den besten Blick auf die Billardspieler.« Vielsagend zwinkerte sie mir zu.

»Was wollt ihr trinken, Mädels?«, fragte Felix aufmerksam.

»Guinness«, antwortete Sally gut gelaunt.

»Ich nehme ein Ginger Ale, bitte.«

»Kommt sofort«, sagte Felix, wandte sich um und bahnte sich einen Weg zur Theke. Sally beugte sich zu mir herüber.

»Mittwochs treffen sich hier immer die heißen Jungs um Billard zu spielen.« Sie lächelte verschmitzt. Dann wandte sie sich wieder den Billardspielern zu, stützte beide Ellenbogen auf dem Tisch ab und legte ihr Kinn entspannt auf die Handballen.

»Der da vorne«, sie reckte das Kinn, um mir die Richtung zu zeigen, in die ich schauen sollte. »Der große Dunkelblonde mit den grünen Augen – siehst du ihn?«, wieder reckte sie das Kinn, während mein Blick suchend über die Billardspieler glitt.

»Der dürfte so einiges mit mir anstellen …« Ihr Tonfall war so eindeutig, dass sie das Kind auch gleich beim Namen hätte nennen können. Ich fragte mich, wie viel Erfahrung sie wohl schon mit Jungs gesammelt hatte. Ihrem Wenn-du-verstehst-was-ich-meine-Blick nach zu urteilen, war sie diesbezüglich jedenfalls sehr viel bewanderter als ich. Das war allerdings auch keine Kunst. Schließlich tendierte mein Erfahrungsschatz in diesen Dingen gegen null. Plötzlich fanden meine Augen den Kerl, auf den Sallys vorgerecktes Kinn deutete.

»Colin«, stieß ich überrascht hervor. Blitzschnell fuhr sie zu mir herum.

»Du kennst ihn?« Völlig entgeistert sah sie mich an.

»Ja. Ich hab ihn in der Bibliothek kennen gelernt.«

»Du musst mich ihm unbedingt vorstellen«, in gespielter Verzweiflung krallte sie sich an meiner Bluse fest, zog mich so nah zu sich heran, dass unsere Nasenspitzen sich beinahe berührten, und starrte mir direkt in die Augen. »Biiiiiiiiiitteeeeeee!«

»Ein Guinness und ein Ginger Ale.« Felix stellte gerade unsere Getränke auf den Tisch, als er bemerkte, wie Sally mich an meiner Bluse halb über den Tisch gezogen hatte.

»Ist bei euch alles in Ordnung?«, fragte er skeptisch.

Abrupt ließ Sally mich wieder los. »Ja«, sie rollte mit den Augen, »setz dich hin und halt die Klappe!« Dann richtete sie den Blick wieder auf mich. »Also sag schon, stellst du ihn mir vor?«

»Keine Ahnung. Ich kenn ihn ja gar nicht wirklich. Ich weiß nur, dass er Colin heißt – das war’s auch schon«, erklärte ich.

»Über wen sprecht ihr?«, versuchte Felix unserer Unterhaltung zu folgen.

»Über Colin«, antwortete Sally und sprach seinen Namen dabei seltsam gedehnt aus. Dann wandte sie sich wieder zu mir.

»Kennst du auch seinen Nachnamen?«

»Nein, tut mir leid«, antwortete ich und musste ein Lachen unterdrücken.

»Sullivan«, warf Felix tonlos ein, als er Colin erkannt hatte.

»Colin Sullivan«, wiederholte Sally, als wäre der Name Musik. »Kennst du ihn?«, fragte sie Felix.

»Nur vom Sehen.« Seinem Tonfall war anzumerken, dass er über die Entwicklung unseres Gesprächs nicht gerade begeistert war.

»Was ist mit Professor Martin?«, fragte ich, darum bemüht, nicht plötzlich loszuprusten. »Wird er nicht eifersüchtig sein?« Ich konnte mir das Grinsen nicht mehr verkneifen und auch Felix gefiel es augenscheinlich, wie ich Sally mit ihrer Schwärmerei für den gut aussehenden Professor aufgezogen hatte.

