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Mittsommertraum

Roman

©2017 158 Seiten

Zusammenfassung

Plötzlich verliebt! „Mittsommertraum“ von Erfolgsautorin Beatrix Mannel jetzt als eBook bei jumpbooks.

Ferien! Urlaub! Sonne! Na ja … Sonne eher weniger. Doch trotz regendurchnässten Wanderschuhen genießt Lotte den Lapplandurlaub mit ihrer besten Freundin in vollen Zügen. Schade nur, dass ihr Freund Bo lieber nach Spanien an den Strand gefahren ist … Doch dann läuft ihr ausgerechnet in dieser menschenleeren Wildnis Julius über den Weg – und alle anderen Gedanken sind vergessen. Es ist Liebe auf den ersten Blick! Dumm nur, dass Julius mit seiner Freundin Tinka unterwegs ist, denn die hat nicht vor, ihn kampflos aufzugeben …

Jetzt als eBook kaufen und genießen: der Jugendliebesroman „Mittsommertraum“ von Beatrix Mannel. Wer liest, hat mehr vom Leben: jumpbooks – der eBook-Verlag für junge Leser.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Über dieses Buch:

Ferien! Urlaub! Sonne! Na ja … Sonne eher weniger. Doch trotz regendurchnässten Wanderschuhen genießt Lotte den Lapplandurlaub mit ihrer besten Freundin in vollen Zügen. Schade nur, dass ihr Freund Bo lieber nach Spanien an den Strand gefahren ist … Doch dann läuft ihr ausgerechnet in dieser menschenleeren Wildnis Julius über den Weg – und alle anderen Gedanken sind vergessen. Es ist Liebe auf den ersten Blick! Dumm nur, dass Julius mit seiner Freundin Tinka unterwegs ist, denn die hat nicht vor, ihn kampflos aufzugeben …

Über die Autorin:

Beatrix Mannel studierte Theater- und Literaturwissenschaften in Erlangen, Perugia und München und arbeitete dann zehn Jahre als Redakteurin beim Fernsehen. Danach begann sie – auch unter ihrem Pseudonym Beatrix Gurian – Romane für Kinder, Jugendliche und Erwachsene zu schreiben, die in viele Sprachen übersetzt wurden. Für ihre aufwändigen Recherchen reist sie um die ganze Welt. Außerdem gründete sie gemeinsam mit einer Kollegin 2016 die Münchner Schreibakademie.

Bei jumpbooks erschien von ihr bereits die Serie S.O.S. – Schwestern für alle Fälle mit den Einzelbänden:

Willkommen in der Chaos-Klinik
Ein Oberarzt macht Zicken
Flunkern, Flirts und Liebesfieber
Rettender Engel hilflos verliebt
Prinzen, Popstars, Wohnheimpartys,

Die Jugendbuchserie Jule mit den Einzelbänden Jule – filmreif, Jule – kussecht, Jule – schwindelfrei, Jule – zartbitter

und der historische Jugendroman Die Tochter des Henkers.

Mehr Informationen auch auf der Website der Autorin: www.beatrix-mannel.de

www.münchner-schreibakademie.de/

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eBook-Neuausgabe August 2017

Copyright © der Originalausgabe 2004 Loewe Verlag GmbH, Bindlach

Copyright © der Neuausgabe 2017 dotbooks GmbH, München

Copyright © 2017 jumpbooks Verlag. jumpbooks ist ein Imprint der dotbooks GmbH, München.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Redshinestudio (Streifenlabel), Rohappy (Mädchen), Mrs.Opossum(Tapete)

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ml)

ISBN 978-3-96053-209-5

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Beatrix Mannel

Mittsommertraum

Roman

jumpbooks

1.
Julius

Als Gott den Mut verteilt hat, war ich wahrscheinlich gerade beim Pinkeln, denkt Julius und fragt sich zum hundertsten Mal, warum er es nicht geschafft hat, diese Reise zu verhindern. Er hätte doch zu Tinka sagen können: »Hör mal, Lappland ist nichts für mich, ich will da nicht hin.«

Aber nein, das hat er nicht über die Lippen gebracht.

Und jetzt steht er vor den Ruinen seines Selbstwertgefühls, weil er dieses Zelt mal wieder genauso schief aufgebaut hat wie die Krüppelbirken, die am Rand der kahlen Hochebene wachsen.

Julius kann sich schon lebhaft vorstellen, was Tinka dazu sagen wird. Wenn sie wüsste, dass er sich heimlich dieses »Handbuch für Helden« gekauft hat, würde sie vielleicht sogar lachen.

Aber Tinka lacht selten. Früher fand er es toll, sie zum Lachen zu bringen, aber hier ist es nur noch anstrengend.

Eigentlich hätte er auch Holz suchen sollen. Doch Julius hat keine Lust. Feuermachen ist nur an bestimmten Stellen auf dem Königsweg erlaubt. Und sieht man hier irgendwo eine Feuerstelle? Nein.

Ihm graut schon vor dem nächsten Tag. Wenn sie Sälka erreicht haben, will Tinka nämlich ihr GPS-System ausprobieren und in einem der nicht markierten Seitentäler ganz frei Schnauze wandern. Hier ist es ihr nicht einsam genug.

Julius muss grinsen. Dabei sind sie in den letzten drei Tagen insgesamt nur fünf menschlichen Wesen begegnet. Einem gut gelaunten schwedischen Liebespaar, das sich gegenseitig mit Blicken aufgefressen hat, zwei protzigen Kerlen aus Bielefeld mit so großen Messern am Gürtel, als hätten sie einen »So lernen Sie garantiert skalpieren«-Kursurlaub gebucht. Dann noch einem einzelnen Wanderer, Joe aus Irland, der ziemlich erschöpft war, weil er von starken Knieschmerzen geplagt wurde.

Joe ist so dankbar für Tinkas Salbe gewesen, dass er sie spontan nach Irland eingeladen hat. Aber Tinka ist gar nicht darauf eingegangen. Sie hat nur darauf gelauert, dass er sich wieder vom Acker macht. Ganz im Gegensatz zu Julius, der den Abend mit Joe genossen hat.

Dort hinter dem Felsen kommt Tinka heran. Sogar in dem unattraktiven Outdoor-Zwiebellook aus T-Shirts, Pullovern, Fleeceshirts und Jacken sieht sie noch schlank aus, denkt er.

