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Die abenteuerliche Reise der Clara Wynn

Roman

©2018 328 Seiten

Zusammenfassung

Sie wächst über sich hinaus, um die zu retten, die sie liebt: „Die abenteuerliche Reise der Clara Wynn“ von Thomas Jeier jetzt als eBook bei jumpbooks.

Nach dem plötzlichen Tod ihrer Eltern muss die junge Clara Verantwortung übernehmen: für die erfolgreiche Tuchfabrik ihrer Familie, ihr Erbe, ihren leichtsinnigen Bruder Robert. Als dieser die Fabrik verspielt und auch noch eine russische Adelige angreift, bleibt Clara und Robert nichts anderes übrig, als vor deren rachsüchtigen Brüdern aus New York zu fliehen. Im kanadischen Westen wollen sie neu anfangen, und schon kurz darauf findet Clara an der Seite des irischen Geschäftsmanns Jack das große Glück … doch Robert sorgt immer wieder für Ärger, und auch die russischen Brüder geben nicht so schnell auf. Als Clara erfährt, dass sie hoch oben im Norden Alaskas planen, Robert in einen Hinterhalt zu locken, begibt sie sich auf eine gefährliche Reise über den Yukon River, um ihn zu warnen …
„Es ist immer ein Genuss, ein Buch von Thomas Jeier zu lesen.“ Bücherschau Wien

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Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


1

Der 22. September 1897 war ein sonniger Herbsttag, viel zu warm für diese Jahreszeit, und ich saß unter dem offenen Fenster und las in der New York Times, als es klopfte. Unser Diener erschien in der Tür und verbeugte sich. »Mr Jonathan Burke, Ma'am! Er wartet im Salon. Er macht einen sehr aufgelösten Eindruck, wenn ich mir diese Bemerkung erlauben darf!«

Ich legte die Zeitung auf den Beistelltisch und stand auf. Jonathan war unser Buchhalter, ein lieber und vertrauter Freund seit vielen Jahren, und es verhieß nichts Gutes, wenn er unangemeldet in unserem Wohnhaus erschien. »Danke, John«, erwiderte ich, »sagen Sie ihm, dass ich komme!« Ich wartete, bis der Diener gegangen war, blickte in den Spiegel und puderte hastig meine geröteten Wangen. Meine Aufregung war groß und ich ahnte, dass mich eine schlechte Nachricht erwartete. Ich legte einen Schal um meine Schultern und stieg die geschwungene Treppe ins Erdgeschoss hinunter. Die Tür zum Salon stand offen.

Jonathan stand neben dem Fenster, ein stämmiger Mann mit schütterem Haar, und begrüßte mich höflich. »Tut mir Leid, dass ich Sie auf diese Weise überfalle, aber es ist wirklich sehr dringend!«, entschuldigte er sich und legte seine Aktenmappe auf das Klavier. Ich erkannte an seinem unsteten Blick, dass er sich ernsthafte Sorgen machte. Seine Nervosität wirkte ansteckend.

»Was gibt es denn, Jonathan? Haben Sie sich an der Börse verkalkuliert?« Jonathan Burke war in unsere Firma eingetreten, als meine Eltern noch gelebt hatten, und verwaltete unser Vermögen. Er genoss mein volles Vertrauen und mein Bruder und ich hatten ihm freigestellt, mit einem Teil des Geldes an die Börse zu gehen. »Oder hat Robert wieder über die Stränge geschlagen?« Sein Gesicht blieb besorgt und ich fragte: »Etwas Ernstes?«

»Sehr ernst, Miss Clara!« Er hatte mich schon als kleines Mädchen gekannt und durfte mich beim Vornamen nennen. »Ich habe einen Brief von Isaac Levinsky erhalten.« Der Tuchhändler besaß mehrere Fabriken und war der Wortführer der polnischen Juden, die während der letzten Jahre nach Amerika gekommen waren. Sie beschäftigten billige Arbeitskräfte von der Lower East Side, setzten ganze Heerscharen von hungrigen Frauen an die Nähmaschinen und unterboten die Preise der amerikanischen Konkurrenz. Wir hatten nur mithalten können, weil wir langfristige Verträge mit einer Kaufhauskette abgeschlossen und eine Kollektion von Modellkleidern herausgebracht hatten, die sogar in San Francisco gekauft wurden. Aber es hatte unseres gesamten Vermögens bedurft, um mit der Herausforderung fertig zu werden. »Levinsky ist im Besitz eines Schuldscheines, den Ihr Bruder nach einem Würfelspiel ausgefüllt hat! Er fordert einen sechsstelligen Betrag, den ich gar nicht auszusprechen wage!«

Er öffnete die Aktenmappe und zog den Brief heraus. »Sehen Sie selbst! Ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, was der Verlust einer solchen Summe für die Firma bedeuten würde.« Er reichte mir das Schreiben und ich blickte ungläubig auf die Zahl. »Wir wären bankrott, Miss Clara! Wir müssten die Fabrik verkaufen und könnten von Glück sagen, wenn wir unsere Aktien mit Gewinn abstoßen und unsere Verbindlichkeiten damit abdecken könnten!« Er schnaufte verzweifelt. »Ich weiß nicht, was in Ihren Bruder gefahren ist! Er muss doch wissen, dass uns die Banken keinen Kredit mehr geben! Warum tut er so etwas? Warum?«

Ich wusste es auch nicht. Meine Eltern waren vor zwei Jahren tödlich verunglückt und ich hatte unsere Firma zusammen mit meinem Bruder und Jonathan Burke geführt. Ich war zur Schule gegangen und hatte die letzten Jahre meiner Lehrjahre auf einem vornehmen College zugebracht, zu der damaligen Zeit sehr ungewöhnlich, weil man in unseren Kreisen der Meinung war, dass ein Mädchen nur geboren wurde, um einen reichen Mann zu heiraten, schöne Kleider zu tragen und Konversation zu führen. Aber mein Vater war ein sehr fortschrittlicher Mann gewesen und hatte auf eine gute Ausbildung gedrängt. »Ich möchte, dass du deinem Bruder hilfst, unsere Firma zu führen, wenn ich nicht mehr da bin«, hatte er gesagt. Wahrscheinlich schätzte er Robert so ein, wie ich ihn nach dem Tod meiner Eltern kennen gelernt hatte. Als leichtsinnigen Spieler, der nichts von Arbeit wissen wollte und das Geld mit beiden Händen zum Fenster hinauswarf. Robert war dafür bekannt, dass er bei Pokerspielen und Pferderennen hohe Summen verspielte und leichte Mädchen zu Champagner und Kaviar einlud. »Eine sechsstellige Summe?« Ich schüttelte ungläubig den Kopf. »Robert ist ein leichtsinniger Bursche, aber so viel kann selbst er nicht an einem Tag verspielen! Haben Sie die Sache überprüft?«

»Natürlich«, antwortete Jonathan mit einem Kopfnicken. Er stand neben dem Klavier und fuhr mit einem Finger zwischen seinem Hals und dem gestärkten Kragen entlang. Er schwitzte stark. »Ich habe mich sofort mit Isaac Levinsky in Verbindung gesetzt. Er hat mir den Schuldschein gezeigt und keinen Zweifel daran gelassen, dass er ihn zum vereinbarten Termin einzulösen gedenkt. Der Betrag ist in einer Woche fällig!« Er zog ein Taschentuch hervor und tupfte sich den Schweiß von der Stirn. »Woher soll ich das Geld nehmen? Wir haben alles in neue Maschinen investiert und einen Kredit aufgenommen! Die Banken geben uns nichts mehr!« Er zog eine Kladde aus seiner Aktentasche und reichte sie mir.

Ich vertiefte mich in die Aufzeichnungen und stellte fest, dass wir an die Grenze unserer Belastbarkeit gegangen waren. Unter dem Druck der osteuropäischen Juden, die mit ihren Textilfabriken zu einer ernsthaften Konkurrenz für alle amerikanischen Tuchfabriken geworden waren, hatten wir in neue Fabrikhallen und Nähmaschinen investiert und waren in einen finanziellen Engpass geraten, der nicht mal eine vierstellige Privatentnahme rechtfertigte. Wenn wir das Geld, das Robert dem reichen Tuchhändler schuldete, nicht auftreiben konnten, mussten wir verkaufen.

Ich ließ die Kladde sinken und starrte auf die gerahmte Fotografie meiner Eltern, die auf der englischen Kommode stand. Das Bild war während der Weltausstellung in Chicago entstanden, ein wohlhabendes Ehepaar vor einem Springbrunnen, meine Mutter in einem teuren Modellkleid aus Paris, einen extravaganten Hut mit einer großen Feder auf den hochgesteckten Haaren, und mein Vater in Anzug und Zylinder, die linke Hand auf einen Spazierstock gestützt. Er hatte meinen Bruder richtig eingeschätzt und seine ganze Hoffnung auf mich gesetzt und ich hatte ihn enttäuscht. Mein Bruder war immer leichtfertig mit unserem Vermögen umgegangen und ich hatte es nicht geschafft, ihn nachdrücklich an seine Verantwortung zu erinnern. »Was ist mit dem Haus?«, fragte ich. »Hat er das auch beliehen?«

»Ich glaube nicht«, antwortete Jonathan. Er nahm die Papiere und steckte sie in die Aktentasche. Seine Stimme klang bedrückt, als er fortfuhr: »Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll, Miss Clara! Bei den Banken war ich bereits und habe mir eine Abfuhr nach der anderen geholt! Die wirtschaftliche Lage sei zu unstabil. Wenn ich so was schon höre! Levinsky hat bestimmt dafür gesorgt, dass sie von dem Schuldschein erfahren! Er will billig an unsere Fabrik kommen, und so wie es aussieht, hat er auch Erfolg mit dieser Taktik! Wenn wir das Geld nicht auftreiben, muss ich ihm die Fabrik für einen Spottpreis verkaufen. Es geht nicht anders. Ich habe alles getan, was in meiner Macht steht ...«

»Ich weiß, Jonathan. Es ist nicht Ihre Schuld. Sie können nichts dafür, dass mein Bruder über die Stränge schlägt.«

Ich ging ein paar Schritte und schloss für einen Augenblick die Augen. Ich verspürte tiefen Schmerz über den Leichtsinn meines Bruders, der unsere Familie an den Rand des Ruins getrieben hatte, und für meinen Vater, dessen Lebenswerk in die Hände der Konkurrenz fiel, wenn in der nächsten Woche kein Wunder geschah.

»Was werden Sie tun, Miss Clara?«, fragte Jonathan.

Ich öffnete die Augen und blickte den Buchhalter entschlossen an. »Noch haben wir nicht verloren, Jonathan. Ich werde versuchen, das Geld aufzutreiben! Ich werde den Bankiers schöne Augen machen, dann leihen sie mir die Summe bestimmt.« Ich wusste selber, wie trügerisch diese Hoffnung war, und lächelte trotzig. »Mir fällt schon etwas ein. Wenn alle Stricke reißen, verkaufen wir die Fabriken und investieren in ein neues Unternehmen. Oder wir beteiligen uns an einer anderen Firma. So schnell gehen die Wynns nicht unter! Mein Großvater hat die Schlacht von Gettysburg überlebt, haben Sie das gewusst?« Wir wussten beide, dass es beinahe unmöglich war, mit einem kleinen Unternehmen gegen die übermächtige Konkurrenz der Einwanderer zu bestehen. »Und wenn der Erlös nicht reicht, verkaufe ich das Familiensilber. Vielleicht arbeite ich sogar für Mister Levinsky?« Ich verbesserte mich rasch, als ich den entsetzten Ausdruck in Jonathans Augen sah. »Ich bin neunzehn, Jonathan! Mein Vater hätte bestimmt nicht gewollt, dass ich klein beigebe. Mach etwas aus deinem Leben, hätte er gesagt, und hör nicht auf deinen verrückten Bruder! Nimm dein Schicksal in die eigenen Hände!«

»Ihr Vater war ein kluger Mann«, sagte Jonathan. Er nahm seine Aktenmappe und verabschiedete sich von mir. Seine Augen waren feucht, aber er lächelte. »Leben Sie wohl, Miss Clara! Ich melde mich, sobald ich etwas Neues berichten kann ...«

Ich wartete, bis er gegangen war, und griff nach dem Bild meiner Eltern. Ihr Tod hatte mich sehr getroffen. Sie waren von einem der neuen Omnibusse überfahren worden und im Krankenhaus gestorben. Ich träumte heute noch davon. Gegen diesen Schicksalsschlag war der Bankrott unseres Unternehmens das kleinere Übel. Ich war anders als meine Eltern und mein Bruder, hatte persönlichem Besitz niemals große Bedeutung zugeschrieben. Natürlich war es schön, in einer vornehmen Villa aus Backsteinen zu wohnen und ein neues Automobil zu besitzen, und ich müsste lügen, wenn ich sagte, der Erfolg unserer neuen Kollektion von Modellkleidern ließe mich unberührt, aber ich war sicher, auch ohne diese Dinge leben zu können. Ich hatte mich in der vornehmen Gesellschaft immer beengt gefühlt, wurde von den anderen Damen schief angesehen, weil ich selten zu ihren Kaffeekränzchen erschien, die aufdringlichen Versuche der Herren, mich auf einen Ausritt mitzunehmen, abwehrte und mich stattdessen lieber um die Geschäfte unserer Firma kümmerte.

Eine anständige Frau in meinem Alter war längst verheiratet oder zumindest verlobt. Das waren auch die Worte meiner Mutter gewesen, die versucht hatte mich mit dem Sohn eines wohlhabenden Reeders aus Boston zu verkuppeln. Ich war einmal mit dem jungen Mann ausgegangen, hatte ihn tödlich beleidigt, als ich ihm gesagt hatte, ich sei nicht an ihm interessiert, und hatte beschlossen, nur noch mit einem Verehrer auszugehen, der mir gefiel. Bisher war ich einem solchen Mann noch nicht begegnet.

Ich stand auf und trat ans Fenster. Mein Bruder und ich wohnten in einer Seitenstraße der Fifth Avenue, weit genug von der belebten Hauptstraße entfernt. Aus der Ferne war das Rattern der Hochbahn zu hören. Ich beobachtete ein Automobil, das sich durch unsere enge Straße quälte, und zog mich rasch zurück, als der Wagen anhielt, ein junger Herr ausstieg und vor dem Haus gegenüber stehen blieb. Ich öffnete die Tür und rief nach unserem Diener. »John! Lassen Sie bitte den Wagen vorfahren!«

Wir hatten das Automobil vor einigen Monaten gekauft, aber es stand meistens im Hof und wurde kaum benutzt. Ich ging selten aus dem Haus, und wenn ich zur Fabrik fuhr, wurde ich von Jonathan in seiner Kutsche abgeholt. Robert setzte sich nicht mehr ans Steuer, seitdem er betrunken gegen eine Laterne gefahren und sich vor einer jungen Dame blamiert hatte. Er bevorzugte seinen Einspänner oder die zweispännige Kutsche, die wir von unseren Eltern geerbt hatten. Ich war während der letzten Monate regelmäßig aufgewacht, wenn die Kutsche nachts in den Hof gerattert und er mit einer zweifelhaften Dame nach oben gekommen war. Er wohnte im ersten Stock unseres Hauses, und wenn die Fenster offen standen, verstand ich fast jedes Wort.

Ich ließ mir mein dunkelblaues Cape bringen und eilte die Treppe hinab. Unser Kutscher, der auch als Chauffeur angestellt war, wartete neben dem Automobil auf mich. Er trug die Uniform, die unsere Angestellten für ihn geschneidert hatten, und begrüßte mich freundlich. »Guten Tag, Miss Wynn! Und ich dachte schon, Sie würden niemals mit dem Automobil fahren!« Er hielt mir die Wagentür auf und wartete, bis ich eingestiegen war. »Ein wunderschöner Herbsttag, nicht wahr? Wohin darf ich Sie bringen?«

»Nach Harlem«, erwiderte ich, »zum Biergarten, den mein Bruder immer besucht. German Pabst Harlem, nicht wahr?«

»Ja, aber ...«

»Fahren Sie mich hin, David, ja?«

Ich lehnte mich in die Polster zurück und hielt mir die Ohren zu, als der Chauffeur den Motor anwarf und der Wagen wie eine altersschwache Kutsche zu schaukeln begann. Ich würde mich nie an diese Ungetüme gewöhnen. Die Räder holperten über das Kopfsteinpflaster und ich hörte den lauten Pfiff eines Polizisten, als wir in die Fifth Avenue bogen und nach Norden fuhren. Eine Pferdebahn fuhr bimmelnd an uns vorbei. Ich entspannte mich und blickte in die vorbeiziehenden Schaufenster eines fünfstöckigen Kaufhauses, das vor einigen Monaten gebaut worden war.

