Lade Inhalt...

Flucht durch die Wildnis

Roman

©2018 198 Seiten

Zusammenfassung

Rasante Unterhaltung: Der Abenteuerroman „Flucht durch die Wildnis“ von Thomas Jeier jetzt als eBook bei jumpbooks.

Die Geschwister Melanie und Philipp werden vom alten Buschpiloten Josh in die Arktis gebracht, wo ihr Vater arbeitet. Plötzlich fallen die Motoren aus, und sie stürzen mitten in der schroffen, kalten Wildnis Alaskas ab. Ganz auf sich gestellt, machen sich die zwei auf den Weg – doch ohne Landkarte und Ausrüstung sind sie in der unerbittlichen Kälte leichte Beute für hungrige Bären. Nur die Hoffnung auf Rettung lässt sie durchhalten. Und tatsächlich: Bald taucht ein Flugzeug am Himmel auf, Melanie und ihr kleiner Bruder wähnen sich in Sicherheit … doch sind die schwer bewaffneten Männer wirklich gekommen, um sie zu retten?

Jetzt als eBook kaufen und genießen: „Flucht durch die Wildnis“ für Leser ab 12 Jahren von Erfolgsautor Thomas Jeier. Wer liest, hat mehr vom Leben: jumpbooks – der eBook-Verlag für junge Leser.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Über dieses Buch:

Die Geschwister Melanie und Philipp werden vom alten Buschpiloten Josh in die Arktis gebracht, wo ihr Vater arbeitet. Plötzlich fallen die Motoren aus, und sie stürzen mitten in der schroffen, kalten Wildnis Alaskas ab. Ganz auf sich gestellt, machen sich die zwei auf den Weg – doch ohne Landkarte und Ausrüstung sind sie in der unerbittlichen Kälte leichte Beute für hungrige Bären. Nur die Hoffnung auf Rettung lässt sie durchhalten. Und tatsächlich: Bald taucht ein Flugzeug am Himmel auf, Melanie und ihr kleiner Bruder wähnen sich in Sicherheit … doch sind die schwer bewaffneten Männer wirklich gekommen, um sie zu retten?

Über den Autor:

Thomas Jeier wuchs in Frankfurt am Main auf, lebt heute bei München und „on the road“ in den USA und Kanada. Seit seiner Jugend zieht es ihn nach Nordamerika, immer auf der Suche nach interessanten Begegnungen und neuen Abenteuern, die er in seinen Romanen verarbeitet. Seine über 100 Bücher wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und mehrfach ausgezeichnet.

Bei jumpbooks erscheint auch:

Die Sterne über Vietnam

Weitere Titel sind in Vorbereitung.

Die Website des Autors: www.jeier.de

Der Autor im Internet: www.facebook.com/thomas.jeier

***

eBook-Neuausgabe Februar 2018

Copyright © der Originalausgabe 1996 by Verlag Carl Ueberreuter, Wien

Copyright © der Neuausgabe 2018 dotbooks GmbH, München

Copyright © 2018 jumpbooks Verlag. jumpbooks ist ein Imprint der dotbooks GmbH, München.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/donatas 1205 (Steampunk-Maschine), Tithi Luadthong (Landschaft mit Flugzeug, Mädchen, Junge)

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (sh)

ISBN 978-3-96053-237-8

***

Damit der Lesespaß sofort weitergeht, empfehlen wir dir gern weitere Bücher aus unserem Programm. Schick einfach eine eMail mit dem Stichwort Flucht durch die Wildnis an: lesetipp@jumpbooks.de

Gerne informieren wir dich über unsere aktuellen Neuerscheinungen – melde dich einfach für unseren Newsletter an: www.jumpbooks.de/newsletter.html

Besuch uns im Internet:

www.jumpbooks.de

www.facebook.com/jumpbooks

Thomas Jeier

Flucht durch die Wildnis

Roman

jumpbooks

Zwei Männer im Kanu

Über den Bergen setzte der Motor aus. Die Cessna bockte wie ein störrisches Tier, wurde von einem Windstoß erfaßt und nach Westen geschleudert. Die aufgeklappte Landkarte, die vor dem Piloten auf den Armaturen lag, rutschte nach rechts und klatschte gegen das eiskalte Fenster. Die beiden Kinder schrien auf und hielten sich verzweifelt an ihren Sicherheitsgurten fest.

Don Edward, der grauhaarige Pilot, klopfte gegen die Tankanzeige. »Verdammt!« fluchte er. »Ich hab ihnen doch gesagt, daß sie das Ding reparieren sollen!«

»Was ist denn?« fragte Melanie nervös.

»Stürzen wir jetzt ab?« rief Philip.

Don schaltete den zweiten Tank ein und atmete erleichtert auf, als der Motor ansprang. Er zog die Cessna nach rechts und kehrte auf den ursprünglichen Kurs zurück. »Sorry«, entschuldigte er sich, »meine Leute haben vergessen, die Tankanzeige zu reparieren.«

»Haben wir noch genug Benzin?«

»Der zweite Tank ist randvoll«, beruhigte Don das Mädchen. »Das hab ich selber überprüft.« Er lächelte sie aufmunternd an. »Keine Bange, Melanie! In meinem Flieger sitzt du sicherer als im Taxi!«

Melanie entspannte sich zögernd. Sie war fünfzehn, beinahe schon sechzehn. Ihre dunkelblonden Haare hatte sie hochgesteckt und eine blaue Strickmütze drübergezogen. Ihr Anorak war rostbraun und reichte weit über die schwarzen Skihosen. Ihre dunklen Augen funkelten nervös.

»Alles okay?« fragte ihr Bruder von hinten. Er hatte sich nach vorn gelehnt. Seine Angst war noch nicht vorbei.

»Wir sind auf Kurs«, antwortete Don Edward. Auch er hatte einen Schrecken bekommen, als der Motor ausgefallen war, aber kaum eine Miene verzogen. Nur ein Buschpilot, der in einer kritischen Situation absolute Ruhe bewahrte, durfte mit sechzig Jahren noch für eine große Gesellschaft fliegen. Und Don war nie etwas anderes als Pilot gewesen. »Ich hab mein ganzes Leben in der Luft verbracht«, sagte er. »Über den Wolken fühle ich mich am wohlsten.« Er ließ sich von Melanie die Karte reichen und legte sie an ihren Platz zurück. »Hab ich euch schon von meiner Landung in Utopia erzählt?«

Die beiden blickten ihn fragend an. Sie kannten die meisten Geschichten des alten Buschpiloten, er erzählte sie ihnen bei jedem ihrer Besuche aufs neue, aber von Utopia Creek hatten sie nie etwas gehört. »Erzähl«, forderte Melanie ihn auf. Die Cessna lag jetzt ruhig in der Luft, und sie hatte keine Angst mehr.

»Utopia Creek liegt im Norden«, begann der Pilot, »ich flog damals eine Cessna 180 und transportierte Klamotten für die Air Force. Sie hatten eine ziemlich kurze Landebahn da oben, eigentlich war es mehr ein Pfad, den die Jungs mit ihren Stiefeln in den Schnee gestampft hatten. Nun ja, es gab 'ne Menge Schwarzbären in der Gegend, eigentlich ungefährlich, die Biester, aber wenn ich Pech hatte, stapften sie auf der Piste rum, und ich konnte sehen, wo ich mein Baby runterbrachte.« Er rückte seine Sonnenbrille zurecht. »Ist runde zwanzig Jahre her, daß es passierte, vielleicht länger.«

»Hast du einen Bären gerammt?« fragte Philip neugierig. Jetzt hatte auch er sich von seinem Schrecken erholt und fühlte sich wieder sicher. Der Motor der Cessna brummte regelmäßig.

Don lachte. »Einen? Das war 'ne ganze Sippe! Zwanzig, dreißig Viecher turnten auf der Piste rum, als ich die Maschine auf hundert Fuß runterdrückte. Die bewegten sich keinen Meter, obwohl die Soldaten mit großen Prügeln auf sie losgingen. Na, was sollte ich machen? Ich hatte kaum noch Sprit und mußte landen. Ich setzte auf, hüpfte über den ersten und den zweiten Bären und rutschte haarscharf an einer Mutter mit zwei Jungen vorbei. Dann tauchte dieser riesige Bursche vor mir auf. Ich wollte ihm ausweichen, aber da war kein Platz mehr, und ich schlitterte voll auf ihn zu.«

»Bist du wirklich mit ihm zusammengestoßen?« fragte Melanie entsetzt.

»Beinahe«, antwortete Don. »Eine Handbreit weiter nach rechts, und der Bursche hätte 'ne ganz schöne Beule abbekommen. Von mir ganz zu schweigen. Aber er schaffte es irgendwie, unter die rechte Tragfläche abzutauchen, und ich blieb drei Meter weiter im Schnee stecken. War 'ne verdammt knappe Angelegenheit, Leute!«

Der Pilot lachte schallend, als er das Mädchen anblickte und ihre fassungslose Miene sah. »Du glaubst mir nicht, was? Ich will dir was sagen, Melanie, hier oben passieren Dinge, die würde ich nicht mal meiner Mutter erzählen, so unwahrscheinlich sind die!«

Don veränderte das Gemisch und zog die Maschine über einen schneebedeckten Gipfel. Die Kinder blickten staunend nach unten. Der Berg war so nahe, daß ihn die Schwimmer der Cessna beinahe berührten. Schnee wirbelte auf und blieb wie eine Staubwolke über den Felsen hängen, als die Cessna darüber hinwegbrauste.

Sie waren seit einer Stunde unterwegs. Um kurz vor elf waren sie zehn Kilometer außerhalb von Fairbanks gestartet, auf dem klaren See, an dem Don seit vielen Jahren wohnte. Er lebte allein. Seine Frau war vor zehn Jahren umgekommen, ausgerechnet in der Karibik, wo sie zum ersten Mal Urlaub gemacht hatten, und seine beiden Kinder waren schon lange aus dem Haus. Der Sohn arbeitete in einem Hotel in Anchorage, seine Tochter hatte einen Anwalt geheiratet und war mit ihm nach Palm Springs in Kalifornien gezogen.

