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Das kleine Hotel an der Nordsee

Roman

©2019 189 Seiten

Zusammenfassung

Zwei Schwestern zum Verlieben in der Komödie »Das kleine Hotel an der Nordsee« von Bestseller-Autorin Steffi von Wolff – jetzt als eBook bei jumpbooks.

Das große Glück zum Greifen nah – und dann sowas! Dine und Katinka sind komplett überrascht, dass ihre Urgroßmutter jeder von ihnen eine Million Euro hinterlassen hat … aber die Sache hat einen Haken: Die chronisch verstrittenen Zwillingsschwestern müssen gemeinsam ein verschlafenes Hotel im beschaulichen Altkirchtrup zu neuem Leben erwecken – ansonsten gehen sie leer aus. Widerstrebend nehmen die beiden die Herausforderung an, aber die ist größer, als sie sich in ihren schlimmsten Träumen ausgemalt haben. Zumal plötzlich auch noch ein junger, attraktiver Journalist auftaucht, der eigentlich nur Urlaub an der Nordsee machen will und ungewollt für jede Menge Gefühls-Chaos sorgt.

Ein Feelgood-Roman voller bissigem Humor: »Witzig und lebenshungrig!« Woman

Jetzt als eBook kaufen und genießen: die freche Komödie »Das kleine Hotel an der Nordsee« von Bestseller-Autorin Steffi von Wolff. Wer liest, hat mehr vom Leben: jumpbooks – der eBook-Verlag für junge Leser.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Über dieses Buch:

Das große Glück zum Greifen nah – und dann sowas! Dine und Katinka sind komplett überrascht, dass ihre Urgroßmutter jeder von ihnen eine Million Euro hinterlassen hat … aber die Sache hat einen Haken: Die chronisch verstrittenen Zwillingsschwestern müssen gemeinsam ein verschlafenes Hotel im beschaulichen Altkirchtrup zu neuem Leben erwecken – ansonsten gehen sie leer aus. Widerstrebend nehmen die beiden die Herausforderung an, aber die ist größer, als sie sich in ihren schlimmsten Träumen ausgemalt haben. Zumal plötzlich auch noch ein junger, attraktiver Journalist auftaucht, der eigentlich nur Urlaub an der Nordsee machen will und ungewollt für jede Menge Gefühls-Chaos sorgt.

Ein Feelgood-Roman voller bissigem Humor: »Witzig und lebenshungrig!« Woman

Über die Autorin:

Steffi von Wolff, geboren 1966 in Hessen, war Reporterin, Redakteurin und Moderatorin bei verschiedenen Radiosendern. Heute arbeitet sie freiberuflich für Zeitungen und Magazine wie »Bild am Sonntag« und »Brigitte«, ist als Roman- und Sachbuch-Autorin erfolgreich und wird von vielen Fans als »Comedyqueen« gefeiert. Steffi von Wolff lebt mit ihrem Mann in Hamburg.

Die Autorin im Internet:
www.steffivonwolff.de

www.facebook.com/steffivonwolff.autorin

Steffi von Wolff veröffentlichte bei jumpbooks bereits die Romane »Das kleine Appartement des Glücks« und »Das kleine Haus am Ende der Welt«. Bei unserem Mutterverlag dotbooks veröffentlichte sie außerdem den Roman »Aufgetakelt« und die Kurzgeschichten-Sammelbände »ANGEMACHT und andere prickelnde Geschichte« und »AUSGEPACKT und andere Weihnachtsgeschichten«. Eine andere Seite ihres Könnens zeigt Steffi von Wolff bei dotbooks unter ihrem Pseudonym Rebecca Stephan im ebenso einfühlsamen wie bewegenden Roman »Zwei halbe Leben«.

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eBook-Neuausgabe Juli 2019

Dieses Buch erschien bereits 2011 unter dem Titel »Ausgebucht« im Rowohlt Verlag.