Ob ich mir die Waren in der Auslage noch leisten konnte, wenn wir verkaufen mussten? Oder blieb nach dem Verkauf gerade so viel übrig, dass ich unbeschadet über den nächsten Monat kam? Ich wunderte mich selbst, wie gefasst ich die Nachricht unseres Buchhalters aufgenommen hatte, und erinnerte mich an eine Schlagzeile der New York World vor wenigen Wochen. Bankrott eines großen Bankhauses! Unternehmer springt aus dem Fenster! Ich würde mich nicht umbringen. Wenn die Firma wirklich Bankrott ging, würde ich an einer neuen Zukunft arbeiten. Dies war das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, so hieß es jedenfalls bei den Einwanderern, die zu Tausenden im Hafen von New York ankamen, und ich würde mich niemals unterkriegen lassen.

Wir fuhren am Central Park vorbei und tuckerten über eine sandige Straße nach Harlem hinauf. Die Backsteinhäuser des neuen Vorortes erinnerten mich an eine kleine Stadt in New England, die ich vor einigen Jahren mit meinen Eltern besucht hatte, und mir kamen die Worte meines Vaters in den Sinn, der zu meiner Mutter gesagt hatte: »In Harlem sollten wir investieren, meine Liebe! Hier steigen die Grundstückspreise am schnellsten!« Wir hatten es nicht getan und ich war nicht traurig darüber, denn Harlem war langsamer gewachsen, als viele Investoren gedacht hatten, selbst nachdem die Hochbahn gekommen war.

German Pabst Harlem war der Biergarten einer deutschen Brauerei, ein mit bunten Lampions geschmücktes Lokal abseits der Harlem Lane, die sich wie eine breite Allee durch den Vorort zog. Hierher pflegte mein Bruder seine Freundinnen auszuführen. Die Gäste saßen in sommerlicher Kleidung an den Gartentischen und lauschten den Klängen eines Streichquartetts, das auf einer Bühne saß und eine Sonate von Mozart spielte. Ich stieg aus und bedeutete dem Chauffeur den Motor abzustellen und zu warten.

Nach meinem Bruder brauchte ich nicht lange zu suchen. Er saß mit einer jungen Dame am Tisch und streichelte ihren linken Arm, während er seinen Bierkrug hob und ihr zuprostete. Er war ein stattlicher Mann, das musste ihm der Neid lassen, und in seinem modern geschnittenen Anzug aus feinstem Tuch und dem blütenweißen Hemd mit der dunkelblauen Krawatte sah er wie ein ehrenhafter Gentleman aus. Seine dunklen Augen und sein jungenhaftes Lächeln beeindruckten ganz offensichtlich seine junge Freundin, aber auch zwei ältere Damen am Nachbartisch, die bewundernd zu ihm herübersahen.

Ich ließ den verdutzten Kellner stehen, der mich in Empfang nehmen wollte, und steuerte geradewegs auf den Tisch mit meinem Bruder zu. Die Damen am Nachbartisch blickten mir neugierig nach. Sie hielten mich wohl für die betrogene Ehefrau und schienen nur darauf zu warten, dass ich mir ein Wortgefecht mit Robert lieferte.

»Clara! Was machst du denn hier?«, empfing mich mein Bruder erstaunt. Er stellte mich seiner jungen Freundin vor, die Olga hieß und der Familie eines russischen Unternehmers angehörte. Eine Anstandsdame war weit und breit nicht in Sicht und ich fragte mich, wie er es geschafft hatte, sie in dieses Lokal zu entführen. »Gibt es Probleme in der Fabrik?«

»Das solltest du doch am besten wissen«, antwortete ich aufgebracht. Am liebsten hätte ich mit dem Sonnenschirm seiner Begleiterin auf den Tisch geschlagen. »Kann ich dich sprechen?«

»Natürlich«, erwiderte er fröhlich. Robert war ein Lebenskünstler und es gab nichts, das ihn aus der Ruhe bringen konnte. Er wandte sich an Olga. »Halt dir mal die Ohren zu, mein Schatz!«

»Du hast unsere Fabriken verspielt«, erklärte ich ohne Umschweife. »Du hast ein Vermögen beim Würfelspiel verloren und ich habe keine Ahnung, wie ich Levinsky bezahlen soll! Er will den Schuldschein in einer Woche einlösen!« Meine Stimme war nicht lauter als sonst, sodass die Damen am Nachbartisch kein Wort verstanden.

Robert lächelte fröhlich und winkte mich zu sich herunter. »Kein Grund, sich aufzuregen, Schwesterherz!«, flüsterte er mir ins Ohr. »Weißt du, wer die hübsche Lady an meiner Angel ist? Eine russische Prinzessin, eine wirkliche Prinzessin! Ich werde sie heiraten und dann gehört uns die halbe Welt! Großes Ehrenwort!«

»Du bist unmöglich, Robert! Meinst du vielleicht, Levinsky wartet so lange? Lass dir was Besseres einfallen.« Aber mein Bruder würde sich niemals ändern, selbst wenn unser gesamter Besitz den Bach hinunterging. Er betrachtete das Leben als spannendes Spiel. Ich richtete mich auf und schenkte Olga ein spöttisches Lächeln. »Sie können die Hände wieder von den Ohren nehmen, Prinzessin! Robert will Ihnen eine wichtige Frage stellen!« Ich machte auf dem Absatz kehrt und verließ den Biergarten.

2

Ich lernte den Mond auswendig. Er leuchtete voll und rund über den Dächern der Stadt und ich prägte mir jeden Schatten auf seinem blassen Antlitz ein, während ich in meinem Bett lag und durch das geöffnete Fenster nach draußen blickte. Ich konnte nicht schlafen. Die Probleme, die auf mich eingestürzt waren, lagen wie eine schwere Last auf mir und selbst der Kräutertee, den unser Diener mir kurz vor dem Schlafengehen gebracht hatte, verfehlte seine Wirkung. Wie konnte ich den drohenden Bankrott von unserer Firma abwenden? Die Frage beschäftigte mich die ganze Nacht, und als ich frühmorgens aus dem Bett kroch und mir das kalte Wasser aus der Waschschüssel ins Gesicht spritzte, dachte ich noch immer darüber nach. Robert würde das Geld nicht herbeizaubern können. Selbst wenn seine Olga tatsächlich eine russische Prinzessin war und auf seine Liebesschwüre hereinfiel, würde sie ihr Vermögen nicht zur Verfügung stellen. Isaac Levinsky würde darauf bestehen, den Schuldschein einzulösen. Er wartete nur darauf, sich unsere Firma einverleiben zu können. Mir blieben nur der Weg zur Bank und die Hoffnung, dass Conrad Rickenwood, der langjährige Freund meines Vaters, ein Einsehen mit uns hatte.

Ich verzehrte mein Frühstück in Eile, ließ die Morgenzeitung unberührt liegen aus Angst, ich könnte eine Nachricht über den Lebenswandel meines Bruders finden, und ließ David das Automobil vorfahren. »Zur National Bank«, sagte ich zu ihm. Ich setzte mich auf die Rückbank und schloss die Augen, versuchte mich auf die bevorstehende Unterredung mit dem Bankdirektor zu konzentrieren. Den Termin hatte ich bereits nach meiner Rückkehr aus Harlem verabredet. Der Straßenlärm, das Hupen der anderen Automobile und das Klingeln der Pferdebahnen drang wie aus weiter Ferne zu mir.

Vor der Bank, einem dreistöckigen Gebäude an der Fifth Avenue, blickte ich in meinen kleinen Taschenspiegel. Ich trug eines meiner besten Kleider, hochgeschlossen – der ernsten Unterredung angemessen – und hatte die bernsteinfarbene Brosche angesteckt, die ich von meiner Mutter geerbt hatte. Meine dunklen Zapfenlocken waren sorgfältig frisiert und fielen unter einem weinroten Hut hervor. Mein Gesicht wirkte blass, obwohl ich mit etwas Rouge nachgeholfen hatte, und meinen Augen sah man die durchwachte Nacht an.

Mein Seufzen ging im Hupen eines Automobils unter. Ich bedeutete David, auf mich zu warten, betrat das große Gebäude und stieg die Treppe zum Büro des Bankdirektors hinauf. Die Wände waren mit Marmor verkleidet und meine Schritte hallten durch das Treppenhaus.

»Clara! Welche Freude, Sie zu sehen!«, rief Conrad Rickenwood, nachdem mich die Sekretärin angemeldet hatte. »Wir haben uns ja eine Ewigkeit nicht gesehen! Bitte, nehmen Sie Platz.« Ich setzte mich auf einen der schweren Ledersessel in seinem Büro und Conrad trug seiner Sekretärin auf, uns frischen Tee zu bringen. Er war als junger Mann aus England eingewandert und verabscheute amerikanischen Kaffee. »Was kann ich für Sie tun, Clara?« Er hatte mit unserem Buchhalter gesprochen und wusste natürlich längst, was ich wollte, aber die Höflichkeit gebot ihm, um den heißen Brei zu reden.

Ich war von meinem Vater erzogen worden, die Probleme direkt anzugehen, und sagte: »Ich bin in Verlegenheit, Conrad. Wir sind gezwungen, einige Verbindlichkeiten zu begleichen, auf die ich nicht vorbereitet war, und ich besitze leider kein flüssiges Kapital.« Ich bemerkte, wie er die linke Augenbraue ein wenig hob, und fuhr rasch fort: »Es handelt sich um ein vorübergehendes Problem, Conrad. Ich habe unsere ganzen Ersparnisse in die neue Fabrik und die neuen Maschinen gesteckt, das wissen Sie am besten, und es wird ein paar Monate dauern, bis ich wieder flüssig bin. Unsere Umsätze sind in Ordnung. Aber für den Augenblick ...« Ich ließ den Satz unvollendet.

Die Sekretärin kam mit dem Tee und der Bankdirektor wartete, bis sie eingeschenkt hatte. Er nahm einen bedächtigen Schluck und musterte mich über die Tasse hinweg. Ich ahnte, was er sagen würde. »Sie brauchen einen Kredit, nicht wahr?« Er stellte die Tasse hin und rieb die Feuchtigkeit von seinem Schnurrbart. »Ich weiß von Ihren Verbindlichkeiten, Clara. Und ich habe vom unsteten Lebenswandel Ihres Bruders gehört. Die ganze Stadt weiß darüber Bescheid! Warum sollte ich Ihnen einen Kredit geben, wenn Ihr Bruder nichts Besseres zu tun hat als das Geld zu verspielen oder für seine ... seine Freundinnen auszugeben? Mir gehört diese Bank nicht, Clara. Ich muss alle Summen vor dem Aufsichtsrat verantworten und man würde mich fristlos entlassen, wenn ich den Leichtsinn begehen und Ihrer Firma einen größeren Kredit zur Verfügung stellen würde. Es geht nicht um Sie persönlich, Clara. Ihr Vater war einer meiner besten Freunde und ich habe ihm versprochen, Sie immer fair zu behandeln. Aber einen weiteren Kredit kann ich Ihnen nicht gewähren.« Er nahm einen weiteren Schluck von seinem Tee. »Es tut mir Leid!«

Damit war eigentlich alles gesagt. »Ich verstehe Ihre Bedenken, Conrad.« Noch wollte ich nicht aufgeben. »Und ich weiß, wie leichtsinnig mein Bruder sich benommen hat. Ich habe ihm gestern ins Gewissen geredet und versichere Ihnen, dass so etwas nicht mehr geschehen wird. Ich werde mich persönlich um alle Zahlungen kümmern und dafür Sorge tragen, dass unsere Finanzen wieder in Ordnung kommen.« Ich hob meine Tasse und spürte, wie meine Hände zitterten. Auch meine Stimme klang nicht mehr so fest wie zu Beginn unserer Unterredung. »Aber ohne einen Überbrückungskredit kann ich den Schuldschein nicht bezahlen! Ich brauche nicht viel, Conrad. Und in einem halben Jahr bin ich wieder flüssig, spätestens in einem Jahr, wenn die neue Kollektion abgerechnet wird. Die neuen Modellkleider kommen gut an.«

»Das weiß ich, Clara«, meinte er mit einem schüchternen Lächeln. »Meine Frau hat sich die Kollektion angesehen und ist begeistert. Sie rechnet fest damit, dass ich ihr eines der Kleider zum Geburtstag schenke.« Er lehnte sich zurück. »Aber ich kann es nicht tun. Einen solchen Kredit könnte ich dem Aufsichtsrat gegenüber niemals verantworten. Man würde mich sofort von meinem Posten entheben! Sie wissen, dass ich Ihnen wohlgesonnen bin, Clara, aber das wäre unverantwortlich.«

»Wollen Sie denn, dass Isaac Levinsky die ganze Stadt übernimmt?«, fragte ich erregt. Ich wollte einfach nicht wahrhaben, dass ein einziger Schuldschein unseren Ruin bedeuten sollte. »Wollen Sie, dass dieser Einwanderer unsere Geschäfte in den Bankrott treiben? Warum unterstützen Sie nicht die eingesessenen Firmen?«

»Weil auch unser Unternehmen auf Profit ausgerichtet ist«, antwortete er kühl. »Verstehen Sie mich nicht falsch. Mir gefällt auch nicht, wie sich die Wirtschaftslage in dieser Stadt entwickelt, und mir steigen Tränen in die Augen, wenn ich mit ansehen muss, wie gute Freunde ihr Hab und Gut verlieren. Aber mir sind die Hände gebunden. Verzeihen Sie mir, Clara! Sie sind eine geschäftstüchtige Frau und schaffen es bestimmt, über diesen Engpass hinwegzukommen. Sie haben Zukunft, selbst wenn Sie die Firma verkaufen müssen. Sie sind stark. Trennen Sie sich von Ihrem Bruder! Fangen Sie von vorn an! Ich helfe Ihnen gern dabei, die Firma mit Profit zu veräußern, und dann finden wir sicher ein neues Projekt, das Ihnen zusagt und besseren Gewinn abwirft. Melden Sie sich bei mir, Clara! Wie gesagt, Ihr Vater zählte zu meinen besten Freunden und es täte mir unendlich weh, Sie in Schwierigkeiten zu sehen.« Er erhob sich, was wohl heißen sollte, dass unsere Unterhaltung beendet war, und verbeugte sich vor mir. »Tut mir Leid, dass ich Ihnen keine bessere Auskunft geben konnte, Miss Clara. Auf Wiedersehen.«

Seine Freundlichkeit war nicht geheuchelt und ich verabschiedete mich mit einem gequälten Lächeln. Auf der Treppe blieb ich ein paar Minuten stehen und rang nach Luft. Ich war traurig über den Verlust unserer Firma, der nicht mehr aufzuhalten war, und wütend auf meinen Bruder, der in seinem Leichtsinn alles verspielt hatte. Erst als ein Angestellter der Bank an mir vorbeiging und mich neugierig anstarrte, ging ich weiter. Ich ließ mich auf die Rückbank des Automobils fallen und sagte: »Nach Hause, David!«

Meine Stimme ließ keinen Zweifel daran, dass ich ungestört bleiben wollte. Der Chauffeur ließ den Motor an und schwieg, während wir die Fifth Avenue hinauffuhren. Der Verkehrslärm schien lauter zu sein als auf der Hinfahrt und das Hupen der Automobile und das Klingeln der Pferdebahnen zerrten an meinen Nerven. »Ich hab's mir anders überlegt, David!«, rief ich nach einer Weile. »Bringen Sie mich zum Central Park!«

Er blickte mich verwundert an und blieb auf der Fifth Avenue, fuhr dem nördlichen Stadtrand entgegen. Der Central Park lag außerhalb von New York, in einer unbewohnten Gegend, die manche Leute als Wildnisbezeichneten, und hatte Schlagzeilen in der örtlichen Presse gemacht, weil es immer wieder zu Überfällen auf unbescholtene Bürger kam, die sich dort noch nach Einbruch der Dämmerung aufhielten. Mittags bestand kaum Gefahr und doch wäre es einer Dame niemals in den Sinn gekommen, dort allein spazieren zu gehen. Ein solches Verhalten hätte gegen die ungeschriebenen Gesetze der besseren Gesellschaft verstoßen, und dazu zählte ich, zumindest so lange, bis bekannt wurde, dass wir die Firma verkaufen mussten. Aber ich wollte allein sein, weit entfernt vom Trubel der Großstadt, die ich plötzlich als beengend empfand. Am liebsten hätte ich David aufgetragen, über die unbefestigten Straßen nach Westen zu fahren, ins Land der Cowboys und Indianer, das ich auf den Fotografien gesehen hatte, die im Museum ausgestellt waren. Dort war man wirklich frei.