Über den Tod seiner Frau sprach Don Edward nur mit seinen besten Freunden. Michael Kern, der Vater der Kinder, gehörte dazu. Er war Manager bei einem Ölkonzern und hatte alle paar Wochen in Alaska zu tun, besonders jetzt, nachdem wieder ein Tanker im Prince William Sound verunglückt war. Die Katastrophe war lange nicht so schlimm wie 1989, als die »Exxon Valdez« gegen einen Felsen gelaufen war und viele tausend Tiere gestorben waren, aber der Konzern hatte natürlich alle Hände voll zu tun. Das ausgelaufene Öl mußte abgesaugt, die Öffentlichkeit beruhigt werden. Michael Kern war Werbemann und mußte ständig neue Kampagnen mit den großen Bossen in Anchorage absprechen.

Seine Frau war bei einem schweren Verkehrsunfall ums Leben gekommen, vor sieben Jahren in Hamburg. Seitdem war er mit seinen Kindern allein. Seine Mutter erledigte den Haushalt und schlief im Gästezimmer, wenn er geschäftlich unterwegs war, blieb aber in ihrem Apartment in der Innenstadt wohnen. Wenn er nach Haus kam, kümmerte er sich selber um die Kinder. Er kochte besser als die meisten Mütter, sogar schwierige Gerichte.

Melanie und Philip dachten oft an ihre Mutter. Zwei Jahre lang waren sie bei einem Psychotherapeuten in Behandlung gewesen, und beide hatten ein Schuljahr wiederholen müssen. Wenn sie nachts in ihren Betten lagen, fragten sie den lieben Gott, warum er den Unfall zugelassen hatte, aber sie bekamen keine Antwort. »Eurer Mutter geht es gut«, tröstete ihr Vater sie, »ich wette, sie sitzt im Himmelscafé und schlürft einen Espresso nach dem anderen.« Sie hatte gern Espresso getrunken. »Sie will bestimmt nicht, daß ihr weint, da bin ich ganz sicher. Ihr sollt nach vorn schauen und was aus eurem Leben machen, das will sie! Wollen wir wetten?«

»Aber du weinst doch auch manchmal«, erwiderte Philip. Er war damals erst sechs gewesen. »Neulich im Wohnzimmer, als wir das Video angeschaut haben, da hast du richtig geweint!«

»Weil Mama in dem Video vorkam«, sagte Michael Kern traurig. »Ich vermisse sie genauso wie ihr. Aber wir schaffen es auch ohne sie, das habe ich ihr auf dem Friedhof versprochen!«

Die Cessna schaukelte durch eine Wolke und zitterte leicht. Der Motor klang jetzt lauter, zumindest bildete Melanie sich das ein. Die Tragflächen schwankten unruhig. Wie Nebelfetzen flog die Wolke an ihnen vorbei, dann empfing sie blauer Himmel, und die Maschine lag wieder ruhig in der Luft. Unter ihnen glitten felsige Berghänge hinweg, dazwischen waren tiefe Schluchten und weite Täler zu erkennen. Ein Wasserfall stürzte rauschend in die Tiefe.

»Schaut mal, da laufen Bergziegen!« rief Philip aufgeregt. Er deutete auf die weißen Tiere, die leichtfüßig über einen steilen Berghang kletterten. »Die haben überhaupt keine Angst!««

»Die haben nie was anderes gelernt«, erwiderte Don.

»Irre«, meinte Philip. Er war dreizehn und sah seiner Schwester kaum ähnlich. »Ganz der Vater«, sagten die Verwandten immer, wenn sie zu Besuch kamen. »Der gleiche schelmische Blick, als hätte er gerade was angestellt, die gleiche Nase, wie bei einem Indianer.« Philip trug eine Brille, eine runde mit blauen Rändern, und seine dunklen Stoppelhaare waren unter einer grauen Skimütze mit langen Zacken verborgen. »Mann, du siehst wie die Freiheitsstatue aus!« hatte Melanie gelästert, als er mit der Mütze nach Hause gekommen war. Er hatte nur abgewunken. Sein dicker Anorak war knallrot, auf der Brust leuchtete das Logo eines Basketballclubs. Den Anorak hatte sein Vater in Anchorage gekauft.

»Ist das schon die Arktis?« fragte Melanie. Sie deutete auf die schneebedeckten Berge unter ihnen. Die Sonne stand direkt über dem Flugzeug, und die Aussicht war toller als über den Alpen. »Papa hat gesagt, daß du mit uns in die Arktis fliegst ...«

»Nach Anaktuvuk Pass«, verbesserte Don. »Das ist das Tor zur Arktis. So heißt auch der Nationalpark, den sie dort vor ein paar Jahren eröffnet hatten. Seht ihr die beiden Berggipfel?« Er deutete auf zwei schroffe Felsen, die weit vor ihnen wie riesige Türme aus dem Land ragten. »Dort fängt die Arktis an.« Er steuerte die Cessna über ein Schneefeld und lachte rauh. »Der Gates of the Arctic National Park gehört zu den größten Nationalparks der USA, dabei gibt es kaum Menschen dort. Nur unberührte Wildnis. Ihr würdet keine zwei Tage überleben, wenn ich euch am Flußufer absetzen würde.«

»Und wo leben die Eskimos?« fragte Melanie.

»In Anaktuvuk Pass stehen ein paar Häuser«, antwortete Don, »sogar eine Landepiste gibt es dort. Aber das ist der einzige Ort im Umkreis von hundert Meilen. In einer Stunde sind wir dort, dann zeige ich euch, wie man einen Hundeschlitten fährt.«

»Ehrlich?« fragte Philip begeistert. »Ich hab gar nicht gewußt, daß es die noch gibt. Läßt du mich auch mal fahren?«

»Wenn Davy einverstanden ist«, meinte Don. »Das ist der Pfarrer, der einzige Mann, der dort noch einen Hundeschlitten besitzt. Die Eskimos fahren Snowmobiles. Kannst du mit Hunden umgehen?«

»Philip hat's nicht so mit Tieren«, sagte Melanie ein bißchen von oben herab. »Der zuckt schon zusammen, wenn ihm eine Katze auf die Schultern springt. Du hättest ihn neulich sehen sollen ...«

»Bei Tante Agnes?« wehrte sich Philip empört. »Die hat doch keine Katzen! Das sind wilde Tiere, die sie abgerichtet hat, damit sie ihre Gäste vergraulen! Irgendwann bring ich die Viecher um!«

»Siehst du?« sagte Melanie zu dem Piloten. »Wenn Philip einen Husky sieht, rennt er bis zum Nordpol.« Sie lächelte nachsichtig. »Bei mir ist das was anderes. Ich hab schon mal im Zoo gearbeitet.«

»Im Zoo? Ehrlich?«

»Bei den Elefanten«, berichtete das Mädchen stolz. »Die ganzen Sommerferien hab ich dem Wärter geholfen. Wenn ich groß bin, will ich mal Zoodirektorin werden. Oder Tierforscherin.«

»In Afrika? In der Serengeti?«

»Vielleicht«, antwortete Melanie, »oder in Kanada oder Alaska. Hier gibt's auch viele Tiere. Grizzlys, Elche, Karibus ...«

»... und Wölfe«, ergänzte Don ernst. »Im Park haben sie großen Kummer mit den Biestern.« Er deutete in die Täler hinab, die geheimnisvoll zwischen den Felsen lagen. »Vor ein paar Wochen haben sie eine Karibuherde angegriffen. Das tun sie nur ganz selten, sie lauern sonst nur kranken Tieren auf, die hinter der Herde zurückbleiben. Sie müssen großen Hunger gehabt haben.« Er schüttelte den Kopf. »Wahrscheinlich gibt es zu viele ...«

Don rückte seine rote Baseballkappe zurecht und zog den wollenen Schal über die Ohren. Es war kalt geworden. Die Heizung brummte auf vollen Touren, aber das linke Fenster klemmte, und ein eisiger Luftzug pfiff in die Maschine. Auch Melanie und Philip fröstelten.

Mit Wehmut dachten sie an den vergangenen Abend zurück, als sie mit Don und ihrem Vater am offenen Kamin gesessen hatten. Die Männer hatten heißen Grog getrunken, und für sie hatte es heiße Schokolade gegeben. Don kochte die beste heiße Schokolade zwischen Anchorage und der Eismeerküste. Zum Abendessen hatten sie Karibusteaks gegessen. Sie hatten aus dem Fenster gesehen und den goldenen Himmel bewundert, der erst am späten Abend dunkel geworden war, und dann hatten sie sich auf den Teppich gesetzt und den abenteuerlichen Geschichten des Piloten gelauscht.

Don wohnte zwischen Fairbanks und North Pole, ein paar hundert Meter von der Straße entfernt, in einem romantischen Blockhaus am Waldrand. Wenn man aus dem Fenster blickte, sah man nur Wildnis. Der kurze Sommer neigte sich seinem Ende entgegen, und die Blätter verfärbten sich bereits. Neben dem baufälligen Schuppen am Seeufer lagen die verrosteten Überreste eines Pickup-Trucks, den Philip gleich nach ihrer Ankunft neugierig untersuchte. »He, das ist ein Chevy«, rief er, aber Melanie zuckte nur mit den Schultern. Sie interessierte sich für die rote Cessna, die am Bootssteg vertäut lag und verführerisch funkelte.

