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Die vergessenen Frauen von Greenwich Village

Roman

©2018 263 Seiten

Zusammenfassung

Ein historischer Roman mit aktueller Brisanz: „Die vergessenen Frauen von Greenwich Village“ von Thomas Jeier jetzt als eBook bei jumpbooks.

Hamburg, 1909: Als Emma ein Schiff in Richtung Amerika besteigt, will sie von vorn anfangen – weit weg von Hunger, Angst und Elend. Doch der Empfang in New York ist alles andere als ermutigend: Ihr Onkel, bei dem sie unterzukommen hofft, ist ein arbeitsloser Säufer, die Mietskasernen sind überfüllt und schmutzig, und auch Arbeit gibt es kaum. Ein Hoffnungsschimmer ist die Anstellung als Näherin in der Triangle Shirtwaist Company. Doch sie wird bitter enttäuscht: 70 Arbeitsstunden und 3 Dollar Lohn die Woche, wer am Arbeitsplatz redet, lacht oder hustet, wird entlassen. Trotz größter Not beschließen die Frauen, gegen die grausamen Arbeitsbedingungen auf die Straße zu gehen … Aber wie hoch ist der Preis für Menschlichkeit?

Der preisgekrönte Roman – basierend auf einer wahren historischen Begebenheit: „Thomas Jeier erzählt in klarer, bildhafter Sprache, geradlinig mit großer Anschaulichkeit und dem sorgfältig recherchierten Wissen um die Fakten. Ein Buch humanistischen Engagements.“ Dresdner Nachrichten

Jetzt als eBook kaufen und genießen: „Die vergessenen Frauen von Greenwich Village“ des preisgekrönten Bestsellerautors Thomas Jeier. Wer liest, hat mehr vom Leben: jumpbooks – der eBook-Verlag für junge Leser.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Über dieses Buch:

Hamburg, 1909: Als Emma ein Schiff in Richtung Amerika besteigt, will sie von vorn anfangen – weit weg von Hunger, Angst und Elend. Doch der Empfang in New York ist alles andere als ermutigend: Ihr Onkel, bei dem sie unterzukommen hofft, ist ein arbeitsloser Säufer, die Mietskasernen sind überfüllt und schmutzig, und auch Arbeit gibt es kaum. Ein Hoffnungsschimmer ist die Anstellung als Näherin in der Triangle Shirtwaist Company. Doch sie wird bitter enttäuscht: 70 Arbeitsstunden und 3 Dollar Lohn die Woche, wer am Arbeitsplatz redet, lacht oder hustet, wird entlassen. Trotz größter Not beschließen die Frauen, gegen die grausamen Arbeitsbedingungen auf die Straße zu gehen … Aber wie hoch ist der Preis für Menschlichkeit?

Der preisgekrönte Roman – basierend auf einer wahren historischen Begebenheit: »Thomas Jeier erzählt in klarer, bildhafter Sprache, geradlinig mit großer Anschaulichkeit und dem sorgfältig recherchierten Wissen um die Fakten. Ein Buch humanistischen Engagements.« Dresdner Nachrichten

Über den Autor:

Thomas Jeier wuchs in Frankfurt am Main auf, lebt heute bei München und »on the road« in den USA und Kanada. Seit seiner Jugend zieht es ihn nach Nordamerika, immer auf der Suche nach interessanten Begegnungen und neuen Abenteuern, die er in seinen Romanen verarbeitet. Seine über 100 Bücher wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und mehrfach ausgezeichnet.

Bei jumpbooks erscheint auch:

Biberfrau

Die Tochter des Schamanen

Das Lied der Cheyenne

Wo die Feuer der Lakota brennen

Die abenteuerliche Reise der Clara Wynn

Weitere Titel sind in Vorbereitung.

Die Website des Autors: www.jeier.de

Der Autor im Internet: www.facebook.com/thomas.jeier

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eBook-Neuausgabe November 2018

Dieses Buch erschien bereits 2006 unter dem Titel Emmas Weg in die Freiheit bei Verlag Carl Ueberreuter.

Copyright © der Originalausgabe 2006 by Verlag Carl Ueberreuter, Wien

Copyright © der Neuausgabe 2018 dotbooks GmbH, München

Copyright © 2018 jumpbooks Verlag. jumpbooks ist ein Imprint der dotbooks GmbH, München.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Matej Kastelic (New York), Anna Muvchan (Frau)

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (sh)

ISBN 978-3-96053-225-5

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Damit der Lesespaß sofort weitergeht, empfehlen wir dir gern weitere Bücher aus unserem Programm. Schick einfach eine eMail mit dem Stichwort Die vergessenen Frauen von Greenwich Village an: lesetipp@jumpbooks.de (Wir nutzen deine an uns übermittelten Daten nur, um deine Anfrage beantworten zu können – danach werden sie ohne Auswertung, Weitergabe an Dritte oder zeitliche Verzögerung gelöscht.)

Besuch uns im Internet:

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Thomas Jeier

Die vergessenen Frauen von Greenwich Village

Roman

jumpbooks

1

Der Mond hatte sich hinter den Wolken verkrochen, als Emma aus dem Fenster kletterte und das Haus ihres Onkels für immer verließ. Sie rannte an der Scheune vorbei, kletterte über den Zaun und floh über den Kartoffelacker zum Waldrand. Im Schutz der Bäume blickte sie voller Angst zum Dorf zurück. Erleichtert stellte sie fest, dass in keinem der Häuser ein Licht aufgeflammt war. Es gab keine aufgeregten Stimmen und kein lautes Hundegebell. Anscheinend hatte niemand ihre Flucht bemerkt.

Sie rannte weiter, floh über den schmalen Pfad, den sonst nur Holzfäller und Jäger benutzten, und hielt sich abseits der Landstraße, um keinen Reisenden zu begegnen. Dies war das Jahr 1909, und ein siebzehnjähriges Mädchen, das allein unterwegs war, hätte sogar tagsüber Verdacht erregt. Immer wieder drehte sie sich um. Wenn sie Glück hatte, würde man ihr Verschwinden erst am Morgen bemerken. Doch bis dahin wollte sie längst über alle Berge sein. Bis nach Hamburg waren es ungefähr dreißig Kilometer. Wenn sie sich anstrengte, konnte sie die Strecke in zwei Tagen schaffen. Letzten Sommer, als sie zu einer Kusine ihres Onkels in die Nordheide gefahren waren, hatte sie sich den Weg genau eingeprägt.

Die Angst, von ihrem Onkel zurückgeholt zu werden, trieb sie vorwärts. Sie wollte nicht mehr zu ihm. Schon vor sieben Jahren, wenige Monate nachdem ihre Eltern in einem großen Feuer umgekommen waren und sie zu ihm gebracht worden war, hatte sie beschlossen, nur so lange wie unbedingt nötig bei ihm zu bleiben. Ihr Onkel hatte sie wie eine Sklavin behandelt. Sie musste im Stall und auf dem Acker arbeiten, und abends verlangte ihre Tante, dass sie beim Aufräumen in der Küche half. Ihr Geburtstag wurde überhaupt nicht gefeiert und zu Weihnachten gab es lediglich etwas Stoff zum Nähen oder neue Sohlen für ihre Schuhe. Das Buch über den Ritter Ivanhoe hatte sie vom Pfarrer bekommen. Noch schlimmer war jedoch, was vor zwei Monaten passiert war. Ihr Onkel hatte sich von hinten an sie herangemacht und mit beiden Händen ihre Brüste umfasst. Sie war weinend davongelaufen, doch er hatte sie eingeholt und ihr gedroht sie so zu verprügeln, dass sie es niemals vergessen würde, wenn sie ihn verriete.

Sie blieb auf einem Hügel stehen und ließ sich den kühlen Nachtwind ins Gesicht wehen. Das Frühjahr kam diesmal spät. Um sie herum herrschte tiefe Nacht. Es roch nach Regen, ein Segen für die vielen Bauern in dieser Gegend und gefährlich für sie, weil sie abseits der befestigten Straßen bleiben musste. Wenn sie bis zu den Knöcheln im Schlamm einsank und wie eine schmutzige Landstreicherin nach Hamburg kam, würde die Polizei sie anhalten und zu ihrem Onkel zurückschicken. Sie war noch nicht volljährig und hatte sich den preußischen Gesetzen zu beugen. Ihr Onkel besaß eine schriftliche Bestätigung über das Sorgerecht.

Leicht geduckt hastete sie am Waldrand entlang. Ihr Plan bestand darin, nachts zu laufen und tagsüber in irgendeiner Scheune zu schlafen, um möglichst ungehindert nach Hamburg zu kommen. Seitdem sie beschlossen hatte, ihrem Onkel und ihrer Tante wegzulaufen, hatte sie jeden Pfennig, den sie verdient oder geschenkt bekommen hatte, zur Seite gelegt. Jetzt waren hundert Reichsmark in dem Lederbeutel, den sie aus dem Versteck im Stall geholt und zu den Vorräten in ihren Rucksack gepackt hatte. Genug für eine Fahrkarte nach Amerika. Das wusste sie aus einem Artikel im Lüneburger Tageblatt, den sie in der Kirchenbibliothek gelesen hatte. Bis zum Tod ihrer Eltern war sie zwei Jahre auf der Schule gewesen und konnte gut lesen und schreiben. Sehr zum Leidwesen ihres Onkels, der sie sofort abgemeldet hatte, wegen des hohen Schulgeldes und weil es sich für ein Mädchen angeblich nicht lohnte, seine Energie für sinnlose Bildung zu verschwenden. Irgendwann würde sie heiraten, hatte er stets betont, und dann waren ganz andere Tugenden gefragt.

Sie erreichte den Nachbarort und blickte enttäuscht auf die dunklen Häuser und den Kirchturm. Das Dorf lag nur vier Kilometer vom Bauernhof ihres Onkels entfernt und sie war bereits seit über einer Stunde unterwegs. Wenn sie nicht schneller lief, würde sie eine ganze Woche für den Marsch nach Hamburg brauchen. Sie beschleunigte ihre Schritte und lief in einem weiten Bogen um das Dorf herum. Ungefähr einen Kilometer weiter nördlich erreichte sie die Landstraße nach Hamburg. Zu beiden Seiten der Straße erstreckten sich Kartoffelfelder. Die Gefahr, auf dem flachen Land entdeckt zu werden, war groß, aber sie musste das Risiko eingehen, wenn sie nicht einen Umweg von mehreren Kilometern in Kauf nehmen wollte. Entschlossen lenkte sie ihre Schritte nach Norden. Tief geduckt und beide Daumen hinter die Riemen ihres Rucksacks geschoben, rannte sie durch die Nacht. Als ein kleiner Hase dicht vor ihr über eine Furche sprang, schrie sie vor Angst auf und blieb wie erstarrt stehen, darauf gefasst, im nächsten Augenblick die aufgeregten Stimmen einiger Dorfbewohner zu hören.

Doch niemand hatte sie bemerkt. Sie blieb eine Weile auf der Landstraße, um schneller voranzukommen, und lief erst über die Felder nach Nordwesten, als sie eine Abkürzung durch einen Wald nehmen konnte. Obwohl es zwischen den Bäumen beinahe stockdunkel war, fühlte sie sich dort wohler. Im Wald wurde sie bestimmt von niemandem entdeckt. Sie blieb einen Augenblick stehen, ließ die unheimliche Stille auf sich wirken und marschierte zielstrebig über einen Wildwechsel. Einmal hörte sie ein Geräusch. Sie blieb sofort stehen, aber es war nur ein Reh, das ihren Weg kreuzte und erschrocken im Unterholz verschwand. Ungehindert erreichte sie das andere Ende des Waldes.

Gegen Morgen, als die ersten hellen Streifen am östlichen Himmel zu sehen waren, erreichte Emma das Ufer der Elbe. Der Fluss schimmerte silbern im Morgengrauen. Sie atmete die frische Luft ein, die über den Fluss kam und schon nach Meersalz roch, und lächelte zufrieden. Wenn sie in der nächsten Nacht genauso gut vorankam, würde sie am Vormittag Hamburg erreichen. Aus dem Artikel im Lüneburger Tageblatt wusste sie, dass sich alle Passagiere, die mit dem Schiff nach Amerika fahren wollten, in den Auswandererhallen auf der Veddel einzufinden hatten, einer Elbinsel abseits der Stadt. Dort musste man sich einer Gesundheitsuntersuchung unterziehen und einige Tage bleiben, bis man an Bord gelassen wurde. Die meisten Passagiere waren jüdische Auswanderer aus dem Osten, und die Behörden hatten Angst, dass sie Seuchen einschleppten oder auf die Schiffe brachten.