»Ach, haltet beide die Klappe«, maulte Sally und spielte die Beleidigte, aber das Zucken um ihre Mundwinkel verriet, dass auch sie sich darauf konzentrieren musste, nicht zu lachen. Immer noch grinsend versuchte ich erneut, Colin unter den Billardspielern auszumachen. Was könnte es schaden, wenn ich die beiden einander vorstellte? Auch wenn ich außer seinem Namen nichts über Colin wusste. Doch! Etwas wusste ich noch über ihn: Er war ein Freund von … Jared. Sie liefen zusammen. Jeden Morgen. Das hatte er mir jedenfalls erzählt. Dann entdeckte ich Colin. Er hatte uns den Rücken zugewandt und nippte an seinem Bier. Es sah aus, als würde er einem anderen, den er mit seinem Körper halb verdeckte, Ratschläge geben, wie dieser die letzte bunte Kugel einlochen und gleichzeitig die Acht in der gegenüberliegenden Ecke versenken könnte, um das Spiel für sich zu entscheiden. Der andere gab mit einer Handbewegung zu verstehen, dass Colin die Klappe halten sollte, stieß blitzschnell zu und versenkte mit einem perfekten Spielzug die bunte Kugel in der vorderen rechten und die Acht in der hinteren linken Ecke des Billardtisches. Colin jubelte und schlug mit seinem Spielpartner ein. Dann wechselte ein Bündel Geldscheine den Besitzer. Sichtlich zufrieden steckte Colin die Hälfte des Geldes ein und streckte seinem Kumpel die andere hin, der sogleich ins Licht trat, um seinen Anteil entgegen zu nehmen. War das etwa …? Beinah wäre ich vom Stuhl gefallen … Jared! Als hätte ich seinen Namen laut ausgesprochen und nicht nur gedacht, drehte er sich sofort in meine Richtung und fixierte mich mit seinem Blick. Im selben Moment begann das Licht zu flackern und leuchtete einen Herzschlag später deutlich heller als zuvor. Dann, von einer Sekunde auf die andere, herrschte absolute Finsternis in dem Pub und die Musik brach abrupt ab. Mädchen kreischten vor Schreck auf und ein paar Jungs beschwerten sich lautstark. »Licht an«, brüllte einer. »Habt ihr die Stromrechnung nicht bezahlt?«, rief ein anderer. Dann wurde es schlagartig wieder hell.

»Das war nur die Sicherung, keine Panik«, rief der Barkeeper hinter dem Tresen in den Raum hinein und nahm seine Arbeit wieder auf.

Der Schock saß mir immer noch in den Gliedern. Ich brauchte einen Moment, um mich zu sammeln, dann suchte ich den Raum nach Jared ab. Er war nirgends zu sehen. Nur Colin stand noch genau da, wo ich ihn vermutet hatte. War Jared überhaupt hier gewesen? Es war alles so schnell gegangen. Nein! Ich hatte ihn gesehen. Das war nicht nur Einbildung gewesen – oder?

»Hallo, Erde an Evelyn …« Sally hatte sich halb über den Tisch zu mir herübergelehnt und winkte mit der ausgestreckten Hand vor meinem Gesicht herum. Sie versuchte wohl schon eine ganze Weile, mit mir zu reden.

»Entschuldige, hast du was gesagt?«, fragte ich kopfschüttelnd.

Für eine Sekunde sah sie mich an, als würde sie an meinem Verstand zweifeln.

»Was ist jetzt? Stellst du ihn mir vor oder nicht?« Sie nickte in Colins Richtung. »Komm schon, er schaut sogar zu uns rüber.«

Ich hob den Kopf und mein Blick traf sich unmittelbar mit Colins. Der Ausdruck in seinem Gesicht war … freundlich. Einfach nur freundlich. Nach dem, was gerade passiert war, hatte ich, ehrlich gesagt, etwas anderes erwartet.

Deutlich hallten Colins Worte in meinem Kopf wider: Ich bin auf deiner Seite, Kleines. Du kannst mir vertrauen. Ihm vertrauen? Auch wenn ich nicht wusste, was hinter dieser Beteuerung steckte, spürte ich, dass es stimmte. Ich konnte ihm vertrauen.