»Schau, die sieht richtig gut aus«, sagte sie zu ihrem Bruder. »Hast du schon mal ein so schönes Flugzeug gesehen? Hoffentlich spielt das Wetter mit. Don hat gesagt, wir fliegen in den hohen Norden.«

»Da sind wir doch schon.«

»Noch weiter, bis zum Polarkreis. In die Wildnis, wo es Bären und Elche gibt. Er hat gesagt, wir landen irgendwo auf einem einsamen See und hören dem Loon zu.«

»Loon? Was für 'n Loon?«

»Das ist ein Vogel, Mann! Ein kleiner Vogel, der so schön singt, daß manche Leute sich schon verirrt haben, weil sie seiner Stimme gefolgt sind und nicht mehr auf den Weg geachtet haben.«

»Ich will mich aber nicht verirren!«

Melanie verdrehte die Augen. »Wir bleiben doch beim Flugzeug! Außerdem ist Don bei uns. Der kennt sich besser in der Wildnis aus als die meisten Bären, das hast du doch gehört!«

Sie gingen ein paar Schritte am Ufer entlang und sahen einem großen Vogel zu, der mit ausgebreiteten Schwingen über dem Wasser schwebte, dann plötzlich nach unten schoß und mit einem zappelnden Fisch wieder nach oben stieg. Er verschwand zwischen den Bäumen, die bis dicht ans Seeufer heranreichten.

»Schade, daß Paps nicht mitkommt!« sagte Philip. Er hing sehr an seinem Vater, noch mehr, seit ihre Mutter verunglückt war, und hatte immer Angst, daß ihm auch etwas zustoßen könnte. Als er mal, ohne vorher anzurufen, zu spät aus dem Büro gekommen war, hatte er den ganzen Abend geweint. »Paps ist was passiert!« hatte er gerufen. »Das weiß ich!« Und als Vater endlich nach Hause gekommen war, hatte er sich an ihn geklammert und wollte ihn nicht mehr loslassen.

Melanie winkte ab. »Paps hat zu tun, das weißt du doch. Um den brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Der sitzt den ganzen Tag in diesem gläsernen Büro und hört sich schlaue Reden an. Hast doch gehört, was er gesagt hat. Die Amis quatschen den ganzen Tag und spielen an ihren Computern rum. Bis wir nach Hause kommen, sitzt der längst am Kamin und trinkt seinen Grog.«

Don Edward hatte darauf bestanden, daß sie bei ihm wohnten. Mike, so nannte er den Vater der Kinder, durfte sogar seinen neuen Pickup benutzen. »Genau der richtige Wagen, um es diesen Besserwissern in der Stadt zu zeigen!« lästerte er. »Die sollen lieber was tun, anstatt im Büro zu sitzen und schlaue Reden zu führen.«

»Ich tu doch auch nichts anderes«, sagte Michael Kern.

»Du kommst von weither«, erwiderte Don, »dir bleibt gar nichts anderes übrig, als mit den Typen zu palavern. Aber du magst die Natur. Du warst tagelang mit mir draußen und hast die Bären beobachtet. Du bist ein Trapper, ein deutscher Trapper.«

So etwas Ähnliches sagten sie in Hamburg auch immer, wenn er seinen Büroanzug mit den Jeans und dem Anorak vertauschte und die Kinder im Geländewagen abholte. Jedes zweite oder dritte Wochenende fuhren sie ans Meer oder nach Schleswig-Holstein, um dort zu angeln oder einfach nur den Wellen zuzusehen.

»He, da sind Leute auf dem See!« sagte Philip. Zwei Männer paddelten in einem grünen Kanu über den See, waren in dem abendlichen Dunst aber nur undeutlich zu erkennen. Einer hatte einen Bart, soviel war klar, und der andere trug eine altmodische Strickmütze mit einem weißen Bommel. Beide hielten Angeln in den Händen.

»Angler«, erwiderte Melanie, »hier soll es große Forellen geben.«

»Aber die benehmen sich verdächtig«, ließ Philip nicht locker, »siehst du nicht? Die schauen dauernd zu uns herüber ...«

»Na, und? Wir schauen doch auch hin.«

»Die haben was vor, da gehe ich jede Wette ein!«

»Quatsch!« meinte Melanie abfällig. »Das sind harmlose Angler, die sich ein Abendessen fangen wollen. Oder hast du schon wieder Schiß? Komm, wir fragen Don, der kennt die beiden bestimmt.«

Don blickte aus dem Fenster und schüttelte den Kopf. »Kenn ich nicht, die beiden. Aber leider gehört mir der See nicht. Hier angelt fast immer einer, besonders am Sonntag. Manchmal klopfen sie sogar, weil sie meinen, ich hätte Zimmer zu vermieten.«

Aber Philip gab keine Ruhe und kroch sogar nachts aus seinem Bett, um einen Blick aus dem Wohnzimmerfenster zu werfen. Er tappte auf nackten Füßen hinüber und schaute lange auf den See hinaus. Außer einem Nachtvogel war nichts zu sehen.

»Ich wette, die sind noch draußen!« sagte er, als seine Schwester von der Toilette kam und gähnend im Wohnzimmer erschien.

»Quatsch!« lästerte sie wieder. »Hau dich lieber aufs Ohr, sonst klappst du morgen noch zusammen!« Sie verschwand in ihrem Zimmer und ließ Philip allein in der Dunkelheit stehen.

Wir haben ein Problem

Don Edward lenkte die Cessna 172 über ein weites Tal, das bis zu den schneebedeckten Bergen reichte. Die Gegend war menschenleer, nicht mal die einsame Hütte eines Rangers war zu sehen. Geheimnisvolle Schatten lagen über den Wäldern, und in den klaren Seen spiegelten sich die grauen Wolken. Obwohl es noch keinen Schnee und kein Eis gab, roch die Luft nach Winter.

Der Pilot hatte ein paarmal gegen das klemmende Fenster geschlagen, aber es ließ sich nicht verschieben. Es wurde immer kälter in der Maschine. Der eisige Wind wirbelte durch die Kabine und drang ihnen allen durch die Kleidung. Philip hatte seinen Schal unter dem Anorak hervorgeholt und vor den Mund gebunden. Melanie rieb ihre Hände und hielt sie gegen die Heizung.

»Sorry«, bedauerte Don, »das Fenster klemmt schon seit ein paar Wochen, und ich vergeß immer wieder, es zu reparieren.« Er lächelte. »Aber wir sind bald da, dann könnt ihr euch aufwärmen. Wie ich Davy kenne, hat er eine Kanne mit Pfefferminztee auf dem Ofen stehen. Ich glaube, den trinken sogar die Hunde.«

»Hauptsache, das Zeug ist warm«, hoffte Melanie.

Sie blickte aus dem Fenster und genoß die atemberaubende Wildnis. Auch sie mochte einsame Landschaften und unberührte Natur, das hatte sie wohl von ihrer Mutter geerbt, die immer von Skandinavien und einem abenteuerlichen Trip zum Nordkap geschwärmt hatte. Dazu war es nicht gekommen. »Papa hat einen anstrengenden Job«, hatte sie gesagt, »darauf müssen wir Rücksicht nehmen. Die Fahrt zum Nordkap dauert viel zu lange.« Also wurde eine Kreuzfahrt durch die norwegischen Fjorde daraus. Eine Woche auf einem vornehmen Schiff, gutes Essen, ein Schwimmbad und eine Sauna, auch das war nicht zu verachten.

»Aber nächstes Jahr, da leisten wir uns einen langen Urlaub«, hatte ihr Vater versprochen. »Ich sag dem Boß einfach, daß er die blöden Meetings am Nordkap abhalten soll. Ich klinke mich sechs Wochen aus, und wir fahren in einem alten VW-Bus nach Norden. Ich kann ja mein Handy mitnehmen, wenn er will ...«

Seine Frau hatte scherzhaft die Hand erhoben. »Untersteh dich! Eher werf ich das Ding ins Eismeer! Sonst kehrst du noch auf halbem Weg um, und wir müssen allein zu den Lappen fahren!«

Das war ein Jahr vor ihrem Tod gewesen. Ihr Vater war oft traurig, weil er ihren großen Wunsch nicht erfüllt und sie immer vertröstet hatte. Vielleicht nahm er seine Kinder deshalb so oft auf Reisen mit. »So können wir das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden, und ihr lernt die Welt kennen«, sagte er immer.

Ein leichtes Zittern ging durch die Cessna. Eine Windböe trieb die Maschine nach Westen, und Don mußte etwas tiefer gehen, um besser dagegensteuern zu können. Das Brummen des Motors veränderte sich, als sie zerklüftete Felsen überflogen und das Ufer eines dunklen Sees erreichten. Das Wasser sah eisig aus. Das Spiegelbild des kleinen Flugzeuges zerfloß wie rote Farbe auf dem Wasser und vermischte sich mit den dunklen Schatten der Wolken. Die Sonne leuchtete schwach am Himmel und war nur als weißer Fleck zu sehen.

»Seht ihr die Berge da drüben?« fragte Don. »Da hab ich vor einigen Tagen eine Grizzly-Mutter mit ihren Jungen gesehen. So einem Monstrum von Bär bin ich schon seit Jahren nicht mehr begegnet.« Er blickte die Kinder aufmunternd an. »Wenn ihr Lust habt, fliegen wir mal rüber, und ich zeige euch die Bärenfamilie.«

»Aber nur, wenn du nicht landest!« wollte Philip auf Nummer Sicher gehen. »Ich hab keine Lust, von einer wütenden Bärin zerrissen zu werden. Neulich hab ich im Radio gehört, daß ein Bär aus einem Zirkus ausgebrochen ist und eine Frau gefressen hat!«

»Das war doch was anderes!« beruhigte Melanie ihren Bruder. »Zirkusbären sind aggressiv, weil sie in Gefangenschaft leben. Die Grizzlys, die da unten leben, gehen den Menschen aus dem Weg. Die haben sogar Angst vor ihnen. Stimmt's, Don?«

»So ungefähr«, bestätigte der Pilot. »Deshalb häng ich mir immer ein Glöckchen um, wenn ich in so 'ner einsamen Gegend wie da unten aussteige.« Er schlug auf seine Brusttasche, und es klingelte leise. »Das zeigt den Burschen, wo ich bin.« Er lachte. »Aber wehe, du tauchst unangemeldet im Revier eines Grizzlys auf! Dann hast du nichts mehr zu lachen, besonders wenn er mit Jungen unterwegs ist. So wie die Dame, die wir gleich sehen werden.«

»Meinst du, sie ist noch da?« fragte Melanie.