Copyright © der Originalausgabe 2011 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Copyright © der Neuausgabe 2019 dotbooks GmbH, München

Copyright © der vorliegenden Ausgabe 2019 jumpbooks Verlag. jumpbooks ist ein Imprint der dotbooks GmbH, München.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung von Bildmotiven von shutterstock/Sarah Fields Photography, united photo studio, Laura Bartlett, Mariusz Hajdarowicz

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ts)

ISBN 978-3-96053-252-1

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Wenn Dir dieser Roman gefallen hat, empfehlen wir Dir gerne weitere Bücher aus unserem Programm. Schick einfach eine eMail mit dem Stichwort Das kleine Hotel an der Nordsee an: lesetipp@dotbooks.de (Wir nutzen die an uns übermittelten Daten nur, um Deine Anfrage beantworten zu können – danach werden sie ohne Auswertung, Weitergabe an Dritte oder zeitliche Verzögerung gelöscht.)

Besuch uns im Internet:

www.jumpbooks.de

Steffi von Wolff

Das kleine Hotel an der Nordsee

Roman

jumpbooks

Kapitel 1

»Ich verstehe eins nicht«, lamentierte Gunther Martini. »Dass man nicht einfach ganz normal sterben kann. Wie peinlich wäre es mir, mit fast fünfundneunzig Jahren in einem Bordell einen Herzstillstand zu bekommen. In einem Bordell! Wirklich, Gabriele, es ist nicht zu fassen. Deine Großmutter war ja schon immer ... merkwürdig, aber dass sie uns das jetzt noch angetan hat, das schlägt dem Fass den Boden aus. Ich will gar nicht wissen, was die im Club dazu sagen werden. Blöd anschauen werden sie mich und sich fragen, ob ich meine Familie auch nur ansatzweise im Griff habe.«

»Deine Clubherren interessieren mich momentan herzlich wenig«, fuhr Gabriele ihren Mann an. »Meine Großmutter ist tot, das ist doch das einzig Wichtige.«

»Also mir ist noch so einiges andere wichtig ...«, fing Gunther wieder an, aber nachdem seine Frau das Bratenmesser in die Hand genommen hatte und damit herumzuspielen begann, beschloss er, erst einmal zu schweigen. Wenn Gabriele wütend wurde, also so richtig wütend, dann konnte es schon mal vorkommen, dass sie ein volles Weinglas nach ihm warf. Natürlich einfach so. Dass er sie davor bis aufs Blut gereizt hatte, verdrängte er erfolgreich. Jedenfalls wollte er einen Messerangriff nicht riskieren, saß im Esszimmer und polierte nervös seine goldenen Manschettenknöpfe.

»Also, ich find's witzig«, sagte Katinka und goss Bratensoße über das Fleisch und die Kartoffeln, um daraufhin alles mit der Gabel zu einer graubraunen Masse zu vermanschen. »Sie war halt ein bisschen durchgeknallt, na und? Dass sie diesen Puff gekauft hat, ist doch ihre Sache. Und wo sie stirbt, auch.«

»Das da auf deinem Teller«, mischte ihre Zwillingsschwester Dine sich ein, »das sieht aus wie Kotze. Wie warme, gerade ausgespuckte Kotze.«

»Vielleicht solltest du das dann besser essen.« Katinka grinste. »Kotze zum Kotzbrocken, das passt doch gut.«

Der Vater mischte sich in die Gespräche seiner Töchter schon lange nicht mehr ein. Es war sowieso sinnlos. Außerdem interessierten seine Clubherren ihn momentan mehr. Und die Geschäftspartner. Niemand durfte erfahren, unter welch entwürdigenden Umständen Fanny von Lehndorf das Zeitliche gesegnet hatte. Dann könnte er, Gunther, gleich die Koffer packen, von der Gesellschaft Frankfurts geächtet. Und ganz insgeheim dachte er auch darüber nach, was ihm der Tod Fannys wohl bringen würde. Nicht dass er es nötig gehabt hätte, Gott bewahre, die Familie seiner Frau, die Martinis, waren sehr reich, aber trotzdem, Fanny war die wohlhabendste von allen gewesen, und da gab es mit Sicherheit einiges zu erben. Immerhin waren sie die einzigen noch lebenden Verwandten. Gabrieles Eltern waren vor fünf Jahren versehentlich auf Helgoland beim Fotografieren vom Trottellummenfelsen gestürzt, und ihr Bruder, der mit ihnen gereist war und die Fotoapparate retten wollte, kam dabei ebenfalls ums Leben.