Am südlichen Rand des Central Park hielt David den Wagen an. Er parkte im kniehohen Gras und half mir beim Aussteigen. »Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist, Ma'am«, meinte er besorgt. »Wir sollten besser in die Stadt zurückfahren ...«

Ich hörte nicht auf ihn. »Sie warten hier!«, sagte ich entschlossen. Ich ließ ihn neben dem Automobil stehen und betrat den Park. Meine Reaktion auf die Abfuhr des Bankdirektors war unbesonnen und wenig damenhaft und ich verstand die Bedenken des Chauffeurs, der mir sorgenvoll nachblickte. Aber ich konnte nicht anders. Nichts machte mich wütender als einer Situation hilflos ausgeliefert zu sein. Ich musste irgendetwas Unüberlegtes tun, um wieder klar denken zu können. In der Abgeschiedenheit des Central Park würde ich die Scham und die Verlegenheit abstreifen, die ich im Büro des Bankdirektors empfunden hatte. Ich wollte wieder die Kontrolle über mein Handeln bekommen. Mit geballten Fäusten stapfte ich über den Schotterweg, der mit herbstlich gefärbten Blättern bedeckt war. Ich schimpfte auf den Bankdirektor und meinen Bruder und die ganze Welt.

Unterwegs begegnete ich einem jungen Liebespaar, wahrscheinlich einem verheirateten Mann und seiner Geliebten, und musste über ihre verlegenen Gesichter lachen. Auch sie verstießen gegen die Regeln der Gesellschaft. Ob die Reporter der Klatschblätter hinter den Bäumen lauerten und darauf warteten, dass sie die Herren der feinen Gesellschaft beim Ehebruch ertappten? Immerhin war ich nicht allein im Park. Ich ging schmunzelnd weiter und mir war wieder leichter ums Herz. Ich glaube, dass ich mir bereits in diesem Augenblick vornahm, New York zu verlassen. Zumindest schwor ich mir, den Verlust unserer Firma nicht kampflos hinzunehmen. Auch wenn kaum oder gar kein Geld übrig blieb, würde ich überleben und in eine bessere Zukunft gehen. Ich gehörte nicht zu den Firmenbesitzern, die sich nach einem Bankrott umbrachten.

Ich blieb am steilen Ufer eines künstlichen Sees stehen und blickte in das spiegelklare Wasser. Der Blick meiner dunklen Augen wirkte entschlossen, ganz anders als am frühen Morgen, als ich mein Aussehen vor dem Bankgebäude überprüft hatte. »Ihr werdet noch Augen machen!«, rief ich meinem Spiegelbild zu. »So leicht lässt sich eine Clara Wynn nicht unterkriegen!«

Der junge Landstreicher, der in diesem Augenblick zwischen den Bäumen hervortrat und mich mit einer Pistole bedrohte, hätte sich keinen ungünstigeren Zeitpunkt aussuchen können. »Hände hoch!«, rief er. Ich wirbelte herum und schlug ihm die Waffe mit der Handtasche aus der Händen. »Was fällt Ihnen ein?«, fuhr ich den Jungen an. »Wie kommen Sie dazu, eine Dame zu bedrohen? Haben Sie keinen Anstand im Leib?«

Der Junge war so verstört, dass er zu keiner Erwiderung fähig war. Er starrte mich an und bewegte stumm seine Lippen. Ich nützte die Gelegenheit, hob die Pistole auf und warf sie in den See. »Sie sollten sich schämen, Sie ungezogener Kerl!« Ich war immer noch so wütend, dass ich keine Angst verspürte. Erst später sollte ich darüber nachdenken, welches Risiko ich in diesem Augenblick eingegangen war. Meine Entschlossenheit, es der ganzen Welt heimzuzahlen, wischte alle Bedenken beiseite und trieb den jungen Mann zurück. Er machte einen verwirrten Eindruck und wirkte beinahe hilflos. Eine elegant gekleidete Dame, die weder hysterisch zu schreien begann noch in Ohnmacht fiel, sondern sich tatkräftig zur Wehr setzte, hatte er noch nicht erlebt.

»Sorry, Ma'am!«, erwiderte er unsicher. »Ich wollte Sie nicht erschrecken!« Er merkte gar nicht, wie albern seine Worte klangen. »Ich wollte nur ein paar Dollar. Ich hab verdammten ... Ich meine, ich hab ziemlich großen Hunger und ich geh jede Wette ein, so 'ne reiche Dame wie Sie würde gar nicht merken, wenn ich ihr ein paar Dollar wegnehme. Oder seh ich das falsch, Ma'am?«

»Wie heißen Sie?«, fragte ich. Der junge Mann hatte meine Neugier geweckt und ich muss zugeben, dass er mir gut gefiel. Er war ungefähr so alt wie ich, und wenn man ihm den Schmutz vom Gesicht wusch und neue Kleider anzog, kam sicher ein hübscher Junge zum Vorschein. Er blickte mich aus grünen Augen an, die wie bei einer Katze leuchteten. Erst als er seine Schiebermütze vom Kopf nahm und seine roten Haare zum Vorschein kamen, erkannte ich, dass er aus der alten Heimat kam.

»Patrick O'Riley«, antwortete er. Irischer konnte ein Name nicht sein, und da auch meine Vorfahren von der Grünen Insel kamen, verrauchte meine Wut. Ich glaube, ich lächelte sogar. »Die Leute im Park nennen mich Pat, aber ich möchte, dass Sie Patrick sagen. Das hat meine Mutter auch getan.« Er streckte mir die Hand wie ein Bierkutscher hin und ich griff danach und sagte: »Ich heiße Clara Wynn.« Dann fragte ich: »Leben Sie hier im Park? Gehören Sie zu den Schurken, die unschuldige Passanten überfallen?«, und zog die Hand zurück, die er noch immer umklammert hielt.

»Irgendwie muss ich über die Runden kommen«, antwortete er. »Ich hab keine reichen Eltern, die mir alles in den Hintern stecken.« Er wurde rot. »Sorry, ich wollte Sie nicht beleidigen, aber ich leb schon 'ne ganze Weile im Park und bin's nicht gewohnt, mit einer Dame zu sprechen.« Er hatte sich von seinem Schrecken erholt und lächelte wieder. Ein Lächeln, das unschuldig war und mich sehr berührte. »Sie hauen ganz schön zu, Ma'am! Woher wussten Sie, dass ich Sie nicht erschieße? Hatten Sie keine Angst vor mir?«

»Clara«, verbesserte ich, »ich bin keine Ma'am. Ich heiße Clara.« Ich hatte das Gefühl, dass mir der junge Mann schon mein ganzes Leben lang vertraut war. Es musste an seinen grünen Augen liegen. »Ich war wütend«, räumte ich ein. Ich erzählte ihm von dem drohenden Bankrott, war froh, irgendeinem Menschen mein Herz ausschütten zu können, auch wenn er ein Fremder war, und sagte: »Wer weiß? Vielleicht bin ich in ein paar Tagen genauso arm wie Sie! Die Bank will mir keinen Kredit mehr geben.«

Wir gingen nebeneinander zum Waldrand zurück und ich war versucht, nach seiner Hand zu greifen, hielt mich aber zurück. »Meine Eltern sind auf der Überfahrt gestorben. Vor 'nem halben Jahr. Ich hab in einer Konservenfabrik gearbeitet, hab Pfirsiche in Dosen gefüllt, aber dieser Mistkerl von einem Vorarbeiter konnte Iren nicht leiden und hing mir einen Diebstahl an. Als er auf die Straße lief und nach der Polizei rief, bin ich abgehauen. Eine verdammte Stadt, dieses New York. Sorry. Hab ich mir ganz anders vorgestellt, Amerika. Am liebsten würde ich mit dem nächsten Dampfer zum Klondike abhauen ...«

»Klondike? Ist das ein Land?«

»Ein Fluss«, erklärte er. Wir unterhielten uns wie gute Freunde und ich dachte gar nicht mehr daran, dass er mich vor wenigen Minuten mit einer Pistole bedroht hatte. Erst auf der Rückfahrt wurde mir klar, wie seltsam unsere Begegnung gewesen war. »Irgendwo an der Grenze zwischen Alaska und Kanada. Dort haben sie eine riesige Goldader gefunden! Gold, verstehen Sie? So viel Gold, dass die ganze Welt davon leben könnte! Aber ohne Geld kommst du nicht hin. Die Fahrt kostet über tausend Dollar!«

Ich erinnerte mich daran, in der New York Times über die Goldfunde gelesen zu haben, und winkte ab. »Die Meldungen sind sicher maßlos übertrieben! Wahrscheinlich ist die Ader längst ausgebeutet!« Aber der Gedanke, New York zu verlassen und in einem fremden Land ein neues Glück zu suchen, war verlockend. Das musste ich zugeben. Ich blickte den jungen Mann an und ließ mich von seiner Energie anstecken, verspürte plötzlich die Sehnsucht, mit ihm durchzubrennen und alles hinter mir zu lassen – die Fabriken, das Haus, meinen Bruder, einfach alles.

Wir hatten das Ende des Parks erreicht und blieben stehen. Ich kramte in meiner Handtasche und drückte ihm ein paar Münzen in die Hand. »Hier«, sagte ich, »mehr Geld habe ich nicht bei mir.«

»Das kann ich nicht annehmen.«

»Unsinn! Es ist ein Geschenk!«

»Meinetwegen.« Er verstaute die Münzen in seiner Hosentasche und drückte mir einen flüchtigen Kuss auf die Wange. »Wissen Sie, was?«, fragte er grinsend. »Die Pistole war gar nicht geladen!« Er verschwand wie ein Blitz zwischen den Bäumen und ich blieb verdutzt stehen und berührte die feuchte Stelle auf meiner Haut.

3

Während der nächsten Tage musste ich oft an Patrick denken. Ich dachte an ihn, wenn ich nachts in meinem Bett lag und nicht schlafen konnte, und sein fröhliches Lachen kam mir in den Sinn, wenn ich mit Jonathan in der Kutsche saß und zur Fabrik fuhr. Der irische Junge mit dem feuerroten Haar hatte es mir angetan. Nicht nur, weil er aus der alten Heimat kam, die auch mir viel bedeutete, obwohl ich sie nur aus Erzählungen kannte. Seine unbekümmerte Art hatte mich bezaubert. Und das Leuchten in seinen grünen Augen, das ein Gefühl in mir weckte, das ich bisher nicht gekannt hatte. Mir lief ein angenehmer Schauer über den Rücken, wenn ich die Augen schloss und an Patrick dachte, und manchmal war ich so in meinen Traum versunken, dass ich sitzen blieb, wenn die Kutsche hielt und Jonathan mir beim Aussteigen helfen wollte.

Der Buchhalter deutete mein seltsames Verhalten natürlich anders und sagte: »Sie müssen jetzt sehr stark sein, Miss Clara! Es besteht immer noch die Chance, dass wir die Firma mit Gewinn verkaufen.«

Ich öffnete die Augen und zwang mich zu einem Lächeln. »Ich weiß, Jonathan, und ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie sich so für mich einsetzen. Ich werde mich erkenntlich zeigen, das verspreche ich Ihnen.« Ich blieb vor der Kutsche stehen und blickte auf das Fabrikgebäude, das in der Nähe des Hafens lag und von leichten Nebelschwaden umgeben war. Eine flackernde Lampe leuchtete vor dem Eingang. Es war kein besonders schönes Gebäude, aber der Name meines Vaters, der über der Doppeltür zu lesen war, hatte immer noch einen guten Klang und stand für ein Unternehmen, das bis zur Ankunft der vielen Einwanderer steigende Umsätze verzeichnet hatte. »Ich bin froh, dass mein Vater nicht mehr miterlebt, wie es um unsere Firma steht.«

»Die Fabrik war sein Leben. Er hatte seinen Traum verwirklicht.« Jonathan seufzte. »Ich mache mir Vorwürfe, weil ich nicht besser auf die finanzielle Entwicklung geachtet habe. Ich hätte wissen müssen, dass wir in Schwierigkeiten kommen. Ich habe erlebt, wie Ihr Bruder seine Geschäfte handhabte. Wenn er eine Dame umwarb oder zum Pferderennen ging, musste man mit allem rechnen. Ich hätte eindringlicher auf ihn einwirken sollen!«

Ich schüttelte den Kopf. »Robert hätte nicht auf Sie gehört. Er hört auf niemanden, nicht mal auf mich. Er lebt in einer anderen Welt. Er hat kein Verantwortungsgefühl.« Ich berührte die Schulter des Buchhalters. »Sie trifft keine Schuld, Jonathan.«

Er öffnete die Tür und wir betraten den Fabrikraum. Das vertraute Rattern der Nähmaschinen und die neugierigen Blicke der Arbeiterinnen begleitete uns ins Büro. Ich war immer wieder in der Firma erschienen, aber seitdem ich von dem Schuldschein erfahren hatte, war ich jeden Morgen gekommen. Ich wollte unserem Buchhalter helfen, einen sauberen Abschluss zu finden, bevor die Fabrik an einen anderen Besitzer überging. Die Belegschaft spürte natürlich, dass irgendetwas nicht in Ordnung war, aber ich zögerte, die Gerüchte über einen bevorstehenden Verkauf zu bestätigen, und schämte mich dafür.

Mein Bruder hatte sich seit unserer Begegnung in Harlem nicht mehr blicken lassen. Das war nichts Besonderes. Er blieb öfter mal verschwunden, zog mit seinen Freunden durch die einschlägigen Lokale, spielte Karten oder schloss Wetten ab und stellte irgendwelchen Damen nach. Einmal hatte er zwei Monate bei einer zweifelhaften Lady gewohnt, bevor deren Mann zurückgekehrt war und ihn hinausgeworfen hatte. Er konnte von Glück sagen, dass der Mann ihn nicht zum Duell gefordert hatte. Ein anderes Mal hatte er sich im Landhaus einer Gutsbesitzerin versteckt und mit der reichen Dame und ihrer Küchengehilfin ein Verhältnis gehabt. Der Koch, der selber an dem Küchenmädchen interessiert war, hatte ihn mit der Suppenkelle verfolgt und war dabei in den Fluss gefallen, an dem das Landhaus lag. So war das mit meinem Bruder. Das Glück war sein bester Freund und er war dem Schlimmsten immer noch entkommen. Bis zu jenem Tag, als er einen Schuldschein von Isaac Levinsky ausgefüllt hatte.

Auf sein Versprechen, die russische Prinzessin zu heiraten und mir die halbe Welt zu Füßen zu legen, gab ich nicht viel. Ich hatte mich umgehört und erfahren, dass Olga Danilow einen ebenso zweifelhaften Ruf wie mein Bruder genoss und dafür bekannt war, gut aussehenden Männern den Kopf zu verdrehen. Sie gehörte nicht zu den naiven Einwanderinnen, die sich von dem erstbesten Amerikaner betören ließen und alles glaubten, was man ihnen sagte. Sie hatte ihren eigenen Kopf und würde sich bestimmt nicht ausnehmen lassen. Diesmal würde Robert der Leidtragende sein. Er konnte von Glück sagen, wenn er unbeschadet aus dieser Verbindung herauskam. Ich hatte gehört, dass Olgas ungleiche Brüder eifersüchtig über jede Bewegung ihrer Schwester wachten. Sie machte sich einen Spaß daraus, ihnen zu entwischen, aber lange würden sich die beiden Männer nicht an der Nase herumführen lassen. Wenn sie herausbekamen, dass ihre Schwester von einem leichtsinnigen Spieler und Taugenichts umworben wurde, gab es sicher Ärger.