»Klar«, antwortete Don, »die lebt doch wie im Schlaraffenland da unten. Der Fluß wimmelt von Lachsen, und in den Tälern gibt es frische Beeren. Für so ein Essen zahlst du in Anchorage zwanzig Dollar, wenn du Glück hast. Was ist? Wollen wir?«

»Natürlich«, stimmte Melanie sofort zu. Sie blickte auf ihre bunte Armbanduhr, die sie im Duty Free Shop gekauft hatte. »Wir haben doch genug Zeit, oder? Es ist gerade erst zwölf vorbei ...«

»Und das Mittagessen hab ich dabei«, meinte Don begeistert. Er schlug mit der freien Hand gegen die Leinentasche, die unter seinem Sitz stand. »Sandwiches und heißer Tee.«

Er lenkte die Cessna in eine scharfe Linkskurve und nahm Kurs auf die scharfkantigen Felsen, die im Westen aus dem Boden wuchsen. Er freute sich darauf, den Kindern die wilden Schluchten zeigen zu können, die er schon vor einigen Tagen überflogen hatte. Er war für die Regierung unterwegs gewesen, die das unbewohnte Land im Norden neu vermaß und wissen wollte, was die Kälte des letzten Winters der Brooks Range angetan hatte. Es war eisig kalt gewesen, kälter als sonst, und die heftigen Blizzards hatten das Land so stark verändert, daß selbst erfahrene Trapper lange brauchten, um sich in der neuen Umgebung zurechtzufinden, vor allem in der gewaltigen Gletscherregion.

Die Kinder klebten an den Fenstern. Der Yukon River lag schon weit hinter ihnen, und sie befanden sich immer noch über dem gewaltigen Gebirge, das die baumlose Tundra des hohen Nordens vom zentralen Alaska trennte.

Ein wildes und ungezähmtes Land mit gewaltigen Berggipfeln, tiefen Schluchten und kalten Seen. Die bunten Blumen des Hochsommers waren bereits verwelkt, und das Land duckte sich bereits unter dem kalten Wind, der einen weiteren strengen Winter ankündigte. In der Ferne leuchteten die schneebedeckten Gipfel, die das Tor zur Arktis bildeten. Die weite und baumlose Tundra erstreckte sich bis zum fernen Horizont.

Philip blickte mit gemischten Gefühlen nach draußen. Das weite Land beeindruckte ihn, aber es erschreckte ihn auch, und er mußte ständig an hungrige Wölfe und wilde Grizzlys denken. Was war, wenn sie abstürzten? Es wußte doch niemand, wo sie waren, oder hatte Don irgendeiner Station über Funk mitgeteilt, daß sie vom geplanten Kurs abgebogen waren? Wenn es nach Philip gegangen wäre, hätten sie auf den Anblick der Grizzly-Dame verzichtet. Aber das wollte er vor seiner Schwester nicht zugeben, die behandelte ihn sowieso ständig wie einen kleinen Jungen.

»Starke Gegend«, meinte er betont lässig. Er hatte seine Stirn gegen das Fenster gelehnt und spürte das Zittern der Maschine, die jetzt wesentlich tiefer flog. Seine Haut klebte an der kalten Scheibe. »Hast du den Leuten gesagt, wo wir hinfliegen?«

»Den Leuten in Anaktuvuk?« Don winkte ab. »Die wissen doch, daß ich gern mal 'nen Schlenker mache. Sind nur ein paar Meilen, dann gehen wir auf unseren ursprünglichen Kurs. Du hast wohl Angst, daß ich wieder einen Bären über den Haufen fahre?«

»Ich meine nur«, wich Philip aus, »wegen der vielen Felsen und dem Wald, der hört ja gar nicht mehr auf. Hast du keine Angst, daß du dich verfliegst? Die Berge sehen doch alle gleich aus.«

Don Edward lachte. »Nicht für mich«, erklärte er, »und nicht für die Karte.« Er schlug auf die Landkarte, die wieder nach links gerutscht war. »Außerdem kenne ich die Gegend wie meine Westentasche. Siehst du den Felsen da unten? Das komische Ding, das wie ein Indianerkopf aussieht? Das ist der Indian's Head, da hab ich mal einen Trapper aufgelesen. War in einen Blizzard gekommen, der arme Kerl, und hatte seine ganzen Vorräte verloren. Der wäre ohne mich glatt verhungert. Ich kam zufällig vorbei.« Er schob seine Sonnenbrille nach hinten. »Jeder Felsen, jeder Baum hat hier eine Geschichte.«

»Dann kannst du dich ja nicht verirren«, meinte Philip. Er wollte sich auch selbst Mut machen und lächelte zuversichtlich. Nach einer Weile fragte er: »Und was ist, wenn wir notlanden müssen?«

»Wär' 'ne verdammt unangenehme Sache«, antwortete Don, »weil dann wahrscheinlich die Heizung ausfällt. Aber runter krieg ich das Baby immer, das garantiere ich dir. Ich flieg mein ganzes Leben in den Bergen rum und war noch nie in Lebensgefahr.«

Melanie lachte. »Außer bei den Bären in Utopia Creek.«

»Das stimmt«, erwiderte Don kichernd, »der Teddy hätte mir wahrscheinlich eine gelangt, wenn ich ihn gerammt hätte.«

»Und wie würden sie uns finden?« fragte Philip. Er hatte die Stirn wieder am Fenster und blickte auf die schroffen Berge hinab. Er hatte Angst vor den kahlen Gipfeln, ein bißchen jedenfalls, und er stellte sich dauernd vor, was passieren würde, wenn sie in dieser Einsamkeit notlanden müßten. »Da ist doch keiner.«

Don erkannte, daß der Junge sich fürchtete. Das verwunderte ihn nicht. Sogar erwachsene Männer, die sich beim Einsteigen noch als tapfere Bärenjäger aufgespielt hatten, bekamen es beim Anblick der gewaltigen Brooks Range mit der Angst zu tun. Die Berge, die Gletscher und die Schluchten konnten furchteinflößend sein, wenn man aus dem Flachland kam und noch nie allein mit der Natur gewesen war. So wie es ihm ergehen würde, wenn er die Einsamkeit verließ und nach New York City ging.

»Siehst du das Funkgerät?« rief Don nach hinten. Und als der Junge nickte: »Wenn wir notlanden müßten, würde ich die Notfrequenz einstellen, die würde die Retter sogar zu uns führen, wenn wir bewußtlos in unseren Gurten hingen.«

»Ehrlich?«

»Ehrlich«, bestätigte der Pilot. »Früher war das noch anders, da warst du ziemlich aufgeschmissen, wenn du dich in den Bergen verirrt hast. Ich hab von Buschpiloten gelesen, die wochenlang in der Wildnis herumgeirrt sind, bevor sie von einem Trapper oder einem Indianer gefunden wurden. Aber heute ist das anders. Wir haben die moderne Technik, auch in diesem kleinen Baby.«

»Wochenlang?« wunderte sich der Junge. Er stellte sich einen Piloten vor, der seine Maschine verloren hatte und ganz allein in der Wildnis leben mußte. Die Chancen standen eins zu hundert, daß man in diesem Gebirge entdeckt wurde, nicht besser als bei einem Schiffbrüchigen, der mitten im Atlantik auf einem Floß dahintrieb. »Kann man denn so lange in der Wildnis überleben?«

»Wenn man sich einigermaßen auskennt«, antwortete Don Edward, »aber ein Zuckerschlecken ist das nicht. Die meisten Piloten, die gerettet wurden, hatten ihre Notausrüstung und ausreichend Verpflegung dabei. Wenn du ein Feuer anzünden und in einen warmen Schlafsack kriechen kannst, hast du schon halb gewonnen. Liegt alles hinter dir!« Er deutete mit dem Daumen nach hinten. »Muß jeder Pilot bei sich haben, wenn er in einer gottverlassenen Gegend wie dieser unterwegs ist.«

»Und wenn nicht?«

»Dann wird es brenzlig«, fuhr Don fort. Er dachte an einen Kollegen, der vor zwanzig Jahren in der Brooks Range geblieben war, und schwieg nachdenklich. Die Cessna des Mannes war explodiert, und er hatte sich meilenweit durch die Kälte geschleppt, bevor er an Unterkühlung gestorben war. »Aber das kann auch harmlosen Touristen passieren«, spann er den Gedanken fort, »mit Unterkühlung ist nicht zu spaßen. Wenn du hier oben in einen Wildbach stürzt und dir deine Klamotten nicht sofort vom Körper reißt, kannst du sterben. Trockene Kleider sind in der Wildnis am wichtigsten, aber das wissen nur wenige Leute.«

Der Motor spuckte, und die Cessna fiel nach unten. Einen Sekundenbruchteil später brummte es wie gewohnt, und Don trieb die Maschine auf die ursprüngliche Höhe zurück. »Sorry«, sagte er laut. Er zog am Gemischhebel. »Ist alles okay, keine Angst!«

Philip hatte sich mit beiden Händen an den Vordersitz geklammert. »Was war das? Ist der zweite Tank auch leer?«

»Nein, nein, keine Bange!«

Auch Melanie war unruhig geworden. Sie merkte fast immer, wenn Menschen sich verstellten, das wußte sie von der Schule, wo sie häufig von den Jungen beschwindelt wurde, weil sie sehr hübsch war und viele Jungen mit ihr gehen wollten. Sie bildete sich wenig darauf ein. »Gutes Aussehen allein reicht nicht«, sagte ihr Vater immer. »Schau die Models an, die sind nach ein paar Jahren wieder vergessen, und kein Hahn kräht nach ihnen.«

»Und haben unendlich viel Kohle«, antwortete sie.