»Also gut«, ich stand auf und zog Sally am Arm mit hoch. »Ich stelle euch einander vor.«

»Wie sehe ich aus?«, fragte sie mich, während wir gemeinsam zu einem der Billardtische gingen, und strich sich mit den Fingern hektisch durchs Haar.

»Blendend. Wie immer«, antwortete ich und verdrehte die Augen.

Während wir uns Colin näherten, nippte er langsam an seinem Bier und ließ uns dabei nicht aus den Augen.

»Wie geht’s deinem Arm?«, fragte er lächelnd, als Sally und ich in Hörweite waren. Unwillkürlich rieb ich über meinen rechten Oberarm, der bei unserem Zusammenstoß in der Bibliothek in Mitleidenschaft gezogen worden war.

»Tut noch ein bisschen weh«, gab ich schließlich zu, »aber es wird schon.« Während Sally mich fragend ansah, machte Colin einen Schritt auf sie zu und streckte ihr seine Hand entgegen. »Hi, ich bin Colin«, stellte er sich vor.

»Ach ja«, erinnerte ich mich an meinen Auftrag, »Colin, das ist meine Freundin Sally. Sally, das ist Colin.«

»Hi«, brachte sie ein paar Augenblicke später schmachtend hervor.

»Hi«, erwiderte er und grinste breit.

»Willst du noch was zu trinken bestellen?« Felix stand plötzlich neben mir und hielt mir mein Ginger Ale unter die Nase. »Gleich ist die Happy Hour vorbei.«

»Nein, danke.« Ich nahm ihm das Glas aus der Hand und nippte daran. Colin und Sally machten nicht gerade den Eindruck, als müsste man ihnen Gesellschaft leisten. Also schnappte ich Felix am Ärmel und zog ihn zu unserem Tisch zurück.

»Ich glaube, es ist besser, wenn wir die beiden ein bisschen alleine lassen«, sagte ich und warf einen Blick hinüber zu Colin und Sally, die sich auf Anhieb gut zu verstehen schienen.

»Hmm«, stimmte Felix zu. »Andererseits finde ich es auch nicht schlecht, mal ein paar Minuten Ruhe von Sally zu haben«, fuhr er fort und rollte mit den Augen. »Sie kann einem ganz schön auf die Nerven gehen.« Unweigerlich musste ich lächeln. So wie Sally Felix behandelte, ihn bei jeder sich bietenden Gelegenheit provozierte, konnte ich durchaus nachvollziehen, dass er so darüber dachte.

»Also«, fuhr er an mich gewandt fort, »erzähl mal ein bisschen was von dir. Die letzten Tage haben wir fast nur über mich gesprochen. Dabei weiß ich noch so gut wie gar nichts über dich.« Erwartungsvoll sah er mich an.

Oh nein! Musste das jetzt sein? Was sollte ich ihm erzählen?

Meine ganze Familie ist tot und ich bin jetzt hier in Oxford, weil ich meine Schwester im Himmel stolz machen will?

»Ich …« Vielleicht sollte ich mit etwas Harmlosem anfangen. »Ich komme aus Fleetwood. Das liegt nördlich von Liverpool.« Mies! Das hörte sich an wie Geographieunterricht. Ich musste noch irgendwas Persönliches ergänzen. »Da bin ich aufgewachsen und zur Schule gegangen.« Immer noch mies!

»Fleetwood, hm?«, erwiderte er nachdenklich. »Und … gibt es da jemanden, den du zurückgelassen hast? Jemand … Besonderen

Beinahe hätte ich einen hysterischen Lachanfall bekommen. Ob ich jemanden zurückgelassen hatte? Ich war die Einzige, die zurückgelassen worden war!

»Ich meine, gibt es jemanden, der auf dich wartet?«, ergänzte er.

»Nein«, ich konnte die Bitterkeit in meiner Stimme nicht unterdrücken, »in Fleetwood wartet niemand auf mich.« Absolut niemand!

Felix schien über meine Antwort geradezu erleichtert zu sein. Breit lächelnd sah er mich an. Hatte er die Trauer in meiner Stimme nicht gehört? Oder war ich inzwischen doch besser darin, meine wahren Gefühle zu überspielen, als ich dachte?