Meine bösen Ahnungen wurden bestätigt, als ich die New York World aufschlug und einen kurzen Artikel über eine Gesellschaft fand, die ein russischer Unternehmer in seiner Villa in Harlem gegeben hatte. ... erschien Olga Danilow in der Begleitung ihrer beiden Brüder, die erkennen ließen, dass es einen aussichtsreichen Bewerber für eine baldige Hochzeit mit ihrer Schwester gab ... Ich brauchte keine Wahrsagerin zu sein, um herauszufinden, dass sie nicht meinen Bruder meinten. Nachdenklich ließ ich die Zeitung sinken. Zum wiederholten Male wurde mir bewusst, dass es keine Hoffnung mehr für unsere Firma gab und ich nur auf das Verhandlungsgeschick unseres Buchhalters hoffen konnte. Nur wenn er die Fabriken Gewinn bringend verkaufte, konnte es eine aussichtsreiche Zukunft für mich geben.

Ich blätterte weiter und stieß auf einen Artikel über den Goldrausch am Klondike. Unter der Überschrift: Ho! For the Klondike! wurde über die vielen Abenteurer berichtet, die ihre Arbeit und manchmal sogar ihre Familien im Stich ließen, um in der Ferne ihr großes Glück zu machen. Die meisten Goldsucher schifften sich auf einem Dampfer oder einem Segelschiff ein und gingen das Wagnis einer zwanzigtausend Meilen langen Reise um Kap Hoorn ein. In weitschweifigen Worten wurden die tosenden Stürme beschrieben, die um diese Zeit an der Südspitze von Südamerika tobten und den Kapitänen das Leben schwer machten. Ich las über die tausend Gefahren, die auf die Glückssucher warteten, und konnte zu dieser Zeit nicht ahnen, dass ich schon zwei Wochen später zu den tollkühnen Männern und Frauen gehören würde, die dieses Wagnis eingingen. Sogar aus dem fernen Europa waren Schiffe unterwegs. Voller Ernst wurde über zwei Frauen aus Boston berichtet, die auf Fahrrädern unterwegs waren und den fernen Klondike auf dem Landweg erreichen wollten. Ein Geschäftsmann aus Schottland wollte die endlosen Landschaften im Westen in einem Ballon überqueren.

Den Start des kühnsten Unternehmens erlebte ich persönlich mit. Jonathan hatte mir vorgeschlagen, beim Start dieses Unternehmens dabei zu sein, ohne zu wissen, was er damit in Bewegung setzte. Seit Patrick O'Rileys beiläufiger Bemerkung, er würde vielleicht zum Klondike reisen, hatte ich immer wieder darüber nachgedacht, ob das auch für mich ein Weg sein könnte, ein neues Leben zu beginnen. Mein Herz klopfte vor Aufregung bei dem Anblick des stattlichen Dampfschiffes, das majestätisch im Hafen lag und dessen Schornsteine mit vierblättrigen Kleeblättern verziert waren. Hannah S. Gould, eine unternehmungslustige Krankenschwester, hatte einige wohlhabende Männer dazu gebracht, in ein Unternehmen zu investieren, das selbst in der aufregenden Geschichte des großen Goldrausches einmalig war. Ihr Women's Clondyke Express bestand aus fünfhundert Frauen, die zum Klondike fahren und dort eine Stadt für gottesfürchtige Menschen aufbauen wollten. Ein wahnwitziges Unternehmen, wie mir einige Monate später klar wurde, als ich in Skagway an Land ging.

»... und wir werden die Zivilisation in dieses wilde Land bringen!«, hörte ich Hannah S. Gould sagen. Sie stand auf der Landungsbrücke, die schulterlangen Locken mühsam gebändigt und von einer Kapitänsmütze bedeckt, die sie zum Abschied erhalten hatte. Ihr Blick war freudig entschlossen und ihre rechte Hand hielt ein Champagnerglas. »Mitten in der Wildnis werden wir eine Stadt für alle aufrechten Bürger errichten, mit einer Kirche, einer Bücherei und einer Schule!« Sie prostete den vielen Menschen im Hafen zu. »Ich trinke auf die City of Columbia, die uns nach Alaska bringen wird, und ich proste den tapferen Frauen zu, die mich auf dieser Reise begleiten! Ho for the Klondike!«

»Ho for the Klondike!«, jubelte die Menge.

Hannah S. Gould warf ihr leeres Glas gegen den Schiffsrumpf und ging in einem Konfettiregen an Bord. Eine Blaskapelle spielte, als der Dampfer aus dem Hafen fuhr. Die grünen Kleeblätter auf den Schornsteinen leuchteten in der Sonne. Ich blieb stehen, bis das Schiff nur noch als winziger Punkt in der Ferne zu sehen war, und stieg erst in das Automobil, als ein Polizist kam und meinen Chauffeur bat, den Hafen zu verlassen. Ich bewunderte Mrs Gould. Obwohl sie verwitwet und schon an die sechzig war, wie ich aus der Zeitung erfuhr, war sie in eine ungewisse Zukunft gefahren. Sie hatte ihre ganzen Ersparnisse in das Unternehmen gesteckt, ihre Verwandten und Freunde zurückgelassen und war fest entschlossen, ein neues Leben zu beginnen. »Diese Mrs Gould ist eine mutige Frau«, sagte ich.

»Sie ist verrückt«, erwiderte David amüsiert.

An diesem Abend kam mir unser Haus seltsam klein vor. Ich ließ mir Tee bringen und zog mich in mein Zimmer zurück, las in einem Buch von Jules Verne, das von fantastischen Abenteuern in fremden Welten erzählte. Die Erfindungsgabe des Autors faszinierte mich. Würden seine Visionen sich jemals erfüllen? Würde es jemals ein bemanntes Unterseeboot geben, das bis auf den Meeresgrund vorstoßen konnte? Würden die Menschen ein Flugobjekt bauen, das in den Weltraum fliegen konnte? Ich dachte an Hannah S. Gould und die fünfhundert Frauen, die mit der City of Columbia zum Klondike fuhren, und musste lachen. Für die meisten Menschen war diese abenteuerliche Reise genauso utopisch wie ein Flug zum Mond. Und das ferne Alaska war ihnen genauso fremd wie ein anderer Planet.

Ich schlief über dem Buch ein, ging erst spätnachts ins Bett, als ich aus einem abenteuerlichen Traum aufschreckte, und schlief bis in den späten Morgen. Jonathan fuhr allein zur Fabrik. Ich brauchte etwas Ruhe, um meine Gedanken zu ordnen. Zu viel war in den letzten Tagen auf mich eingestürzt. Ich frühstückte ausgiebig, ließ mir einen zweiten Tee aufgießen und blätterte in der New York World, die in reißerischer Aufmachung über die dramatische Zunahme der Gewalt berichtete. Der wilde Westen beginnt in New York, hieß es in dem Artikel. Auf der zweiten Seite wurde über eine Polizeiaktion im Central Park berichtet. »Es wurden zehn Landstreicher und Strauchdiebe festgenommen und auf das Revier gebracht. Der Polizeichef versprach, mit aller Härte gegen die Verwahrlosung der Sitten vorzugehen und auch kleinere Verbrechen streng zu bestrafen. Den festgenommenen Personen soll schon morgen der Prozess gemacht werden ...«

Spätmorgens, als ich mit dem Automobil zu einigen Geschäftspartnern unterwegs war, erinnerte ich mich an diesen Artikel. »Fahren Sie am Polizeirevier vorbei!«, bat ich meinen Chauffeur. David war klug genug, keine Fragen zu stellen. Er fuhr mich wortlos zum Revier, hielt vor dem Eingang und blickte mich neugierig an. »Wenn ich Ihnen irgendwie behilflich sein kann«, begann er vorsichtig, aber ich war in Gedanken versunken und hörte gar nicht hin.

Einer der beiden Polizisten, die vor dem Gebäude standen, trat vor unseren Wagen und blickte mich forschend an. »Kann ich Ihnen behilflich sein, Ma'am?«

»Ich weiß nicht, Officer«, erwiderte ich zögernd. »Ich suche einen Verwandten, einen entfernten Neffen.« Ich hoffte, dass David nicht zuhörte, und fügte mit einem leichten Schmunzeln hinzu: »Das schwarze Schaf unserer Familie! Er ist auf die schiefe Bahn geraten. Ich möchte wissen, ob er bei den Landstreichern ist, die Sie gestern im Central Park festgenommen haben, damit ich notfalls unseren Anwalt benachrichtigen kann.«

Der Polizist runzelte die Stirn, schien darüber nachzudenken, ob ich mir einen Scherz mit ihm erlaubte. Ich verstärkte mein Lächeln. »Wie heißt Ihr Verwandter, Ma'am?«, fragte er.

»Patrick O'Riley.«

»An diesen Namen kann ich mich nicht erinnern, aber ich könnte den Dienst habenden Sergeant fragen. Er hat eine Liste aller Häftlinge.«

»Bitte, Officer!«

Der Polizist sagte etwas zu seinem Kollegen und verschwand im Revier. Kurze Zeit später kehrte er zurück. »Nein, Ma'am, ein Patrick O'Riley ist nicht dabei. Tut mir Leid, dass ich Ihnen nicht weiterhelfen konnte!«

»Vielen Dank, Officer! Leben Sie wohl.«

Ich verließ das Revier und stieg in den Wagen. Nachdem ich eine Weile ins Leere geblickt hatte, sagte ich: »Zum Central Park, David! Schnell, bevor ich's mir anders überlege!« Der Chauffeur blickte mich verwundert an, erwiderte aber nichts. Wortlos fuhr er über die Fifth Avenue nach Norden. Ich lehnte mich zurück und blickte aus dem Fenster, ohne meine Umgebung wahrzunehmen. Der Verkehrslärm brandete wie eine Woge um unser Automobil und ich fühlte mich benommen, wie in dem schrecklichen Traum, den ich vor einigen Wochen gehabt hatte. Ich war vor einem Ungeheuer geflohen und von einer seltsamen Lähmung befallen gewesen, hatte mich viel zu langsam durch die Dunkelheit bewegt. Zum Glück war ich aufgewacht, bevor das Ungeheuer mich eingeholt hatte. Jetzt wurde ich nur noch von den Bildern in meinen Gedanken verfolgt. Ich sah das fröhliche Lachen des irischen Jungen, die erwartungsvollen Mienen der Frauen an Bord der City of Columbia, die Tränen in Jonathans Augen, als er sagte: »Wir müssen die Firma verkaufen, Clara!«

Wir hielten an derselben Stelle wie beim letzten Mal. Die Spuren des Automobils waren noch immer im Gras zu erkennen. Ich rannte über denselben Weg in den Wald hinein und blieb stehen. Patrick O'Riley war nicht zu sehen. Ich rief seinen Namen, rannte bis zum Ufer des Sees, an dem wir uns getroffen hatten, und kehrte nach einer Weile enttäuscht zum Wagen zurück. Ich schalt mich eine Närrin. Was war bloß in mich gefahren? Warum lief ich einem Jungen hinterher, den ich kaum kannte? Welcher Teufel trieb mich zu einem Landstreicher, der im Wald wohnte und sein Geld mit Gaunereien verdiente? Ich schüttelte meine Benommenheit wie einen lästigen Schleier ab und beschloss mich um die Dinge zu kümmern, die wirklich wichtig waren.

Doch mein neuer Elan wurde durch den Buchhalter gebremst, der in unserem Wohnzimmer wartete und mich mit leichenblasser Miene empfing. »Unsere Lage ist bedrohlicher, als ich dachte, Miss Clara! Uns bleibt nichts anderes übrig als an Levinsky zu verkaufen. Für einen Spottpreis! Levinsky weiß, dass wir keine andere Wahl haben, und zahlt den absoluten Mindestpreis!« Er zog einige Papiere aus seiner Aktentasche und sagte: »Ich habe den Vertrag dabei. Sie müssen unterschreiben, Miss Clara! Ich habe alles versucht, aber Levinsky lässt sich auf keine Diskussion ein und einen anderen Käufer gibt es nicht!« Er reichte mir den Vertrag und ich betrachtete entsetzt die niedrige Summe.

»Verstehe ich Sie richtig, Jonathan?«, brachte ich nach einer Weile hervor. »Uns bleiben ein paar tausend Dollar, von denen ich die Löhne zahlen muss, und wenn ich zu Bargeld kommen will, muss ich dieses Haus oder meinen Schmuck verkaufen?«

»Das stimmt«, sagte er leise.

»Und ich dachte schon, Sie bringen wirklich schlechte Nachrichten!«, erwiderte ich mit Galgenhumor. Ich setzte mich, griff nach dem Vertrag und studierte ihn lange. Dann setzte ich meine Unterschrift darunter und war froh, dass ich die Buchstaben klar und deutlich aufs Papier brachte.

4

Isaac Levinsky blieb unsichtbar. Der Mann, der unsere Firma für eine lächerliche Summe gekauft hatte, hielt sich im Hintergrund und war nicht einmal dabei, als ich mich von meinen Angestellten verabschiedete und die Fabrik offiziell an unsere Nachfolger übergab. Ich nahm an, dass er wenig von geschäftstüchtigen Frauen hielt. Eine Begegnung mit einer neunzehnjährigen Unternehmerin hätte wohl dem Bild geschadet, das sich die Öffentlichkeit von einem erfolgreichen Geschäftsmann machte. Sogar in der New York Times äußerte er sich abfällig über mich: Es war sehr leichtsinnig, die Leitung eines so großen Unternehmens in die Hände einer jungen Dame zu geben! Ich stellte mir vor, wie er die Mundwinkel geringschätzig nach unten zog. Er verhandelte ausschließlich mit unserem Buchhalter und zu seinen ersten Handlungen gehörte, den Lohn der Näherinnen um zehn Prozent zu senken. Das erfuhr ich von Jonathan, der sehr traurig war, als er mir den von Levinsky unterschriebenen Vertrag brachte. »Was werden Sie jetzt tun, Miss Clara?«, fragte er mit leichtem Zittern in der Stimme.

»Ich werde die Stadt verlassen«, antwortete ich mit einer Bestimmtheit, die mich selber erstaunte. »Ich fange irgendwo von vorn an, ohne meinen Bruder.« Ich hatte das Gefühl, während der letzten Tage noch erwachsener geworden zu sein, obwohl ich mich nicht daran erinnern konnte, einen konkreten Entschluss gefasst zu haben. »New York hat mir noch nie gefallen. Viel zu laut und zu hektisch. Vielleicht gehe ich in den Wilden Westen ...«

Jonathan war entsetzt. »Das dürfen Sie nicht tun! Der Westen ist viel zu gefährlich für eine junge Dame! Haben Sie nicht gelesen, dass es dort immer noch wilde Indianer gibt? Und Verbrecher wie Jesse James und Billy the Kid?« Die schießwütigen Banditen waren längst tot, aber Jonathan stand mit seiner Meinung, dass sich im Westen nur wenig geändert hatte, nicht allein. In der New York World und in den Dime Novels wurde jede Woche über die gefährlichsten Banditen des Westens spekuliert. Billy the Kid reitet wieder und Jesse James raubt wieder Züge aus waren Schlagzeilen, die immer wieder auftauchten.

Ich glaubte nicht an solche Schauermärchen. Sie waren genauso erlogen wie die Meldungen über New York, die in den Zeitungen des Westens abgedruckt wurden. Ich hatte eine Ausgabe der Denver Post in die Hände bekommen und erstaunt gelesen, dass in New York jeden Tag ein Mord geschah. Das behauptete nicht mal die sensationslüsterne New York World. »Ich passe schon auf mich auf«, beruhigte ich den Buchhalter. Ich trug ihm auf, einen Teil des wertvollen Schmucks und das Haus zu verkaufen, und versprach ihm eine ordentliche Abfindung.