»Was nützt dir das?« erwiderte ihr Vater. »Mit der Kohle allein kannst du die Welt nicht aus den Angeln heben. Du mußt was darstellen, du mußt was gelernt haben, dann kann dir keiner an.«

Melanie schaute den Piloten von der Seite an. Er war genauso nervös wie die Jungen, die ihr falsche Komplimente machten, weil sie mit ihr in einer dunklen Ecke knutschen und später vor ihren Freunden damit angeben wollten. Nur war Don Edward aus einem ganz anderen Grund nervös. Irgend etwas stimmte nicht.

»Alles okay?« fragte sie.

»Alles okay«, bestätigte er noch einmal.

Der Motor spuckte wieder. Die Cessna geriet in eine Windböe, schlingerte vom Kurs und fiel meterweit nach unten. Die Landkarte rutschte vom Armaturenbrett.

»Verdammt!« fluchte Don.

»Hilfe!« rief Philip in panischer Angst. Er klammerte sich wie ein Ertrinkender an die Sitzlehne und war starr vor Schreck. Er wagte nicht zu atmen, und seine Lippen bildeten einen schmalen Strich.

»Was ist denn los?« rief Melanie.

»Ich weiß auch nicht«, antwortete Don. Er klopfte gegen die Tankanzeige und überprüfte den Brandhahn, der die Spritzufuhr regelte. »Vielleicht sind die Tragflächen vereist.« Er blickte die Kinder aufmunternd an und zwang sich zu einem Lächeln. »Habt keine Angst«, versuchte er sie zu beruhigen. »Ist bestimmt nichts Ernstes. Das kriegen wir schon wieder hin.«

Er zog am Vergaservorwärmer und leitete warme Luft in den Motor, aber auch das nützte nichts. Der Motor setzte erneut aus, und die Cessna schlingerte hilflos in dem böigen Wind. Die Kinder hielten sich verzweifelt fest und blickten hilfesuchend zu dem Mann am Ruder, der sich nicht aus der Ruhe bringen ließ und die Situation immer noch im Griff zu haben schien. Er legte die Maschine in den Wind und kontrollierte erneut die Anzeigen.

»Stürzen wir ab, Don?« fragte Melanie. Auch sie hatte sich etwas von ihrem Schrecken erholt und wirkte erstaunlich gefaßt.

»Keine Bange«, tröstete Don Edward die Kinder. »Ich krieg sie auch ohne Motor runter!« Er lachte gekünstelt. »Ich hab euch doch erzählt, daß mit den modernen Instrumenten nichts mehr passieren kann. Keine Angst, okay?«

Melanie glaubte ihm nicht, drehte sich aber zu ihrem Bruder um und berührte seine Hände. »Hast du gehört, Philip? Es kann gar nichts passieren. Don hat die Sache im Griff, du brauchst keine Angst zu haben!«

Der Junge antwortete nicht. Er klammerte sich so stark an den Vordersitz, daß die Knöchel seiner Hände weiß hervortraten. Sein Gesicht war kreideweiß, und seine Augen flackerten ängstlich. Er hatte Angst, so furchtbare Angst, daß er nicht einmal schrie, als die Cessna erneut in eine Windböe geriet und haarscharf an einem Felsgipfel vorbeischrammte.

»Don!« rief Melanie.

Der Pilot zog die Maschine herum und war sekundenlang damit beschäftigt, sie ruhig im Wind zu halten. Der Motor sprang an, und alle atmeten erleichtert auf. Philip lachte sogar etwas verlegen, aber als der Motor wieder zu stottern anfing und deutlich wurde, daß sie sich in höchster Gefahr befanden, begann er zu weinen.

Don Edward klopfte gegen die Uhr, die den Öldruck anzeigte, und stieß einen lauten Fluch aus. Als Melanie ihn entsetzt anblickte, zuckte er hilflos mit den Schultern. »Wir haben ein Problem«, sagte er nach einer Weile. »Der Öldruck stimmt nicht. Da muß irgend jemand an der Ölleitung rumgeschnipselt haben!«

»Was machen wir jetzt?« fragte Melanie leise.

»Wir landen auf dem See da vorn«, antwortete der Pilot ruhig. Er warf einen schnellen Blick auf die beiden. »Kein Grund zur Panik, okay? Mein Baby fliegt auch mit halber Kraft. Ich bringe euch sicher nach unten.« Er ließ die Cessna in den Sinkflug übergehen und überprüfte noch einmal den Vergaservorwärmer. »Okay«, sagte er laut zu sich selber. »Geschwindigkeit: achtzig Knoten. Zu schnell, mein Junge, zu schnell!« Er schaltete die Notfrequenz ein und hielt das Ruder fest umklammert. »Mach jetzt bloß keinen Mist!« sagte er zu seiner Maschine. »Benimm dich, okay?«

Ein Windstoß trieb die Cessna nach links, aber Don gelang es, die Maschine auf den alten Kurs zu bringen. »Hört mir gut zu!« sagte er zu den Kindern, ohne den Blick von dem See zu nehmen »Haltet euch so fest, wie ihr nur könnt! Falls wir kentern und im Wasser landen, schwimmt so schnell wie möglich ans Ufer! Zieht die Klamotten aus und rubbelt euch gegenseitig trocken! Ich komme mit dem Schlafsack und der Notausrüstung nach.« Er sagte nicht, was sie tun sollten, wenn sich jemand verletzte oder er nicht mehr in der Lage war, mit der Notausrüstung nachzukommen.

Melanie griff nach der Hand ihres Bruders und drückte sie fest. »Hab keine Angst!« sagte sie. »Gleich sind wir in Sicherheit!«

Noch war der See ein paar hundert Meter entfernt. Die Cessna schaukelte über das Eisfeld eines Gletschers, der bis dicht an den See heranreichte und steil zum Ufer abfiel. Schroffe Felsen ragten aus dem Eis, und westlich des Gletschers fraß sich eine tiefe Schlucht in das Halbdunkel des Waldes.

Die Cessna sank immer tiefer, war jetzt dicht über dem Eisfeld. Nur noch zweihundert Meter bis zum rettenden See. »Haltet euch fest! Gleich sind wir unten!« rief Don in das Heulen des Windes. »Euch passiert nichts, okay? Wir schaffen es, Leute!«

Im nächsten Augenblick wurde die Maschine wie von einer Riesenfaust nach unten gedrückt. Die Schwimmer prallten gegen einen Felsbrocken und zerschellten. Die Cessna rutschte auf dem Bauch weiter, holperte über den eisigen Boden und raste mit atemberaubender Geschwindigkeit auf den Abgrund zu.

Bruchlandung in der Wildnis

Melanie und Philip schrien vor Angst. Eisbrocken knallten gegen die Fenster, und heftige Schläge ließen die Maschine erzittern. Die Cessna berührte mit der rechten Tragfläche den Boden, drehte sich einmal um die eigene Achse und rutschte weiter. Die Landkarte wirbelte durch die Maschine, entfaltete sich in dem Wind, der durch das Fenster hereinpfiff, und klatschte gegen die Wand.

Don wurde nach vorn geschleudert und war kurz davor, das Bewußtsein zu verlieren. Verzweifelt streckte er die Hand nach den Armaturen aus. Wenn er es nicht schaffte, die Zündung und das Gas auszuschalten, würde die Maschine explodieren. Die Cessna drehte sich, und Don stieß mit dem Kopf gegen das Fenster. Er spürte, wie er endgültig das Bewußtsein verlor. Mit letzter Kraft griff er nach den Armaturen.

Melanie schrie aus Leibeskräften. Sie klammerte sich verzweifelt an den Sicherheitsgurt und glaubte sich im Zentrum einer gewaltigen Lawine, die von den Felsenbergen stürzte. Philip hatte beide Hände vors Gesicht geschlagen und schluchzte nur noch leise vor sich hin. Ein Ende der Höllenfahrt war nicht in Sicht. Die Maschine schien immer schneller zu werden, und das Kreischen des Metalls dröhnte immer lauter in ihren Ohren.

Weder Philip noch Melanie sahen, daß die Cessna auf den Abgrund zuraste. Sie spürten nur die heftige Erschütterung, als sie mit der linken Tragfläche gegen einen Eisbrocken stieß, nach links abgetrieben wurde, sich noch einmal um die eigene Achse drehte und mit dem Rumpf über blanken Felsen schrammte. Metallteile gingen zu Bruch und flogen durch die Luft. Die Maschine schlug auf den Felsen, erreichte dunkle Erde und grub sich durch ein Dickicht von kleinen Bäumen und Sträuchern, die den Rand des Abgrunds wie einen grünen Teppich bedeckten. Die Cessna wurde langsamer, stieß noch einmal gegen einen Felsbrocken und blieb mit der Schnauze über dem Abgrund hängen.

Aus dem tosenden Inferno wurde tödliche Stille. Nur noch das Poltern von Metallteilen und Steinen war zu hören. Aufgewirbelte Erde regnete auf den Rumpf der Maschine. Dann verstummten auch diese Geräusche, und die Stille wurde erdrückend.

Melanie atmete tief durch und stellte verwundert fest, daß sie am Leben war. Sie war nicht einmal verletzt. Ihr rechter Arm schmerzte, weil sie gegen die Tür gestoßen war, aber das war nur eine leichte Prellung und kaum der Rede wert. Sie schüttelte ihre Benommenheit ab und blickte ängstlich nach hinten. »Philip! He, Philip! Bist du okay? Sag doch was! Bist du in Ordnung?«

Ein leises Schluchzen war die Antwort. Der Junge hing erschöpft in seinem Sicherheitsgurt und merkte gar nicht, daß die Maschine stand. »Papa!« jammerte er.