Emma hatte ihre Papiere aus der Schublade genommen, in der ihr Onkel alle Dokumente aufbewahrte, und ihr Geld reichte für den Aufenthalt in den Auswandererhallen und die Fahrkarte für die Überfahrt. Die einzige Gefahr war, dass ihr Onkel die Polizei alarmierte und man sie verhaftete, bevor sie an Bord gehen konnte. Doch sie hatte niemandem verraten, dass sie nach Amerika gehen würde. Niemand wusste von ihrem Plan, den sie schon vor einigen Jahren gefasst hatte, als sie die Bildpostkarte beim Apotheker gesehen hatte. Auch er sprach ständig davon, nach Amerika zu gehen, obwohl er wusste, dass er viel zu feige für ein solches Abenteuer war. Er hatte eine Frau und zwei Kinder und gehörte zu den angesehensten Bürgern des Dorfes. Warum sollte er auswandern?

Amerika, das Land der Freiheit. Das Paradies auf Erden, in dem es keine Armut und keine Unterdrückung gab. So stand es auf den Plakaten der Gesellschaften, die für eine Auswanderung warben. Dort würde sie endlich auf eigenen Füßen stehen. Niemand würde sie wie eine Sklavin behandeln oder unsittlich berühren. In Amerika, so hieß es, hatte jeder Bürger die gleichen Chancen, wurde kein Unterschied zwischen einem armen Bauernmädchen und der Tochter eines Kontorvorstehers gemacht. Sie würde ihr eigenes Geld verdienen, in ihrem eigenen Zimmer wohnen, und wenn sie einmal heiratete, würde sie nicht so abhängig von ihrem Mann sein wie ihre Tante, die ihrem Gatten hilflos ausgeliefert war. Ihre Tante war nie zur Schule gegangen, hatte nie einen Beruf erlernt und war gar nicht imstande sich selbst zu ernähren. Einmal hatte sie von einem Stiefbruder erzählt, einem gewissen Heinrich Rink, der schon im letzten Jahrhundert nach Amerika ausgewandert war und angeblich ein Eisenwarengeschäft in New York führte. Sie hatte nie mehr von ihm gehört, aber in ihren Augen war ein verräterisches Glitzern gewesen, als sie seinen Namen genannt hatte. Sie wäre wohl auch gerne nach Amerika gefahren.

Noch bevor die Sterne vom Himmel verschwanden, versteckte Emma sich im Schuppen eines Bauern. Das baufällige Gebäude erhob sich am Rand einer großen Wiese, auf der im Herbst wohl Heu gemacht wurde. Bis auf ein paar Heuballen und einige Geräte, die an den Wänden lehnten, war der Schuppen leer. Eine morsche Leiter führte auf eine Plattform an der Stirnseite empor. Sie verkroch sich zwischen die Heuballen und setzte ihren Rucksack ab. Darin waren etwas Käse und Speck, ein Stück Brot, ihr Sonntagskleid, frische Unterwäsche und das Buch über Ritter »Ivanhoe«, das sie mindestens zehn Mal gelesen hatte und unterwegs wieder lesen würde. Außerdem eine Flasche mit kaltem Tee und der Beutel mit dem Geld. Die Vorräte hatte sie heimlich aus der Küche gestohlen, während ihre Tante zu Bett gegangen war.

Schließlich aß und trank sie etwas, legte sich zwischen die Heuballen und bettete ihren Kopf auf den fest verschnürten Rucksack. Sie schlief sofort ein und träumte von den Hochhäusern, die sie auf der Bildpostkarte des Apothekers gesehen hatte. Gegen Mittag, als die ersten Regentropfen auf das Holzdach trommelten, schreckte sie aus dem Schlaf. Sie brauchte einige Zeit, um sich zu orientieren. Die Tür war aufgegangen und klappte im böigen Wind auf und zu. Durch den Spalt sah sie die Bäume am Flussufer als dunkle Schatten in den Regen ragen. Zitternd hielt sie ihren wollenen Mantel am Kragen zusammen.

Zum ersten Mal, seitdem sie geflohen war, beschlich sie die Angst vor einem Scheitern ihrer Flucht. Erst in diesem Augenblick schien ihr klar zu werden, welches große Wagnis sie eingegangen war. Ein siebzehnjähriges Mädchen, allein auf dem Weg in eine fremde Welt! Selbst mit einem Erlaubnisschreiben ihrer Pflegeeltern und einer Fahrkarte wäre sie nicht sicher gewesen. Frauen reisten nicht allein und Mädchen schon gar nicht. Sie fuhren nicht mal allein nach Hamburg. Würde sie es schaffen, eine Fahrkarte zu kaufen und in die Auswandererhallen zu kommen? Sie war hübsch. Wenn sie den Knoten löste, der ihre honigblonden Haare zusammenhielt, sogar sehr hübsch. Aber was spielten ihr Aussehen und ihre leuchtend blauen Augen für eine Rolle, wenn sie in einem Mantel, der an mehreren Stellen geflickt war, und abgelaufenen und dreckverschmierten Schuhen zum Schalter kam?

Ein Mann betrat den Schuppen. Emma blieb vor Schreck der Atem stehen und sie presste rasch eine Hand vor den Mund, um nicht laut loszuschreien. Er verschloss die Tür und blieb schnaufend stehen. Wie Espenlaub zitternd beobachtete sie, wie er sein Bündel von der Schulter nahm und auf den Boden fallen ließ. Er schlug fröstelnd die Hände gegeneinander. Er war jung, höchstens drei oder vier Jahre älter als sie. Sein Regenmantel, den er bis zum Hals geschlossen hatte, spannte sich über seinen Muskeln. Sein Gesicht war kantig, die Nase etwas zu gebogen und der Mund zu schmal, aber in seinen Augen war ein Funkeln, das sie sofort für ihn einnahm.

Er nahm seine Schirmmütze von den blonden Haaren und schlug sie gegen sein rechtes Bein. Mit dem linken Ärmel wischte er sich den Regen vom Gesicht. Als er den Arm herunternahm, entdeckte er sie. In einem Reflex griff er nach einer Mistgabel und stürzte sich auf sie. Mit einem ängstlichen Aufschrei rollte sie sich zur Seite. Er rammte die Mistgabel in den Boden, zog sie heraus und holte erneut aus. Gerade noch rechtzeitig hielt er inne. Verstört ließ er die Mistgabel fallen. »Ein Weibsbild!«, stieß er hervor.

Emma sprang auf und funkelte den Mann wütend an. Noch unter Schock und in einer Mischung aus Angst und Wut fuhr sie ihn an: »Was fällt Ihnen ein? Wie können Sie es wagen, so etwas zu sagen? Ich bin Fräulein Emma Mahler und lasse mir von keinem dahergelaufenen Landstreicher sagen, dass ich ein Weibsbild bin!«

Der junge Mann musste unwillkürlich grinsen. Er hatte wohl erwartet, dass sie sich über seinen Angriff mit der Mistgabel beschwerte und sich nicht über ein belangloses Wort aufregte. Er warf die Mistgabel auf den Boden. »Tut mir Leid, mein Fräulein. Woher sollte ich denn wissen, dass sich junge Damen in Scheunen verstecken?« Er streckte eine Hand aus und wollte ihr vom Boden aufhelfen, aber sie lehnte wütend ab und stand allein auf.

»Wer sind Sie? Und was wollen Sie hier?«, fragte sie wütend.

Er grinste immer noch. »Ich bin der August. August Lutz aus Nördlingen in Bayern. Ich bin seit einigen Wochen unterwegs, und Sie müssen mir schon verzeihen, wenn ich etwas aufbrausend bin. Wäre nicht das erste Mal, dass mir ein Schlawiner in einer Scheune auflauert.« Er deutete zur Tür. »Wenn's recht ist, ich bin vor dem Regen hierher geflohen. Ich hab nur den einen Mantel.«

Sie entspannte sich und wischte mit beiden Händen das Stroh von ihrer Kleidung. »Tut mir Leid«, sagte auch sie. »Ich hab mich versteckt. Ich dachte, Sie sind der Bauer oder ... oder ein Polizist.«

»Seh ich vielleicht so aus?« Er kramte sein Rauchzeug aus der Jackentasche unter seinem Mantel und rollte sich eine Zigarette. »Sie haben doch nichts dagegen?« Er zündete sie an und rauchte genüsslich. »Ich bin Schreiner. Das heißt, ich war Schreiner, bis mir der Sohn des Bürgermeisters einen Diebstahl in die Schuhe schob und ich ihm so die Hucke vollschlug, dass ich bei Nacht und Nebel verschwinden musste. Oder meinen Sie, mir hätte jemand geglaubt? Jetzt geh ich nach Australien. Kennen Sie Australien? Da soll es so heiß sein, dass man auf den Steinen Spiegeleier braten kann!« Er paffte fröhlich. »Wollen Sie nach Hamburg?«

»Amerika«, verbesserte sie ihn. »Da beschimpfen sie ein Mädchen wie mich nicht als Weibsbild, und wenn ich mich anstrenge, kann ich ein Geschäft aufmachen. In Amerika ist alles möglich.«

»Haben Sie denn was gelernt?«

»Ich kann lesen und schreiben, wenn Sie das meinen« antwortete sie schnippisch. »Und ich habe keine Angst vor harter Arbeit. Ich habe nur was dagegen, dass man mich ausnützt und wie eine Sklavin behandelt.« Sie hatte seltsamerweise Vertrauen zu dem jungen Mann gefasst und scheute sich nicht, ihm die Wahrheit zu sagen. »So wie es mein Onkel und meine Tante getan haben!«

Sie erzählte ihm ihr ganzes Leben, verschwieg nur, dass ihr Onkel sie unsittlich berührt hatte, und verriet ihm sogar das Geheimnis, wie sie ausgerechnet auf Amerika gekommen war. »Und Sie?«, fragte sie schließlich. »Warum wollen Sie nach Australien?«

Er zuckte die Achseln. »Im Nachbardorf gab es einen Mann, der ist nach Australien gegangen. Ich hab ihn in einem Wirtshaus getroffen. Er war ziemlich betrunken und schwärmte den ganzen Abend von Australien. Wie schön es da wäre und dass man da sogar im Meer baden könnte. Ich hab gedacht, er schneidet auf, aber dann ist er wirklich gefahren, und als dann die Sache mit dem Alois, dem Sohn des Bürgermeisters, passierte ... nun ja, da dachte ich mir, versuchst es eben mal mit Australien. Da bist du weit genug von diesen Hornochsen weg. Haben Sie was zu essen?«

Sie öffnete ihren Rucksack und schnitt ihm etwas Speck und Käse ab. Er verschlang beides gierig. »Mir sind die Vorräte ausgegangen«, entschuldigte er sich mit einem Blick auf sein Bündel. »Da sind nur mein Sonntagsanzug und mein Tagebuch drin.«

»Sie führen Tagebuch?«, wunderte sie sich.

Die Frage behagte ihm nicht. »So ähnlich«, wich er aus. »Ich schreib halt auf, was so passiert und wen ich unterwegs treffe.«

»Schreiben Sie auch über mich?«

»Mal sehen.« August verbrannte sich die Finger an seiner aufgerauchten Zigarette und ließ sie zu Boden fallen. Er trat sie mit dem Stiefel aus. »Haben Sie schon eine Fahrkarte?«, fragte er.

»Nein. Und Sie?«

»Auch nicht. Ich hab nur die zwanzig Mark von meinem Großvater. Aber ich kenn einige Tricks, wie man daraus ein paar hundert Mark machen kann. Ist gar nicht schwer. Kann etwas dauern, aber das macht nichts.« Er blickte sie fröhlich an. »Haben Sie Geld?«

Sie zögerte lange genug mit der Antwort, um ihm zu zeigen, dass sie das Geld für die Überfahrt besaß, und nickte widerwillig. »Ich hab mein ganzes Leben gespart und den Rest hat der Herr Pfarrer mir gegeben. Ich hab ihm nicht gesagt, wofür ich es brauche, aber er hat es mir trotzdem gegeben. Wenn ich's mir recht überlege, ahnte er vielleicht sogar, dass ich weglaufen will. Er ist ein guter Mensch, der Herr Pfarrer. Er hat immer zu mir gehalten. Einmal war er sogar bei meinem Onkel und bat ihn, mich nicht so hart arbeiten zu lassen. Mein Onkel hörte natürlich nicht auf ihn.«

»Wie mein Vater, der war auch so einer«, erwiderte August. Obwohl er kaum Geld besaß und nicht einmal etwas zu essen in seinem Bündel hatte, schien er sich keine Sorgen zu machen. »Der kannte nur seine Arbeit. Ich musste den ganzen Tag in seiner Schreinerei schuften, von frühmorgens bis spätabends, und wenn ich nach dem Abendessen ein Licht anzünden und noch etwas lesen wollte, sagte er: »Bücher sind was für die Großkopferten. Wir sind einfache Leute. Wir brauchen keine Bücher. Wenn ich dich noch einmal beim Lesen erwische, setzt es eine Watsch'n, da kannst du dich drauf verlassen. Von da an hab ich dann heimlich gelesen.«

»Watsch'n?«, fragte sie verwundet.