Sie bewegt sich leicht und sicher auf dem steinigen Gelände, als hätte sie vier Pfoten und einen Schwanz. Früher dachte er immer, er könnte sie beschützen, so zart war sie ihm vorgekommen.

Dabei ist Tinka ganz schön zäh. Kein Wunder, dass sie gut in dieser Öde zurechtkommt.

»Wow, wie ich sehe, hast du das Zelt optimal der Landschaft angepasst!« Tinka lächelt. »Perfekt windschief.« Sie öffnet das Bündel in ihrer Hand, ein Halstuch voller brauner Pilze, die angenehm duften. »Schau mal, Butterpilze, die können wir gleich brutzeln. Das ist doch mal was anderes als das Tütenfutter, oder?«

»Und du bist sicher, dass wir beide davon essen sollen?«, fragt Julius. Er betont das Wort beide besonders.

»Na klar, was hätte ich davon, dich abzumurksen? Irgendjemand muss mir doch all das schwere Zeug tragen«, antwortet Tinka und stellt den Kocher an.

Die gebratenen Pilze riechen so gut, dass Julius das Wasser im Mund zusammenläuft. Sie setzen sich auf einen großen Stein und essen die Pilze gleich aus dem Topf. Das spart Abwasch.

Tinka schaut über die weite Ebene. »Ist es nicht herrlich? Für mich die ultimative Freiheit.«

Bei dem Wort Freiheit fallen Julius all die Zigarettenreklamen im Kino ein, in denen der einsame Held durch die Weiten Amerikas galoppiert. Pferde hat er hier allerdings noch nicht gesehen. Er stellt sich vor, wie er lassoschwingend auf einem Elch durch die Steppe sprengt, und muss grinsen.

Bei seinem Glück würde sich das Lasso mit dem Geweih des Elchs verheddern, der Elch würde stürzen und er würde im hohen Bogen in den Matsch fallen.

»Wieso grinst du so?«, fragt Tinka. »Denk doch mal an die anderen. Die quetschen sich am Mittelmeer wie die Sardinen nebeneinander ...«

»Was hast du plötzlich gegen Fisch?«, fragt Julius.

»Du weißt genau, was ich meine.« Tinka hört auf zu essen. »Wieso musst du immer über alles Witze machen?«

»Ich dachte, deshalb würdest du mich so lieben?« Julius schämt sich sofort für seine Antwort, weil klar ist, wie Tinka darauf reagieren wird.

Und tatsächlich – sie lässt den Löffel fallen und umarmt ihn. »Das stimmt, entschuldige. Du bist wunderbar!« Sie presst ihre Lippen auf seine. Er schmeckt die Butterpilze und schiebt sie dann sachte zurück.

»Hey, was ist los?«, fragt Tinka und küsst ihn noch einmal.

Dabei schließt sie ihre grauen Augen. Julius betrachtet ihre Augenlider, die sanft schillern, wie der Hals von Regenbogentauben. Er will nicht, dass sie so zart aussieht.

So wird er es nie übers Herz bringen.

Freiheit? Feigheit!

2.
Tinka

Er schläft. Dabei gibt er keinen Laut von sich.

In der ersten Nacht, die sie zusammen verbracht haben, hat sie sich immer wieder über ihn gebeugt, weil sie Angst hatte, er würde nicht mehr atmen. Das ist jetzt zwei Jahre her. Tinka wünscht sich, dass es noch sehr, sehr lange so bleibt. Wenn sie ihn anschaut, dann ist es, als würde ihr Motor mit Energie versorgt, als würde ihr Herz schneller arbeiten.

Und dieses Gefühl ist sogar stärker geworden.

Manchmal sagt Julius, dass er sie wunderschön findet. Und bei ihm kommt ihr das absolut wahr vor. Wenn sie nach so einer Bemerkung in den Spiegel schaut, findet sie ihr eigenes Gesicht mit der viel zu schmalen Nase nicht mehr unproportioniert und hässlich, sondern irgendwie kostbar.

Leider ist es lange her, dass er etwas Ähnliches gesagt hat. Sie beugt sich über ihn. Hat er es auch warm? Seine Nase zuckt im Schlaf. Sie ist breit und sieht immer so aus, als würde die lange Spitze wie ein Pfeil die Vertiefung in der klar geschwungenen Oberlippe durchdringen.

Tinkas Herz schlägt schneller, wenn sie seinen Mund sieht. Julius zu küssen ist herrlich. Aber warum ist er in letzter Zeit so gereizt? Sie streichelt kurz über sein Gesicht, fühlt den kratzigen Dreitagebart und presst ihre Lippen auf seine Wange. Vielleicht war es ein Fehler, ihn hierher zu schleppen, wo er doch am liebsten unter vielen Menschen ist.

Aber das war die einzige Möglichkeit, ihn ganz für sich alleine zu haben.

Julius ist ein bisschen wie ein wunderbares, gutes Spinnennetz. Alle fliegen auf ihn und bleiben an ihm kleben, freiwillig natürlich und ohne dass Julius sie zum Dank als Frühstück verspeist. Sie hat er auf jeden Fall völlig eingewickelt. Sie wird dort nie mehr herauskommen, oder falls sie doch aus seinem Netz fällt, dann wird ein Stück von ihr zurückbleiben.

Nein, falsch, Tinka, kein Stück von dir, sondern dein Herz.

Ob er sich alleine mit ihr langweilt? Dabei hat sie sich so gut vorbereitet auf diese Reise, weiß alles über das Land der Samen, der Ureinwohner Lapplands. Dass Julius sich dafür nicht interessiert, kann sie nicht verstehen. Man kann doch nicht in fremde Länder fahren und sich nicht die Bohne um ihre Geschichte und die Kultur kümmern?

Julius kann. Und er hat Bananen auf den Augen. Obwohl es so viel zu sehen gibt, beschwert er sich darüber, wie einsam es ist.

»Ach Julius!«, seufzt Tinka. Sie windet sich aus ihrem Schlafsack, zieht ihre Jacke über und geht nach draußen.

Es ist still und dunkel. Sie legt den Kopf zurück und schaut nach oben. Wow! Die Sterne funkeln so erreichbar nah, als wären sie Früchte an einem Obstbaum. Was würde wohl passieren, wenn man Sterne essen könnte? Würde man dann auch so strahlen? Oder eher zu einem Häufchen Asche verglühen?