»Das ist sehr großzügig von Ihnen, Miss Clara«, bedankte er sich, »aber haben Sie sich diese Entscheidung auch wirklich gut überlegt? Ihrem Vater würde das Herz brechen, wenn er noch am Leben wäre, wenn ich mir diese Bemerkung erlauben darf. Er würde es niemals verwinden, dass Sie das Haus und einen Teil des Familienschmucks veräußern! Und Ihre Mutter würde ...«

»Die Zeiten haben sich geändert«, unterbrach ich den Buchhalter seufzend. »Als meine Eltern lebten, gab es noch keinen Isaac Levinsky, der uns die Luft abschnürte, und wir hatten so viel Geld, dass nicht einmal die Eskapaden meines Bruders ins Gewicht fielen. Heute würde mein Vater genauso handeln, da bin ich ziemlich sicher.« In Wirklichkeit war ich überhaupt nicht sicher, ich bezweifelte sogar, dass mein Vater das Haus verkauft hätte, aber ich wollte nicht länger darüber diskutieren. Ich hatte eine spontane Entscheidung getroffen und durfte nicht mehr daran rütteln. Nur dann hatte ich die Chance auf einen neuen Anfang. In New York würde ich immer abhängig bleiben, von einem Mann, einem Arbeitgeber oder einer Bank, wenn sie mir einen neuen Kredit zur Verfügung stellte. Eine innere Stimme befahl mir, etwas vollkommen Neues zu wagen, und ich hörte darauf. »Sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie das Haus und den Schmuck verkauft haben, Jonathan.« Ich stand auf und lächelte ihn aufmunternd an. »Und lassen Sie sich nicht unterkriegen! Denken Sie an meinen Großvater! Der hat die Schlacht von Gettysburg überlebt und ein erfolgreiches Unternehmen gegründet!«

»Sie sind sehr mutig, Miss Clara!«

Die Damen unseres Kaffeekränzchens waren anderer Meinung, hielten meine Entscheidung für leichtsinnig und wenig damenhaft. Das wurde mir von der Tochter eines befreundeten Geschäftspartners zugetragen, die sich wohl dafür rächen wollte, dass ich ihr beim letzten Ball die Schau gestohlen hatte. Alle Männer hatten mein schönes Kleid bewundert und die begehrtesten Junggesellen der Stadt hatten mit mir getanzt. Ich hätte ihr gerne gesagt, wie wenig mir diese Männer bedeuteten und dass ich auch alleine recht gut zurechtkam, aber sie hätte nicht auf mich gehört. Bei ihr drehte sich alles um Männer. Ihr Vater hatte andere Sorgen, sah die Zukunft seiner Firma in Gefahr, wenn Isaac Levinsky die Preise drückte. Ich machte ihm keine falschen Hoffnungen. Als ich ihm sagte, dass ich die Stadt verlassen würde, blickte er mich ungläubig an. Er konnte nicht verstehen, dass eine Dame allein in eine ungewisse Zukunft zog.

Ich verstand es selber nicht ganz, lag auch in dieser Nacht wieder lange wach und versuchte meine Gedanken zu ordnen. Ich wusste nicht, wohin ich gehen sollte, aber ich war froh, wenigstens eine Entscheidung getroffen zu haben. Ich würde New York verlassen, irgendwo anders neu anfangen. Mit dem Geld, das ich durch den Verkauf verdiente, würde ich mir eine neue Zukunft schaffen. Ohne meinen Bruder. Ich hatte lange genug unter seinem eigenwilligen Lebensstil gelitten. Er würde genauso viel Geld wie ich bekommen, dann war ich auch die moralische Verpflichtung los, mich um ihn zu kümmern. Robert war mein Bruder, aber ich hatte keine Lust, mit ihm unterzugehen. Wenn er die Chance nicht nützte, war ihm nicht mehr zu helfen.

Spätnachts, als der Mond direkt durch mein Fenster schien und ich in einen Halbschlaf gesunken war, wurde ich durch ein vertrautes Geräusch geweckt. Ich schreckte hoch und trat ans Fenster. Ich schlief nie mit geschlossenen Vorhängen, obwohl ich keine Angst im Dunkeln hatte, und konnte deutlich sehen, wie unsere Kutsche vor dem Haus hielt. Die Tür wurde aufgestoßen und Robert torkelte auf den Bürgersteig. Er schien betrunken zu sein und versuchte verzweifelt seinen Zylinder aufzusetzen. Es gelang ihm nicht. Ich wartete vergeblich darauf, dass eine Frau aus der Kutsche stieg, aber er blieb allein. Anscheinend war seine Anziehungskraft verblasst, seit bekannt war, dass wir unsere Fabrik an Isaac Levinsky verkauft hatten.

»Darf ich Ihnen helfen, Sir?«, fragte der Kutscher und griff nach dem Arm meines Bruders. Robert stieß ihn unwirsch zur Seite und wankte auf den Eingang zu. Unser Diener, der jedes Mal aufstand, wenn Robert von einem seiner nächtlichen Ausflüge zurückkehrte, hatte bereits die Tür geöffnet und ich beobachtete angewidert, wie mein Bruder lallend ins Haus taumelte. Ich verabscheute betrunkene Männer, nippte selber nur am Alkohol, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Ich hatte zu oft gesehen, wie der Alkohol die Gedanken eines Menschen beeinflusste, und wollte nicht, dass mir etwas Ähnliches passierte. Ich war stolz auf meinen klaren Verstand und wollte mich auf ihn verlassen können.

In der Eingangshalle stieß Robert gegen eine Marmorstatue. Das tat er jedes Mal, wenn er in diesem Zustand nach Hause kehrte. »Verdammt!«, fluchte er auch jetzt. Normalerweise wankte er anschließend in sein Schlafgemach, aber diesmal hörte ich Schritte auf der Treppe und die verzweifelte Stimme unseres Dieners: »Aber Sie können Ihre Schwester nicht wecken, Sir! Miss Wynn schläft! Ich bitte Sie, Sir! Kommen Sie zurück!« Die Schritte kamen immer näher und ich hörte, wie er gegen die Wand stieß. Meine Schlafzimmertür wurde aufgestoßen.

»Hallo, Schwesterherz!«, lallte mein Bruder.

Ich war auf sein Eindringen gefasst und bereits damit beschäftigt, die Kerosinlampe auf der Anrichte zu entzünden. Ich drehte den Docht höher und erschrak, als Robert die Tür hinter sich zuwarf und seine Gestalt vom Lichtschein erfasst wurde. Sein dunkler Anzug war schmutzig, die Krawatte hing lose über dem fleckigen Kragen und seine rotblonden Locken waren zerzaust. Seine Haltung war unnatürlich, ein Bein war zur Seite gestemmt, das andere ragte weit nach vorn. Unter flackernden Augenlidern betrachtete er mich wie einen Menschen, den er zutiefst verabscheute. Er deutete mit dem Zeigefinger auf mich. »Du ha-hast mich be-betrogen, Schwesterherz!«

»Du bist betrunken, Robert!«

»Na-natürlich bin ich be-betrunken«, lallte er. »Was hä-hätte ich denn so-sonst tun sollen, hm? Du ha-hast unsere Firma verkauft und je-jetzt stehen wir bei-beide auf der Straße! Wa-warum hast du das ge-getan? Wo-wovon soll ich le-leben, verdammt?«

Ich blieb neben der Anrichte stehen, redete mir ein, dass es keinen Sinn hatte, wegen meines betrunkenen Bruders die Nerven zu verlieren, aber sein Anblick reizte mich: »Ich habe deine Schulden bezahlt«, sagte ich heftig, »und dann war nichts mehr übrig! Wir haben das ganze Geld in die neue Fabrik und die neuen Maschinen gesteckt, hast du das vergessen? Wir waren pleite und mir blieb gar nichts anderes übrig als alles zu verkaufen. Sonst säßest du jetzt im Gefängnis! Hättest du dich mehr um unseren Betrieb gekümmert, wäre das nicht passiert! Aber du hattest nur dein Glücksspiel und deine Mädchen im Kopf! Wolltest du nicht diese russische Prinzessin heiraten? Wo ist sie denn? Hattest du nicht versprochen, mir die halbe Welt zu Füßen zu legen?«

Robert wankte und stolperte gegen die Wand. Er ließ seinen Zylinder fallen und hielt sich mit beiden Händen an einem Stuhl fest. »Olga, die-dieses Miststück!«, schimpfte er, als wäre seine ehemalige Freundin an unserer Misere schuld. »Sie ha-hat mich be-betrogen! Wenn ich sie er-erwische, schlage ich sie grü-grün und blau! Sie wo-wollte mich hei-heiraten, und nur weil ich vo-rüberge-gehend ...« Er verlor den Faden und schüttelte den Kopf.

»Leg dich ins Bett und schlaf dich aus!«, sagte ich knapp. In diesem Augenblick widerte er mich an und ich hätte ihm am liebsten gesagt, dass kein Penny für ihn übrig war, aber dann erklärte ich doch: »Ich verkaufe unser Haus, den Schmuck und unser Familiensilber! Lass dir deinen Anteil von Jonathan auszahlen! Wenn du endlich zur Vernunft kommst, kannst du mit dem Geld von vorn anfangen.«

»Wie-wie viel ist es de-denn?«, fragte er neugierig.

»Genug«, erwiderte ich, »es reicht für einen Neuanfang. Und vertrau nicht darauf, dass ich dir wieder aus der Patsche helfe! Ich verlasse New York, sobald ich meinen Anteil habe. Für immer!«

»Du ge-gehst?«

»Ich bin schon viel zu lange in dieser Stadt«, erklärte ich, »höchste Zeit, dass ich mir frischen Wind um die Nase wehen lasse!« Ich lächelte. Den Ausdruck hatte ich in einem Abenteuerbuch gelesen.

»Aber du-du bist ei-eine Frau ...«

»Neulich sind ein paar hundert Frauen nach Alaska gefahren, ohne einen einzigen Mann an Bord! Sie wollen am Klondike nach Gold schürfen! Vielleicht sollte ich ihnen nachfahren, hm?«

»Du bi-bist verrückt, Schwesterherz! Du bi-bist verrückt!«

Mein Bruder stolperte aus dem Zimmer und ich hörte, wie er auf der Treppe ausrutschte und einige Stufen nach unten fiel. Sein lautes Fluchen zeigte mir, dass er sich nichts gebrochen hatte. Ich schloss die Tür und kehrte in mein Bett zurück. Ich war wütend auf Robert und brauchte einige Zeit, bis ich mich von unserer Unterhaltung erholt hatte. An Schlaf war in dieser Nacht nicht mehr zu denken. Ich ließ die Lampe brennen und las in meinem Jules-Verne-Buch, bis die ersten Strahlen der Morgensonne zum Fenster hereinfielen und mich in die Wirklichkeit zurückholten. Seufzend ließ ich das Buch auf den Boden fallen.

Ich stand auf und trat ans offene Fenster. Gähnend versuchte ich, die Müdigkeit zu vertreiben. Ich lehnte mich nach draußen und atmete die frische Morgenluft ein. Das Schnarchen meines Bruders war bis in mein Zimmer zu hören und ich spielte mit dem Gedanken, nach unten zu laufen und ihn wachzurütteln, aber mein Verstand sagte mir, dass es besser war, ihn schlafen zu lassen. Manchmal beneidete ich ihn ein wenig um seine lockere Einstellung. Er nahm das Leben auf die leichte Schulter und ließ sich durch den Verkauf unserer Firma nur vorübergehend aus der Ruhe bringen. Ihm machte mehr zu schaffen, dass Olga Danilow seinem aufdringlichen Werben widerstanden hatte, wahrscheinlich die erste Frau, die nicht auf ihn hereingefallen war. Wenn Robert nüchtern war, konnte er sehr charmant sein. Doch wenn die jeweilige Dame erfuhr, dass er kein Vermögen mehr besaß, würden sich auch andere Ladys von ihm abwenden. Und von der Rennbahn und an den Spieltischen würde man ihn verjagen.

Am späten Nachmittag des nächsten Tages verschwand Robert erneut. Wie ich später von Jonathan erfuhr, ließ er sich einen Vorschuss auf die zu erwartende Verkaufssumme auszahlen und setzte sein sorgloses Leben fort. Wenn ich ehrlich bin, war es mir sehr recht, dass er in den folgenden Nächten nicht nach Hause kam. So konnte ich wenigstens durchschlafen. Einige Bekannte fanden anscheinend Gefallen daran, mir zu erzählen, dass er mit einigen leichten Mädchen durch die zweifelhaften Häuser am Broadway gezogen war. Ich fragte mich, woher sie das wussten. Seitdem die Zeitungen darüber berichteten, dass wir unsere Firma verkauft hatten, begegneten mir selbst gute Freunde mit einer seltsamen Zurückhaltung, als hätten sie Angst, unser Unglück könnte auf sie abfärben. Mit einer gescheiterten Geschäftsfrau, die mit einem leichtsinnigen Habenichts verwandt war, wollte niemand etwas zu tun haben.

Ich machte mir nicht viel daraus. Sobald ich New York verlassen hatte, würde ich nie mehr von diesen Leuten hören. Aber wohin sollte ich gehen? Nach Westen? Nach Florida, wo ein gewisser Henry Flagler eine Eisenbahnlinie baute und ein Vermögen machte? Zum fernen Klondike, wo selbst mittellose Abenteurer zu Millionären wurden? Ich dachte an Patrick O'Riley und stellte mir vor, wie ich ihm von meinem letzten Geld eine Fahrkarte kaufte und mit ihm ins ferne Alaska fuhr. Wir würden Millionen verdienen und irgendwo im Nordwesten ein großes Unternehmen gründen, ein Kaufhaus oder eine Bank. Patrick würde einen Anzug tragen und Zigarren rauchen und vielleicht würden wir sogar heiraten. Selbst meine Mutter würde zufrieden vom Himmel herabblicken und sagen: »Das hast du gut gemacht, Clara!«

Während der nächsten Tage blieb mir wenig Zeit zum Träumen. Ich arbeitete im Büro, bis der Verkauf offiziell über die Bühne gegangen war, half bei der letzten Lohnabrechnung und verabschiedete mich bei den Angestellten, die sehr traurig darüber waren, dass ich die Fabrik verkauft hatte. Jonathan war inzwischen damit beschäftigt, das Haus und meinen Schmuck zu veräußern. Auch Isaac Levinsky interessierte sich für mein Wohnhaus, aber ich nahm das schlechtere Angebot eines Zeitungsverlegers an, der aus Harlem wegziehen wollte. Den Schmuck verkaufte Jonathan an einen jüdischen Juwelier, der ganz anders als Isaac Levinsky war, unser Schicksal bedauerte und auf den Tuchhändler schimpfte, während er abrechnete.

An einem dieser Tage hatte ich eine Begegnung, die mir endgültig klarmachte, wie wichtig es war, mich von meinem Bruder zu trennen und New York zu verlassen. Zwei Männer erschienen in dem Haus, das ich am Monatsende verlassen musste, und warteten geduldig, bis John mir den Besuch gemeldet hatte. Ich betrachte nachdenklich ihre Visitenkarte: Oleg und Boris Danilow. Darunter stand der Name einer Handelsfirma. Diese Männer waren die Brüder der russischen Prinzessin und ihr abweisender Gesichtsausdruck ließ ahnen, dass ihr Besuch einen ernsthaften Grund hatte. Ich begrüßte sie höflich und fragte: »Was verschafft mir die Ehre, Gentlemen?«

Oleg Danilow, der größere der beiden Männer, hatte ein kantiges Gesicht mit hervorstehenden Wangenknochen und hellblauen Augen, die beinahe grün wirkten, wenn sich das Licht in ihnen spiegelte. Die Kälte, die von ihm ausging, war fast körperlich zu spüren. Boris Danilow war kleiner und untersetzt und über seinen schmalen Lippen glänzte ein dünner Schnurrbart. Seine Muskeln waren sehr ausgeprägt und ich erfuhr später, dass er jahrelang als Preisboxer unterwegs gewesen war. Erstaunlicherweise wies seine Nase keine Schäden auf, aber ihm fehlten zwei Vorderzähne. Beide Männer trugen schwarze Pelzmäntel und seltsame Fellkappen über ihren blonden Haaren.