»Backpfeife«, erklärte er. »Ohrfeige.«

Emma lächelte über seinen komischen Dialekt und wollte gerade etwas sagen, als das Rattern eines Fuhrwerks durch den Regen drang. Sie erschrak. »Wer kann das sein?«, fragte sie entsetzt.

August blickte erschrocken zur Tür. »Schnell! Da hoch!«, zischte er. Er deutete auf die morsche Leiter. »Nehmen Sie alles mit!« Er hob sein Bündel auf, wartete ungeduldig, bis sie den Rucksack gepackt hatte, und zog sie zur Leiter. Einer hinter dem anderen kletterten sie auf die Plattform. Sie verzogen sich in die hinterste Ecke und legten sich auf den Boden. »Kein Wort!«, warnte August sie.

2

Das Rattern des Fuhrwerks verstummte. Ein Pferd schnaubte und man hörte, wie jemand vom Wagen stieg. Eine Männerstimme im Hamburger Dialekt erklang: »So ein Schmuddelwetter hatten wir schon lange nicht mehr.« Eine andere antwortete: »Vetter Knut kommt noch früh genug zu seinen Waren. Ich hab keine Lust, die ganze Zeit durch den Regen zu fahren. Lass uns lieber eine rauchen. Ich hab die guten Zigarren von Onkel Wilhelm dabei. Hab ich beim Kartenspiel von ihm gewonnen. Ich hab geschummelt.«

Die beiden Männer betraten die Scheune. Mit ihnen wehten Regen und kühle Luft herein. Nachdem sie die Tür fest zugedrückt hatten, blieben sie fröstelnd stehen. Der eine war ungefähr dreißig, ein stämmiger Mann mit einem dichten Schnurrbart und einer Schirmmütze auf dem kantigen Schädel. Der andere war etwas jünger und sehr hager. Beide trugen lange Regenmäntel, wie Emma sie an der Küste gesehen hatte. Der Ältere zog zwei Zigarren unter seinem Mantel hervor, reichte seinem Begleiter eine und riss ein Streichholz an. Sein Gesicht leuchtete im Feuerschein.

Emma wagte kaum zu atmen. Sie lag flach auf dem Boden und spürte das kalte Holz und den Schmutz auf ihrer Wange. August lag dicht neben ihr. Sie nahm seinen warmen Atem wahr und sah sein aufmunterndes Lächeln, als sich ihre Blicke trafen. Es hätte nicht viel gefehlt und sie hätte nach seiner Hand gegriffen. Sie lächelte zurück. Obwohl sie ihn kaum kannte, war seine Nähe beruhigend.

Der ältere Mann paffte genüsslich an seiner Zigarre. »So lass ich mir's gefallen«, meinte er. »Zu Vetter Knut kommen wir noch früh genug. Der hat sowieso zu viel Geld.« Er setzte sich auf einen Heuballen und fuhr mit einem Aufschrei wieder hoch. »He, was ist denn das?« Er zog ein kleines Messer aus dem Heu und betrachtete es misstrauisch. »Muss ein Landstreicher vergessen haben.«

Der jüngere Mann ließ sich das Messer geben. »Riecht nach Speck! Der Kerl kann noch nicht lange weg sein!« Er grinste verschlagen. »Weißt du noch, wie wir den Wanderburschen verprügelt haben, der uns das Huhn gestohlen hatte? Man muss diesen Burschen zeigen, wer hier das Sagen hat, sonst werden sie immer dreister! Wir arbeiten uns den Buckel krumm und die ziehen durch die Lande und stehlen und schnorren, was das Zeug hält!«

»Ob der Kerl noch hier ist?«, fragte der Ältere. Er stand auf und blickte zu der Plattform empor. »Vielleicht hat er sich versteckt.«

Emma gefror das Blut in den Adern, als sie beobachtete, wie der Mann zur Leiter ging und auf eine Sprosse stieg. Das Holz ächzte unter seinem Gewicht. Er stieg wieder herunter und winkte ab. »Ach, was soll's! Wenn er da oben wäre, hätte er sich längst verraten! Lass uns lieber weiterfahren. Der Regen hat aufgehört.«

Die Männer verließen rauchend die Scheune. Die Tür fiel hinter ihnen ins Schloss. Wenig später hörte man, wie sie auf ihren Wagen stiegen und der Ältere die Pferde antrieb. »Hüah! Lauft!«

Emma atmete erleichtert auf. Als sie daran dachte, was passiert wäre, wenn die Männer sie entdeckt hätten, lief ihr ein Schauer über den Rücken. Allein die Vorstellung, auf einem Polizeirevier auf ihren Onkel warten zu müssen, ließ sie zittern. Sie hob den Kopf und blickte August ernst an. »Das war knapp!«, flüsterte sie.

August war weniger beeindruckt. Oder er verstand es, seine Angst besser zu verbergen. Er brachte sogar ein Lächeln zustande »Das ist mir schon ein paarmal passiert«, sagte er. »Besonders in Bayern. Der Bürgermeister hätte am liebsten die Hunde auf mich gehetzt. Der hätte einen Unschuldigen eingesperrt, nur damit niemand seinen Sohn für den Täter hält! Ich hätte nicht mal eine Verhandlung bekommen. Aber jetzt kriegt er mich nicht mehr! Und bis er rausbekommt, dass ich mich in Preußen rumtreibe, bin ich in Australien und lasse mir die Sonne auf den Bauch scheinen!«

»Aber Sie haben doch gar nichts getan!«

Er lachte schadenfroh. »Ich hab ihn verprügelt! Ich hab den Alois so verprügelt, dass er nicht mehr gerade sitzen konnte!« Er sah ihren ungläubigen Blick und räusperte sich verlegen. »Außerdem war ich mal wegen einer kleinen Sache auf der Wache. Ich hatte fünf Pfennig gestohlen. Na ja, nicht wirklich gestohlen. Sie lagen beim Bäcker auf der Theke und ich hab sie eingesteckt. Ein Kunde hat mich verraten. Seitdem war ich immer verdächtig, wenn irgendwo was gestohlen wurde. Wenn ich im Dorf geblieben wäre, hätte man mich eingesperrt. Ganz sicher.«

»Und Sie sind wirklich unschuldig?«

»So wahr ich hier liege«, antwortete er aufrichtig. »Ich hab einiges getan, wofür ich mich schämen muss, aber das Geld aus dem Opferstock stehlen, so wie es der Sohn des Bürgermeisters getan hat, so etwas würde ich niemals tun! Ich beklaue keinen Pfarrer!«

Emma glaubte ihm. Obwohl sie August erst seit ein paar Minuten kannte, vertraute sie dem ehrlichen Ausdruck in seinen Augen. Er war kein Heiliger, und sein überhasteter Angriff mit der Mistgabel bewies, wie gewalttätig er sein konnte, wenn er einem angeblichen Feind gegenüberstand, aber er besaß auch ein Herz und würde niemals gegen einen Schwächeren vorgehen. Einen reichen Fabrikbesitzer, der täglich seine Angestellten knechtete, oder einen Bauer wie ihren Onkel würde er vielleicht bestehlen. Und er würde sich mit jedem Mann anlegen, der ihn herausforderte oder ungerecht behandelte. Doch einen Opferstock würde er nicht ausrauben und einem Mädchen gegenüber würde er immer höflich sein. Er würde sie niemals hintergehen, das glaubte sie schon jetzt zu wissen, und er würde sich immer anständig benehmen.

Woher sie diese Zuversicht nahm, wusste sie nicht. Vielleicht lag es tatsächlich an seinen braunen Augen. Oder an dem sanften Lächeln, das manchmal sein Gesicht erhellte. So wie er hatte sie noch niemals ein junger Mann angesehen, beinahe bewundernd und voller Respekt und nicht mit dieser unverhohlenen Lust wie ihr Onkel oder der Sohn des Hufschmieds. Der Junge mit dem vorstehenden Kinn hatte sie letzte Woche bedrängt und zwingen wollen, sich mit ihm im Heu zu treffen. Sie hatte ihn einen Schmutzfink genannt und war weggelaufen. August war anders. Zumindest ihr gegenüber. Das spürte sie mit jeder Faser ihres Herzens. Am liebsten hätte sie ihn gefragt, ob er Australien vergessen und mit ihr nach Amerika fahren könne. Aber ein solches Anliegen gehörte sich nicht für eine junge Dame. Sie hätte sich eher die Zunge abgebissen, als ihm ihre Sympathie auf diese Weise zu zeigen.

Sie stemmte sich auf die Knie und klopfte sich den Schmutz vom Mantel. Die verlegene Stille, die zwischen ihnen eingetreten war, hinderte sie daran, ihn direkt anzusehen. »Was wollen Sie tun, wenn Sie in Australien sind? Wieder als Schreiner arbeiten?«

August kroch etwas nach vorn, um nicht mit dem Kopf gegen das schräge Dach zu stoßen, und setzte sich ihr gegenüber. Auch er schien etwas verlegen zu sein und angestrengt darauf zu achten, ihr nicht zu nahe zu kommen. Es war schon unschicklich genug, mit einem unverheirateten Mädchen ihres Alters in einer dunklen Scheune zu sitzen. »Keine Ahnung«, erwiderte er. »Wenn's nach dem geht, was der Mann im Wirtshaus gesagt hat, gibt es da so viel Arbeit, dass sie für jeden Einwanderer dankbar sind. Handwerker, Bauern, Fischer ... da gibt es sogar Leute, die den ganzen Tag am Strand auf und ab gehen und Muscheln sammeln, haben Sie das gewusst?«

Er wusste eine Menge über Australien, viel mehr als sie über Amerika, und hörte gar nicht mehr auf, darüber zu erzählen. Sie hörte ihm gern zu. Seine Stimme klang warm und freundlich. Und jetzt fand sie auch wieder den Mut, ihm in die Augen zu blicken. Wenn er lächelte, hatte sie das Gefühl, sich darin zu verlieren. Er berichtete von endlosen Wüsten und weiten Stränden, dunkelhäutigen Eingeborenen mit hölzernen Wurfgeschossen, die zu dem zurückflogen, der sie geworfen hatte, von riesigen Bauernhöfen, größer als das Königreich Bayern. »Ich könnte Schafe scheren. Auf einer Schaffarm verdient man mehr Geld als in einer Schreinerei, sagt der Mann im Wirtshaus, da kann man reich werden!«

Er erzählte so lebendig, dass sie beinahe ihren Plan geändert hätte. Wenn es sich nicht schickte, ihn zu bitten nach Amerika zu fahren, konnte sie den Spieß vielleicht umdrehen und nach Australien auswandern. Auch das wäre nicht schicklich gewesen, aber wenn sie ein späteres Schiff nahm und ihm »zufällig« in Australien über den Weg lief, konnte doch niemand etwas sagen. Die Vernunft hielt sie zurück. Sie kannte diesen jungen Mann viel zu wenig, um sich auf ein solches Abenteuer einzulassen. Und sie war noch viel zu jung, um sich schon einem Mann zu versprechen.

»Es hat aufgehört zu regnen«, sagte sie nach einer Weile. »Wenn Sie sich jetzt auf den Weg machen, schaffen Sie es vielleicht noch bis zum Stadtrand. Hier sucht Sie doch niemand.«

Er blickte in das Halbdunkel der Scheune. »Ich warte lieber, bis es dunkel wird. Ich hab keine Lust, so kurz vor dem Ziel noch festgenommen zu werden. Wer weiß, wen der Bürgermeister alles informiert hat. Der Gauner schreckt nicht mal vor Grenzen zurück.«

Sie ahnte, dass er bei ihr bleiben wollte, und hütete sich, ihn daran zu erinnern, dass er bei Tageslicht gekommen war. Nur mühsam unterdrückte sie ein zufriedenes Lächeln. Entweder war er ein vollendeter Kavalier, der eine junge Dame nicht allein den Gefahren der Nacht aussetzen wollte, oder er hatte etwas für sie übrig. »Ich gehe auch lieber nachts«, sagte sie so nüchtern wie möglich. »Ich traue mich nicht mal, den Zug oder den Autobus zu nehmen. Hier kennen mich zu viele Leute, und wenn mein Onkel schon die Polizei alarmiert hat, bin ich sowieso nicht mehr sicher.«

Er wagte nicht, sie anzusehen. »Dann haben Sie doch sicher nichts dagegen, wenn ich Sie nach Hamburg begleite?« Seine Stimme klang plötzlich heiser. »Ich würde Ihnen gern meinen Schutz anbieten. Natürlich nur, wenn Sie nichts dagegen haben.«

»Das würde mich sehr freuen«, antwortete sie vielleicht etwas zu förmlich. Sie hatte noch nie einen Freund gehabt, war von den meisten Jungen im Dorf nur geärgert worden und wusste nicht so recht, wie sie sich verhalten sollte. Die jungen Damen in dem Buch über Ivanhoe benahmen sich sehr seltsam, wenn ein Ritter ihnen den Hof machte. Sie waren beinahe abweisend und schnippisch, obwohl ihre Gedanken allein von dem Wunsch beherrscht wurden, seufzend in seine Arme zu sinken und ihn zu küssen. Sie spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss, als sie daran dachte.