In ihren Träumen von diesem Urlaub hat Tinka sich immer wieder vorgestellt, wie sie einem sprachlosen Julius all das Schöne hier zeigt. Und wie sie gemeinsam das Nordlicht sehen.

In ihren Träumen erklärt sie ihm dann, wie das Polarlicht entsteht, und er ist so begeistert darüber, dass er alle Lichter in ihrem Körper anzündet.

Am liebsten würde sie Julius wecken, um mit ihm gemeinsam zu träumen, aber Tinka hat Angst, dass er sauer wird.

Vorsichtig holt sie Schlafsack und Isomatte aus dem Zelt und legt sich draußen auf den Boden, um die Sterne besser sehen zu können. Das ist das Sternbild des Bären, steht in ihrem Buch über Lappland, oder ist es der Schwan? In jedem Fall ist es das Kreuz des Nordens.

Und es ist prächtig. Wenn Julius und sie heiraten, dann möchte Tinka ihre Hochzeitsnacht unter so einem Himmel verbringen. Aber ein bisschen wärmer könnte es dann schon sein.

3.
Lotte

Der Wind fetzt Lottes Kapuze zurück in ihren Nacken. Automatisch sucht ihre Hand die Zugbänder, um sie wieder festzuzurren, aber nach kurzem Zögern lässt sie die Kapuze dort, wo sie ist. So hat sie eine bessere Sicht auf all das, was vor ihr liegt.

Ein weites Tal präsentiert sich ihr: unendlich grau mit grünen Sprenkeln wie ein altmodisch aufgebautes Landschaftsbild, nur ohne Goldrahmen drum herum.

Lotte kommt sich wie ein Störenfried vor. Ihr Zelt, ihr Rucksack, ihre Jacke bringen merkwürdige schrille Farbtupfer in die harmonische Sinfonie aus braunbleiernem Schlamm.

Sie bleibt stehen, verschnauft einen Moment und betrachtet den Himmel, an dem die Wolken, wie von Vulkanen ausgespien, ständig ihre dunkelgrauen Ränder verändern.

Immer noch kann sie es kaum glauben, dass sie schon drei Tage in dieser unglaublichen Wildnis ist.

Als ihre Freundin Rike diese Reise vorgeschlagen hat, konnte Lotte sich nicht vorstellen, dass es wirklich noch Gegenden in Europa gibt, in denen man mehr Rentiere als Menschen trifft. Genauso wenig hätte sie sich träumen lassen, dass sie sich tatsächlich auf zwei Wochen in der völligen Wildnis einlässt, ohne Dusche, ohne Klo, ohne Bett, ohne Fernseher, ohne andere Menschen. Nur mit dem, was sie am Leibe trägt.

Doch inzwischen weiß sie es besser.

Aus den Augenwinkeln nimmt sie eine Bewegung wahr. Sie sieht genauer hin.

»Hey, Rike, da ist er!«, ruft sie und schickt Rike, die hinter ihr läuft, durch den mächtig brausenden Wind ein breites Lachen zu.

Rike schaut sich verdutzt um, sieht auf die grauen Berge vor dem weiten Tal. Rechts ein braunrot verfärbtes Birkenwäldchen, aber weder ein Tier noch ein Mensch weit und breit.

»Wer?«

Lotte zeigt auf einen Grashügel. »Na, er! Du bist doch auf der Suche nach dem richtigen Mann fürs Leben.«

Der Grashügel entpuppt sich bei näherem Hinsehen als das Dach einer verfallenen Lappenkote. Die komischen Hügel aus Gras und Birkenrinden werden wirklich so genannt. Rike hat mit einem Grinsen immer wieder den Reiseführer »Lappland spezial« zitiert: »Lappenko-o-ote!«

Und aus genau so einer Kote huscht gerade ein hippieartiger Jesustyp in einem Lendenschurz. Er greift sich etwas vom Boden und verschwindet wieder in seiner Behausung.

Auch wenn es für Anfang September noch ziemlich warm ist, bindet Lotte ihren Schal unwillkürlich fester. Ziemlich warm heißt in diesen Breitengraden schließlich nicht mehr als fünf Grad.

Rike blickt dem Mann entgeistert hinterher. »Aha«, stellt sie dann fest. »Das ist er also! Mein Mann fürs Leben. Ich sehe mich schon in der Lappenkote sitzen und an einem Lendenschurz nähen.«

Lotte lächelt. »Wenigstens hättest du dann einen, der abgehärtet ist. Eben einen richtigen Helden. Von dem du immer geträumt hast.«

Rike schüttelt den Kopf. »Nein, nicht wirklich.«

Das stimmt zwar, aber nachdem sich Lotte drei endlose Tage lang angehört hat, wie der richtige Typ für Rike aussehen muss und wie er »ticken« soll, findet sie die Zeit reif, wenigstens ein bisschen Spaß an der Sache zu haben. Denn es kann definitiv langweilig werden, mitten in einem gottverlassenen schwedischen Naturpark erfolglos nach einem männlichen Wesen Ausschau zu halten, das die Talente von Harry Potter, das Gesicht von Hugh Grant und die Muskeln von irgendeinem olympischen Schwimmgott in sich vereint!

Dabei fehlt es Rike keineswegs an Verehrern und Freunden. Sogar im Zug nach Jockmock waren etliche Wesen fasziniert von ihrer Schönheit, die sie von ihrer schwedischen Mutter geerbt hat: sonnengoldene Haare, dunkelbraune Augen und einen bronzeschimmernden Teint.

Rike zieht eine Landkarte aus der Tasche und studiert den Weg. Dann sieht sie prüfend auf und schätzt die Entfernung ins Tal ab. Lotte folgt ihrem Blick.

Aus Erfahrung wissen die beiden, dass die Weite täuschen kann. Manchmal erkennt man Rentiere auf der anderen Bergseite und glaubt, sie wären ganz nah. Aber dann muss man noch viele Kilometer gehen.

Seufzend setzen sie sich wieder in Bewegung. Lotte spürt den Muskelkater der vergangenen Tage. Er zieht in ihren Schultern und Beinen. Dabei hat sie den leichteren Rucksack von beiden.

Rikes Mutter, die den Königsweg und die Nationalparks aus eigener Erfahrung kennt, hat darauf bestanden, dass ihre Tochter zwei Tage Extraessen mitschleppt, nur für den Notfall. Überhaupt hat sie so viel vom Notfall geredet, dass Lotte schon ganz komisch wurde: Für den Notfall noch etwas mehr zu essen mitnehmen, für den Notfall eine Reiseapotheke, für den Notfall einen warmen Pulli, und Lotte sollte auf jeden Fall eine Ersatzbrille mitnehmen, nur für den Notfall.