»Ich bitte vielmals um Entschuldigung, Miss Wynn«, begrüßte Oleg mich höflich, aber mit finsterer Miene, »wir sind mit Mister Robert Wynn verabredet. Ist er zu Hause?« Sein starker Akzent hing wie eine Bedrohung in der Luft und ich merkte sofort, dass er log. »Könnten Sie nachsehen, Miss Wynn? Es ist wichtig, wissen Sie!«

»Ich weiß, dass er nicht hier ist, Gentlemen!« Ich vermutete, dass mein Bruder ihre Schwester beleidigt oder belästigt hatte und sie Genugtuung verlangten. Wie sich bald darauf herausstellte, lag ich richtig. Nur dass etwas viel Schlimmeres geschehen war. »Darf ich Ihnen eine Tasse Tee anbieten, Gentlemen?«

»Nein, danke«, erwiderte Oleg Danilow. Auch sein Lächeln war düster. »Wissen Sie zufällig, wann Ihr Bruder zurückkommt?«

»Leider nicht«, sagte ich kalt. Ich warf einen Blick auf die Visitenkarte. »Aber ich lasse Sie benachrichtigen, wenn es der Fall ist, einverstanden?« Ich ließ deutlich erkennen, dass ich die Unterredung für beendet hielt, und sagte: »Und wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen wollen? Ich bin Geschäftsfrau und habe viel zu tun.«

Die Männer sahen mich erstaunt an und verabschiedeten sich dann. Ich blickte ihnen nach und kehrte nachdenklich in mein Zimmer zurück. »Was hast du jetzt wieder Dummes getan, Robert?«, seufzte ich.

5

Die Brüder der russischen Prinzessin machten kein Hehl daraus, dass sie mich verfolgten. Wie zwei Detektive, die einen Verbrecher beschatteten, blieben sie in meiner Nähe. Sie standen auf der anderen Straßenseite, wenn ich aus dem Haus ging, und ihre Kutsche war dicht hinter uns, wenn ich mit Jonathan zur Firma fuhr. Sie blieben in der Nähe der Fabrik, solange ich in meinem Büro arbeitete, und sie spazierten vor einem Modegeschäft in der Fifth Avenue auf und ab, als ich die Besitzerin aufsuchte, um ihr mitzuteilen, dass sie sich wegen der neuen Lieferung an Isaac Levinsky wenden müsse. Die misstrauischen Blicke der Russen waren sogar dann zu spüren, wenn sie selbst nicht zu sehen waren, und ich ertappte mich bereits am frühen Morgen dabei, nach ihnen Ausschau zu halten. Wenn ich im Nachthemd aus dem Fenster blickte, parkte ihre Kutsche vor dem Nachbarhaus.

Die Danilows gehörten zur obersten Schicht ihres Landes und hatten sich auch in New York einen tadellosen Ruf erworben. Nur die wechselnden Beziehungen ihrer Schwester bereiteten ihnen Kopfzerbrechen. Entsprechend nervös reagierten sie. Sie rechneten fest damit, dass Robert sich bei mir melden würde, waren anscheinend nicht darüber informiert, dass er oft wochenlang nicht nach Hause kam. Ich nahm ihr Verhalten hin, verlor erst am dritten Tag die Nerven, als ich mit Jonathan in einem Restaurant an der Fifth Avenue zu Abend aß und sie sich an den Nebentisch setzten. Ich vergaß, dass ich eine Dame war, und beugte mich ungeniert zu den beiden Männern hinüber: »Haben Sie nichts Besseres zu tun als mich zu verfolgen?«, fragte ich laut. »Ich denke, Sie leiten ein großes Unternehmen! Haben Sie so viel Zeit? Warum lassen Sie mich nicht in Ruhe? Glauben Sie allen Ernstes, Sie kämen auf diese Weise an meinen Bruder heran? Ich weiß selber nicht, wo er steckt! Lassen Sie mich zufrieden oder ich rufe die Polizei! Haben Sie verstanden?«

Oleg errötete wie ein Schuljunge und wusste nicht, was er erwidern sollte. Boris erhob sich mit geballten Fäusten, schien etwas sagen zu wollen, schwieg aber und setzte sich wieder. Alle anderen Unterhaltungen im Restaurant verstummten. Erst nachdem Oleg einen Schluck von seinem Wein genommen hatte, sagte er leise: »Wir hatten keinesfalls die Absicht, Sie zu belästigen, Miss Wynn, aber Sie müssen verstehen, dass wir alles daran setzen, ihren Bruder zur Rechenschaft zu ziehen.« Sein unnachgiebiger Blick ließ keinen Zweifel an seinem festen Willen, meinen Bruder zu bestrafen. »Er hat unsere Schwester beleidigt! Er hat sie mit Worten bedacht, die ich nicht einmal wiederholen könnte, wenn wir allein wären! Wir fordern Rechenschaft, Miss Wynn! Oder ist Ihr Bruder doch ein Feigling? Richten Sie ihm aus, dass wir auf ihn warten! Er hat die Ehre unserer Familie verletzt!«

Ich zweifelte nicht an seinen Worten und wurde freundlicher: »Mag sein, dass Robert etwas Unbedachtes gesagt hat. Er ist ein leichtlebiger Mensch und hatte sicher zu viel getrunken. Dafür entschuldige ich mich. Aber das gibt Ihnen noch lange nicht das Recht, mich wie eine Diebin zu verfolgen! Was zwischen Ihrer Schwester und meinem Bruder war, geht mich nichts an! Lassen Sie mich in Ruhe! Habe ich mich klar genug ausgedrückt?«

»Natürlich, Miss Wynn«, erwiderte Oleg Danilow, sichtlich um Fassung bemüht. »Aber Sie können uns nicht verbieten, dasselbe Restaurant wie Sie zu besuchen. Dies ist ein freies Land. Das hat man mir jedenfalls versichert, als ich nach Amerika kam.« Er wurde wieder selbstsicherer. »Ein Land, in dem Taugenichtse, die sich an einer Dame vergreifen, streng bestraft werden!«

Dagegen war nichts einzuwenden und ich wandte mich wieder meinem Essen zu. Jonathan war der Zwischenfall sichtlich peinlich. Ich brachte die Unterhaltung auf ein unverfängliches Thema und war froh, als die Danilows endlich gingen. Am nächsten Morgen stand keine Kutsche vor dem Nachbarhaus und ich wollte mich bereits erleichtert in den Salon zurückziehen, als ich Boris Danilow aus einem Automobil steigen sah. Er blieb auf dem Bürgersteig stehen. Sie hatten nicht aufgegeben, hofften immer noch, meinen Bruder zu erwischen, wenn er nach Hause kam. Ich hoffte, dass Robert schlau genug war, sich nicht blicken zu lassen, vielleicht sogar die Stadt verlassen hatte, denn in seinen Kreisen war es beinahe unmöglich, sich auf Dauer zu verstecken. Es gab immer einen zwielichtigen Gesellen, der einen anderen für einen Penny verriet. Ich hätte Robert gern eine Warnung zukommen lassen, immerhin war er mein Bruder, aber ich wusste nicht, wo er sich aufhielt.

Nach ein paar weiteren Tagen hatte ich mich so an die russischen Brüder gewöhnt, dass mir ihre Beschattung nichts mehr ausmachte. Ich grüßte sie sogar, wenn ich an ihnen vorbeifuhr. Allmählich mussten sie doch gemerkt haben, dass ihre Anstrengungen nichts brachten. Robert war mit dem Geld, das er von Jonathan erhalten hatte, untergetaucht und kümmerte sich längst um eine andere Dame. Wie ich ihn kannte, hatte er bereits vergessen, dass er die russische Prinzessin beleidigt hatte. Was immer er gesagt hatte, war ihm über die Lippen gerutscht, weil er betrunken gewesen war. Ich hoffte nur, dass ihm das Glück gewogen blieb und die Brüder ihn nicht entdeckten. Robert war ein leichtsinniger Spieler, aber er hatte es nicht verdient, von einem russischen Edelmann im Duell besiegt zu werden.

Ich ging meinen Verfolgern möglichst aus dem Weg und verbrachte viel Zeit in meinem Heim und wartete darauf, dass der Verkauf des Hauses und der Möbel über die Bühne ging. Sobald ich das Geld hatte, würde ich New York verlassen. Inzwischen wusste ich auch, wohin ich mich wenden würde. Ein längerer Zeitungsartikel über Hannah S. Gould und ihren Women's Clondyke Express bestärkte mich in meiner Absicht, einen deutlichen Schlussstrich unter mein Leben als Fabrikbesitzerin zu ziehen und das Wagnis einer gefährlichen Reise einzugehen. Einer Reise, die zwanzigtausend Meilen rund um Kap Hoorn und in ein fernes Land führte, das ich lediglich aus Zeitungsberichten kannte. Ein wildes und menschenfeindliches Land, das sich mit einer unerbittlichen Natur gegen die Eindringlinge wehrte. Die unermesslichen Goldschätze lockten vor allem mutige Männer nach Norden, aber der Unternehmungsgeist einer Hannah S. Gould bewies, dass auch Frauen zu einem solchen Wagnis fähig waren. Mich lockte weniger das Gold, vielmehr die Möglichkeit, in einer vollkommen anderen Umgebung ein vollkommen neues Leben zu beginnen.

Mit dem Geld, das ich für unser Familiensilber bekam, erwarb ich die Fahrkarte. Ich hatte die ernsthaften Berichte der New York Times aufmerksam studiert und Jonathan beauftragt, sich in den entsprechenden Kreisen umzuhören. Der Buchhalter war nahe daran, die Hände über dem Kopf zusammenzuschlagen, eine Geste, zu der er unter normalen Umständen kaum fähig gewesen wäre, und versuchte mich von meinem wahnwitzigen Plan abzubringen. So nannte er das Unterfangen, zu dem ich mich entschlossen hatte. Er redete auf mich ein, schlug vor, eine neue Firma zu gründen, notfalls in Philadelphia, wenn ich New York unbedingt den Rücken kehren wollte, aber ich hatte mich entschieden. »Ich fahre zum Klondike, Jonathan! Ich will ein neues Leben anfangen und dort laufe ich nicht Gefahr, von der Vergangenheit eingeholt zu werden. Ich habe genug von New York! Ich will etwas anderes versuchen, etwas vollkommen Neues!«

»Aber die Reise ist gefährlich, Miss Clara! Ich habe von Männern gelesen, die während der Fahrt über Bord gegangen oder im ewigen Eis erfroren sind! Sie wissen doch gar nicht, auf was Sie sich einlassen! Sie kommen aus New York! Wissen Sie, wie es am Klondike aussieht? Das Land ist eine Eiswüste, mit tiefen Wäldern und reißenden Flüssen, dort überleben nur starke Männer! Sie sind eine Frau, Clara, Sie sind nicht für diese Wildnis geschaffen! Sie gehören nach New York oder in eine andere Großstadt!«

»Vielleicht fahre ich gerade deshalb«, erwiderte ich. Ich beantwortete seinen ratlosen Blick mit einem Lächeln. »In der Denver Post stand, New York sei gefährlicher als der Wilde Westen! Also machen Sie sich keine Sorgen um mich, ich passe schon auf mich auf!«

Ich buchte eine Passage auf der Philadelphia, einem Segelschiff, das im Auftrag einiger Geschäftsleute aus der gleichnamigen Stadt nach Alaska fahren sollte und bereits im Hafen lag. Eine Gruppe von wohlhabenden Investoren hatte das Schiff gekauft und schickte eine Gruppe von Arbeitern zum Klondike. Sie brauchten keine Tickets zu kaufen, mussten sich aber schriftlich verpflichten, einen Teil ihres Gewinns dem Syndikat zu übertragen. Die anderen Passagiere, ich eingeschlossen, zahlten eine stattliche Summe für die Fahrt. Ich hatte mich für die Philadelphia entschieden, weil Jonathan die Geschäftsleute kannte und ihnen ein gutes Zeugnis ausstellte und das Segelschiff einen robusten Eindruck machte. Auch Dampfschiffe waren zum Klondike unterwegs, aber die New York Times riet davon ab, weil nicht gewährleistet war, dass die Kohle auf der langen Fahrt reichte.

Der Angestellte, der mir das Ticket verkaufte, schwärmte in den höchsten Tönen von der Reise, lobte das luxuriöse Schiff und die bequemen Kabinen und ließ sich in blumigen Worten über den unermesslichen Reichtum aus, der am Klondike angeblich auf mich wartete. »Und warum fahren Sie dann nicht selber, werter Herr?«, konnte ich mir nicht verkneifen zu fragen und wurde mit einem einfältigen Blick belohnt. Der Mann stammelte einige Worte, aber ich winkte ab und bedankte mich freundlich, bevor ich ging. Vor der Tür stieß ich mit Oleg Danilow zusammen.

»Muss ich jetzt Genugtuung verlangen, Mister Danilow?«, fragte ich spöttisch. Ich trat einen Schritt zurück und lächelte gequält.

Der Russe lief rot an und entschuldigte sich tausendmal. »Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten, Miss Wynn, auf keinen Fall wollte ich den Eindruck erwecken ... Es tut mir Leid, Miss Wynn!«

Ich stieg in die Kutsche, ohne etwas zu erwidern, und musste lachen, als wir zur Fifth Avenue zurückfuhren. Meine Mutter hatte mich immer gescholten, wenn ich schnippisch wurde, eine Angewohnheit, die ich von meiner Großmutter geerbt hatte, aber der Angestellte des Syndikats und Oleg Danilow hatten es nicht anders verdient. Ich mochte nicht, dass man mich zum Narren hielt. Ich war kein halbwüchsiges Mädchen mehr, das sittsam den Kopf senkte, wenn ein Mann sprach, war es in Wirklichkeit nie gewesen. Mein Vater hatte mich zu einer selbstständigen Frau erzogen. So schnell ließ ich mich nicht unterkriegen, sonst hätte ich bestimmt keine Fabrik führen können.

Leider wurde ich am Abend desselben Tages eines Besseren belehrt. Wieder klopften Oleg und Boris Danilow an unsere Tür, doch diesmal hatten sie einen Polizisten dabei und ich wurde blass, als er mir die schreckliche Wahrheit eröffnete: »Entschuldigen Sie bitte die Störung, Miss Wynn. Wir suchen Ihren Bruder! Robert Ellis Wynn! Ist das sein Name? Robert Ellis Wynn?«

»Das wissen Sie doch«, antwortete ich dem Polizisten. Und mit einem Seitenblick auf die Russen: »Wird neuerdings die Polizei eingeschaltet, wenn sich ein Mann danebenbenommen hat? Glauben Sie, dass ich ihn verstecke?«

»Er hat es auf unsere Schwester abgesehen!«, rief Oleg Danilow aufgebracht. »Er lässt sie nicht in Ruhe!«

»Überlassen Sie die Sache mir!«, wies der Polizist ihn zurecht. Er wandte sich an mich. »Leider ist die Sache ernster, als Sie vielleicht annehmen, Miss Wynn. Ihr Bruder wird beschuldigt, Olga Danilow tätlich angegriffen und ihr eine wertvolle Brosche gestohlen zu haben. Wie viel ist die Brosche wert, Mister Danilow?«

»Zehntausend Dollar!«, antwortete Oleg Danilow wütend. »Und ich denke gar nicht daran, auf dieses Schmuckstück zu verzichten! Die Brosche ist ein altes Familienstück!« Er drängte sich an dem Polizisten vorbei. »Worauf warten wir noch, Officer? Der verdammte Kerl hat die Brosche bestimmt im Haus versteckt!«

Mir blieb nichts anderes übrig, als tatenlos mit anzusehen, wie der Polizist und die beiden Russen unser Haus durchsuchten. Sogar in meinem Schlafzimmer schauten sie nach. Ich lehnte die ganze Zeit am Treppengeländer, ohne etwas zu sagen. Ich wollte einfach nicht glauben, dass Robert die Verbrechen begangen hatte. Er war ein Glücksspieler und Lügner, auch ein Trunkenbold, aber er war kein Dieb und hatte noch niemals eine Frau geschlagen. Ich beobachtete, wie die Männer in den Salon gingen und sogar eine der kostbaren Vasen umdrehten. »Jetzt reicht es aber!« Endlich erwachte ich aus meiner Erstarrung. »Robert ist nicht hier und Diebesgut werden Sie in meinem Haus auch keines finden!«

Der Polizist schluckte verlegen. »Tut mir furchtbar Leid, Ma'am, aber ich tue nur meine Pflicht. Ihr Bruder wird vom Gesetz gesucht und ich habe den ausdrücklichen Befehl, dieses Haus zu durchsuchen!« Er kramte nach einem Schriftstück und zuckte nervös mit den Schultern, als ich unwirsch den Kopf schüttelte.