Seitdem wohnte die Familie in der Villa von Hans-Jürgen Martini, und Gunther fand das auch gerecht und vor allen Dingen standesgemäß. Der Nachlass war nicht zu verachten gewesen, und Gunther liebte das Haus mit den unzähligen antiken Möbeln, dem Wintergarten, dem Hallenbad und dem Außenpool, an den er im Sommer jeden Mittwochabend seine Golfpartner noch auf einen guten Schluck bat. Mit einer gediegenen Arroganz saß er dann unter einem Sonnenschirm, kommandierte die Angestellten herum und hoffte ununterbrochen, dass ein Hauch von Nonchalance ihn umwob. Und er hoffte noch mehr, dass man dachte, dass er in diesen Reichtum hineingeboren worden war, was selbstredend nicht stimmte. Gunther hatte den Namen seiner Frau angenommen, er war ein geborener Meier, noch nicht mal für ein y im Namen hatte es gereicht, sein Vater war ein einfacher Arbeiter und seine Mutter Putzfrau gewesen, jetzt lebten beide von einer schmalen Rente in einem Hochhaus in der Nordweststadt und kamen nur selten zu Besuch, auch weil sie sich in dem weitläufigen Haus ständig verliefen. Außerdem konnten sie mit dem Gewese ihres Sohnes nicht umgehen, und nicht nur einmal hatte Horst Meier den Kopf geschüttelt, war aufgestanden, hatte seine Gerda am Arm gepackt, sich verabschiedet und war gegangen, um, wie er sagte, in einer bodenständigen Umgebung ein Schnitzel zu essen und einen Äppler zu trinken.

Gunther war es egal, ob seine Eltern da waren oder nicht. Seine Gedanken kreisten sowieso nur um ihn selbst. Auch seine Töchter fand er nicht sonderlich interessant. Allerdings erzählte er ungefragt jedem, dass sie sich schon im Mutterleib gestritten hätten und seine Frau deswegen neun Monate lang das Grauen in Reinkultur durchgemacht hätte. In seinen Erzählungen stellte er Dine und Katinka immer so hin, als wären keine Menschen in Gabriele herangewachsen, sondern Oger oder Aliens.

Und ein Stück weit hatte Gunther Martini damit auch recht.

Kurz nachdem sie krabbeln konnten, gingen die beiden aufeinander los, ohne dass es dafür einen Grund gegeben hätte. In ihrer Sorge hatten Gabriele und Gunther damals mehrere Kinderärzte und –psychologen konsultiert, aber man versicherte ihnen, dass beide ganz gesund seien und es eben manchmal so sei, dass Geschwister sich nicht vertragen. Der eine Arzt meinte sogar, er habe selbst mal versucht, seinen Bruder umzubringen.

Die Martinis waren schnell wieder gegangen und hatten sich ihrem Schicksal gefügt. Wenigstens töteten die Kinder nicht, das war doch auch schon mal was. Dafür musste man dankbar sein.

»Und jetzt lasst uns gehen«, sagte Gabriele ein paar Minuten später. »Um zwei ist die Testamentseröffnung, und ihr beiden«, sie wandte sich ihren Töchtern zu, »werdet ausnahmsweise mal so etwas wie Benehmen an den Tag legen. Ich habe keine Lust, dass der Notar denkt, ich hätte als Mutter versagt.«

Katinka grinste. »Ich hab momentan eine gute Phase. Die hält bestimmt noch so zwanzig Minuten an.«

Gunther stand auf. »Ich wäre dir dankbar, wenn du die Zeitspanne ein wenig erweitern könntest. Und du auch, Nadine. Es muss einfach nicht sein, dass ihr euch in dieser Kanzlei während dieser traurigen Angelegenheit die Haare ausreißt oder euch gegenseitig Platzwunden zufügt.«

Wie auf Befehl stach Dine ihrer Schwester mit einer Gabel ins Bein, und die konterte sofort, indem sie das Colaglas über Dines Pulli ausleerte.