Als sie ihrem Freund Bo davon erzählt hat, hat er sie angezwinkert und gesagt, sie sollte doch auch noch Kondome mitnehmen, nur für den Notfall. Das fand Lotte nicht lustig und hat ihn gefragt, ob er in seinen Urlaub auf Gran Canaria etwa ...? Und was denn das für ein Notfall sein sollte?

Sie hat sich erst wieder beruhigt, als er sie in die Arme genommen und ihr ins Ohr geflüstert hat, dass er keine andere auch nur anschauen wird.

Der Wind ist noch stärker geworden. Rike wirft einen besorgten Blick in Richtung Himmel. »Das gefällt mir gar nicht!«, sagt sie. »Ich denke, es wird Schnee geben.«

Für Lotte sehen die Wolken eher nach einer Rauchvergiftung aus, deshalb fragt sie sich, woher Rike das so genau wissen will.

Ihre Freundin zuckt mit den Schultern, als hätte Lotte ihre Frage laut ausgesprochen. »Ich weiß nicht, warum ich das glaube. Ob das die Wurzeln meiner schwedischen Vorfahren sind, von denen Mama ständig gesprochen hat?«

»Bestimmt hast du mehr von einem Lappen in dir, als du denkst!«, sagt Lotte und fügt ganz ernst hinzu: »Jetzt wird mir auch klar, warum du dir die besten Typen immer durch die Lappen gehen lässt.«

Sie beschleunigt den Schritt und läuft über den glitschigen, mit Steinen übersäten Untergrund davon.

»Na warte, du Scheusal!«, ruft Rike und rennt hinter der lachenden Lotte her.

Minuten später bleibt Rike japsend an einem Steinhaufen stehen. Sie bilden die Markierungen des Königsweges. »Da geht's lang«, stellt sie trocken fest und deutet in die Höhe.

Lotte hat eigentlich gedacht, dass der Weg ins Tal führt. »Bist du dir sicher?«, stöhnt sie. »Es könnte ja auch sein, dass der Steinhaufen nur zufällig hier herumliegt, oder?« Sie wirft einen entsetzten Blick auf das Bergpanorama, das sich gewaltig vor ihnen aufbaut.

Rike schüttelt den Kopf. »Wohl kaum.«

»Wir könnten unser Zelt aufschlagen und dann morgen früh weitergehen.« Lotte merkt, wie ihre Stimme ganz jammerig wird.

Doch Rike schüttelt schon wieder den Kopf. »Ich hätte nichts dagegen, aber ich sehe hier keinen geeigneten Zeltplatz. Du etwa?«

Lotte schaut zurück auf die weite Ebene, die sie gerade hinter sich gelassen haben. Rike hat recht, der Untergrund ist viel zu sumpfig. Schlammige Pfützen stehen zwischen dem kurzen Gras. Die Fußspuren früherer Wanderer haben tiefe Löcher hinterlassen.

Verbissen nicken sie sich zu und keuchen einen Moment später den schmalen Weg hoch, der sich in Serpentinen den Berg emporwindet. An jeder Biegung hofft Lotte, dass sich ein idealer Platz zum Zelten findet, aber vor ihnen liegt immer nur Geröll oder Weidendickicht.

Der Wind zerrt an den Rucksäcken. Er schneidet ihnen ins Gesicht und lässt ihre Augen tränen.

Plötzlich hört Lotte ein merkwürdiges Geräusch.

Es klingt wie lautes tausendfaches Knistern.

Irritiert schaut sie nach oben und dann spürt sie es auch.

Es hat angefangen zu hageln.

Winzige kleine Eiskügelchen fallen vom Himmel.

4.
Lotte

Lotte hat die Hoffnung schon fast aufgegeben, dass der enge Serpentinenweg jemals ein Ende nimmt. Der Eisregen schlägt auf ihre Brille und verwandelt die Landschaft in dunkle schemenhafte Schatten. Sie muss sich an Rikes roter Hose orientieren. Die roten Beine werden schneller und schneller. Mörderisch schnell. Weil sie schleunigst einen Platz zum Zelten finden müssen, sagt Rike.

Lotte bezweifelt, dass sie bis dahin noch lebt. Die Muskeln in ihren Schultern schmerzen nicht mehr. Wahrscheinlich sind sie bereits abgestorben. Sie weiß nur noch nicht, was das für Konsequenzen hat. Hoffentlich haben sie für den Notfall von toten Schultern das passende Gel dabei.

Sie fragt sich zum ungefähr tausendsten Mal, warum sie nicht mit Bo nach Spanien gefahren ist. Aber sie kennt die Antwort. Bei aller Liebe zieht sie jeden Eisregen, jede Einöde und jeden weiteren erdenklichen Notfall Bos Mutter vor.

Plötzlich bleibt Rike unvermittelt stehen. Lotte nutzt die Pause und wischt über ihre Brille. Endlich erkennt sie, dass sich der schmale Pfad vor ihnen unerwartet in ein Hochplateau verwandelt hat.

»Dort drüben bei dem Flüsschen, da müsste es gehen!«, ruft Rike über die Schulter.

Lotte rennt die letzten Schritte. Ungeduldig wirft sie ihren Rucksack auf den Boden und zieht das Zelt aus seiner Halterung.

»Wir haben Glück«, sagt Rike mit zusammengebissenen Zähnen, während sie die Bahnen ausrollen.

»Ja, wahnsinniges Glück!«, gibt Lotte zurück und beeilt sich, das Außenzelt auszubreiten und die Stangen einzufädeln. Windböen zerren an der dünnen Zelthaut.

»Echt«, brüllt Rike. »Es könnte ja auch schneien und dann wären wir schon längst klitschnass!«

Das tröstet Lotte nicht wirklich. Ihre Hände sind glitschig und steif gefroren. Ihre Brille ist schon wieder beschlagen, und während sie verzweifelt versucht, die Stangen in die richtigen Ösen zu schieben, denkt sie noch mal an Bo und daran, wie er sich jetzt am Strand räkelt. Er lächelt ein bisschen, nur aus dem einen Mundwinkel, und dann beugt er sich vor, um ihr einen wunderbar liebevollen Kuss ...