August überspielte die Verlegenheit, die sich zwischen ihnen ausbreitete, indem er sich eine Zigarette rollte und sie umständlich ansteckte. Er blickte in den Rauch, der sich unter der schrägen Decke verteilte, und schien ähnliche Gedanken wie sie zu haben, denn auch sein Gesicht lief plötzlich rot an. Er wischte einige Tabakkrümel von seinen Lippen und lächelte verlegen. »Sie waren sehr tapfer«, sagte er, »jedes andere Fräulein hätte vor Angst irgendeine Dummheit begangen, als die Männer hereinkamen.«

»Ich habe keine Angst«, behauptete Emma, obwohl sie so nervös gewesen war, dass sie gezittert hatte. »Wer nach Amerika auswandern will, muss Gott vertrauen und stark sein!« Den Satz hatte der Pfarrer in einer Predigt gebraucht, allerdings in einem anderen Zusammenhang. Er hatte gesagt: »Wer es in diesem Leben zu etwas bringen will, muss Gott vertrauen und stark sein!«

Der Nachmittag verging wie im Flug. Mit jedem Wort, das sie wechselten, wurde ihr Verhalten natürlicher, und von der Verlegenheit, die sie zu Beginn ihrer Unterhaltung gehemmt hatte, war bald nichts mehr zu spüren. Ohne es zu merken, gingen sie zum vertraulichen »Du« über. Emma kam es beinahe so vor, als würde sie sich mit einer guten Freundin unterhalten, so freimütig kamen ihr die Worte über die Lippen. Nur das Funkeln in seinen Augen irritierte sie, verursachte ein Kribbeln, wie sie es noch nie gespürt hatte. Als er beim Aufstehen zufällig ihre Hand berührte, fühlte sie sich beinahe so wie die Burgfräulein in ihrem Buch. Du darfst dich nicht in ihn verlieben, rief sie sich zur Vernunft, er wandert nach Australien aus und du siehst ihn nie wieder! Aber ihr Gefühl sagte etwas anderes und sie war dankbar, als sie mit Einbruch der Nacht die Scheune verließen und er dabei kurz ihre Hand berührte.

Sie liefen am Ufer der Elbe entlang, blieben aber hinter der Böschung, um nicht von einem Flussschiffer gesehen zu werden. Mit gedämpfter Stimme unterhielten sie sich über belanglose Dinge. August beschrieb ihr den ersten Tisch, den er nach seiner Ausbildung geschreinert hatte, und sie erzählte von Ivanhoe und seinen Abenteuern beim großen Turnier. Nur wenn am Flussufer ein Schuppen auftauchte oder sie einen Lastkahn liegen sahen, schwiegen sie. Sie wollten kein unnützes Risiko eingehen. Emma war noch nie so weit gelaufen und litt unter einem schmerzhaften Muskelkater, ließ sich aber nichts anmerken. Sie glaubte sowieso, dass August aus Rücksicht auf sie etwas langsamer als sonst lief.

Die Nacht war kühl und im Schilf raschelte der Wind. Frösche quakten. Aus weiter Ferne drang das Tuten eines Lastkahns zu ihnen. Emma war froh, den jungen Mann getroffen zu haben, obwohl er sie bald wieder verlassen würde und sie vielleicht nie herausfinden könnte, wer er wirklich war. Sie glaubte nicht, dass er ein Dieb sei, auch wenn sie vielleicht die Einzige war, die ihm die Geschichte mit dem Bürgermeister abnahm. Aber was hatte er damit gemeint, dass ihm schon etwas einfallen würde, wie er die zwanzig Mark in seinem Bündel vermehren konnte? Ein Billett nach Australien kostete sicher über hundert Mark. Wie wollte er jemals an diese Summe herankommen? Sie wagte nicht, ihn zu fragen Vielleicht war es besser, wenn sie die Antwort niemals erfuhr.

Mit dem ersten Tageslicht erreichten sie Hamburg. Obwohl sie beide schon in großen Städten gewesen waren, August in Nürnberg und Emma in Hannover, waren sie doch erstaunt, welcher Trubel schon am frühen Morgen in den Vororten herrschte. Ungeduldige Kutscher trieben die Zugpferde ihrer Fuhrwerke an. Ein Autobus ratterte über eine Kreuzung. Das hektische Klingeln einer Straßenbahn hallte von einer Brücke herüber. Vor einem Laden ächzten zwei Männer unter einer schweren Kiste. Männer und Frauen in langen Mänteln liefen zu den Kontoren und Fabriken. In dieser Stadt konnten sich Emma und August nur am Tag bewegen. Nachts wären sie mit Sicherheit von der Polizei aufgegriffen worden. In dem morgendlichen Trubel fielen sie jedoch nicht auf, und obwohl August ein paarmal nach dem Weg fragen musste, erreichten sie ungehindert ihr Ziel. Sie hätten auch die Linie 14 der Straßenbahn nehmen können, die direkt vor den Auswandererhallen auf der Veddel hielt, aber sie sparten das Geld lieber und gingen zu Fuß. Auf die paar Kilometer kam es auch nicht mehr an.

An der Wilhelmsburger Brücke blieben sie stehen und blickten zur Insel hinüber. Ein junger Mann, der mit den Händen in den Manteltaschen am Brückengeländer lehnte und sich sehr lässig gab, schien ihre Gedanken zu erraten. »Sieh an«, sagte er zu ihnen, »die Herrschaften wollen wohl zu den Auswandererhallen?«

»Ich wüsste nicht, was Sie das angeht«, erwiderte August.

Der junge Mann ließ sich nicht beirren. Er kam lächelnd näher und blieb in gönnerhafter Pose vor ihnen stehen. »Ich kann Ihren Unmut verstehen, junger Mann! Man hat Ihnen sicher gesagt, dass sich hier allerhand Gesindel herumtreibt. Es ist wahr, es gibt tatsächlich Schurken, die den Zigeunern aus dem Osten falsche Ratschläge geben und minderwertige Waren andrehen. Aber Sie kommen nicht aus dem Osten. Sie kommen aus ... lassen Sie mich raten ... Sie kommen aus dem Königreich Bayern, nicht wahr?«

»Und wenn?«, blieb August vorsichtig.

Das Lächeln im Gesicht des Fremden blieb. »Ich mag die Bayern, mein Herr!« Er blickte Emma an. »Darf ich fragen, woher das werte Fräulein kommt? Ich nehme an, Sie beide sind ein Paar?«

»Das tut nichts zur Sache«, sagte August rasch, bevor Emma antworten konnte. »Was wollen Sie von uns? Wir kaufen nichts!«

Der Fremde hob abwehrend die Hände. »Oh, ich habe nichts zu verkaufen!« Er legte bewusst eine kleine Pause ein. »Ich wollte Sie nur warnen. Viele Auswanderer kommen ... nun, etwas blauäugig nach Hamburg. Selbst die Herrschaften, die schon ein Billett haben. Ein Billett ist nicht genug, wissen Sie? Sie brauchen Geld, wenn Sie sich unterwegs etwas an Bord kaufen wollen, und die Amerikaner verlangen, dass jeder Einwanderer fünfundzwanzig Dollar dabeihat, sonst verweigern sie demjenigen die Einreise. «

»Fünfundzwanzig Dollar? Wie viel ist das?«, fragte Emma.

»Ungefähr hundert Mark«, antwortete der Fremde.

»Hundert Mark?«, rief Emma entsetzt.

August brachte sie mit einem strengen Blick zum Schweigen. »Das wissen wir alles«, sagte er zu dem Mann. »Wir brauchen Ihre Hilfe nicht. Und wenn Sie uns jetzt bitte in Ruhe lassen wollen ...«

»Wie Sie wollen«, meinte der Fremde lächelnd, »wie Sie wollen. Aber denken Sie daran, dass Sie Ihr Einreisegeld in Dollar umtauschen sollten, bevor Sie an Bord gehen. Ich kenne da eine Umtauschstelle, die Ihnen die Dollar zu einem wesentlich besseren Kurs als die Hamburg-Amerika-Linie gibt. Wenn Sie also wollen ...«

»Nein danke!«, schnitt August ihm das Wort ab.

Der Fremde verschwand und kehrte an seinen Stammplatz am Brückengeländer zurück. Emma und August gingen auf die andere Straßenseite, bis sie nicht mehr von ihm gesehen werden konnten.

3

»Hundert Mark!«, rief Emma entsetzt, als sie auf der anderen Straßenseite waren. »Mein Geld reicht gerade mal für das Billett! Woher soll ich bloß die anderen hundert Mark hernehmen?« In ihren Augen glänzten Tränen. »Wenn ich zurückgehe, schlägt mich mein Onkel! Oder er steckt mich in ein Erziehungsheim! Wer weiß, ob ich da jemals wieder rauskomme? Ich will nicht nach Hause!«

August zog sie vor ein Schaufenster, damit sie nicht so auffielen, und sprach beruhigend auf sie ein: »Du musst nicht nach Hause, Emma! Ich besorge dir die hundert Mark! Lass mich nur machen!« Er wollte sie trösten, wagte es aber nicht, seinen Arm um ihre Schultern zu legen. »Es kann allerdings etwas dauern, bis ich das Geld aufgetrieben habe. Wartest du so lange auf mich?«

»Mitten auf der Straße?«, fragte sie verwundert.

August lächelte. »In einer Pension.« Er führte sie die Straße hinunter, bis sie eine einfache Herberge erreichten. Ohne sich um ihre furchtsamen Blicke zu kümmern, öffnete er die Tür. »Hab keine Angst!«, sagte er zu Emma. »Ich regle das schon.«

Sie folgte ihm zögernd und blieb unschlüssig in dem kühlen Flur stehen. An der kahlen Wand stand ein kleiner Tisch, auf dem einige Ausgaben der Gartenlaube lagen. In ihrem Heimatort hatten einige Frauen die Fortsetzungsromane in dieser Zeitschrift gelesen, sogar die Ehefrau des Pfarrers. Die Polster der beiden Stühle, die neben dem Tisch an der Wand lehnten, sahen abgenutzt aus. Am Ende des Flurs, neben der Treppe, stand ein Sekretär mit geöffnetem Rollo. Auf der Schreibfläche lagen Papiere.

Eine ältere Dame kam aus dem Nebenzimmer. »Schönen guten Tag! Womit kann ich dienen?«, fragte sie freundlich. Sie trug ein dunkles Kleid, das am Hals von einer Brosche zusammengehalten wurde, und Filzpantoffeln, die nicht dazu passten. Ihre weißen Haare waren zu einem kunstvollen Knoten gebunden.

»Guten Tag, meine Dame!«, erwiderte August die Begrüßung. »Ich bin August Strehle, und das ist meine Verlobte Grete!« Er bat Emma durch einen raschen Blick, seine Notlüge nicht zu entlarven. »Wir wandern nach Amerika aus und wollen in die Auswandererhallen nach Veddel. Leider muss ich heute Nachmittag noch einem befreundeten Handwerker beim Hausbau helfen, deshalb möchte ich Sie bitten, meine Verlobte hier warten zu lassen. Ich weiß nicht, wie lange ich unterwegs sein werde. Es kann sein, dass wir bis spätabends arbeiten!« Als er die zögernde Miene der Dame bemerkte, zog er einige Münzen aus der Tasche. »Ich gebe Ihnen gern einige Münzen, falls meine Verlobte sich etwas hinlegen möchte. Wir haben eine anstrengende Reise hinter uns.«

War ihr Blick eben noch misstrauisch über seine abgerissene Kleidung gewandert, hellte ihr Gesicht sich beim Anblick der Münzen schlagartig auf. »Natürlich, mein Herr« stimmte sie zu. »Ihre Verlobte kann im Salon bei einer Tasse Tee warten, bis Sie zurückkommen. Es wird doch nicht zu lange dauern, mein Herr?«

»Ich hoffe nicht«, antwortete August. »Wir wollen heute Abend noch zu den Hallen rüber.« Er verabschiedete sich von Emma und verließ das Hotel, bevor die Dame nach Gepäck fragen konnte.

»Unsere Koffer sind schon drüben«, erriet Emma die Gedanken ihrer Gastgeberin. Ihr wurde erst jetzt bewusst, wie unvorbereitet sie auf ihre große Reise ging. Sie war bestimmt das einzige Mädchen, das nur mit einem Rucksack nach Amerika fuhr. Ohne August wäre ihre Reise schon hier in Hamburg zu Ende gewesen.

Die Besitzerin der Pension bat sie in den Salon und deutete auf einen Sessel, der ebenso abgenutzt wie die Möbel im Flur aussah. »Setzen Sie sich doch! Auf dem Tisch liegt die neueste Ausgabe der Gartenlaube. Eine wunderbare Zeitschrift, finden Sie nicht auch? Den neuen Roman kann ich sehr empfehlen.« Sie wartete, bis Emma sich gesetzt hatte. »Eine Tasse Tee, wertes Fräulein?«

»Gern«, stimmte Emma zu. Sie fühlte sich ein wenig unbehaglich in Gegenwart der vornehmen Dame, auch wenn ihre Gastgeberin sicher nicht so wohlhabend war, wie es auf den ersten Blick aussah. Dazu waren die Möbel zu schäbig. Es hatte eher den Anschein, als hielte sie sich mit ihrer Pension mühsam über Wasser.