»Raus!«, fuhr ich die Männer an. »Verschwinden Sie aus meinem Haus!«

»Sie werden von uns hören«, sagte Oleg Danilow kalt, als er an mir vorbeiging. »Meine Schwester ist eine Prinzessin des russischen Reiches und ich dulde nicht, dass sie wie ein Straßenmädchen behandelt wird! Sagen Sie das Ihrem Bruder! Und sagen Sie ihm auch, dass ich nicht eher ruhen werde, bis er mir Genugtuung für dieses Vergehen gewährt hat! Er hat meine Schwester geschlagen! Und er hat eines unserer kostbarsten Schmuckstücke geraubt! Dafür wird er büßen! Er kann von Glück sagen, wenn ihn die Polizei erwischt, denn wir werden uns nicht damit zufrieden geben, ihn für ein paar Jahre hinter Gitter zu bringen!«

Ich schlug die Tür hinter den Männern zu, würdigte unseren Diener, der verstört in der Eingangshalle erschien, keines Blickes und zog mich in mein Zimmer zurück. Erschöpft ließ ich mich in den Sessel am Fenster fallen. Ich brauchte einige Zeit, um mich von dem Schrecken zu erholen. Die Erkenntnis, dass Robert zu einem gemeinen Kriminellen geworden war, hatte mich tief getroffen. Ich starrte auf das Bild meiner Eltern, war erleichtert, dass sie diese Schmach nicht mehr erleben mussten. Besonders meine Mutter, eine gläubige Frau mit strengen Moralvorstellungen, wäre daran zerbrochen. Mein Vater hätte Robert hinausgeworfen, ihm vielleicht zur Flucht in den Wilden Westen verholfen und darauf gebaut, dass mein Bruder in der Wildnis zu einem anderen Menschen wurde. Ich hatte keine Ahnung, was ich tun würde, wenn ich ihm begegnete.

Am Nachmittag des folgenden Tages sollte ich es herausfinden. Das Geld für unser Haus und den Besitz war eingegangen und ich war bei Jonathan gewesen, der einen größeren Betrag abgehoben und mir in einem Geldgürtel überreicht hatte. »Damit Sie das Geld in der Wildnis nicht verlieren«, war sein wehmütiger Kommentar gewesen. Ich hatte mir den Gürtel unter mein langes Cape gebunden und einen letzten Sherry mit unserem Buchhalter getrunken, bevor ich ihm für seine langjährige Arbeit und seine treue Freundschaft dankte und mit Tränen in den Augen zur Kutsche ging. David war auf dem Bock eingenickt und schreckte hoch, als ich die Tür öffnete. Seine übertriebene Entschuldigung brachte mich zum Lachen. Ich ließ mich auf die gepolsterte Sitzbank fallen und verschluckte mich beinahe. Auf dem Boden, zwischen den Sitzen, saß mein Bruder.

»Robert!«, stieß ich hervor. »Wo kommst du denn her?«

Das war eine dumme Frage, aber ich war so überrascht, dass mir nichts anderes einfiel. Wäre die Lage nicht so ernst gewesen, hätten wir sicher beide gelacht. Er hockte wie ein ängstliches Kaninchen auf dem Kutschenboden und ich starrte ihn entgeistert an. »Du musst sofort verschwinden!«, sagte ich leise.

»Alles in Ordnung, Miss Wynn?«, rief der Kutscher.

»Alles in Ordnung, David«, bestätigte ich rasch. Ich lehnte mich aus dem Fenster. »Bringen Sie mich zum Bahnhof! Ich habe noch etwas Dringendes zu erledigen. Beeilen Sie sich bitte, ja?«

»Wird gemacht, Miss Wynn!«

Die Kutsche holperte und schlingerte hinter dem Zugpferd, als es in eine Seitenstraße ging. Ich beugte mich zu meinem Bruder hinunter. »Warum hast du das getan, Robert?«, fragte ich ärgerlich. »Warum hast du die Prinzessin geschlagen? Warum hast du die Brosche gestohlen?«

»Ich war betrunken, Clara! Ich kann nichts dafür!«

»Du kannst nie was dafür!«, erwiderte ich heftig. »Du verspielst unsere Firma und zerrst den Namen unserer Familie in den Dreck, aber du kannst nichts dafür!« Ich war sehr wütend und hätte ihn am liebsten am Kragen gepackt. »Du bist ein gemeiner Dieb! Wenn dich die Polizei festnimmt, kommst du ins Gefängnis! Und wenn dich die Danilows erwischen, fordern sie dich zum Duell!«

»Haben Sie etwas gesagt, Miss Wynn?«, rief der Kutscher.

»Nichts von Bedeutung, David«, antwortete ich. Es fiel mir schwer, die Fassung zu bewahren. Ich beugte mich noch tiefer zu meinem Bruder hinab und warnte ihn mit gesenkter, aber eindringlicher Stimme: »Du kannst nicht erwarten, dass ich dir dauernd aus der Patsche helfe! Das Haus ist verkauft und meine Mittel sind begrenzt.« Ich öffnete den Geldgürtel und zählte einige Scheine ab. »Hier, der Rest auf deinen Anteil. Wenn ich du wäre, würde ich mir von dem Geld eine Fahrkarte kaufen und so weit wie möglich nach Westen verschwinden! Hier bist du nicht mehr sicher!«

»Sie sind hinter mir her, Clara! Du musst mir helfen!« Die Stimme meines Bruders klang weinerlich und aus seinen Augen sprach Hilflosigkeit. »Die Danilows sind mir dicht auf den Fersen!« Er hielt sich mit beiden Händen an der Sitzbank fest, als die Kutsche durch ein Schlagloch holperte. »Sie hätten mich beinahe erwischt! Wenn ich unsere Kutsche nicht gesehen hätte ...«

»Ich setze dich am Bahnhof ab, Robert.«

»Ich wollte die Prinzessin nicht schlagen, Clara! Ich war betrunken und sie hat mich beschimpft! Dabei wollte ich mir die Brosche nur ausleihen! Ich hätte das Geld zurückgezahlt, bestimmt!«

»Nimm den nächsten Zug!«, sagte ich bestimmt. »Ich werde den Danilows das Geld zurückzahlen. Aber lass dich nie mehr in New York blicken!«

6

Wir fuhren über die 42. Straße nach Osten und hatten gerade den Broadway überquert, als ich zum Rückfenster hinausblickte und merkte, dass wir verfolgt wurden. Die Kutsche der Danilows war keine hundert Meter hinter uns. Glücklicherweise wurde sie aber durch ein schweres Fuhrwerk aufgehalten. »Schneller«, rief ich dem Kutscher zu, »ich hab es eilig!« Es kümmerte mich nicht, dass er misstrauisch wurde und sich verwundert umblickte. Mein Bruder musste so schnell wie möglich zum Bahnhof, wenn er noch eine Chance haben wollte, den Danilows zu entkommen. Ich wollte nicht, dass er ins Gefängnis gesperrt oder von den Brüdern der russischen Prinzessin erschossen wurde. Er hatte betrogen und gestohlen und er hatte eine Frau verletzt, aber er war immer noch mein Bruder. Es war meine Pflicht, ihm zu helfen. Ich würde sogar die kostbare Brosche bezahlen, die er gestohlen hatte. Danach blieb immer noch genug Geld für ein neues Leben übrig. Ich war nicht so anspruchsvoll, wie manche Leute denken mochten.

Auf der Sixth Avenue wichen wir einigen Männern aus, die einen Frachtwagen abluden, und rammten einen Obststand. Der Besitzer rannte fluchend hinter uns her. Ich bereute längst, nicht das Automobil genommen zu haben, war aber froh, dass David seinen ganzen Ehrgeiz daran setzte, möglichst schnell zum Bahnhof zu kommen. Er arbeitete seit vielen Jahren für unsere Familie und würde meine Entscheidungen niemals in Frage stellen. Es hatte ihn nie gestört, dass ich als junge Frau die Pflichten eines Mannes übernommen hatte. Wie loyal er Robert gegenüber war, wusste ich nicht. Es war bestimmt besser, wenn er ihn erst in letzter Minute sah. »Halten Sie, David!«, rief ich.

Das Grand Central Depot lag mitten in der Stadt, an einer belebten Kreuzung, die von zahlreichen Automobilen und Fuhrwerken befahren wurde. Ein Polizist regelte den Verkehr, war aber machtlos gegen den Ansturm an den Werktagen. Vor den mehrstöckigen Häusern waren Frachtladungen abgestellt, lagen Kisten und Säcke auf den Bürgersteigen. Vor dem Bahnhof wimmelte es von Menschen. Dichte Rauchschwaden wehten über die Straße, ein Ärgernis, das selbst von der konservativen New York Times aufgegriffen worden war. In einem längeren Interview hatten der Bürgermeister und einer der Direktoren der New York Central angekündigt einen neuen Bahnhof zu bauen, aber bis dahin würden wohl noch einige Jahre vergehen. Vorerst hielten die Züge noch unter schmucklosen Holzdächern und die Gleise führten über eine der großen Avenues aus der Stadt hinaus. Auf der East Side übertönte das Schnauben der Dampflokomotiven den Verkehrslärm und der Dampf wallte an den mehrstöckigen Häusern empor.

Uns kamen der Trubel und der Dampf gerade recht. »Beeil dich!«, rief ich Robert zu, als er aus der Kutsche sprang. »Ich halte die Danilows auf!« Ich folgte meinem Bruder auf den Bürgersteig und beobachtete zufrieden, wie er in der Menschenmenge untertauchte. David blickte ihm erstaunt nach. Ich wandte mich der Kutsche zu, die hinter uns hielt, und stellte mich den russischen Brüdern in den Weg. Oleg Danilow hielt einen Derringer in der Hand, eine kleine Pistole, wie die Glücksspieler des Wilden Westens sie getragen hatten, und Boris reckte wütend beide Fäuste. »Meine Herren, ich kann alles erklären«, sagte ich rasch.

Die Danilows beachteten mich kaum und wären wohl an mir vorbei gelaufen, hätten sie nicht selbst erkannt, dass eine Verfolgung sinnlos war. Auf der Kreuzung und dem Bahnhof waren zu viele Menschen. Auf den überfüllten Bahnsteigen war es beinahe unmöglich, einen einzelnen Menschen aufzuspüren.

Oleg Danilow steckte seinen Derringer weg und blickte mit verkniffener Miene in den Dampf. »Irgendwann erwischen wir ihn«, sagte er. »Und dann hilft ihm niemand mehr!« Er hielt seinen Bruder zurück, der wutschnaubend in den Bahnhof laufen wollte, beruhigte ihn mit ein paar Worten in russischer Sprache und wandte sich an mich. Seine Stimme klang kalt und gefühllos. »Wenn ich wollte, könnte ich Sie anzeigen! Sie haben einem Verbrecher zur Flucht verholfen!«

»Und Sie bedrohen mich mit einer Pistole auf einem öffentlichen Platz!«, konterte ich erregt. »Auch das ist verboten! Sie wollen das Gesetz in die eigenen Hände nehmen! Wenn mein Bruder festgenommen wird, hat er eine faire Verhandlung verdient oder ist das in Russland anders? Gibt es bei Ihnen noch Lynchjustiz?« Ich hatte nichts gegen Russen und beurteilte auch andere Menschen nicht nach ihrer Herkunft, aber dieser Oleg Danilow war mir unheimlich, ebenso wie sein Bruder. Die beiden Männer waren kalt und unnahbar und schienen kein Herz zu haben. Dabei sagte man gerade den Russen nach, dass sie besonders viel Gefühl besaßen.

»In unserer Familie zählt die Ehre eines Menschen«, erwiderte Oleg Danilow scharf, »und soweit ich weiß, würde man auch in Ihren Kreisen nicht dulden, dass eine Dame beleidigt und bestohlen wird!« Sein Akzent wurde stärker, wenn er wütend war. »Oder bin ich falsch informiert? Ich erinnere mich an einen Gentleman aus Boston, der seinen Schwiegersohn erschoss, weil er mit einer anderen Frau tanzte.« Er lächelte kühl. »Ich werde nicht eher ruhen, bis ich Ihren Bruder gefunden habe! Das schwöre ich! Ich werde ihn aufspüren, egal, wo er sich versteckt!«

Boris Danilow hatte nichts zu sagen, nickte lediglich, wenn sein Bruder etwas scheinbar Bedeutendes bemerkte. Leider machte ich den Fehler, ihn zu unterschätzen. Später sollte ich meine mangelnde Vorsicht bereuen, aber bis dahin würden noch einige Monate ins Land ziehen. Wenn mir damals jemand gesagt hätte, dass mich die Danilows bis zum fernen Klondike verfolgen würden, hätte ich ihn wohl ausgelacht.

Ich wandte mich an Oleg, den Kopf der beiden, und sagte: »Ich werde Ihnen die Brosche ersetzen, Mister. Wenden Sie sich an Jonathan Burke, meinen Buchhalter. Ich hinterlege einen Scheck bei ihm. Es tut mir Leid, dass mein Bruder die Nerven verlor ...«

»Behalten Sie Ihr Geld, Ma'am!«, herrschte er mich an. »Dies ist eine Frage der Ehre! – Die Schuld Ihres Bruders kann nur mit Blut gesühnt werden! Wenn Sie uns jetzt bitte entschuldigen wollen ...«

Die Russen stiegen in ihre Kutsche und ich wartete, bis sie davongefahren waren. Verstört kehrte ich zu meinem Gefährt zurück. David war klug genug mich nicht anzusprechen. Er brachte mich nach Hause und half mir wortlos aus der Kutsche. Auch John, unser Diener, sagte nichts. Ich zog mich in mein Zimmer zurück und packte die wenigen Habseligkeiten, die ich auf die lange Reise mitnehmen wollte, beschloss, die letzten beiden Nächte, die mir bis zur Abfahrt blieben, in einem kleinen Hotel am Hafen zu verbringen. Eigentlich war das nicht nötig. Der neue Besitzer hatte mir großzügigerweise gestattet, bis zur Abreise in meinem Haus zu wohnen, aber ich wollte schon jetzt ausziehen. In dem Hotel würde ich das Gefühl genießen, bereits unterwegs zu sein. Dort würde das Leben, das ich bisher geführt hatte, langsam verblassen, und dort hoffte ich den Kummer zu vergessen, den mein Bruder verursacht hatte. Und ich konnte dort nicht mehr von den Danilows belästigt werden.

Ich ging noch am selben Abend, hinterließ einen Brief für Jonathan Burke, obwohl ich mich längst von ihm verabschiedet hatte. Die Kleider, die ich nicht mehr brauchte, übergab ich einer wohltätigen Vereinigung. Ich ließ mich von David zum Hotel bringen, mietete ein Zimmer mit Hafenblick und verbrachte den Abend damit, am Fenster zu sitzen und die flackernden Lichter auf den Schiffen zu beobachten. Die Philadelphia war nicht das größte Schiff im Hafen, die Dampfschiffe und ein Vollmaster aus New England waren wesentlich größer, aber für mich war sie das schönste Schiff, das ich jemals gesehen hatte, und ich war stolz darauf, zu den Passagieren zu gehören. Die Mannschaft war bereits an Bord, und als ich am nächsten Mittag wieder am Fenster stand und hinüberblickte, entdeckte ich den Kapitän, einen bärtigen Mann in dunkelblauer Uniform, der entschlossen und sicher auftrat und uns wohlbehalten um Kap Hoorn und nach San Francisco bringen würde. Dort würde ich in ein Dampfschiff nach Alaska umsteigen.

Mein letzter Tag in New York verlief denkbar langweilig. Ich hatte alle Geschäfte erledigt und ging nicht mehr aus dem Haus. Ich bereute es nicht, der Stadt den Rücken gekehrt zu haben. Mein neues Leben hatte begonnen und mich hielt nichts mehr in der großen Stadt, die beinahe zwanzig Jahre meine Heimat gewesen war. Es wunderte mich selbst, wie wenig ich an New York hing, wie leicht ich mich von meinem Haus und dem anderen Besitz getrennt hatte. Selbst der Fabrik weinte ich keine Träne mehr nach. Der Geruch von Salzwasser, Teer und Tang, der vom Meer bis ins Hotel drang, betäubte meine Sinne und weckte eine neue Sehnsucht in mir. Ich wollte wissen, was hinter dem Horizont lag. Ich sehnte mich nach einer neuen Erfahrung, wollte ein neues Leben beginnen, ohne die Zwänge, die mir die Gesellschaft in New York auferlegt hatte. Der Lockruf des Abenteuers war stärker als die Gewissheit, ein Leben lang behütet zu sein.