»Lotte! Was machst du denn?« Rike nimmt ihr energisch die Stangen weg und hat tatsächlich in wenigen Minuten das Zelt aufgebaut. »Du spannst es, ich mach mich ans Innenzelt, okay?«, kommandiert sie. Ihre Wangen sind gerötet und ihre Haut glänzt wie ein begeisterter Kommentar zu den Eiskörnchen. Dass ihr blondes Haar an ihrem Gesicht klebt und die Körnchen langsam zu Wasser schmelzen und vom Hals in ihre Jacke tropfen, scheint sie gar nicht zu bemerken.

Lotte macht sich seufzend an die Arbeit. Vielleicht stammt Rike ja wirklich von den Lappen ab und sie von den Läppischen. Der Gedanke bringt zwar ein bisschen von ihrer guten Laune zurück, aber das Spannen des Zeltes gelingt ihr dadurch auch nicht schneller.

Endlich steckt sie den Kopf durch den Zelteingang. »Et voilà, fertig!«, begrüßt sie Rike, die gerade ihren Schlafsack auf der Isomatte ausrollt. Rike besitzt eine Matte, die sich selbst aufbläst und die wirklich bequem ist. Lotte hat den Fehler begangen, eine von diesen alten vergammelten Schaumstoffisomatten mitzunehmen, die schwer, aber nicht bequem sind.

Sie schält sich aus ihrer feuchten Jacke und macht sich daran, ihre Brille zu putzen.

»Was wollen wir denn essen?«, fragt Rike, als hätten sie die Wahl.

»Wie wäre es erst mal mit Licht?«, kontert Lotte, während sie ihre Brille wieder aufsetzt.

»Ist doch romantisch, im Dunkeln. Wenn der Kocher brennt, reicht das.«

Rike kramt eine Tüte heraus. »Ich schlage als ersten Gang Paprikareis vor. Danach heiße Schokolade. Was meinst du?«

Lotte hat ihre Schuhe ausgezogen und lässt sich nun auf ihren Schlafsack fallen. Langsam geht es ihr einigermaßen besser. »Ich habe einen Bärenhunger, ich esse alles. Apropos Bären, stimmt es eigentlich, dass es hier Bären gibt?«

Rike reißt die Tüte auf. »Ja, aber Mama hat gesagt, die sind scheu und rennen weg, wenn sie Menschen hören. Oh, Mist, du müsstest noch Wasser holen!«

»Wieso ich?«, protestiert Lotte. »Jetzt habe ich gerade meine Wanderschuhe ausgezogen. Ich will nicht mehr raus in diesen Eissturm!«

Rike sieht Lotte böse an. »Wenigstens das könntest du machen. Dein Beitrag zum Zeltaufbau war schon mager genug!«

Wütend geht Lotte auf Socken nach draußen und tritt prompt auf einen spitzen Stein, der unter den Eiskörnchen nicht zu sehen war. »Ah!«, stöhnt sie und hofft, dass es nicht so schlimm ist, wie es sich anfühlt. Ohne intakte Füße ist man in dieser Wildnis geliefert!

Zum Glück verläuft der Bach direkt neben dem Zelt und sie muss nicht ewig durch die Pampa latschen. Lotte hält den Nylonbeutel, den Rike und sie zum Wasserholen verwenden, so lange in das eiskalte Flüsschen, bis er voll ist, und humpelt zum Zelt zurück.

»Tut mir leid, dass ich so ruppig war!« Rike lächelt Lotte an.

Sogar im Halbdunkel sieht Lotte, wie ihre Augen funkeln. »Weißt du, ich hab solchen Hunger, da werde ich immer richtig grantig!«

Lotte fragt sich, wie Rike das macht. Es ist etwas sehr Rätselhaftes, aber zugleich auch etwas Wunderbares.

Sie entschuldigt sich und man muss ihr auf der Stelle vergeben.

Rike schüttet das Trockenpulver in das Wasser und stellt den Topf auf den Kocher.

Schon nach ein paar Löffeln Reis fühlt Lotte sich wieder besser. Und während sie die heiße Schokolade trinken, zieht wohlige Wärme durch ihren erschöpften Körper. Wann wohl dieser elende Muskelkater endlich verschwindet?, überlegt sie und massiert ihre Schulter, die inzwischen wieder zu Leben erwacht ist und schmerzhaft pocht.

»Was machen wir jetzt?«, fragt Rike nach dem Essen.

»Lesen und schlafen, was denn sonst?« Lotte gähnt.

»Du immer mit deinem Lesen«, schmollt Rike. »Als hätten wir nicht schon genug zu schleppen. Lass uns lieber ein Spiel machen.«

»Nee, wirklich, Rike, ich bin müde!«

»Dann erzähl mir wenigstens eine Geschichte. Irgendwas Gruseliges.« Sie rappelt sich hoch und stellt das Geschirr vor das Zelt. Dann macht sie es sich neben Lotte bequem.

Geschichten kann Lotte sogar noch im Schlaf erzählen. Inspiriert von der Landschaft, beginnt sie mit dem Märchen von einem armen Braunbären, der in Wirklichkeit ein Lappe ist und Jon Ailu Juuso heißt.

An der Stelle unterbricht Rike noch einmal, weil sie wissen will, wie Jon aussieht.

Lotte lächelt in sich hinein und beschreibt Jon mit einem Gesicht von Hugh Grant. Rike gähnt schon, als sie nachfragt, wie man sich wohl einen Braunbären mit Hugh Grants Gesicht vorzustellen hat.

»Sch-sch«, flüstert Lotte und fährt mit der Geschichte fort. »Jon ist auf der Suche nach einer samischen Bergprinzessin, die er heiraten soll. Die Bergprinzessin heißt Rikea Kuisma und hat goldene Zauberhaare.«

Rike seufzt wohlig. »Gefällt mir, die Geschichte, mach weiter ...«

»Doch böse Inuas, das sind samische Geister, haben den Bären verhext.« Lotte merkt, dass Rike eingeschlafen ist. Aber das stört sie nicht. Sie denkt sich ihre Geschichte in Ruhe zu Ende aus.

Wie die Geister aussehen, weiß sie schon, die Obergeistchefin klaut sie bei Bos Mutter. Sie ist Bo zum Glück nicht ähnlich. Ihr Gesicht erinnert entfernt an einen Esel.