»Es ist vorbei, Philip«, beruhigte Melanie ihren Bruder. »Wir haben es geschafft!« Sie griff nach seiner Hand. »Bist du verletzt?«

Philip schniefte laut und wischte sich mit beiden Händen über die Augen. Sein Gesicht war schmutzig, und seine Augen waren rot vom vielen Heulen. Er blickte sich zögernd um und kapierte nur langsam, daß die Maschine den Absturz einigermaßen überstanden hatte und seine Schwester und er nicht einmal verletzt waren. Sogar seine Brille war heil geblieben. Seine Hände taten weh, weil er sich mit aller Kraft festgehalten hatte, und sein Brustkorb schmerzte vom Druck der Sicherheitsgurte.

Er mußte an die vielen Katastrophenfilme denken, die er im Fernsehen gesehen hatte, und ein Lächeln huschte über sein Gesicht. »Ich bin okay«, sagte er fröhlich, dann fing er erneut zu weinen an, und Melanie nahm seine Hände und drückte sie fest.

»Wir haben es überstanden«, sagte sie sanft.

Der Junge schniefte weiter und schreckte erst hoch, als sich irgendwo ein Metallteil löste und scheppernd zu Boden fiel. Sein Körper erstarrte. »Was war das?« fragte er ängstlich.

»Nichts Schlimmes«, beruhigte Melanie ihn. Sie kramte ein Taschentuch aus ihrem Anorak und reichte es ihm.

Philip putzte sich lautstark die Nase. Er rieb sich die 'Tränen aus den Augen und sah erst jetzt, daß Don Edward leblos in seinem Sicherheitsgurt hing. Er blutete aus einer Kopfwunde. »Don!« rief er in aufkommender Panik. »Don! Don! Wach doch auf!«

Melanie erschrak. Sie beugte sich über den leblosen Piloten und untersuchte vorsichtig seine Wunde. Sie hatte einen Erste-Hilfe-Kurs in der Schule mitgemacht und erkannte sofort, daß er ernsthaft verletzt war. Mit zitternden Fingern untersuchte sie seinen Puls. »Nichts«, sagte sie leise. Sie rieb ihre Hände gegeneinander und versuchte es noch einmal, aber auch jetzt fühlte sie das Pochen des Herzens nicht. »Es ist zu kalt«, tröstete sie sich.

»Ist er tot?« fragte Philip ängstlich.

»Ich weiß nicht«, antwortete sie ehrlich, »auf jeden Fall ist er schwer verletzt.« Sie fand ihren alten Unternehmungsgeist wieder. »Komm, wir müssen hier raus! Wir müssen ihn verarzten und in eine warme Decke wickeln. Siehst du irgendwo den Verbandskasten?«

»Der ist bestimmt bei der Notausrüstung.« Philip blickte sich um, aber hinter seinem Sitz war alles durcheinandergefallen, und der Koffer mit der Notausrüstung war nicht zu sehen. Der Junge schob eine Plastikverkleidung zur Seite, die während der Notlandung von der Wand gefallen war. »Er ist nicht hier!«

»Vielleicht ist er rausgefallen.«

Philip beugte sich über den Sitz nach hinten und wollte gerade einen Beutel mit alten Lumpen aufheben, als die Maschine zu quietschen und zu schaukeln begann. Er erstarrte mitten in der Bewegung. »Was war das?« flüsterte er starr vor Angst.

Seine Schwester blickte nach vorn und spürte, wie eine eisige Hand nach ihrer Kehle griff. Sie bekam keine Luft und war unfähig, etwas zu sagen. Entsetzt erkannte sie, daß die Maschine mit der Schnauze über einem Abgrund hing und jeden Augenblick in die Tiefe stürzen konnte. Ein Windstoß oder eine falsche Bewegung von ihnen beiden genügte.

»Melanie! Was ist denn?«

»Rühr dich nicht!« antwortete das Mädchen leise. »Wir hängen über dem Abgrund! Eine falsche Bewegung, und wir stürzen ab!« Sie wagte nicht einmal, den Kopf zu drehen und hielt ängstlich die Luft an, als die Maschine erneut zu schaukeln begann. Der Wind brauste kalt vom Gletscher herab und wollte das unerwartete Hindernis mit aller Macht aus dem Weg räumen.

Philip war blaß geworden. »Was machen wir jetzt?«

»Wir müssen hier raus! So schnell wie möglich!« antwortete sie leise. »Sobald ich die Tür aufgemacht habe, springen wir raus, okay? Dann rennen wir um das Flugzeug herum und holen Don.«

»Das schaffen wir nie«, meinte der Junge.

»Na, klar!« Melanie wollte nicht zugeben, daß sie genausowenig Hoffnung hatte wie ihr Bruder, aber sie wußte natürlich, daß die Maschine schon abstürzen konnte, wenn sie die Tür öffnete.

»Sei bloß vorsichtig!« mahnte Philip. Komischerweise dachte er jetzt ausgerechnet an einen U-Boot-Film, den er vor einiger Zeit auf Video gesehen hatte. Ein riesiges Unterseeboot wurde beschossen und sank auf den Meeresgrund. Es blieb auf einem Felsvorsprung liegen und wäre noch tiefer gesunken und zerplatzt, wenn die Männer nicht rechtzeitig den Antrieb repariert hätten. Das war eine Sache von Sekunden gewesen, und er sah die verschwitzten und ängstlichen Gesichter deutlich vor sich.

»Philip! He, Philip!«

»Alles okay«, erwiderte er.

»Öffne die Sicherheitsgurte! Du mußt sofort springen, wenn ich die Tür aufgemacht habe!« Melanie machte es ihm vor und wartete, bis er die Gurte zur Seite geschoben hatte. Dann legte sie ihre rechte Hand an den Metallhebel. Sie holte tief Luft, bevor sie daran zog. Die Tür bewegte sich nicht. Metall schabte über den nackten Fels, und die Maschine schwankte bedrohlich.

»Was ist?« fragte der Junge entsetzt.

»Die Tür klemmt!«

»Versuch's noch mal!«

Melanie zog erneut an dem Hebel. Obwohl es bitterkalt war, spürte sie Schweißtropfen auf ihrer Stirn. Diesmal gab die Tür nach. Der Wind fuhr dazwischen und riß sie dem Mädchen aus der Hand. Die Cessna schaukelte bedrohlich. Sie neigte sich nach vorn, hing sekundenlang in der Luft und sank langsam zurück. Ein Seitenruder brach ab und fiel zu Boden.

Die Kinder hielten den Atem an. Von draußen pfiff der kalte Wind herein und zerrte an ihren Kleidern. Die rote Baseballkappe flog vom Kopf des reglosen Piloten, wirbelte durch die Kabine und die offene Tür nach draußen. Die Landkarte wurde hochgeschleudert und auseinandergerissen. Mit einem unheimlichen Scharren und Quietschen kippte die kleine Maschine nach vorn.

»Raus!« schrie Melanie in wilder Panik.

Die Kinder sprangen aus dem Flugzeug. Gerade noch rechtzeitig fielen sie zwischen die Sträucher auf den harten Boden. Die Zweige schlugen ihnen wie Peitschenhiebe ins Gesicht. Sie rollten vom Abgrund weg und blieben schwer atmend liegen.

»Das Flugzeug!« schrie Philip.

»Don!« rief Melanie verzweifelt.

Die Cessna bewegte sich knarrend und sank nach vorn. Ihr Bug schwebte über dem Abgrund. Der Wind schlug die Tür zu und verfing sich pfeifend in dem beschädigten Rumpf. Langsam rutschte die Maschine nach unten. Sie kippte über den Felsrand und stürzte langsam, fast wie in Zeitlupe, in die Tiefe. Die Kinder beobachteten fassungslos, wie das kleine Flugzeug aus ihrem Blickfeld rutschte und zerfetzte Sträucher und Steine mitriß.

Sekundenlang herrschte absolute Stille. Die Luft hielt den Atem an, wie vor einem Sturm, und selbst der Wind schien einen Augenblick zu verstummen. Dann brach ohrenbetäubender Lärm das Schweigen. Man hörte das Kreischen von Metall und das Poltern von schweren Teilen. Eine gewaltige Explosion zerriß die Luft, und über den Felsen erschien eine schwarze Rauchwolke.

»Don!« rief Melanie wieder.

Die Kinder sprangen auf und rannten zum Rand des Abgrunds. Erst jetzt erkannten sie, wie nahe sie dem Tod gewesen waren. Die Schlucht war über hundert Meter tief, ragte neben dem Gletscher keilförmig in den felsigen Berg und wirkte bedrohlich wie das gierige Maul eines wilden Tieres. Ein schmaler Fluß sprudelte über den Grund und ergoß sich weiter westlich in den See.

Auf dem Grund der Schlucht lag das, was von der Cessna übriggeblieben war. Wie der Abfall eines Riesen lagen die roten Teile des kleinen Flugzeuges auf dem Boden verstreut. Aus dem Rumpf züngelten Flammen, stieg schwarzer Rauch nach oben. Die Baseballkappe des Piloten tanzte auf den Wellen des Flusses und wurde von der reißenden Strömung durch die Schlucht getragen. Sein Körper war nirgendwo zu sehen.