»Entschuldigen Sie bitte, dass Sie warten mussten«, grunzte der Notar, der aussah, als wäre er gerade exhumiert worden. »Aber ich musste noch meine Tabletten nehmen. Ohne meine Tabletten geht gar nichts mehr.«

Das glaubten sie ihm sofort. Der Mann konnte kaum noch laufen. Er klapperte förmlich durch die Gegend.

»Dann wollen wir mal.« Er ließ sich hinter seinem großen Schreibtisch nieder, was ungefähr eine halbe Stunde dauerte, und begann dann, seine Unterlagen umständlich zu durchforsten, und das in einer Geschwindigkeit, dass man das Gefühl hatte, einer Wanderdüne zuzuschauen.

»Da ist es ja, das Testament«, frohlockte Wilhelm Stubenrauch endlich. »Vielleicht hätte ich meine Brille aufsetzen sollen. Aber ich finde sie nicht. Sie ist weg. Spurlos verschwunden. Und ohne Brille sehe ich nichts. Sehen Sie etwas ohne Brille?«

»Ich brauche keine«, ließ Gunther ihn wissen, der wollte, dass es losging, damit er später im Club etwas Positives erzählen konnte. »Leider. Dabei gibt es so schöne! Ich habe schon überlegt, mir einfach so eine zuzulegen, mit Fensterglas. Das verleiht einem doch eine gewisse Intellektualität.«

»Manchmal, aber nicht immer.« Der Notar hatte die Brille gefunden. »Oh«, sagte er dann. »Mit Zwillingen hatte ich nicht gerechnet. Zwillinge überfordern mich. Ich denke dann immer, dass ich betrunken bin, was ich früher ziemlich oft war. Ich bin nämlich trockener Alkoholiker.«

»Das freut uns sehr«, sagte Gabriele Martini, die die Sache hinter sich bringen wollte. Sie warf ihren Töchtern einen bösen und gleichzeitig flehenden Blick zu, der so etwas wie »Wehe wenn ... und bitte nicht« bedeuten sollte. Aber die beiden hatten offensichtlich wirklich einen relativ guten Tag, denn sie saßen gesittet da und warteten gespannt, was als Nächstes passierte.

Dine und Katinka waren eineiige Zwillinge. Sie hatten beide fast schwarzes, gelocktes Haar, waren groß und schlank, selbst ihre Bewegungen waren identisch, und beide hatten ein kleines Muttermal an exakt derselben Stelle. Trotzdem konnte man sie bestens auseinanderhalten, denn Dine hatte hellblaue und Katinka hellgrüne Augen. Das kam manchmal vor, und es erleichterte in diesem Fall ja auch vieles.

»Ja, ja, die gute Fanny«, der Notar schwelgte melancholisch in Erinnerungen. »Wir kannten uns so lange Jahre. Dreimal war sie verheiratet, aber mich hat sie nie gewollt.«

»Das tut mir sehr leid.« Gunther räusperte sich. »Aber nun ist es so, wie es ist, und wir könnten vielleicht anfangen? Meine Zeit ist begrenzt, ich habe später noch einen wichtigen Termin.«

»Willst du dir den Puff anschauen, in dem sie gestorben ist?«, fragte Katinka ihren Vater mit zuckersüßer Stimme.

Er antwortete nicht und zwang sich, seine Tochter nicht anzuschauen. Aber er wurde knallrot vor Wut.

»Ja, natürlich, das Testament.« Herr Stubenrauch nickte, legte den versiegelten Umschlag vor sich und krümelte mit dem Wachs herum. Endlich hatte er es geschafft, den Inhalt hervorzuholen, brauchte wiederum eine andere Brille, weil mit der jetzigen irgendwas nicht stimmte, und nach einer weiteren Viertelstunde konnte es endlich losgehen.

Nach wiederum einer Viertelstunde war Gunther Martini einer Ohnmacht nah.

»Ich verstehe das nicht«, sagte er dauernd, obwohl Herr Stubenrauch es ihm eigentlich erklären wollte, aber nicht zu Wort kam.

Auch Gabriele, so kühl und besonnen sie eigentlich war, schien fassungslos.