Lotte hätte fast laut aufgelacht, als sie ihren bösen Inua-Geist mit dem Gesicht von Bos Mutter ausstattet. Besonders, als sie zum Schluss noch Eselsohren dranhängt.

Mit diesen höchst befriedigenden Gedanken schläft sie dann ein.

Sie träumt von Bo. Er schwimmt im Meer. Sein dunkler Kopf taucht immer wieder aus den Wellen auf und er winkt ihr zu. Seltsamerweise dampft das Wasser um ihn herum wie in einem beheizten Whirlpool, der im Winter an der kalten Luft steht. Aber plötzlich sind da Kacheln am Horizont. Das Meer wird zu einem Badezimmer und Bo verschwindet. Lotte ist in der Wanne eingesperrt. Ihr ist eiskalt, und es gibt keine Möglichkeit, dem zu entkommen.

Sie schlägt fröstelnd die Augen auf. Unglaublich, was für ein intensiver Traum! Es fühlt sich immer noch so an, als würde sie in Eiswasser liegen.

Mit einem Ruck richtet sich Lotte auf. Dabei quatscht und gluckst es im Zelt.

Das Wasser steht knöcheltief.

5.
Julius

»Jetzt reiß dich doch mal ein bisschen zusammen!«, schimpft Tinka ungeduldig. Dabei ist es Julius hundeelend.

»Aber mir ist schlecht, das kommt bestimmt von den Pilzen!«, stöhnt Julius.

»Quatsch, dann hätte dir heute Nacht schon übel werden müssen und außerdem müsste mir auch schlecht sein!«, stellt Tinka nüchtern fest.

»Können wir nicht einfach noch eine Nacht hierbleiben?«, fragt Julius.

Tinka schüttelt den Kopf. »Aber wir haben doch alles genau geplant. Und heute geht es endlich ins richtige Abenteuer. Ich will mein GPS-System ausprobieren, das wird superspannend, ehrlich. Komm, Julius, sei nicht so ein Faulpelz!« Tinka reißt einen der Heringe heraus und beginnt, das Zelt abzubauen.

Julius ärgert sich. Wenn ich richtig kotzen müsste, dann würde sie das nicht machen. Oder doch? Leider steht in seinem »Handbuch für Helden« nicht drin, wie man es fertigbringt, sich auf Kommando zu übergeben. Für jeden Mist hat der Autor einen Tipp parat, von Geburtshilfe bis zur Begegnung mit einem Bären, aber die wirklich schwierigen Dinge fehlen.

Wie sagen Sie Ihrer Freundin auf eine nette Art, dass Sie ihre Anwesenheit nicht mehr ertragen können? Wie können Sie brechen ohne Brechreiz?

Sein Freund Olli liegt genau jetzt irgendwo am Meer und schaut wahrscheinlich einer Bikinischönheit beim Beachvolleyball zu. Er stöhnt, aber dann reißt er sich zusammen.

Genug gejammert. Er ist hier und das war seine Entscheidung und damit Schluss.

Tinka kommt auf ihn zu. »Entschuldige, wenn dir wirklich übel ist, dann bleiben wir natürlich noch. Das GPS kann warten.« Sie lächelt.

Und dieses Lächeln ist es, das in seinen Magen haut, dass ihm beinahe wirklich übel wird. Genau das und ihre schillernden Augen sind schuld daran, dass er immer wieder verschoben hat, ihr zu sagen ... oh Mann.

Hey, Julius, ermuntert er sich. Jetzt kannst du wirklich mal den Helden spielen. »Nein, Tinka, ist schon okay, gehen wir weiter«, sagt er und hat das Gefühl, dass er damit das Richtige tut. Vielleicht passiert unterwegs etwas, worüber sie reden können. Denn wenn sie sich weiter so anschweigen, kann er für nichts garantieren.

6.
Lotte

»Rike, wach auf, sieh dir mal diese Scheiße an!« Lotte rüttelt Rike, die sofort zu sich kommt. Kein Wunder, in der kalten Brühe!

»Das ist ja ekelhaft!«, murmelt Rike, dann springt sie auf. »Los, los, wir müssen retten, was zu retten ist!«

Rike greift sich alles, was noch trocken ist, und stürzt aus dem Zelt. Lotte folgt ihr stehenden Fußes.

Es dämmert gerade. Katzenhaft grau und streifig begrüßt sie der neue Tag.

Im schummrigen Licht sehen sie, was passiert ist.

»Das gibt es ja wohl nicht!«, sagt Lotte und deutet auf das Flüsschen neben ihrem Zelt, das sich im Laufe der Nacht in einen breiten Fluss verwandelt und ihren Lagerplatz unter Wasser gesetzt hat.

»Der Eisregen gestern Abend!«, stöhnt Rike und fasst sich an die Stirn. »Ich hätte das wissen müssen! Da schwellen natürlich die Bäche und Flüsse an. Mann, wir sind solche Hornochsen!«

»Ich wünschte, ich wäre ein Ochse. Dann wären mir meine nassen Füße egal. Also, was machen wir jetzt?«, fragt Lotte genervt.

»Hast du noch andere Schuhe als die da?« Rike sieht an ihr herunter.

»Meine Sandalen zum Durchwaten der Flüsse!« Im gleichen Moment, in dem Lotte das sagt, muss sie so lachen, dass es ihren ganzen Körper schüttelt. Was für ein Wahnsinn!

Rike schaut sie erst entgeistert an, aber dann versteht sie, was daran komisch ist, und lacht mit.

»Immerhin regnet es nicht!«, meint Rike. »Wir könnten zu einer der Hütten gehen und unsere Sachen dort im Trockenraum aufhängen, was meinst du?«

»Und wo ist die nächste Hütte?«, fragt Lotte.

»In Hukejaure kommt eine oder wir gehen zurück nach Sälka. Aber zurückgehen – das ist nur was für Anfänger. Wir kriegen das Zeug auch so trocken!« Rike betrachtet den Haufen nasser Sachen: Schlafsäcke, Wanderschuhe, Klamotten.

»Was ist weiter weg? Sälka oder Hukejaure?«, will Lotte wissen, die sich nicht vorstellen kann, in Sandalen über den schlammigen Grund zu gehen.

Rike wirft einen Blick auf die nasse Karte. »Ich glaube, Hukejaure. Aber das ist trotzdem besser. Ich will nicht zurück.«

»Na, dann nichts wie hin. Was ist mit Frühstück?«, fragt Lotte.