»So, da wäre ich wieder«, meldete sich die Frau, als sie mit einem Tablett, auf dem eine Kanne Tee, zwei Tassen und etwas Gebäck standen, in den Salon zurückkehrte. Ein weiteres Indiz dafür, dass es ihr schlechter ging, als sie einen glauben machen wollte. In einem wohlhabenden Haushalt hätte es ein Dienstmädchen gegeben. »Und Sie wollen den Sprung nach Amerika wagen?«, fragte sie, nachdem sie den Tee eingeschenkt hatte.

Emma zwang sich zu einem Lächeln. »August und ich haben etwas Geld gespart. Mein Onkel besitzt ein Eisenwarengeschäft in New York und möchte, dass wir den Laden weiterführen. Er ist über sechzig und möchte sich langsam zur Ruhe setzen.« Zu spät fiel ihr ein, dass ihre Gastgeberin genauso alt sein musste.

»Darf ich fragen, wie alt Sie sind?«, fragte die Besitzerin.

»Neunzehn«, log Emma. »Ich werde nächsten Monat zwanzig. Sobald wir in New York sind, wollen wir heiraten.« Sie bemerkte den zweifelnden Blick ihrer Gastgeberin und fügte rasch hinzu: »Ich sehe jünger aus, nicht wahr? Ich glaube, das liegt in der Familie. Manche Leute hielten meine Mutter für meine Schwester.«

»Kommen Ihre Eltern nicht mit?«

Emma merkte, dass ihre Gastgeberin sie aushorchen wollte, und achtete darauf, ihr nicht zu viel zu verraten. Sie traute ihr zu, die Polizei zu benachrichtigen, falls sie Verdacht schöpfte. Vielleicht gab es sogar eine Belohnung, wenn man eine junge Ausreißerin zurückbrachte. »Meine Eltern sind tot«, sagte sie, »sie sind vor sieben Jahren bei einem Feuer umgekommen.« Wenigstens das stimmte. »Kommen viele Auswanderer zu Ihnen?«, fragte sie.

»Alle paar Tage«, antwortete die Frau. »Die meisten Passagiere stammen aus Russland und haben kaum Geld. Juden, wissen Sie? Wenn ich ehrlich bin, möchte ich solche Leute auch gar nicht haben. Sie sind schmutzig und riechen nach Knoblauch.«

In der Lüneburger Zeitung hatte Emma oft über die Flüchtlinge aus Osteuropa gelesen. Angeblich hatte man sie aus ihrer Heimat vertrieben. Sie glaubten an denselben Gott, beteten aber in Synagogen und befolgten strenge Gesetze. Es gab seltsame Rituale und für jeden Anlass ein besonderes Gebet. Am Samstag, dem Sabbat, ließen sie die Arbeit ruhen. Die meisten Leute mochten die Juden nicht, auch ihr Onkel hatte ständig auf sie geschimpft. »Sollen sie doch nach Amerika fahren«, sagte er, »dann müssen wir uns nicht mit diesem stinkenden Abschaum herumschlagen!«

Emma war noch nie einem Juden begegnet und wollte sich kein Urteil erlauben. Sie verstand nichts von Politik. Geschickt lenkte sie das Gespräch auf harmlose Themen wie den riesigen Hamburger Hafen oder die neue Mode aus Paris. Nach einer Weile entschuldigte sich ihre Gastgeberin und ging. Emma atmete erleichtert auf. Sie war viel zu nervös, um sich mit der Dame zu unterhalten, und versteckte sich lieber hinter einer aufgeschlagenen Ausgabe der Gartenlaube und tat so, als würde sie darin lesen.

Doch ihr einziger Gedanke war: Würde August das fehlende Geld besorgen können und wann kehrte er zurück? Würde er überhaupt wieder zurückkommen? Was war, wenn er versuchte sich das Geld auf illegale Weise zu besorgen? Würde man ihn erwischen und ins Gefängnis sperren? Was sollte sie tun, wenn er bis zum Abend nicht zurück war? Sie besaß genug Geld, um sich für ein paar Tage in der Pension einzuquartieren, doch dann würde die Besitzerin sicher misstrauisch und alarmierte die Polizei! In Gedanken sah Emma bereits, wie man sie in Handschellen zu ihrem Onkel zurückbrachte, und hörte ihn sagen: »Vielen Dank, Herr Wachtmeister! Ich glaube, der Kleinen muss ich mal kräftig den Hintern versohlen!«

Der Tag verging quälend langsam. Durch die Fenster beobachtete sie mit wachsender Unruhe, wie die Sonne nach Westen wanderte und bald nur noch als blutrote Scheibe jenseits des Hafens zu sehen war. Einige Lagerhallen und Kräne hoben sich wie Scherenschnitte gegen den abendlichen Himmel ab. »Wo bist du, August?«, flüsterte sie verzweifelt. »Lass mich bitte nicht allein! Komm zu mir zurück, auch wenn du das Geld nicht auftreiben kannst! Wir schlagen uns schon irgendwie durch!«

Als es dunkel wurde, brachte die Besitzerin ihr einige Schnittchen mit Griebenschmalz und frischen Tee. »Ihr Verlobter lässt sich aber viel Zeit«, sagte sie mitleidig. Sie stellte den Teller hin, schenkte Tee ein und setzte sich zu Emma an den Tisch. »Warum muss er denn so wenige Tage vor Ihrer Abreise noch arbeiten?«

Ihren neuen Anlauf, sie auszuhorchen, beantwortete Emma mit einer Notlüge. »Die Arbeit wird gut bezahlt, und in Amerika können wir jede Mark ... jeden Dollar gut gebrauchen.« Sie aß eines der Schnittchen und zwang sich, nicht gleich nach dem nächsten zu greifen. Sie hatte großen Hunger. »Er wird sicher gleich kommen!«

Doch als sie das letzte Schnittchen gegessen hatte, war August noch immer nicht zurück und sie wurde langsam unruhig. Es gab keine anderen Gäste in der Pension, und die Besitzerin machte keine Anstalten, sie allein zu lassen. Sie stellte eine neugierige Frage nach der anderen, ob aus Neugier oder Misstrauen konnte Emma nicht sagen. »August ... mein Verlobter ist sehr fleißig. Der hört erst auf, wenn er eine Arbeit beendet hat.«

Die Minuten rannen dahin, und jede Viertelstunde erinnerte sie der Gong einer großen Standuhr daran, wie schnell die Zeit verging. Die Besitzerin las in der Gartenlaube, hob aber nach jedem Kapitel den Kopf und blickte ihren jungen Gast fragend an. Emma antwortete mit einem Schulterzucken und einem Lächeln. Was sollte sie bloß tun, wenn August nicht zurückkam? Wenn sein Plan, das Geld zu besorgen, nicht aufgegangen war oder er es einfach leid war, sich weiter mit ihr zu beschäftigen? Vielleicht hatte er nur das Geld für sein Billett bekommen und wartete längst auf die Abfahrt seines Dampfers nach Australien. Der Gedanke tat ihr weh und sie spürte, wie ihr die Tränen in die Augen traten.

Der Tee in ihrer Tasse war längst kalt, als Schritte vor dem Haus erklangen und zweimal gegen die Tür geklopft wurde. Emma folgte der Besitzerin der Pension in den Flur und atmete erleichtert auf, als sie August sah. Er sah verändert aus. Sein Gesicht war frisch gewaschen und er trug seinen sauberen, aber etwas verknitterten Sonntagsanzug und eine Krawatte. Auf seiner Stirn war eine blutige Schramme. »August! Du bist verletzt! Was ist denn passiert?«

August winkte lächelnd ab. »Nichts Besonderes! Ich bin gegen einen Balken gelaufen, weiter nichts!« Zu der Besitzerin sagte er: »Vielen Dank, dass Sie meine Verlobte aufgenommen haben. Bin ich Ihnen noch etwas schuldig?« Er gab vor, nach Geld zu suchen.

»Nein, nein, lassen Sie mal«, erwiderte die Dame. Obwohl sie das Geld sicher gut brauchen konnte, wäre es ihr wohl peinlich gewesen, noch mehr zu verlangen. »Ich wünsche Ihnen eine gute Reise! Ich wollte, mein Willi wäre noch am Leben und wir könnten ein solches Abenteuer wagen. Vergessen Sie Ihren Mantel nicht!«

Emma nahm rasch ihren Mantel von der Garderobe und zog ihn an. Sie bedankte sich bei der Frau, schnallte ihren Rucksack um und folgte August in die kühle Frühlingsnacht. Sie gingen einige Schritte, bis sie außer Sichtweite der älteren Dame waren. Dann blieb Emma stehen. »Was ist wirklich passiert, August?«, fragte sie aufgeregt. »Du bist doch nicht gegen einen Balken gelaufen? Hast du dich geschlagen? Was ist geschehen, August?«

Der junge Mann lächelte immer noch. »Karol war ein schlechter Verlierer. Der Pole, von dem ich die Billette gewonnen habe. Als ich ihn in drei Spielen besiegt hatte, wollte er die Billette nicht herausrücken und ich musste ... etwas nachhelfen.« Er berührte vorsichtig die Wunde. »Leider hat er mich auch erwischt.«

»Du hast dich geprügelt, August!«

»Nur ein bisschen«, erklärte er grinsend. »Aber dafür hab ich die Billette!« Er griff in seine Jackentasche und zeigte ihr die kostbaren Fahrscheine. Sie waren beide auf eine Passage nach New York ausgestellt. »In zwei Wochen, auf der Kaiserin Auguste Victoria

Emma blickte ihn ungläubig an, betrachtete die Billette und strahlte schließlich. »Du fährst mit nach Amerika? Du fährst mit mir? Du fährst nicht nach Australien?« Sie konnte es nicht fassen.

»Soll ich dich vielleicht allein nach Amerika fahren lassen?«, fragte er mit einem schlauen Grinsen. »Immerhin sind wir verlobt!«

Sie umarmte ihn stürmisch und küsste ihn auf den Mund. »Oh, das ist wunderbar, August! Wir fahren nach Amerika!« Erst nach einer Weile merkte sie, wie wenig damenhaft sie sich benahm. Sie ließ von ihm ab und war froh, dass man im schwachen Laternenlicht nicht sehen konnte, wie ihr das Blut ins Gesicht stieg. »Ich meine natürlich ... äh, das hast du wirklich gut gemacht, August.«

Sie gingen einige Minuten verlegen nebeneinanderher, dann blieb Emma plötzlich stehen und fragte besorgt: »Du hast doch ehrlich gespielt, August? Du hast doch nicht betrogen? Du hast ihm die Billette doch nicht weggenommen? Wenn der Mann dich anzeigt, lassen sie uns nicht aufs Schiff und du kommst ins Gefängnis und ich muss zu meinem Onkel zurück! Sag mir, dass es nicht so ist, August! Sag mir, dass du ehrlich gewonnen hast!«

»Ich hab sie ehrlich gewonnen«, log August. »Und fünfzig Dollar dazu!« Er griff erneut in die Tasche und zeigte ihr eine amerikanische Banknote. Jetzt kann uns nichts mehr passieren! Hab keine Angst, Emma! Du wirst deinen Onkel niemals wieder sehen!«

Sie reagierte erleichtert und nickte zufrieden. »Das ist gut. Ich liebe meine Heimat, weißt du, aber seit meine Eltern tot sind, hält mich nichts mehr dort. Ich hab keine Verwandten außer meinem Onkel und meiner Tante. Ich vermisse nur den Herrn Pfarrer. Wenn wir in New York sind, schicke ich ihm eine Bildpostkarte.«

Der Mann, der sie auf der Wilhelmsburger Brücke belästigt hatte, lehnte nicht mehr am Geländer, und sie erreichten ungehindert die Auswandererhallen. Die flachen Gebäude lagen hinter einem hohen Zaun und waren nur schwach beleuchtet. Im trüben Schein einiger Laternen ragte der klobige Turm über dem Eingangsgebäude in den Abendhimmel. Es roch nach Knoblauch und Zwiebeln, ein strenger Duft, der alle osteuropäischen Auswanderer umwehte und sich zwischen den Gebäuden ausgebreitet hatte.

Der Angestellte, der ihre Personalien aufnahm und ihre persönlichen Dokumente überprüfte, musterte sie eingehend, bevor er mit dem Schreiben begann. Erst als er merkte, dass Emma und August aus Deutschland kamen, wurde er freundlicher. Er schien die Juden genauso wenig zu mögen wie die Besitzerin der Pension. Außer dem strengen Geruch nach Knoblauch und Zwiebeln musste noch etwas anderes an diesen Juden sein, das andere Leute abschreckte. »Die Herrschaften gehören zusammen?«, fragte der Angestellte nach einer Weile. Er trug eine dunkle Uniform.