Dine und Katinka saßen nur da und grinsten. Oma Fanny war eben Oma Fanny, daran gab es nichts zu rütteln. Und sie hatte sich wirklich alle Mühe gegeben, ihre Familie wenigstens teilweise zu zerrütten, wenn nicht sogar komplett.

»Wer ist Klaus-Adam Hopfenkötter?«, fragte Gabriele Herrn Stubenrauch, der sich sehr zu freuen schien. Dieser Termin machte ihm ganz offensichtlich großen Spaß, und er schaute erwartungsvoll zur Tür, die sich in diesem Augenblick öffnete. Herein kam ein untersetzter Mann mit Glatze, der aussah wie ein Versicherungsvertreter, der den Tagen nachtrauerte, an denen er gute Abschlüsse gemacht hatte. Er trug einen speckigen, viel zu kleinen Anzug, schwitzte sehr, was wohl an seinen schätzungsweise fünfzig Kilo Übergewicht lag, und fuhr sich ununterbrochen mit einem Stofftaschentuch über die nasse Stirn.

»Darf ich vorstellen – die Verwandtschaft!« Jetzt schrie Herr Stubenrauch beinahe vor Glück. Hoffnungsfroh sah er alle Anwesenden der Reihe nach an, und zwar so, als würde er davon ausgehen, dass sie alle umfielen.

»Na, des is e Überraschung, gell?« Herr Hopfenkötter raste auf die Martinis zu, blieb vor Gabriele stehen und streckte ihr die Hand zum Gruß hin, die sie allerdings ignorierte.

»Was soll das bedeuten?«, fragte sie stattdessen und sah den angeblichen Verwandten an wie jemand, den es unverzüglich zu vernichten galt.

»Das bedeutet, dass Fanny ab und an ein klein wenig verrückt war«, erklärte ihr der Notar und rieb seine Hände. »Und in diesen verrückten Momenten hat sie sich auch zu der einen oder anderen Handlung hinreißen lassen, falls Sie verstehen, was ich meine.«

»Nein, ich verstehe nicht.« Gabriele Martini saß nun kerzengerade da, hatte beide Augenbrauen hochgezogen, und ihre sorgfältig geschminkten Lippen waren nur noch ein schmaler Strich.

»Fanny hat Klaus-Adam vor zwei Jahren adoptiert«, krakeelte Herr Stubenrauch heiter und schien innerlich zu orgasmieren. »Klaus-Adam ist also als vollwertiges Familienmitglied zu betrachten. Das heißt, dass Klaus-Adam, also alle nennen ihn Klausili, auch erbberechtigt ist. Das ist eine Überraschung, was?«

»In der Tat«, sagte Gabriele Martini.

Beschwingt nahm Klausili ebenfalls Platz und schien sich im Kreis seiner neuen Familie richtig wohlzufühlen.

Am liebsten hätte Gabriele ihn sofort hinausgejagt, aber das tat man ja nicht. Als feststand, was er erbte, hätte sie ihn am liebsten ertränkt, aber das tat man ja auch nicht.

Wobei – manchmal tat man ja Dinge, die man besser nicht tun sollte.

»Dann hätten wir diese Angelegenheit ja auch geklärt«, nickte Herr Stubenrauch. »Gut, gut. Somit wären nur noch einige wenige Punkte offen.«

»So einfach geht das nicht«, widersprach ihm Gabriele. »Ich werde dieses Testament in einigen Punkten anfechten.«

»Das ist alles wasserdicht, so leid es mir tut!« Nun brüllte Herr Stubenrauch fast. »Da habe ich mit zwei Kollegen drangesessen, da gibt es nichts, gar nichts gibt es da zu rütteln. Da können Sie durch alle Instanzen gehen, das wird Ihnen nichts nützen. Klausili ist rechtmäßiger Erbe. Die beiden haben sich gut verstanden, und Klausili hat liebevoll für sie gesorgt. So ist das nun mal.«

Katinka und Dine saßen einfach nur da und beobachteten das Szenario, und ausnahmsweise waren sie mal nicht damit beschäftigt, sich gegenseitig zu foltern.