Rike schüttelt den Kopf. »Lass uns bloß einen Schokoriegel essen, in Hukejaure machen wir es uns dann gemütlich, okay? So wird uns auch schneller wieder warm.«

Lotte seufzt zustimmend. Zusammen packen sie die nassen Sachen in den feuchteren der beiden Rucksäcke.

»Haben wir alles?«, fragt Rike. Lotte zuckt mit den Schultern. »Ich denke schon.«

Ein letzter Blick, dann reißen sie ihre Schokoriegel auf und machen sich Richtung Hukejaure auf.

»Mama hat total unrecht gehabt!«, sagt Rike mampfend.

»Was meinst du denn damit?«, will Lotte wissen.

»Mama hat mir prophezeit, dass du bei der ersten Hürde zusammenbrechen wirst.«

»Ist ja toll«, ärgert sich Lotte, »wieso unterhältst du dich denn mit deiner Mutter über mich?«

Rike versucht, sie zu beruhigen. »Ehrlich, das würde ich nie tun. Mama mag dich, das weißt du. Aber sie war nicht sicher, ob du die Richtige für einen Notfall bist ...«

»Die immer mit ihren Notfällen. Ich frage mich, warum dann ausgerechnet sie es war, die diese Reise vorgeschlagen hat? Im Übrigen haben wir jetzt einen Notfall«, schimpft Lotte. »Ich bin sauer und nass und esse einen außerordentlichen Schokoriegel!« Sie holt sich noch einen Schokoriegel aus dem Rucksack und isst ihn auf. Während die Schokolade bittersahnig in ihrem Mund zu einer zähen Masse schmilzt, fragt sie sich, worüber sie sich so aufregt.

Hat sie mit Bo nicht genau das gleiche Gespräch geführt? Bo meinte, Rike würde keine drei Tage durchhalten, bis sie die Krise kriegt. Aber Lotte kennt ihre Freundin besser.

Rike ist ausdauernder, als man denkt, und darüber hinaus ist sie auch nicht nachtragend. Wieder eines dieser wunderbaren Rike-Rätsel. Sie lächelt breit und sagt nichts zu Lottes Maulerei, und das ist nett von ihr, denn Lotte ist sich sicher, dass sie umgekehrt weitaus abgenervter wäre. Eigentlich haben sie zusammen festgelegt, wie viele Schokoriegel pro Tag gegessen werden dürfen. Nicht aus Diätgründen, sondern weil alles auf dem Rücken mitgeschleppt werden muss.

Rike hat das für sie beide ausgerechnet. Pro hundert Gramm Trage-Gewicht sollen 400 Kalorien rauskommen. Man braucht täglich mindestens 2500 Kalorien bei dem Geschleppe. Das sind dann also nach Adam Riese am Tag Minimum schon 625 Gramm, macht bei vierzehn Tagen allein nur für das nötigste Essen über acht Kilo. Und dazu all die Ausrüstung. Da geht es nicht, dass einer unkontrolliert übers Essen herfällt.

Es sei denn in Ausnahmesituationen. Und das hier ist eine, findet Lotte.

Die beiden wandern schnell durch die Hochebene. Vom gestrigen Regen ist sie noch schlammiger geworden als tags zuvor, doch sie erreichen bald festeren Boden, der abgelöst wird von kahlen Felsen. Über grünglitschige Flechten geht es leicht bergauf. Lotte muss sich sehr auf den Untergrund konzentrieren und nimmt nur noch wahr, was unter ihren Füßen ist. Die Weite, die vor ihnen liegt, reduziert sich auf winzige Tritte.

An einer schmalen Gratstelle lässt sie Rike vorangehen, und als ihre Freundin hinter einem Felsen verschwindet, stellt Lotte sich vor, was passieren würde, wenn Rike einfach weg wäre. Würde Lotte es dann schaffen, allein nach Hause zu kommen?

Sie hat ein so mulmiges Gefühl bei dem Gedanken, dass sie dringend mit Rike reden möchte, einfach nur um sich zu vergewissern, dass Rike wirklich da ist. Sie legt einen Schritt zu und fragt nach, wie weit es noch ist, aber Rike grummelt nur auf ihre Frage, was ungewöhnlich für sie ist.

Mitten auf einem Felsgrat bleibt sie wortlos stehen, schnürt ihre verdreckten Wanderschuhe auf und zeigt auf eine dicke Blutblase, die sich in ihren feuchten Schuhen gebildet hat.

Lotte holt sofort die Blasenpflaster aus dem Rucksack und verarztet Rike. Zum Glück war die Reiseapotheke im wasserdichten Packsack.

Dann zieht sie einen Schokoriegel hervor, gibt ihn Rike und streichelt ihr kurz über den Rücken. »Wir müssen nur noch ein bisschen durchhalten«, sagt sie tröstend, aber sie ahnt bei Rikes Blick, dass sie sich gewaltig täuscht.

Schritt für Schritt kämpfen sie sich vorwärts, und Lotte fühlt sich inmitten dieses Ozeans aus braungrauer matschiger Leere wie eine Ameise, die versucht, eine Sandburg zu erklimmen, und bei jedem Schritt vorwärts vom Seewind wieder zwei Schritte zurückgetrieben wird.

Als drei Stunden später endlich die winzigen dunkelschwarzen Holzhütten vor ihnen auftauchen, sind beide zu schwach, um zu jubeln.

Lotte fasst neuen Mut. Endlich ein warmer Ofen, etwas zu essen und ein trockenes Bett.

Sie ist als Erste bei der Hüttentür. Und sie kann nicht glauben, was sie dort entdeckt. Sie rennt zur nächsten und übernächsten, rüttelt erfolglos an jeder Tür, dann wirft sie ihren Rucksack ins nasse Gras.

»Rike«, ruft sie mutlos, »die Hütten sind geschlossen!«

7.
Lotte

Lotte und Rike starren sich an. »In dem Führer steht ...«, stottert Rike und blättert verzweifelt in dem Buch, »... dass die Hukejaure-Hütte bis zum 31. August offen ist. Oh Mann, ich bin ja so blöd, wieso hab ich Dödel denn 31.9. gelesen? Logischerweise gibt es gar keinen!«

Lottes Füße tun weh. An das Zähneklappern hat sie sich beinahe schon gewöhnt, nicht aber an dieses riesige leere Loch in ihrem Magen. Aber als sie Rikes verzweifeltes Gesicht sieht, kann sie ihr nicht böse sein. Schließlich hätte sie selbst im Führer nachschauen können.