Felix schien jetzt jedenfalls richtig warm zu laufen. »Erzähl mir etwas über deine Familie. Hast du Geschwister?«

Nein, nicht diese Frage! Nur nicht diese verdammte Frage!

Noch immer lächelte Felix mich erwartungsvoll an.

»Ich …« Schlagartig spürte ich die Trauer in mir aufsteigen und kämpfte sie nieder. »Meine …« Ich schluckte hart. »Meine Eltern sind gestorben, als ich noch klein war«, presste ich heraus, ohne zu atmen.

Mitfühlend sah Felix mich an. »Es tut mir leid, das wusste ich nicht.« Woher solltest du auch?

Zärtlich legte er seine Hand auf meine. »Du musst nicht darüber reden, wenn du nicht willst.« Ich spürte seinen Blick auf mir ruhen, während ich auf seine Hand starrte, die sich um meine geschlossen hatte.

»Was ist denn hier für eine Trauerstimmung?« Sally! »Kaum lass ich dich mit Felix alleine, verfällst du in eine Depression.« Sie legte den Kopf schief und lächelte mich aufmunternd an. »Habt ihr Lust, eine Runde Pool zu spielen?« Mein Blick huschte hinüber zu Colin, der noch immer unverändert am Billardtisch lehnte und mich einladend anlächelte. Ich hatte ein paar Jahre zuvor zwei- oder dreimal gespielt und meinte, mich vage daran erinnern zu können, dass es Spaß gemacht hatte. Außerdem war im Moment alles besser, als von Felix bemitleidet zu werden oder gar vor all den Leuten hier das Heulen anzufangen.

Ich zuckte mit den Schultern. »Wieso nicht!« Sally klatschte vor Freude in die Hände und zog mich zu dem Billardtisch, an dem Colin wartete.

»Was ist? Kommst du?«, rief sie genervt über ihre Schulter. Mir war gar nicht aufgefallen, dass Felix noch immer an unserem Tisch saß. Gemächlich erhob er sich und folgte uns. Ich hatte den Eindruck, dass er nicht gerade davon angetan war, mit Sally, Colin und mir eine Runde Pool zu spielen. Freundlich streckte Colin Felix die Hand entgegen und stellte sich vor. Während Felix seinen eigenen Namen eher vor sich hin murmelte, schlug er widerwillig ein.

»Mädchen gegen Jungs oder gemischt?«, fragte Colin.

»Gemischt«, schoss es aus Sally heraus. »Wie wär’s mit uns beiden?«, ergänzte sie mit einem unwiderstehlichen Augenaufschlag an Colin gerichtet.

»In Ordnung«, gab er grinsend zurück. »Evelyn und Felix beginnen.«

Da ich zuerst mal zuschauen wollte, überließ ich Felix den Anstoß. Er beförderte nacheinander zwei der halben Kugeln in die Ecktaschen des Tisches.

»Evelyn und Felix haben die halben, wir die ganzen Kugeln«, sagte Colin routiniert. Da wir uns abwechselten, war als Nächstes Sally an der Reihe. Unbeholfen setzte sie den Queue an, stieß zu und schlitzte mit ihrem unkoordinierten Stoß beinahe den grünen Stoffbezug des Billardtisches auf, ohne auch nur ansatzweise eine Kugel zu treffen. Entschuldigend blickte sie sich nach Colin um, der ihr zuzwinkerte und schulterzuckend ein »Kann passieren« hinzufügte. Spätestens jetzt war sie seinem Charme erlegen.

Als Nächstes war ich an der Reihe. Vorsichtig richtete ich meinen Queue aus, stieß gegen die weiße Kugel und schaffte es, eine der halben in die vordere rechte Ecke zu befördern. Der zweite Versuch blieb allerdings ohne Erfolg.

»Nicht schlecht«, sagte Colin anerkennend und fing sich damit einen bösen Blick von Felix ein. Die beiden würden in diesem Leben wohl keine Freunde mehr werden. Nun schwang Colin gekonnt den Queue auf den Tisch und stieß zu – schnell wie eine angreifende Kobra. Zwei Kugeln auf einmal verschwanden in den Ecktaschen.

»Wow, das war der Hammer!«, rief Sally bewundernd aus.