»Wir sind verlobt«, antwortete August schnell. »Wir hatten leider noch keine Zeit zu heiraten. Sobald wir in New York sind, wollen wir das nachholen.« Die Lüge ging ihm locker über die Lippen.

»Das stimmt«, bestätigte Emma.

Der Angestellte warf einen Blick in ihre Dokumente und lächelte spöttisch, als er ihr Geburtsdatum sah. »Sind Sie nicht ein bisschen jung zum Heiraten? Die Eltern waren wohl dagegen, hm?«

Sie ließ ihn in dem Glauben und war froh, als sie ihre Papiere zurückbekam. Die erste Hürde hatten sie genommen, doch nach einer Nacht in den behelfsmäßigen Unterkünften, die für Unverheiratete nach dem Geschlecht getrennt waren, stellten sie fest, dass die schwierigsten Hindernisse noch vor ihnen lagen. Am nächsten Morgen mussten sie sich in der großen Empfangshalle an einem der Schalter anstellen und ihre Personalien noch einmal überprüfen lassen. »Mein Feld ist die Welt« stand in deutlich sichtbaren Lettern an der Wand. Emma schien erst beim Anblick dieses Satzes klar zu werden, dass sie im Begriff stand, ihr Heimatland zu verlassen, um in Amerika ihr Glück zu suchen. In der Neuen Welt, wie man das Land jenseits des Atlantiks auch nannte, in einer Stadt, die sie nur von den Bildpostkarten des Apothekers her kannte.

Nachdem ihre Papiere abgestempelt waren, musste sie erneut warten. Zusammen mit jungen Frauen aus Russland und Polen, die sich angeregt auf Jiddisch unterhielten, stand sie vor dem Zimmer des Arztes. Sie musste sich bis auf ihre Unterwäsche ausziehen, wurde eingehend untersucht und geimpft und anschließend zum Desinfizieren geschickt. Nachdem sie aus dem Duschraum kam, erhielt sie die begehrte »Doktorkarte«, mit der sie sich auf der »reinen« Seite im Bereich der Auswandererhallen aufhalten durfte. Sie brachte ihren Rucksack in den Schlafsaal, kehrte in den Hof zurück und suchte nach August. Er war ebenfalls problemlos durch die Untersuchung gekommen und wartete bereits auf sie. »Gott sei Dank! Du bist hier!«, rief sie erleichtert.

Die Zeit bis zur Abfahrt ihres Schiffes stellte sie auf eine harte Probe. Emma war noch nie mit so vielen Menschen auf engstem Raum zusammengepfercht gewesen und fühlte sich unwohl inmitten der vielen Frauen und Mädchen, die sich fast alle in einer anderen Sprache unterhielten, sich anders anzogen und anders rochen. Besonders im Schlafsaal tat sie sich schwer. Die Betten waren nur durch einige Bretter voneinander getrennt und sie kam sich wie eine Henne im Hühnerstall vor. Ihre Nachbarin schnarchte, das Mädchen unter ihr sprach im Schlaf und vom anderen Ende des Saales drang Babygeschrei herüber. Nur beim Essen ging es nicht so gedrängt zu. Die Juden bekamen ihre koscheren Mahlzeiten in einem Nachbarsaal, und sie war mit den wenigen Christen allein. Dort durfte sie auch mit August zusammen sein, der sich sonst im Quartier der unverheirateten Männer aufhielt.

Sie waren froh, als endlich die Abfahrt bevorstand und sie mit den anderen Zwischendeckpassagieren zum Fährschiff gebeten wurden. Emma und August waren unter den ersten Passagieren. Sie griff nach seiner Hand und drückte sie fest, als sie an Bord gingen.

Schaukelnd fuhr das Fährschiff los. Es tuckerte zum Kai der Hamburg-Amerika-Linie, wo die mächtige Kaiserin Auguste Victoria vor Anker lag. Wie ein stählerner Koloss ragte sie aus dem Wasser, unzerstörbar und stark genug, es mit jedem Seegang aufzunehmen. Aus den Schornsteinen stieg dünner weißer Rauch.

Emma strahlte. »Wir haben es geschafft, August! Jetzt kann uns nichts mehr aufhalten!« Sie konnte nicht ahnen, dass ihr die wahren Herausforderungen der langen Reise erst bevorstanden.

4

Die Kaiserin Auguste Victoria war das größte Schiff der Hamburg-Amerika-Linie, ein über zweihundert Meter langer Ozeandampfer mit mehreren Decks und zwei Schloten. Ungefähr sechshundert Passagiere reisten in der komfortablen ersten, knapp dreihundert in der zweiten und zweihundert in der dritten Klasse. Emma und August waren bei den achtzehnhundert »Zwischendeckern«, die in den kargen Quartieren unterhalb der »Back« die Reise verbrachten. Die Back lag im vorderen Teil des Schiffes, ein tiefer gelegenes Deck, das bei stürmischem Seegang als erstes mit Wasser überspült wurde.

Als sie an Bord gingen, spielte auf dem Kai eine Blaskapelle »Muss i denn zum Städtele hinaus«. Emma schwebte wie auf Wolken, fühlte sich beschwingt und frei und hätte vor Freude am liebsten gejauchzt. Vergessen waren die schweren Jahre nach dem Tod ihrer Eltern, die Demütigungen im Haus ihres Onkels, die Angst und die Nervosität auf der Flucht nach Hamburg. Ein neues Leben begann! Das Schiff brachte sie in die Neue Welt, in der es keine Armut und Unterdrückung gab, in der jeder Mensch frei war.

Sie hängte sich bei August ein und lehnte ihren Kopf an seinen Arm. Ihr strahlender Blick gab ihm zu verstehen, wie sehr sie sich darüber freute, dass er mit ihr nach Amerika fuhr. »Endlich!«, seufzte sie. »Wie lange habe ich auf diesen Augenblick gewartet!«

An Bord wurden sie von einem Matrosen in Empfang genommen, der ihnen ihre Quartiere zuwies. Da sie nicht verheiratet waren, schliefen sie auf verschiedenen Seiten des Schiffes, Emma in der »Abteilung für ledige Frauen« und August in der »Abteilung für ledige Männer«.

»Wir treffen uns auf der Back!«, flüsterte August ihr zu. »Nach dem Mittagessen!«

Emma nickte tapfer und folgte den anderen Frauen und Mädchen durch einen langen, schwach beleuchteten Gang. Im Vorbeigehen erhaschte sie einen Blick in die Waschräume und die Küche. Über eine steile Treppe, die mit Tauen abgesichert war, stieg sie in einen der großen Schlafräume hinab und legte ihr Bündel auf eines der oberen Betten. Sie wollte möglichst nahe am Eingang schlafen, um weit genug von dem muffigen Gestank entfernt zu sein. Schon jetzt roch es überall nach Knoblauch. Sie war den strengen Duft nicht gewöhnt und litt sehr darunter. Sie fragte sich, ob auch den Deutschen ein bestimmter Geruch zu Eigen war.

In ihrem Schlafsaal gab es sechsunddreißig Betten, schwere Eisengestelle, auf denen jeweils ein Strohsack und eine Wolldecke lagen. In den Falten hatte sich einiges Ungeziefer eingenistet, und Emma schüttelte die Decke angewidert, bis sie sauber war. Am Kopfende hing ein Blecheimer mit einem Blechlöffel und einer Blechgabel. Daneben war eine Schwimmweste befestigt. Noch bevor sie in See stachen, zeigte ihnen ein Matrose, wie man die Weste überzog. »Keine Angst«, versicherte er grinsend, »ich fahre schon zwei Jahre über den Nordatlantik und es ist noch nie etwas passiert!«

Emma hängte ihren Rucksack an das Bettgestell und legte ihren Mantel auf das Bett. Noch waren die Bullaugen geöffnet und eine angenehme Brise wehte durch den Raum. Auf der Backbordseite zog sich ein schmaler Tisch an der Schiffswand entlang, auf dem zwei Kannen Kaffee und Blechbecher standen. »Fährst du zum ersten Mal nach New York?«, hörte sie eine Stimme sagen.

Sie gehörte zu dem Mädchen, das unter ihr schlief. Sie war ungefähr gleichaltrig, trug einen schlichten Rock und eine Bluse und einen dunklen Schal über ihrem Kopf. Ihre schwarzen Haare waren zu langen Zöpfen gebunden. Ihr Blick war schüchtern, beinahe ängstlich, und der kleine Koffer, den sie am Kopfende verstaut hatte, trug in sauberen Buchstaben ihren Namen: Rose Goldstein.

Das Mädchen hatte Jiddisch gesprochen, aber die Sprache der Juden enthielt einige deutsche Wörter und sie erkannte den Sinn der Frage. Ja, ich reise mit meinem Verlobten«, hielt sie die Lüge aufrecht, »wir wollen heiraten, sobald wir in New York sind!« Sie gab dem Mädchen die Hand. »Ich heiße Emma. Emma Mahler.«

»Rose Goldstein«, erwiderte die Jüdin. Sie sprach etwas Deutsch und machte sich in einem Kauderwelsch aus Jiddisch und Deutsch verständlich. »Ich fahre zu meinem Onkel und meiner Tante. Sie haben einen Gemischtwarenladen. Ich bin die jüngste Tochter, und mein Tatteh ... mein Vater hat mich ausgewählt, unsere Familie zu ... Wie sagt man? ... unterstützen.« Ihr trauriger Blick verriet, wie schwer es ihr gefallen sein musste, die Familie zu verlassen. »Ich komme aus Polen«, radebrechte sie weiter. »Aber die letzten sechs Monate habe ich in Deutschland gewohnt. Ich habe Geld bei einer reichen Familie verdient ... als Hausmädchen.«

Emma wusste wenig über die Verhältnisse in Polen, hatte nur gehört, dass ein großer Teil des Landes unter russischer Herrschaft stand. Von Rose erfuhr sie noch vor der Abfahrt, dass der Zar ein ungerechter Mann war und alle Juden von der Polizei und dem Militär verfolgen ließ. »Ich komme aus einem kleinen shtetl in der Nähe von Gomel«, berichtete sie traurig. »Vor einigen Jahren haben sie dort fast alle Juden umgebracht! Der Zar gibt uns die Schuld für alles ... den Krieg gegen Japan, den Tod von Christenmenschen, den Aufstand der Männer, die keinen Zar mehr wollen. Deshalb lässt er uns umbringen! Und niemand hilft uns! Die Polizei steht dabei, wenn sie uns die Köpfe einschlagen! Meine Familie hatte Glück. Wir leben auf dem Land. Wir konnten uns verstecken.«

Die Worte der jungen Rose berührten Emma und ließen ihr die Juden in einem ganz anderen Licht erscheinen. Bisher hatte sie nur gehört, wie sie als »Schmarotzer« und »Störenfriede« beschimpft wurden, als »stinkender Abschaum«, dem man nicht über den Weg trauen dürfe. Niemand hatte ihr erzählt, wie sehr die Juden in Russland und Polen leiden mussten. Deshalb also strömten sie in Scharen nach Westen und wanderten nach Amerika aus!

Sie setzte sich neben Rose und griff nach der Hand des Mädchens. Nicht einmal der strenge Knoblauchgeruch störte sie mehr. »Das wusste ich nicht«, sagte sie mit erstickter Stimme. »Aber jetzt brauchst du keine Angst mehr zu haben. Du bist in Sicherheit! Und in Amerika verdienst du bestimmt genug, um Geld nach Hause schicken zu können. Vielleicht kommen deine Eltern und Geschwister nach, wenn sie das Geld für die Billette gespart haben.«

»Nein«, erwiderte Rose, »sie würden lieber sterben als ihre Heimat zu verlassen. Selbst die Männer des Zaren können sie nicht vertreiben. Und meine Geschwister werden niemals so viel Geld haben, um sich ein Billett kaufen zu können. Das Geld, das ich ihnen schicke, brauchen sie zum Leben. Ich werde sie niemals wieder sehen!« Sie senkte den Kopf und begann leise zu weinen.