»Hej, Hej«, rufen da ein Mann und eine Frau von Weitem. Sie kommen näher und betrachten Lotte und Rike wie die traurigen Überreste einer aussterbenden Gattung.

»What way go you?«, fragt die Frau, was Lotte klarmacht, dass die beiden Deutsche sind. Deshalb antwortet sie auf Deutsch und erklärt, dass sie Richtung Norwegen unterwegs sind. Dann fragt sie, ob die beiden vielleicht wissen, ob die nächste Hütte aufhat.

Das Pärchen im grünlilafarbigen Partnerlook – gleiche Jacke, gleiche Hose, gleicher Rucksack – lächelt sich wissend an und teilt ihnen mit, dass diese Hütte ständig zu sei.

Lotte fragt sich sofort, was der Sinn einer stets geschlossenen Hütte sein soll, und überhört daher die nächsten Kommentare des Pärchens.

Sie ist erst wieder dabei, als die beiden gönnerhaft ihre Ausrüstung belächeln und nicht mit guten Ratschlägen sparen. »Man zeltet niemals neben Wasserläufen«, sagt der Mann und greift nach Rikes nassem Rucksack. »So etwas weiß man doch, wenn man sich auf die Nationalparks hier einlässt, gell, Iris!«

Und Iris nickt brav.

Rike reißt ihm den Rucksack aus der Hand und setzt ihn wieder auf. »Tja, wir müssen dann, war echt nett, euch kennengelernt zu haben, danke und gute Reise noch!«

Sie zerrt Lotte hoch, die es sich gerade auf den Stufen der Hütte bequem gemacht hat, und flüstert in ihr Ohr: »Los, komm! Je schneller wir von diesen Vollidioten weg sind, desto besser.«

Lotte findet die beiden eher lustig, wenn auch nur jetzt gerade, denn sie braucht irgendeine Aufmunterung, sonst wird sie hysterisch und fängt mitten in der Wildnis an zu schreien.

Aber dann fügt sie sich doch in ihr Schicksal, und sie laufen los, während Iris ihnen noch etwas hinterherruft: »Gleich dort vorne um die Ecke ist ein wundervoller Rastplatz!«

Die Worte sind kaum in der Luft verhallt, da passiert ein unglaubliches Wunder. Lotte bleibt stehen und schaut verblüfft über die eben noch graubraune, öde Ebene.

Mit einem Mal lodert die Landschaft in brennenden Farben.

Die Sonne ist herausgekommen!

»Lotte, komm schnell!«, ruft Rike, die schon ein paar Meter weiter ist. Und wirklich, von diesem Punkt aus sieht man über die ganze weite Ebene, die sich zwischen zwei gewaltigen Bergmassiven dahinzieht. In ihrer Mitte glitzern Seen und Flüsschen. Rechts vor dem größten See leuchtet ein rot geflammtes Birkenwäldchen, wie ein Schlusspunkt zu den davorliegenden orange-verfärbten Heidelbeerbuschfeldern. Der Schnee oben auf den Bergen geht rosalila in den unendlich blauen Himmel über, der die Wolken jetzt nur noch als sahnige Kette ganz am äußersten Rand des Horizonts duldet.

Lotte atmet tief durch. Alle düsteren Gedanken sind wie weggepustet.

»Das ist ...«, sagt Rike.

»Genau!«, stimmt ihr Lotte zu, die auch keine Worte für diese gigantische Schönheit finden kann.

»Wenn du mich noch einmal dabei erwischst, dass ich meckere, weil wir hier sind, dann erinnere mich bitte an diesen Moment, okay?«, sagt Lotte und wirft ihre Sachen auf den Boden, denn die Pause haben sie sich mehr als verdient.

Rike zieht ihre Daunenjacke aus. »Vielleicht kriegen wir unsere Sachen jetzt trocken. Packen wir sie aus!«

»Mach du das, ich koche uns in der Zwischenzeit eine ordentliche Pasta.« Lotte fängt an zu singen. »Herrliche Pasta, hier kommen die Nudeln ...«

Rike grinst. »Wirklich, du solltest dich bei den Superstars bewerben!« Sie zieht die nassen Schlafsäcke auseinander und breitet sie auf einem Felsen aus.

Lotte greift in ihren Rucksack, um den Kocher herauszuziehen. Sie stutzt und versucht es in Rikes Gepäck. Sie spürt, dass ihr Herz schneller zu klopfen anfängt. Panisch schüttet sie alles komplett aus.

Kein Kocher.

»Rike, hast du den Kocher irgendwo versteckt?«, fragt Lotte, und ihre Stimme ist dabei ganz fiepsig.

Rike schüttelt den Kopf. »Der muss in einem der Rucksäcke sein. Aber ich habe ihn nicht eingepackt. Du?«

Ihr wird klar, was sie da gesagt hat. Sie hält in der Bewegung inne. Hektisch durchsucht sie noch einmal die beiden Rucksäcke. »Das gibt es doch nicht!«, schreit sie. »Wo ist der Kocher?«

Lottes Magen zieht sich zusammen. Es gibt nur eine Erklärung. »Vielleicht hat das Flüsschen ihn erwischt und er schwimmt jetzt in Richtung Meer?«, schlägt sie vor.

Rike fällt in sich zusammen. »Ohne den Kocher sind wir wirklich aufgeschmissen!« Sie schaut Lotte mit schwimmenden Augen an.

Lotte, die eigentlich gerade losjammern wollte, verkneift sich jegliches Lamentieren. »Dann müssen wir eben zurückgehen!«, sagt sie stattdessen. Sie spürt, wie ihre Füße bei dem Gedanken empört aufjaulen, diese Strecke zurückzumarschieren.

Rike schnäuzt sich, dann setzt sie sich kampflustig auf und funkelt Lotte wütend an. »Das gibt's doch gar nicht. Wie konnte das denn passieren?«

Lotte findet das nun völlig egal. Es ändert nichts an der Tatsache, dass sie das vermaledeite Ding brauchen. »Rike, ist doch jetzt wirklich egal, wir müssen zurück.«

»Du bist schuld!«, sagt Rike und stampft dazu mit den Füßen auf. Zuckt aber sofort zusammen.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Neuausgabe
Jahr
2017
ISBN (eBook)
9783960532095
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (September)
Schlagworte
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Titel: Mittsommertraum