Philip wurde schwindlig. Er klammerte sich an seine Schwester und brauchte lange, bis er ein Wort herausbekam. »Don!« sagte er. »Don liegt da unten! Er ist tot!« Er blickte Melanie mit verweinten Augen an. »Er ist in der Schlucht! Wir müssen was tun!«

»Wir können nichts mehr tun«, erwiderte das Mädchen leise. Sie umarmte ihren Bruder und drückte ihn fest an sich. »Aber ich glaube, er war schon tot, als ich ihn untersucht habe.«

»Ehrlich?«

»Ich glaube schon.«

»Dann hat er nichts mehr gespürt«, meinte Philip erleichtert. Er atmete tief durch und löste sich langsam von seiner Schwester. »Oder meinst du, wir hätten ihn retten können? Er sah noch so lebendig aus, als wir aus dem Flugzeug gesprungen sind.«

»Er war tot, bestimmt.«

»Gott sei Dank!« Irgendwie war das wichtig für den Jungen. Er hoffte, daß Don einfach ohnmächtig geworden und woanders wieder aufgewacht war. »Meinst du, sie lassen ihn dort auch fliegen?«

»Wo?«

»Na, wo er jetzt ist. Dort drüben.«

Melanie mußte lächeln, zum ersten Mal seit dem Absturz. »Bestimmt«, beruhigte sie ihren Bruder. »Ich wette, dort wartet schon eine knallrote Cessna auf ihn.«

»Meinst du?«

»Ehrlich, hat unser Religionslehrer erzählt. Nach dem Tod bekommt man das, was man sich das ganze Leben gewünscht oder was man am liebsten gehabt hat.«

»Auch einen coolen Ferrari?«

»Na, klar.«

»Dann ist der Tod gar nicht so schlimm?«

»Nur das Sterben«, wiederholte Melanie die Worte ihres Religionslehrers, »weil man am Leben hängt und sich nicht vorstellen kann, daß auf der anderen Seite ein neues, ganz anderes Leben beginnt. Don hat es gut, da bin ich ganz sicher.«

»Und wärmer ist es dort bestimmt auch«, sagte Philip. Er rieb fröstelnd die Hände gegeneinander und schüttelte sich. »Zum Glück hab ich meine Handschuhe nicht im Flugzeug gelassen.« Die Worte seiner Schwester hatten ihn beruhigt, und er verdrängte den toten Piloten aus seinen Gedanken, zumindest für den Augenblick. »Ist bestimmt zehn Grad unter Null.«

»Das ist der Gletscher.« Auch Melanie war froh, über etwas anderes zu sprechen. »Der Wind weht über das Eis und treibt uns die kalte Luft ins Gesicht. Wind Chill Factor, so haben sie das heute morgen im Radio genannt.« Sie blickte zur Sonne empor, die weiß am dunstigen Himmel glänzte.

Jetzt frischte auch der Wind wieder auf. Er brauste über das zerklüftete Land und drückte die Sträucher auf den Boden. Es war bitterkalt. Auf dem Felsplateau, das neben dem Gletscher in die Schlucht hineinragte, gab es keine Bäume, und die Kinder waren dem Wind hilflos ausgeliefert. Sie gingen ein paar Schritte und blieben unschlüssig zwischen den Sträuchern stehen.

Außer dem Heulen und Pfeifen des Windes war nichts zu hören. Es war so still, als hätte es nie einen Flugzeugabsturz gegeben. Nur die herumliegenden Metallteile und die Schleifspuren in der Erde erinnerten an die furchtbaren Sekunden, die hinter den Kindern lagen. Und der dunkle Rauch, der wie ein drohendes Signal über dem Schluchtrand hing. Das Prasseln des Feuers war viel zu weit weg, und das Klappern der Teile, die von dem Wrack fielen, wurde vom Rauschen des Windes übertönt.

Melanie kramte ihre Handschuhe aus den Anoraktaschen und zog sie an. Ihr Blick wurde entschlossener. Sandra, ihre beste Freundin, hatte mal gesagt, daß sie praktischer als die meisten Jungen veranlagt war. »Als mein Bruder bestimmt«, hatte sie betont, »der kann nicht mal einen Nagel gerade einschlagen.« Auch ihr Vater hatte sie gelobt, weil sie nach dem Umzug in die neue Wohnung alle Bilder aufgehängt und sogar die Stereoanlage angeschlossen hatte. »Ich glaub, ich schenk dir 'ne Bohrmaschine zu Weihnachten«, hatte er gesagt. »Damit kannst du wenigstens etwas anfangen.« Dann war doch eine Jahreskarte für den Zoo daraus geworden, aber die Idee war gar nicht übel gewesen.

Während der Bruchlandung hatte sie Todesangst ausgestanden, und Dons Tod hatte sie tief getroffen, aber ihre Vernunft sagte ihr, daß es an der Zeit war, an ihren Bruder und sich selbst zu denken. Sie schob den Schmerz beiseite und konzentrierte sich darauf, was als nächstes zu tun wäre. Sie mußten bei dem Wrack bleiben. Das wurde jedem Fluggast eingeschärft, der mit einer kleinen Maschine in die Wildnis flog. Wer einen Absturz überlebte und sich vom Wrack entfernte, machte den Suchmannschaften nur unnötig das Leben schwer. Sie richteten sich nach dem Notsignal, das von dem Funkgerät ausgesendet wurde. Zwei Kinder in der unendlichen Wildnis des hohen Nordens aufzuspüren war unmöglich.

»Wir müssen runter«, sagte sie zu ihrem Bruder. »Wir brauchen den Koffer mit der Notausrüstung und den Schlafsack und die Vorräte, die Don mitgenommen hat. Die Sandwiches und den heißen Tee. Es kann Stunden dauern, bis sie uns hier finden.«

Der Junge blickte sie ungläubig an. »Und wie willst du in die Schlucht kommen? Da ist doch gar kein Weg!«

»Irgendwo wird schon einer sein«, erwiderte Melanie, »ein alter Indianerpfad vielleicht. Zur Not müssen wir einen Umweg laufen oder klettern. Wenn wir in der Wildnis rumirren, denken die Ranger vielleicht, wir sind tot, und kehren wieder um.«

»Meinst du, sie schicken Ranger? Echte Ranger?«

»Ich mein doch die Ranger, die in den Nationalparks arbeiten«, erklärte das Mädchen, »nicht deine komischen Soldaten. Weißt du noch, neulich, der Bericht über den Grand Canyon? Da haben die Park Ranger einen Mann gerettet, der beinahe an einem Hitzschlag gestorben wäre. Sie schicken bestimmt die Ranger.«

»Aber der Nationalpark fängt doch erst da hinten an, bei den großen Bergen, die Don uns gezeigt hat. Das war noch 'ne ganze Ecke. Oder meinst du, das hier gehört auch schon zum Park?«

Melanie zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, der Gates of the Arctic soll ziemlich groß sein, größer als die meisten Bundesländer in Deutschland. Irgend jemand werden sie schon schicken. Don hat die Notfrequenz eingeschaltet, das hab ich genau gesehen. Die wissen längst, daß wir notgelandet sind.«

»Hoffentlich«, meinte Philip. Er schlug die Hände gegeneinander und drehte sich in den Wind. »Es wird immer kälter. Meinst du, in dem Koffer mit der Notausrüstung sind Streichhölzer?«

»Bestimmt«, antwortete Melanie. »Ohne ein Feuer wären wir in der Kälte ziemlich aufgeschmissen.« Sie wollte gar nicht daran denken, was passierte, wenn die Retter erst am nächsten Tag erschienen. In der Wildnis zu übernachten würde sehr ungemütlich werden.

»Dann komm«, forderte Philip seine Schwester auf, »hier oben ist es verdammt kalt. Da hinten wird es flacher, vielleicht gibt es da einen Weg in die Schlucht. Ich hab keine Lust zu erfrieren.«

»Ich komm ja schon«, erwiderte Melanie. Sie war froh, daß ihr Bruder nicht mehr an das Unglück dachte und kaum Angst zu haben schien, aber sie wußte, daß sich das sehr schnell ändern konnte. Es war leicht möglich, daß irgend etwas mit dem Funkgerät nicht stimmte, oder das Wetter wurde schlecht, oder sie fanden keinen Weg in die Schlucht, und die Retter glaubten, daß sie mit der Maschine abgestürzt und verbrannt waren. Es gab viele Gründe, die ihre Rettung zum Scheitern verurteilen konnten.

Die Schlucht des Todes

Die Sonne war vom Himmel verschwunden, und aus dem milchigen Dunst war eine dicke Wolkendecke geworden. Düsteres Zwielicht hing über dem schroffen Land. Der Wind pfiff über den schmalen Pfad, den die Kinder nach langem Suchen gefunden hatten, und zerrte an ihrer Kleidung. Das Thermometer im fernen Anaktuvuk Pass, das viel nördlicher als die Schlucht lag, zeigte knapp unter null Grad, aber der Wind Chill Factor war erheblich, und überall im nördlichen Alaska sprach man davon, daß der Sommer vorbei war und der Winter diesmal früher begann.

Davon wußten Melanie und Philip nichts. Vor ihrem Abflug hatten die Leute noch ganz anders geredet, aber im hohen Norden wechselt das Wetter von einer Minute auf die andere, und dem Hochsommer kann schon am nächsten Tag ein Blizzard folgen. Niemand wundert sich darüber, und jeder ist darauf vorbereitet. Alaska besteht zum größten Teil aus menschenleerer Wildnis. Von den knapp 600000 Einwohnern, die in dem riesigen Land wohnen, lebt fast die Hälfte in Anchorage. In der Brooks Range und nördlich des Polarkreises kann man tagelang durch die Wildnis ziehen, ohne einem Menschen zu begegnen.

Seit einer Stunde kletterten Philip und Melanie über den steilen Pfad. Er führte in zahlreichen Windungen in die Schlucht hinab, und Melanie hoffte nur, daß er von Indianern und nicht von wilden Tieren angelegt worden war. Sie hatte keine Lust, in dieser Einöde einem Bären oder einem Wolf zu begegnen. Der Pfad war kaum breit genug für einen Menschen. Links von ihnen ging es steil bergauf, und spitze Steine ragten aus dem harten Boden. Dunkles Moos hing an der gefrorenen Erde. Rechts von ihnen gähnte der Abgrund, führte ein Geröllfeld zu steilen Felswänden.