»In Amerika wird alles besser!«, versprach Emma. Sie wusste nicht, wie sie ihr sonst Trost spenden sollte. »Komm, wir gehen nach oben und winken den Leuten am Kai zu, wenn wir ablegen!«

Sie stiegen auf die Back hinauf und kamen vor lauter Menschen kaum vorwärts. Fast alle Zwischendecker drängten sich im vorderen Teil des Schiffes um dabei zu sein, wenn die Kaiserin Auguste Victoria ablegte. Unter den Klängen der Blaskapelle rückte der Ozeandampfer vom Kai ab. Einige Passagiere klatschten. Sie waren wohl froh, die Alte Welt und ihre Probleme hinter sich lassen zu können. Von dem höher gelegenen Deck der ersten Klasse fielen bunte Luftschlangen herunter. Ein Mann rief: »Auf nach Amerika!«

Emma entdeckte August in der Menge und zog ihn zu Rose. »Das ist Rose«, stellte sie ihre neue Freundin vor, »sie fährt zu ihrem Onkel. Er hat einen Gemischtwarenladen.« Sie blickte August an. »Das ist August ... mein Verlobter.«

Während das Schiff den Hafen verließ und mit halber Kraft über die Elbe zum Meer stampfte, stellte Emma sich vor, dass es wirklich so war. Dass sie verlobt waren und sich in einer New Yorker Kirche trauen lassen würden. Der Gedanke gefiel ihr. Sie würden eine Schreinerei eröffnen und sich eine kleine, aber gemütliche Wohnung teilen, und sie würde im Büro ihres Mannes arbeiten und sich um den Haushalt und die Kinder kümmern. »Bis dass der Tod uns scheidet!«, sagte sie so leise, dass niemand sie hören konnte.

Als die Glocke zum Essen rief, stieg sie mit Rose zu den unteren Decks hinunter. Ein Matrose teilte ihnen mit, dass die koscheren Speisen für die Juden in einem gesonderten Speisesaal serviert wurden. Die Anordnung sorgte für einigen Unmut unter den Christen. »Das hab ich mir gedacht«, riet eine ältere Deutsche, »die Juden bekommen natürlich wieder eine Extrawurst gebraten!« Eine Italienerin zeigte mit dem Finger auf die jüdischen Frauen und Mädchen und sagte etwas, das Emma nicht verstand. »Lasst sie in Ruhe!«, schimpfte Emma. »Sie haben euch doch nichts getan!«

Sie holte ihr Besteck und ging in den Speisesaal. Es gab Hering mit Pellkartoffeln, eine Delikatesse, die es nur noch ein Mal während der zwölftägigen Fahrt geben sollte. Emma ließ sich zögernd auf eine Unterhaltung mit ihren Tischnachbarn ein, erfuhr von einer Wienerin, dass sie in einem Kaffeehaus auf der Kärntner Straße gearbeitet und sich erst nach der Trennung von ihrem Verlobten zur Auswanderung entschlossen hatte. Eine schlesische Bäuerin hatte ihren Mann verloren und floh vor ihren aufdringlichen Verwandten nach Amerika. Sie träumte vom Bundesstaat Wisconsin, dort sollte es Deutsche und gutes Ackerland geben.

Weil der muffige Geruch im Schlafsaal beinahe unerträglich war und einige Russinnen zum lauten Klang einer Balalaika tanzten, kehrte Emma auf die Back zurück. Dort wimmelte es auch abends von Menschen. In dichten Trauben standen die Passagiere an der Reling und blickten auf das offene Meer hinaus. Die Küste war längst nicht mehr zu sehen. Scheinbar endlos dehnten sich die Wassermassen nach allen Seiten aus, überstrahlt vom abendlichen Himmel, der im Licht der untergehenden Sonne glühte.

August hatte schon auf sie gewartet und legte einen Arm um ihre Schultern. Sie ließ sich die Zärtlichkeit nur zu gern gefallen. Seine Berührung war fest und doch zärtlich und gab ihr ein Gefühl der Geborgenheit, das sie lange nicht mehr gespürt hatte. Wie hatte sie jemals ohne August leben können? Sie lehnte ihren Kopf an seine Brust und lächelte zufrieden. Sie wollte gar nicht daran denken, dass die Verlobung eine Notlüge war und August mit keinem Wort versprochen hatte, nach ihrer Ankunft bei ihr zu bleiben.

»Ich mag das Meer«, sagte sie. »Es ist so ... friedlich.«

Ja«, erwiderte er nur.

Die erste Nacht in der ungewohnten Umgebung wurde zu einer echten Herausforderung für Emma. Aus dem Nebenraum, in dem die galizischen Juden untergebracht waren, drang der süßliche Geruch des Knoblauchs in den Schlafsaal, und von einem anderen Deck tönte das Schreien eines Babys herüber. Einige der Passagiere schnarchten laut. Die Luken waren bis zwanzig Uhr geöffnet, dann rief ein Offizier »Luken schließen! Schotten dichtmachen!«, und ein Matrose betrat den Schlafsaal und führte den Befehl aus. Der Luftstrom versiegte. Scheppernd fiel das Schott ins Schloss, eine Eisentür, die verhindern sollte, dass das ganze Schiff voll Wasser lief, wenn es auf einen Eisberg oder Felsen lief.

Emma hatte sich bis auf die Unterwäsche ausgezogen, das Kleid übers Geländer gehängt und benutzte ihren Mantel als Kopfkissen. Der Strohsack, der eine Matratze ersetzte, stach sie wie mit tausend Nadeln. Ihr Nachtlager war schmal und hart und so unbequem, dass sie alle paar Minuten aufwachte und sich unruhig von einer Seite auf die andere wälzte. Eine Bettreihe weiter sprach eine ältere Ungarin so laut im Schlaf, dass die Passagiere in den Nachbarbetten aufwachten und sie wütend zur Ordnung riefen.

Gegen Mitternacht begann das Schiff zu schaukeln. Sie öffnete ängstlich die Augen und sah, wie sich ihr Kleid über dem Geländer bewegte, zuerst langsam, dann immer stärker. Das Schiff legte sich auf die rechte Seite und kippte langsam nach links zurück. Die Bettgestelle quietschten und durch das Schiff liefen seltsame Geräusche. Ihr Magen zog sich zusammen. Sie sah, wie einige Frauen aus ihren Betten sprangen und sich in den Blecheimer übergaben, und drückte ihr Gesicht tief in den Strohsack. Mit beiden Händen hielt sie sich die Ohren zu. Allein von den würgenden Geräuschen wurde ihr so übel, dass sie beinahe die Kontrolle verlor.

Später in dieser Nacht wurde es noch schlimmer. Jetzt stampfte das Schiff, es stemmte sich gegen Wind und Wellen, tauchte mit dem Bug tief in das rollende Meer, hob sich meterweit aus dem Wasser und schlug wieder zurück. Diesmal wurde auch Emma übel. Sie übergab sich mehrmals in ihren Blecheimer und musste sich mit beiden Händen am Geländer festhalten, um nicht aus dem Bett zu fallen. Unter sich hörte sie Rose verzweifelt beten. Das aufgewühlte Meer gab keine Ruhe, ließ das schwere Dampfschiff stampfen und rollen und schien es darauf abgesehen zu haben, den Passagieren die übelste Nacht ihres Lebens zu bereiten.

Beim Frühstück fehlte ein großer Teil der Passagiere, blieb lieber im Bett, um sich von der unruhigen Nacht zu erholen. Die beiden Matrosen, die den schmutzigen Boden mit Sand schrubbten und die Blecheimer leerten, machten sich über sie lustig, sprachen von »bewegter See« und dass ein Sturm ganz anders aussehe.

Emma blieb einige Zeit bei Rose, der immer noch übel war, und tröstete sie. Die junge Polin lag leichenblass auf ihrem Strohsack, die Wolldecke bis zum Kinn gezogen, und betete verzweifelt. »Weißt du, was mein Tatteh gesagt hat?«, sagte sie mit dünner Stimme. »Sei fromm«, hat er gesagt. »Lebe so, wie die Gesetze der Torah, unseres heiligen Buches, es dich lehren, und vergiss niemals den Sabbat! Der Sabbat ist das größte Geschenk, das Gott den Juden gegeben hat! Der Sabbat ist so, wie die kommende Welt sein wird!« Sie atmete eine Weile unruhig. »Ich habe den Sabbat verletzt, Emma! Ich habe gearbeitet, um rechtzeitig am Hafen sein zu können. Und jetzt straft Gott mich für dieses Vergehen!«

»So ungerecht ist Gott nicht«, erwiderte Emma. »Er hat euch vor den Männern des Zaren beschützt und er ist auch auf dieser Reise bei dir, um dir Kraft für dein neues Leben zu geben. Hab keine Angst, Rose! Ich bin evangelisch und gehe in eine andere Kirche, aber ich glaube, wir haben denselben Gott. Er beschützt uns!«

Rose berührte ihre Hand und fuhr mit geschlossenen Augen fort: »Weißt du, was in der Bibel steht?« Sie überlegte eine Weile. »Gedenke des Sabbattages, dass du ihn heiligst. Sechs Tage lang sollst du arbeiten und alle deine Geschäfte verrichten. Doch der siebte Tag ist ein Ruhetag für den Herrn, deinen Gott. Du sollst dann keinerlei Arbeit tun, weder du selbst noch dein Sohn noch deine Tochter noch dein Knecht noch deine Magd. Denn in sechs Tagen hat der Herr den Himmel und die Erde und alles, was sich darauf befindet, erschaffen, doch am siebten Tag ruhte er. Darum segnete der Herr den Sabbat und erklärte ihn für heilig. «

»Du wirst wieder gesund, Rose. Ganz bestimmt.«

»Was ein glick, dass du bei mir bist«, sagte Rose dankbar. »Was für ein Glück! So nett war noch keine ... keine Christenfrau zu mir!«

Nach einiger Zeit schlief das Mädchen ein und Emma stieg zur Back hinauf. Vom Zwielicht des frühen Morgen geblendet blieb sie einen Augenblick stehen. Erleichtert atmete sie die frische Luft ein. Am Himmel hingen dunkle Wolken und es regnete leicht, aber das schlechte Wetter schien die Leute nicht davon abzuhalten, ihre Quartiere zu verlassen. Obwohl zahlreiche Passagiere so seekrank waren, dass sie in ihren Betten liegen blieben, waren immer noch so viele Leute an Deck, dass man kaum weiterkam. Ihre blassen Gesichter kündeten von einer unruhigen Nacht. Nur die Kinder waren so lebhaft wie zuvor am Abend.

August hockte auf einer Taurolle auf dem Boden und schrieb in sein Tagebuch. Er war so vertieft in seine Arbeit, dass er nicht merkte, wie Emma sich ihm näherte. Sie wollte ihn überraschen und trat unbemerkt hinter ihn und erhaschte dabei einen flüchtigen Blick in sein Tagebuch. blickten sie zu den Sternen empor, die ihnen den Weg in eine neue Zukunft wiesen ...«, las sie, bevor August sie entdeckte und das Buch schnell zuklappte. »Tu das nie wieder!«, brauste er auf.

Sie erschrak. »Aber ich wollte doch nur ...«

Er hatte sich schon wieder in der Gewalt und lächelte schuldbewusst. »Tut mir Leid, Emma! Ich wollte dich nicht anschreien. Es ist nur ... Ich möchte nicht, dass irgendjemand in meinem Buch liest, bevor ich fertig bin. Es ist noch nicht gut genug, weißt du?«

»Du schreibst ein Buch?«, fragte sie ungläubig. »Ein richtiges Buch? Einen Roman wie ›Ivanhoe‹? Das hast du mir gar nicht gesagt!« Sie blickte auf das schwarze Tagebuch und blickte ihn ungläubig an. »Das ist wundervoll, August! Einfach wundervoll!«

»Es ist nur ein Versuch«, dämpfte er ihre Freude, »noch ist es nicht fertig. Ich weiß nicht mal, ob ich es jemals fertig schreibe. Manchmal, wenn ich nicht weiterweiß, würde ich es am liebsten wegwerfen! Ich glaube, ich bin nicht begabt genug für einen Roman. Ich bin Schreiner. Schreiner schreiben keine Bücher, oder?«

»Du schon«, sagte Emma stolz, »du schreibst einen Roman und wirst weltberühmt!« Sie setzte sich neben ihn und lächelte ihn verliebt an. »Und ich werde jedem erzählen, dass ich den weltbekannten Autor kenne, der das beste Buch der Welt geschrieben hat ...«

Er grinste. »Du hast eine blühende Fantasie, Emma!«

5

Unbeeindruckt von Wind und Wetter stampfte die Kaiserin Auguste Victoria durch den Atlantik. Emma gewöhnte sich rasch an die Routine, die allmorgendliche Toilette im Waschraum, die festen Essenszeiten, die schaurigen Geräusche, wenn die Matrosen das Licht löschten und die Schotten verschlossen. Den Lärm und den Abfall in den Schlafräumen ließ sie schon am frühen Morgen hinter sich, wenn sie sich mit August auf der erhöhten Back traf. Sie sprachen viel miteinander, erzählten von der alten Heimat und den Erlebnissen in ihrer Jugend und träumten von einer gemeinsamen Zukunft, ohne feste Pläne zu machen. Denn immer wenn Emma konkreter werden wollte, blieb August seltsam verschlossen und flüchtete sich in Sätze wie: In New York haben wir genug Zeit, um über alles nachzudenken.«

Jeden Nachmittag besuchte Emma einen Englischkurs, den die Frau eines Handwerkers im Raucherzimmer des Schiffes anbot. Sie war in Deutschland gewesen, um ihre todkranke Mutter zu besuchen, und verdiente sich mit dem Unterricht ein Zubrot. Da sie schon seit zwanzig Jahren in Amerika lebte, sprach sie fließend Englisch. Wenigstens die Grundbegriffe der Sprache wollte Emma kennen, wenn sie in New York an Land ging. August sagte, er würde sich noch früh genug mit der fremden Sprache herumschlagen müssen, und nützte die Zeit, um in sein Tagebuch zu schreiben. Wenn er geschrieben hatte, wirkte er oft sehr nachdenklich, und Emma hätte gern gewusst, was ihn bedrückte, wagte aber nicht, ihn danach zu fragen. Sie genoss die Augenblicke, wenn sie zusammen an der Reling standen, über den endlosen Ozean blickten und sich den Wind um die Nase wehen ließen.