»Findest du?«, gab er zurück. »Dann solltest du erst mal Jared sehen. Gegen den hab ich noch nie gewonnen.« In gespielt gekränkter Ehre schüttelte er den Kopf.

»Jared Calmburry?«, hakte Sally nach. »Ist das ein Freund von dir?«

»Ja und ja«, antwortete er und sah plötzlich mich eindringlich an. »Der beste, den man haben kann.«

»Du meinst doch nicht etwa diesen arroganten Mistkerl?«, mischte Felix sich ein und erntete einen warnenden Blick von Colin, der aussah, als würde er Felix am liebsten auf der Stelle den Kopf abreißen.

»Ach, du kennst ihn?«, fragte Colin herausfordernd.

»Ich kenne genügend Typen wie ihn«, antwortete Felix mit zusammengekniffenen Augen. »Schmeißt mit seiner Kohle um sich, als wär er der verdammte Bill Gates.« Er schnaubte verächtlich.

»Du kennst niemanden wie ihn.« Colin ging einen Schritt auf Felix zu. »Und jetzt pass besser auf, was du sagst, mein Freund!«

»Ich bin nicht dein scheiß Freund!« Nun machte auch Felix einen Schritt auf Colin zu, den Queue fest umklammert. Ich war sicher, dass er ihn als Waffe einsetzen würde, sähe er sich dazu gezwungen.

»Was du nicht sagst!« Colin näherte sich Felix noch einen weiteren Schritt.

»Okay, das reicht«, beschloss ich mit fester Stimme und drängte mich zwischen die beiden Streithähne. »Vielleicht verschieben wir das Spiel auf ein anderes Mal.« Ich wandte mich an Sally. »Komm, wir gehen nach Hause, es war ein langer Tag. Felix begleitest du uns?« Eine quälende Sekunde lang blickten Colin und Felix sich in die zu Schlitzen verengten Augen, dann wandte Colin gelassen den Blick ab und reichte Sally die Hand.

»Es war schön, dich kennen zu lernen, Sally.« Er zeigte ein umwerfendes Lächeln. »Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder.« Sie lief rot an. Dann wandte er sich mir zu und streckte mir ebenfalls die Hand entgegen. »Es hat mich gefreut, dich so bald schon wieder zu sehen, Evelyn.« Er beugte sich ein Stück zu mir herunter. Felix versteifte sich. »Bitte, lass dir von niemanden etwas einreden. Mach dir selbst ein Bild von den Menschen.« Er beugte sich noch weiter vor und flüsterte mir ins Ohr: »Du wirst es nicht bereuen.« Neckisch zwinkerte er mir zu, warf Felix einen letzten warnenden Blick zu, drehte sich um und ging davon.

Nicht bereuen?, hallte es in meinem Kopf nach, als ich mich zusammen mit Felix durch die spärlich beleuchteten Straßen auf den Weg zurück zum Wohnheim machte, nachdem wir Sally bis vor die Tür begleitet hatten. Seit ich in Oxford angekommen war, kam ich mir vor wie bei einem Ratespiel. Es war offensichtlich, dass Colin von Jared sprach und dass ich mir meine eigene Meinung über ihn bilden sollte. Aber wieso ich das nicht bereuen sollte, war mir schleierhaft. Dazu müsste ich ihn schließlich erst einmal kennen lernen und nach meinem letzten Zusammentreffen mit ihm im Hörsaal und seinem spurlosen Verschwinden heute im Pub – vorausgesetzt er war es tatsächlich gewesen, denn hundertprozentig sicher war ich mir nicht – schien es, als wollte er mich gar nicht kennen lernen. Die Entscheidung lag also nicht bei mir. Colin hin oder her, allein Jared hatte es in der Hand, ob ich mir selbst ein Bild von ihm machen könnte.

Vor der schweren Holztür meines Wohnheims umarmte mich Felix, küsste mich auf die Wange und strich mir sanft über das Haar, was für meinen Geschmack eine etwas zu innige Verabschiedung war.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2017
ISBN (eBook)
9783960532064
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (März)
Schlagworte
Fantasy Romantasy Young Adult Liebesroman Dark-Academia-Roman Sarah J. Maas Jennifer L. Armentrout Sandra Regnier Neuerscheinung eBooks
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Titel: Die Verborgene