Wäre es nicht um recht viel gegangen, Gabriele Martini hätte sich gefreut beim Anblick ihrer Töchter. '

Beim Anblick von Klausili bekam sie Mordgedanken. Nicht, dass Gabriele ein missgünstiger Mensch war, nein, aber sie war einfach schockiert darüber, dass ihre Großmutter sich in ihren letzten Jahren ganz offenbar für Zsa Zsa Gabor gehalten und einfach wild herumadoptiert hatte. Sie musste wahnsinnig gewesen sein.

Und dann auch noch eine halbe Million Euro und ein Haus in Frankreich, direkt an der Atlantikküste, mit Blick auf La Rochelle. Von den beiden Oldtimern ganz zu schweigen. Das vermachte man doch nicht einfach so an einen Fremden, der auch noch Klausili hieß.

»Nun aber zu euch beiden.« Herr Stubenrauch wuselte wieder in Schriftsätzen herum. »Seite zwölf bitte. Da steht's.«

Er zwinkerte den Zwillingen zu. »Ihr seid jetzt stolze Hotelbesitzerinnen. Fanny hat euch den Friesenzauber im idyllischen Städtchen Altkirchtrup in Nordfriesland vermacht. Allerdings ...«, er legte eine Kunstpause ein, » ... unter einer klitzekleinen Bedingung.«

»Und die wäre?«, fragte Dine vorsichtig, weil sie Angst davor hatte, dass sie eventuell Klausili dort einziehen lassen müssten.

Aber nachdem sie gehört hatte, was die Bedingung war, hätte sie das mit Klausili fast besser gefunden.

Kapitel 2

Es regnete in Strömen, während die angemessen gekleidete Trauergemeinde auf dem Frankfurter Hauptfriedhof hinter dem Sarg herging, in dem Fanny nun lag.

Wenigstens war auf Dine und Katinka Verlass. Sie schubsten sich gegenseitig in Pfützen, kniffen und zwickten einander.

Beim späteren Kaffeetrinken suchte Klausili wie ein junger Hund die Nähe seiner neuen Verwandtschaft.

»Es is so, als tät isch eusch schon ewisch kenne«, hesselte er und duzte ungefragt alle.

»Mir geht es nicht so«, sagte Gabriele Martini reserviert, während sie auf ihre Kuchengabel starrte und darüber sinnierte, ob man Klausili damit bleibende Schäden zufügen könnte.

»Isch hatt nämlisch noch nie e rischtisch Familie.« Klausili schnappte sich die Kornflasche und goss sein Schnapsglas voll. »Dabei is e Familie doch so wischtisch, gell?«

Katinka mischte sich ein. »Eine richtige Familie ist total wichtig«, erklärte sie höflich. »Aber mit angenommenen Mitgliedern ist das wie mit Zugezogenen: Sie werden nie richtig akzeptiert. Also halten Sie am besten einfach Ihre Klappe.«

»Ei horsche ma!« Klausili war beleidigt. »Inch gehör dazu, ob's eusch passe dud oder nett, gell? Des is a Tatsach, wo schwarz uff weiß feststeht, gell? Da beißt die Maus kein Fade ab, gell?«

Natürlich hätte Gabriele jetzt so etwas wie »Aber Katinka, bitte!« sagen müssen, aber sie hatte keine Kraft mehr. Sie wollte einfach nur diesen Tag hinter sich bringen und dann schlafen, um sich morgen einen wirklich guten Anwalt zu nehmen, der dieses verdammte Testament anfechten würde. Und dann die Erbschaft von Dine und Katinka. Was sollte das eigentlich, den beiden ein völlig marodes Hotel anzudrehen und auch noch solche abstrusen Bedingungen daran zu knüpfen?