Jeden Abend vor dem Schlafengehen unterhielt sie sich mit Rose. Sie verstand sich immer besser mit der jungen Polin und gewöhnte sich so an ihren Kauderwelsch aus jiddischen, deutschen und auch russischen Ausdrücken, dass sie auch die anderen Jüdinnen einigermaßen verstand. Einige der Frauen und Mädchen waren zu Verwandten unterwegs so wie Rose, andere hatten ihr Fahrgeld von einem Agenten bekommen und sich verpflichtet, die Summe mit Zinsen zurückzuzahlen. Der Agent hatte Verträge mit den großen Fabriken und garantierte ihnen Arbeit, doch viele der Passagierinnen versäumten, das Kleingedruckte durchzulesen, und erlebten in New York ein böses Erwachen. Manche brauchten viele Jahre, um ihre Schulden abzubezahlen.

Doch wer die Vernichtungsfeldzüge der Männer des Zaren miterlebt hatte, war nicht wählerisch und einfach froh, dem Inferno in Russland und Polen lebend entkommen zu sein. Emma fragte sich, warum alle Welt etwas gegen die Juden hatte, aber darauf wusste nicht mal Rose eine Antwort. »Wir sind anders«, vermutete sie. »Wir glauben an die Torah und ihre Regeln und studieren den Talmud um zu wissen, wie wir diese Regeln befolgen sollen. Das gefällt den Leuten nicht. Der Zar will, dass wir seine Gesetze befolgen. Aber für uns gilt nur, was Gott gesagt hat.«

»Du bist die erste Jüdin, mit der ich spreche«, räumte Emma ein, »und ich finde dich nett. Ich glaube, manche Leute mögen die Juden nur nicht, weil sie so viele Geschäfte machen. Mein Onkel ist ein böser Mann. Er sagt, die Juden nehmen ihre Kunden aus.«

»Unsere Leute können mit Geld umgehen«, erklärte Rose, »sie kennen sich mit Geschäften aus. Und es gibt sicher Juden, die andere übers Ohr hauen. Solche Leute gibt es überall, farshtaist

Am vierten Tag ihrer Reise geschah etwas, was die Passagiere auf dem Zwischendeck erheiterte und Emmas Leben eine entscheidende Wendung gab. Später würde sie noch oft an diesen eher unbedeutenden Vorfall zurückdenken und behaupten, dass ihr Protest gegen die herrschende Klasse schon damals begonnen hatte. Eine Passagierin der ersten Klasse, elegant gekleidet und einen federgeschmückten Hut auf den gelockten Haaren, ließ einen Handschuh auf die Back fallen. Emma hielt es für ein Versehen, aber als sie das arrogante Lächeln der Frau sah, erkannte sie, dass diese den Handschuh mit voller Absicht geworfen hatte. So wie man etwas in eine Löwengrube wirft, um aus sicherer Entfernung zu beobachten, wie die Raubtiere reagieren.

Niemand außer Emma hatte bemerkt, wie der Handschuh gefallen war, und auch sie strafte die Passagierin der ersten Klasse mit Nichtachtung. Doch als die Dame einen alten Strumpf aus der Manteltasche zog und auf die Back warf, hielt sie sich nicht länger zurück. Sie hob den Strumpf und den Handschuh auf, schleuderte beides der Passagierin entgegen und schrie: »Was fällt Ihnen ein, Madame?« Sie betonte das französische Wort abfällig. »Laden Sie Ihren Abfall gefälligst woanders ab! Oder werfen Sie in Ihrer Villa auch mit alten Strümpfen um sich? Scheren Sie sich zum Teufel oder ich komme zu Ihnen hoch und werfe Ihnen den Schmutz vom Zwischendeck vor die Füße! Verschwinden Sie!«

Die Passagiere des Zwischendecks belohnten ihren Ausbruch mit lautem Beifall, und sogar einige Erste-Klasse-Passagiere klatschten mit. Die Dame lief rot an und verdrückte sich. Sie ließ sich während der ganzen Reise nicht mehr an der vorderen Reling blicken. Die Matrosen, die in der Nähe standen, unterdrückten mühsam ein Grinsen. »Dos gefelt mir!«, freute sich jemand. »Eine Revoluzzerin!«

Am selben Tag ging ein leichter Nieselregen auf das Schiff nieder. Emma und August ließen sich nicht abschrecken und trafen sich im Schutz der Aufbauten, wo der Regen nicht so stark war. Den geheimnisvollen jungen Mann, der mit den Händen in den Manteltaschen auf der Back stand und zu ihnen herüberblickte, entdeckte sie mehr durch Zufall. Ein Taschentuch, das einer Passagierin vom Wind aus der Hand gerissen und über Deck gewirbelt wurde, lenkte ihren Blick in seine Richtung. »August!«, warnte sie mit gedämpfter Stimme. »Da beobachtet uns jemand! Ein junger Mann mit einer Wollmütze! Genau gegenüber!«

August folgte ihrem Blick und erschrak. Gleich darauf lächelte er. »Das ist einer von den Polen. Die konnten uns noch nie leiden. Der Kerl denkt wahrscheinlich, ich hätte die Taschen voller Geld!«

»Meinst du, er will dich bestehlen?«

»Wär nicht das erste Mal, dass so was passiert!«

Tatsächlich hatte es schon einige Diebstähle an Bord gegeben, auch in der »Abteilung für ledige Frauen«. Emma trug die Dollar, die sie in den Auswandererhallen eingetauscht hatte, in einem Beutel um den Hals und schlief nachts darauf. August hatte das Geld, das er beim Spiel gewonnen hatte, in eine Tasche gestopft.

»Pass gut auf dein Geld auf!«, warnte Emma.

Doch als es dunkel wurde und die meisten Passagiere unter Deck verschwanden, kam der Fremde auf August zu und sprach ihn wütend an. Emma war bereits auf dem Weg in ihr Quartier, als die aufgebrachte Stimme des Mannes über die Back tönte. Sie drehte sich verstört um. Der Fremde sprach so laut, dass jedes Wort zu verstehen war. Er sprach mit einem harten Akzent.

»Ich will das Geld, das du Karel gestohlen hast!«, forderte er. »Karel war mein Freund! Du hast ihn beim Spiel betrogen und zwei Billette und zweihundert Mark genommen! So muss es gewesen sein. Einen so hohen Betrag würde er niemals einsetzen! Wenn ich dabei gewesen wäre, hätte ich dich in den Fluss geworfen!«

August lachte höhnisch. »Karel war ein schlechter Verlierer! Er dachte, er könnte mich übers Ohr hauen und ging baden. Ich habe gewonnen. Und du kannst gar nicht mitreden, wenn du nicht dabei warst! Du hast nichts gesehen! Wenn du ein Freund von Karel bist, warum hast du ihn nicht davon abgehalten, sich auf solche Spielchen einzulassen? Wer nicht mit den Karten umgehen kann, soll es bleiben lassen! Und jetzt geh mir aus dem Weg! Du störst!«

Emma hatte schon Angst, der Pole würde zuschlagen, aber er beherrschte sich. Seine Stimme war sogar leiser geworden. »An deiner Stelle wäre ich in den nächsten Tagen sehr vorsichtig!«, warnte er. »Sonst könnte es sein, dass du bald im Meer schwimmst!«

Der Pole verschwand und August wollte ihm wütend nachstürmen. »August!«, hielt Emma ihn mit scharfer Stimme zurück. »August! Bleib hier! Das bringt nichts!« Sie lief zu ihm und griff nach seinem rechten Arm. »Ich möchte nicht, dass du dich schlägst!«

»Er hat mich beleidigt!«

Und er hat Recht, hätte Emma am liebsten hinzugefügt. Ein Gefühl sagte ihr, dass August bei dem Spiel tatsächlich betrogen hatte. Nicht einmal ein verzweifelter Pole, der unbedingt Geld brauchte, setzte zwei Billette nach New York und fünfzig Dollar in einem Kartenspiel ein. August hatte ihn betrogen oder bestohlen und wäre im Gefängnis gelandet, wenn sein Opfer ein Deutscher oder Österreicher gewesen wäre. Einem Polen glaubte selbst die Polizei nicht.

»Du hast es für mich getan, nicht wahr?«, fragte sie.

August ging wortlos davon und ließ sie im Regen stehen. Mit Tränen in den Augen kehrte Emma in den Schlafsaal zurück. Sie wollte nicht, dass August etwas Ungesetzliches beging. Selbst dann nicht, wenn es ihnen zu einem Vorteil verhalf. Ihre Zukunft sollte auf ehrlicher Arbeit gründen, auf Arbeit und Gottvertrauen.

Sie legte sich ins Bett und starrte zur Decke empor. Vom anderen Ende des Schlafsaals war das Knirschen des Sandes zu hören, als einer der Matrosen den Boden fegte. Wegen der nassen Kleider, die an fast jedem Bettpfosten hingen, stank es noch erbärmlicher als während der vorangegangenen Tage. Die Bullaugen blieben bei schlechtem Wetter geschlossen. Der Knoblauchgeruch vermischte sich mit dem Moder, der sich an vielen Stellen im Schlafsaal festgesetzt hatte, und vom Nachbargang drang der Gestank von Erbrochenem herüber. Eine Ungarin war seekrank und hatte sich schon mehrmals in ihren Blecheimer übergeben.

Emma machte der Gestank nichts mehr aus. Sie lag leise weinend auf ihrem Strohsack und zweifelte zum ersten Mal an August. Hatte er das Verbrechen im Königreich Bayern doch begangen? War er ein Betrüger, ein schlechter Mensch? Sie glaubte es nicht, er war ein liebenswerter Mann, der nur Gutes wollte, aber die leisen Zweifel, die sich in ihr festgesetzt hatten, nagten an ihr.

»Was ist passiert?«, fragte Rose im Bett unter ihr.

»Nichts«, antwortete sie.

»Es ist ... wegen August, nicht wahr?«

»Er ist ein guter Mensch«, sagte sie.

»Sha!«, schimpfte eine Frau wütend. »Hört endlich auf zu quatschen! Ich will schlafen! Noch ein Wort und ihr bekommt Prügel!«

In dieser Nacht schlief Emma unruhig. Sie träumte schlecht und schreckte mehrmals aus dem Schlaf. Und beim Frühstück am nächsten Morgen saß sie unruhig und mit verweinten Augen am Tisch und bekam kaum einen Bissen hinunter. Sie ließ sogar die Hafersuppe stehen. Obwohl sie der festen Überzeugung war, dass sie sich unnötig Sorgen machte, wollte ihre Unruhe nicht weichen.

Nur widerwillig nahm sie am Englischunterricht teil. Beim Mittagessen stocherte sie im Fleisch herum und überließ Rose die Reste ihrer Mahlzeit, und weil sie Angst hatte, August gegenüberzutreten, blieb sie den halben Nachmittag im Schlafsaal und ging erst eine halbe Stunde vor dem Abendessen auf die Back. Dichter Nebel hatte den Nieselregen abgelöst und klammerte sich wie zähe Watte an die Aufbauten des Schiffes. Es war unangenehm kalt.

Emma schlug den Mantelkragen hoch und hielt sich an der Reling fest. Das Meer war etwas unruhiger geworden und das Schiff schaukelte leicht. Dennoch waren wieder mehrere hundert Menschen an Deck. Sie suchte nach August und sah ihn an seinem Lieblingsplatz auf der Taurolle sitzen. Diesmal hatte er sein Tagebuch nicht dabei. Er rauchte nervös und hielt den Kopf gesenkt, die Schirmmütze weit in die Stirn gezogen. Der Pole, der ihn am vergangenen Abend beschuldigt hatte, war nirgendwo zu sehen.

Sie ging zu August und setzte sich wortlos neben ihn. Entsetzt bemerkte sie die blutigen Schrammen auf seiner rechten Wange und an seinem Kinn. Sein linkes Auge war geschwollen. »August!«, flüsterte sie besorgt. »Was ist passiert? Hast du dich geschlagen?«

Details

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Erscheinungsform
Neuausgabe
Jahr
2018
ISBN (eBook)
9783960532255
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (November)
Schlagworte
New York 1909 20. Jahrhundert Auswanderung Frauenrechte Menschenrechte Clara Lemlich Liebe Freundschaft Hoffnung
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Titel: Die vergessenen Frauen von Greenwich Village