Melanie erinnerte sich plötzlich daran, weshalb sie ihren Kurs verlassen und nach Westen geflogen waren. Sie blieb stehen und blickte sich aufmerksam um. »Warte mal«, sagte sie. »Hörst du was?«

»Nur den Wind«, antwortete Philip. Er war ebenfalls stehengeblieben und blickte seine Schwester besorgt an. Sein Gesicht unter der grauen Sternenmütze war von der Kälte gerötet. »Wieso?«

»Irgendwo muß der Grizzly sein, den wir uns anschauen wollten. Die Mutter mit den beiden Jungen. Wenn wir der begegnen, sehen wir ziemlich alt aus.« Sie dachte an den ausgestopften Grizzly, den sie auf dem Flughafen in Anchorage gesehen hatten, und erschauderte. Die Zähne des Bären waren länger als ihre Finger gewesen. »Sei mal still!« sagte sie leise.

Sie hielten schweigend den Atem an. Außer dem Heulen des Windes, der sich zwischen den felsigen Bergen verfing, war nichts zu hören. Sie waren allein in der Wildnis. Der Pfad hatte sie hinter eine keilförmige Felswand geführt, die sogar das Flugzeugwrack vor ihren Augen verbarg. Der Gletscher, über dem sie abgestürzt waren, ragte schmutzig in die Berge hinein.

»Bären machen keinen Lärm«, sagte Philip, »die schleichen sich an wie ein Indianer.« Er griff sich an die Mütze und blickte nervös den Pfad hinauf. »Meinst du, die sind irgendwo in der Nähe?«

»Die Mutter mit den Jungen?« Melanie nickte. »Don wollte irgendwo da hinten tiefer gehen, also können sie nicht weit sein. Unten am Fluß vielleicht, da gibt es Lachse. Wir müssen aufpassen, mit Jungen sind sie besonders gefährlich!«

»Meinst du, sie kommen den Pfad rauf?«

»Keine Ahnung«, antwortete Melanie. »Wenn ich ein Bär wäre, würde ich lieber am Fluß bleiben, wo's was zu fressen gibt. Der Pfad ist ziemlich schmal, und junge Bären sind tollpatschig.«

»Dann bleiben sie unten, ganz bestimmt«, meinte Philip zuversichtlich.

»Wir müssen singen oder laut reden, dann lassen sie uns in Ruhe«, sagte seine Schwester. »Du hast doch gehört, was Don gesagt hat, der hat immer ein Glöckchen umhängen, wenn er in die Wildnis geht. Komm, wir singen was. Was für 'n Lied kennst du?«

»Die neue Single von Aerosmith.«

»Quatsch.«

»Irgendwas von den Stones.«

»Du weißt doch, daß ich kaum Rock höre«, erwiderte Melanie etwas ärgerlich. »Irgendein Volkslied oder einen Schlager, den ich auch kann. Was Fröhliches, das vertreibt sie am ehesten.«

»Das blöde Lied, das sie bei der Kaffeewerbung singen.«

»Meinetwegen«, stimmte Melanie zu, weil auch ihr nichts anderes einfiel. »Also los, aber sing laut, damit sie uns auch hören!«

Sie marschierten weiter und sangen das fröhliche Lied des Kaffeerösters, der seine dunklen Bohnen auf einem Markt anpries. Es schallte als vielfaches Echo von den Felswänden zurück. Ihre Freunde, die kaum etwas von Bären wußten, hätten sich wahrscheinlich an den Kopf gegriffen und mitleidig gelächelt, aber es war die einzige Möglichkeit, sich vor den gefährlichen Tieren zu schützen, das bekam jeder Tourist gesagt, der sich bei einem Ranger zu einer Wildniswanderung abmeldete.

Sie sangen das Kaffeelied fünfmal hintereinander, dann fiel Philip ein anderer Werbesong ein, und sie lobten den Käse, der direkt aus den Schweizer Alpen auf den Frühstückstisch kam. So ging es über eine Stunde lang. Vom Käse zu dem guten Bauernbrot mit der dicken Kruste und den Pralinen, die es nur im Winter gab, wenn die reifen Nüsse aus Südamerika kamen. Die Lieder lenkten sie von ihrer Angst ab, und das Singen machte warm.

»Mir fällt nichts mehr ein«, sagte Philip endlich. Sie waren jetzt tief in der Schlucht und konnten bereits die qualmenden Überreste der Cessna sehen. Der Fluß rauschte keine dreihundert Meter vor ihnen. An seinem Ufer wuchsen kleine Bäume und Büsche, und sogar der harte Boden leuchtete grün. Außer einem Raubvogel, der weiter unten über der Schlucht kreiste, war kein Tier zu sehen, nicht einmal ein Fuchs oder ein Erdhörnchen.

»Dann fangen wir wieder von vorne an«, schlug Melanie vor, »oder wir unterhalten uns laut. Erzähl mir, was du letzte Woche in der Schule durchgenommen hast. Wie heißt dein Lehrer?«

»Unser Klassenlehrer? Pütz, Dr. Pütz.«

»Und was für Fächer gibt er?«

»Deutsch und Geschichte.«

»Was habt ihr in Deutsch durchgenommen?«

»Weiß ich nicht mehr«, antwortete Philip ärgerlich. Er blieb stehen und drehte sich um. »Das ist ein blödes Spiel!«

»Das ist kein Spiel«, erinnerte ihn seine Schwester, »oder willst du den Grizzly am Hals haben? Wer weiß, wo der Kerl steckt! Wir müssen ordentlich laut sein, dann sind wir sicher.«

»Dann sing ich lieber.«

»Noch mal von vorn?«

»Das Kaffeelied«, stimmte Philip zu. Er begann zu singen und marschierte weiter. Manchmal vergaß er den Text, aber dann half seine Schwester aus, oder sie erfanden einfach irgendwas und sangen, was ihnen gerade einfiel. Aber jetzt strengte sie das Singen auch an.

Der Pfad war nun flacher und führte über ein weites Geröllfeld. Der Wind blieb irgendwo zwischen den Felsen hängen, und es war wärmer geworden. So kam es den beiden jedenfalls vor. Die Steinwände ragten steil empor, und der Felsvorsprung, von dem das Flugzeug gestürzt war, lag weit über ihnen. Wenn sie nach oben blickten und sich vorstellten, nicht rechtzeitig aus der Maschine gekommen zu sein, wurde ihnen ganz übel.

Es dämmerte bereits, als sie endlich das Wrack erreichten. Sie hörten zu singen auf und starrten betreten auf die Überreste des kleinen Flugzeugs. Das Feuer war erloschen, aber von den verbrannten Sitzen stieg immer noch Qualm auf. Es stank nach verbranntem Kunststoff. Die Wrackteile lagen überall verstreut, und der Rumpf war in unzählige Teile zerbrochen. Den Propeller hatte es über hundert Meter weit zum Flußufer geschleudert. Eine geheimnisvolle Stille lag über der Absturzstelle, und die schrecklichen Geschehnisse auf dem Felsvorsprung standen Melanie und Philip wieder vor Augen. Benommen suchten sie nach dem toten Piloten.

»Da drüben liegt er«, sagte Melanie traurig.

Philip folgte ihrem Blick und begann wieder zu weinen. Er ging zu dem alten Mann, der neben einem Felsbrocken auf dem Rücken lag, und beugte sich über ihn. »Don«, jammerte er. »Don! Sag doch was! Sag, daß du nicht tot bist!« Er streichelte über die blutverschmierten Wangen des Mannes und rieb sich mit der anderen Hand die Tränen aus den Augen. »Don, du lebst doch!«

»Er ist tot«, sagte Melanie leise. Sie war neben ihren Bruder getreten. Auch sie war erstaunt, wie lebendig der Pilot aussah, fast so, als schliefe er nur, aber als sie seinen Kopf berührte, spürte sie eine tiefe Wunde, die ihn schon vor dem Absturz in die Schlucht getötet haben mußte. Es war kein Leben mehr in dem alten Mann. Der Sturz hatte ihm alle Knochen gebrochen, und sein Schädel war zertrümmert. Das merkten sie erst, als sie den leblosen Körper zwischen einige Felsen zogen und die Öffnung in seinem Hinterkopf sichtbar wurde. Melanie holte tief Luft, und Philip übergab sich.

Es dauerte eine Weile, bis der Junge sich erholt hatte. Erschöpft und immer noch benommen beobachtete er, wie Melanie den toten Piloten mit Steinen bedeckte. »Wir können ihn nicht begraben«, sagte sie, »der Boden ist viel zu hart. Aber so kommen die wilden Tiere nicht an ihn heran.« Sie hielt inne. »Geht es dir besser?«

Philip nickte schwach. »Es sah so ... so schlimm aus.«

»Ich weiß«, erwiderte Melanie, »aber er hat nichts mehr davon gemerkt. Er war schon tot, als er runterfiel, das weißt du doch.«

»Trotzdem.«

Sie schichtete weitere Steine auf den leblosen Körper. Als Melanie sein Gesicht bedeckte, schloß sie die Augen. Es war fast so schlimm wie vor sieben Jahren, als sie ihre Mutter gesehen hatten. Der Unfall war vor dem Supermarkt passiert, keine hundert Meter von ihrer Wohnung entfernt, und sie waren mit den anderen Kindern zu der Unfallstelle gerannt, als sie die Polizeisirene gehört hatten. Es war an einem Samstag geschehen, und ihr Vater war mit beim Einkaufen gewesen. Er hatte Philip gleich in die Arme geschlossen, damit er nichts sah, aber sie hatte vor ihrer toten Mutter gestanden und träumte heute noch manchmal davon.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Neuausgabe
Jahr
2018
ISBN (eBook)
9783960532378
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Februar)
Schlagworte
Spannung Action Wildnis Abenteuer Alaska Geschwister Schneesturm Gary Paulsen USA ebooks
Zurück

Titel: Flucht durch die Wildnis