Ich musste lachen, als ich daran dachte, was wohl die Damen unseres Kaffeekränzchens zu meiner Abreise sagen würden. In Gedanken hörte ich sie lästern: »Ich finde es unverantwortlich, wie sich diese Clara Wynn benimmt! Jahrelang führt sie die Fabrik ihres Vaters, anstatt diese verantwortungsvolle Aufgabe einem Mann zu übertragen, wie es sich gehört, und als ihr Bruder die Firma in den Ruin treibt, verlässt sie New York, um in dieser Wildnis weiß Gott was zu tun, also ich kann dieses Mädchen nicht verstehen! Sollte die Erziehung ihrer Eltern denn ganz umsonst gewesen sein? Ich weiß wirklich nicht, was sie sich dabei denkt! Sie soll ihr Haus und sogar das Familiensilber verkauft haben, das habe ich von meinem Mann erfahren! Du meine Güte, was würde wohl ihr Vater dazu sagen? Hat dieses Mädchen denn keinen Respekt vor ihren toten Eltern?«

Ich stützte meinen Kopf in die Hände und betrachtete den Trubel im Hafen. Diese Damen würden wohl nie verstehen, dass das Herz einer jungen Frau auch von einer anderen Sehnsucht als dem Wunsch, eine Familie und Kinder zu haben, beherrscht werden konnte. Warum sollte es den Männern vorbehalten bleiben, über das weite Meer zu fahren und hinter dem Horizont nach Abenteuern zu suchen? Warum wurde eine Frau gezwungen, ihr Leben den Ritualen der Gesellschaft zu opfern? Das Leben, das die meisten Damen der vornehmen New Yorker Gesellschaft führten, war mir zu langweilig. Ich wollte etwas erleben! Das hatte der Bankrott mir auf drastische Weise klargemacht. Zugegeben, mit dieser Einstellung stand ich ziemlich allein in New York, von mutigen Frauen wie dieser Hannah S. Gould einmal abgesehen, aber das kümmerte mich wenig.

Die Philadelphia wurde mit Lebensmitteln, Wasser und unserem Gepäck beladen. Es machte Spaß, den Männern bei der Arbeit zuzusehen. Das lebhafte Treiben im Hafen weckte meine Vorfreude auf die bevorstehende Reise. Sie schufteten hart, diese Männer, wuchteten Kisten, Säcke und Ballen an Bord und schleppten schwere Lasten unter Deck. Einige Männer überprüften die Segel. Vor dem Schiff standen zahlreiche Schaulustige, meist junge Männer aus der Lower East Side, die davon träumten, mit der Philadelphia ins ferne Alaska zu segeln und ein Vermögen zu machen, sich die kostspielige Reise aber nicht leisten konnten. Ich bedauerte diese Jungen. Das Schönste im Leben waren die Träume und es war schlimm, wenn man nur durch das fehlende Geld an der Verwirklichung eines Traums gehindert wurde.

Im trüben Schein einer elektrischen Straßenlampe fiel mir ein kräftiger Junge mit Schiebermütze auf. Seine Locken, die unter der Mütze hervorschauten, leuchteten rot. »Patrick O'Riley!« Ich sprach den Namen aus und wurde mir im selben Augenblick klar, dass ich den irischen Jungen noch nicht vergessen hatte. Der Verkauf der Fabrik und die Sorge um meinen Bruder hatten die Begegnung im Central Park lediglich in den Hintergrund geschoben. Ich sprang auf, warf mir das Cape über und rannte die Treppe hinunter, ohne darüber nachzudenken, dass es sich für eine junge Frau nicht schickte, allein in den Hafen zu laufen. Aber was konnte ich noch falsch machen? Ich lief auf den jungen Mann zu, der in seiner Arbeit innehielt und mich erstaunt anblickte, und blieb erschrocken stehen, als ich erkannte, dass ich mich geirrt hatte. Ich entschuldigte mich verlegen und eilte ins Hotel zurück.

Was war ich doch für eine Närrin! Beklagte mich darüber, dass die Frauen nicht selbstbewusst genug waren, und lief dem ersten Jungen hinterher, der mein Herz gewonnen hatte! Ich schämte mich wie selten zuvor in meinem Leben. In der Hotelhalle blieb ich stehen und betrachtete ein Wandgemälde, ohne es wirklich zu sehen. Es dauerte einige Zeit, bis ich mich wieder einigermaßen gefangen hatte. Natürlich hatte mir der irische Junge gefallen, und ich hätte nichts lieber getan als mit ihm nach Alaska zu fahren, aber er war verschwunden und hatte mich sicher längst vergessen. Ich brauchte ihn nicht, würde mich einem Menschen niemals so sehr ausliefern, dass ich meine Selbstständigkeit verlor. Ich durfte mich auf meinem Weg in eine neue Zukunft nicht ablenken lassen, nicht mal von einem Jungen wie Patrick O'Riley. Ich hatte nichts gegen die Ehe, würde mich aber nur binden, wenn eine solche Liebe nicht bedeutete, dass ich zu einem willenlosen Anhängsel des Mannes wurde.

Zu der Zeit, als ich New York verließ, waren diese Gedanken ketzerisch und die Damen des Kaffeekränzchens hätten mich mit Schimpf und Schande vertrieben, wenn sie davon gewusst hätten. Sie konnten nicht ahnen, dass selbst meine Mutter ihren Kopf durchgesetzt hatte, auch wenn sie auf den Gesellschaften die ergebene Ehefrau meines Vaters gespielt hatte. Aber zu Hause hatte sie es durchaus verstanden, ihre Meinung kundzutun. Ich war weniger diplomatisch, sagte den jungen Männern ins Gesicht, dass ich nicht die Absicht hatte, nach ihrer Pfeife zu tanzen. Wer jahrelang und in meinem Alter eine Firma geführt hatte, ließ sich nicht mehr unterkriegen. Ich wollte als Frau respektiert werden und selbstständig sein.

»Entschuldigen Sie, wenn ich Sie anspreche, aber fahren Sie auch mit der Philadelphia nach San Francisco?«, erklang eine resolute Stimme hinter mir. Ich drehte mich um und sah mich einer kräftigen Dame gegenüber. Sie wog ungefähr dreimal so viel wie ich und war ungefähr doppelt so alt. Ihre Augen funkelten und waren von feinen Lachfalten umgeben. Ihr Gesicht war nicht gepudert, selbst ihre Wangen waren ungeschminkt, und ihre honigblonden Haare waren mit kleinen Kämmen hoch gesteckt. Ihr Kleid war einfach und sauber und den gemusterten Sonnenschirm trug sie wie eine Waffe. »Ich bin Dora Anderson und komme aus Boston«, sagte sie. »Mein seliger Mann und ich hatten dort eine Apotheke. Allein machte es keinen Spaß mehr, den Laden zu führen. Ich wollte weg und dachte mir, in Alaska bist du noch nie gewesen, also kaufte ich mir eine Fahrkarte für die Philadelphia. Darf ich Ihren Namen erfahren, Mrs ...«

»Miss«, verbesserte ich sie, »Miss Clara Wynn. Ich bin nicht verheiratet.« Die Frau war mir sympathisch und steckte mich mit ihrer guten Laune an. Ihre Neugier störte mich nicht. Ich erzählte ihr, dass meine Eltern tot waren und ich die Tuchfabrik verkauft hatte. Selbst den leichtsinnigen Lebensstil meines Bruders und den Grund für den Verkauf verschwieg ich ihr nicht. »Ich will versuchen, mir am Klondike eine neue Existenz aufzubauen.«

»Was die Männer können, das können wir noch lange, was?« Dora Anderson lachte unbekümmert und legte mir einen Arm um die Schultern. »Wollen wir zusammen zu Abend essen, Clara? Ich darf Sie doch Clara nennen, oder?« Ich war einverstanden und sie fügte hinzu: »Heute Abend gibt es geschmorten Braten!«

Wir unterhielten uns blendend und ließen uns auch nicht durch die vorwurfsvollen Blicke eines älteren Ehepaars aus der Ruhe bringen, das es wohl für unpassend hielt, wenn zwei Damen allein speisten. »Bevor ich mich mit einem solchen Dummkopf an den Tisch setze, esse ich lieber allein«, flüsterte Dora mir zu.

Sie war geradeheraus, und was sie sagte, zeigte mir, dass ich nicht die einzige Frau war, die auf eigenen Füßen stehen wollte. »Was war Ihr Mann für ein Mensch, Dora?«, fragte ich.

»Albert?«, meinte sie fröhlich. »Er war ein Versager! Ohne mich wäre er in der Gosse gelandet! Er war ein Tagelöhner, ein Gelegenheitsarbeiter, und hätte ich nicht die Apotheke von meinen Eltern geerbt, wären wir wohl verhungert. Natürlich musste ich die ganze Arbeit machen! Ich hatte jahrelang bei meinen Eltern gelernt und wusste einigermaßen Bescheid.« Sie lachte wieder, aber diesmal klang es nicht so fröhlich wie sonst. »Er wurde von einem Fuhrwerk überfahren, als er betrunken aus einer Taverne kam. Ich hätte besser auf den armen Kerl aufpassen sollen!«

»Warum haben Sie ihn denn geheiratet?«, rutschte es mir heraus.

»Das hab ich mich auch immer gefragt«, erwiderte Dora Anderson lächelnd. »Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht! Wegen seiner braunen Augen vielleicht! Manchmal sah er mich wie ein Hund an, dem man den Knochen weggenommen hat. Albert war ...« Ihr Gesicht verzerrte sich und sie ließ die Gabel fallen. »Entschuldigen Sie«, presste sie hervor, »nur eine vorübergehende ...« Sie drückte beide Hände gegen ihren Magen und rang nach Luft.

»Dora!«, rief ich besorgt. »Was haben Sie?«

»Nichts Ernstes«, erwiderte sie heiser. »Manchmal spielt mein Magen verrückt.« Sie atmete tief ein und schnaufte erleichtert, als die Schmerzen nachließen. »Ich glaube, ich gehe besser nach oben. Ich habe ein Pulver dabei, das wird mir bestimmt helfen!«

»Soll ich Sie begleiten, Dora?«

»Nicht nötig, Clara! Ich komme schon zurecht!« Sie verließ den Speiseraum, winkte mir aufmunternd zu, als sie die Treppe erreichte, und ging auf ihr Zimmer. Ich blickte ihr sorgenvoll nach und nippte an meinem Kaffee.

7

Dora Anderson und ich standen an der Reling, als die Philadelphia aus dem Hafen fuhr. Wir winkten der Menschenmenge zu, die sich am Ufer versammelt hatte und zu den fröhlichen Klängen einer Blaskapelle sang, und hielten uns lachend die Ohren zu, als die Dampfschiffe, die im Hafen lagen, ihre Nebelhörner erklingen ließen. Ich entdeckte Jonathan Burke in der Menge, obwohl ich ihn gebeten hatte, nicht zum Hafen zu kommen, und winkte ihm zu. Und ich ertappte mich dabei, wie ich nach den roten Haaren von Patrick O'Riley suchte. Vergeblich. Ein Schlepper zog uns aus dem Hafen und drehte ab, als wir weit genug von den Docks entfernt waren. An den Masten entfalteten sich die oberen Segel. Der Erste Maat scheuchte die Matrosen mit lauten Befehlen in die Wanten und wir beobachteten staunend, wie die Männer in die Takelage kletterten und in luftiger Höhe arbeiteten. Die Masten waren höher als die meisten Lagerhäuser.

Wir blieben an der Reling stehen und blickten auf New York zurück, das im Glanz der morgendlichen Sonne eher freundlich aussah und nicht erkennen ließ, wie viel Unrecht und Gewalt sich hinter seinen Mauern verbargen. Ich weinte der Stadt keine Träne nach. Ich hatte die ersten neunzehn Jahre meines Lebens in New York verbracht und war bereit für eine neue Herausforderung. Außer Jonathan Burke, unserem Buchhalter, und meinem Bruder ließ ich keine Freunde und Verwandten zurück. Dora ging es ähnlich. Auch sie hatte beschlossen, ein neues Leben zu beginnen. Ihr Mann war tot und es gab nichts mehr, was sie in Boston hielt. Ihre Eltern waren vor ein paar Jahren gestorben. »Jetzt beginnt eine neue Zukunft für uns!«, rief sie in den aufkommenden Wind.

Die Stadt verblasste und vor uns tauchte die Freiheitsstatue auf. Die eiserne Lady, wie sie in den Zeitungen genannt wurde, war größer, als ich vermutet hatte, viel größer als unser Schiff, und wachte mit erhobener Fackel über der Hafeneinfahrt. Ein Symbol für die Freiheit hatte die New York Times die Statue genannt, als sie vor elf Jahren aufgestellt worden war. Dahinter waren die Umrisse von Ellis Island zu erkennen. Auf der kleinen Insel wurden die vielen Einwanderer registriert, die über den Ozean nach Amerika gekommen waren und eine langwierige Untersuchung über sich ergehen lassen mussten, bevor sie den Stempel bekamen, der sie zu amerikanischen Bürgern machte.

Wir blickten ehrfürchtig zu der Statue empor, als ihr Schatten über das Wasser und über unsere Gesichter fiel. Ihr entschlossener Blick gab mir Kraft für die lange Reise, erinnerte mich daran, dass ich eine starke Frau war, die den Tod ihrer Eltern überwunden und eine Tuchfabrik geleitet hatte. Ich hatte viel Anerkennung erfahren, auch vom Bürgermeister unserer Stadt und einer streitbaren Politikerin, die auf ihrem Kreuzzug für die Gleichberechtigung der Frau bei mir vorbeigekommen war. Selbst der Bankdirektor hatte mich respektiert. Ich hatte mich durchgesetzt und würde auch die Herausforderung dieser Reise annehmen.

Die Freiheit war ein hohes Gut, daran erinnerte auch Dora Anderson, als wir an der Statue vorbeisegelten. »Ich wusste nicht, dass sie so schön ist«, sagte sie leise. »Siehst du, wie entschlossen sie in die Ferne blickt? Ich habe oft an die Freiheitsstatue gedacht, wenn Albert betrunken war und ich allein in meinem Bett lag. Ich wollte frei sein und auf einem Schiff wie diesem einer neuen Zukunft entgegenfahren. Jetzt ist es so weit!«

»Die Freiheit«, überlegte ich seufzend, »bis vor ein paar Tagen wusste ich nicht, dass sie mir so wichtig war. Ich war so mit unserer Fabrik beschäftigt, dass ich gar nicht darüber nachgedacht habe. Ich glaube, ich muss meinem Bruder dankbar sein. Ohne den drohenden Bankrott hätte ich diese Reise nie angetreten.«

»Wir werden es schaffen, Clara!«, sagte Dora entschieden.

Die Freiheitsstatue blieb zurück und wir erreichten das offene Meer. Jetzt wurden auch die anderen Segel gesetzt und die Philadelphia durchpflügte die Wellen kraftvoll wie ein Delfin. Das Deck schwankte und wir mussten uns mit beiden Händen an der Reling festhalten. Erst als sich die Segel im Wind blähten und der Segler den richtigen Kurs aufgenommen hatte, wurde es ruhiger. Der Kapitän, den ich schon im Hafen gesehen hatte, erschien auf dem Achterdeck, wechselte einige Worte mit dem Ersten Maat und kam zu uns herüber. Er war ungefähr so alt wie Dora Anderson und wirkte in seiner dunkelblauen Uniform mit den goldenen Knöpfen sehr stattlich. Seine Augen leuchteten auf, als er meine neue Freundin begrüßte, und ich merkte schon jetzt, dass auch Dora erfreut war, den Kapitän zu sehen. »Ich wusste gar nicht, dass der Kapitän sich persönlich um seine Passagiere kümmert«, meinte sie mit einem koketten Augenaufschlag.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Neuausgabe
Jahr
2018
ISBN (eBook)
9783960532217
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Januar)
Schlagworte
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Titel: Die abenteuerliche Reise der Clara Wynn