»Gleich morgen kümmere ich mich um alles«, sagte sie zu Dine, die neben ihr saß. »Auch um diesen komischen Friesenzauber

»Warum willst du dich kümmern?«, fragte Katinka. »Wir sind doch alt genug, um uns selbst zu kümmern. Was mich betrifft, ich fahr da erst mal hin und schau mir das an.«

»Wir haben das zusammen geerbt«, wurde sie von ihrer Schwester angeschnauzt. »Du fährst nirgendwo alleine hin, du blöde Kuh. Das könnte dir so passen.«

»Was ich mache oder nicht mache, geht dich überhaupt nichts an«, konterte Katinka. »Dass das mal klar ist.«

Gunther war schon wieder aufgebracht. »Könnt ihr nicht heute mal aufhören, euch anzugiften«, zischte er. »Die Leute gucken schon.«

»Ach, die Leute sind mir doch egal.« Sauer knallte Dine ihr Glas auf den Tisch. »Aber so was von egal.«

»Du bist eben eine arrogante Zicke«, lächelte Katinka. »Einfach wi-der-lich. Nicht mal ansatzweise benehmen kannst du dich. Noch nicht mal heute.« So etwas machte Katinka gern, um die Schwester bis aufs Blut zu reizen. Dine war um einiges aufbrausender als sie, und das nutzte sie seit Jahren aus. Schon als Dreijährige im Sandkasten hatte sie Dine an den Rand des Wahnsinns gebracht, indem sie beispielsweise ein Sandförmchen über ihrem Kopf auskippte, ihr den Sand in die Augen rieb und dann so tat, als sei sie es nicht gewesen, oder aber sie behauptete, Dine hätte es selbst getan, sie sei einfach zu blöd, im Sand zu spielen, was Dine zu noch größeren Zornesausbrüchen verleitete. Katinka war die ruhigere von beiden, sie agierte der Schwester gegenüber eher heimtückisch und hatte eine diebische Freude daran, sie auf die Palme zu bringen.

Das Merkwürdige war, dass die beiden einen sehr großen Freundeskreis hatten und überaus beliebt waren – nur sich selbst konnten sie gegenseitig nicht ausstehen. Und kein Mensch ahnte, warum das so war, denn eigentlich gab es überhaupt keinen Grund dazu. Aber es war eben so. Gunther Martini und seine Frau warfen sich über den Tisch hinweg verzweifelte Blicke zu: Wenn die Zwillinge etwas gemeinsam taten, konnte man die Uhr danach stellen, bis es zu einer Katastrophe käme. Das war so sicher wie das Amen in der Kirche.

In diesem Moment kotzte der Pfarrer quer über einen der Tische, und das Thema war vorerst beendet.

***

»Rechts. RECHTS! Jetzt fahr doch RECHTS, du Hirnkuh!«

»Eben hast du gesagt: Links. Und das Navi sagt gar nichts.« Katinka bremste und blieb an der Kreuzung stehen. Es regnete in Strömen, und hier gab es nichts außer Kühen, die auf endlosen Weiden vor sich hin wiederkäuten.

Wahrscheinlich hieß es deswegen auch auf den Schildern: Schleswig-Holstein – Land der Horizonte.

»Aber du hast doch Augen, oder nicht? Und hier steht ein Schild, auf dem befindet sich ein Pfeil nach rechts, und darüber steht: Altkirchtrup. Wo ist also bitte das Problem?« Dine regte sich schon wieder total auf.

»Dann fahr du doch, Schwesterchen.« Katinka grinste sie an. »Ich überlass dir das Auto gern. Aber dann kann ich mich auch gleich zu Uroma in den Sarg legen.«

Dine schoss das Blut in den Kopf. Sie war bereits zweimal durch die Führerscheinprüfung gefallen, und. das auch nur, weil beide Fahrprüfer sie nicht gemocht hatten. Jedenfalls redete sie sich das ein.

Katinka, die mittlerweile einfach abgebogen war, blieb irgendwann stehen. Es regnete stärker, das Navi sagte immer noch nichts, und es wurde langsam dunkel. Und viel Benzin war auch nicht mehr im Tank.

»Scheiße«, sagte Katinka. »Ich hab das Gefühl, wir sind völlig falsch.«

»Weil du saublöd bist. Wir hätten ja auch mal eine Straßenkarte mitnehmen können.« Dine stampfte mit den Füßen auf. »Wenn das so weitergeht, können wir bei den Kühen auf der Wiese schlafen. Nur, weil du immer alles besser weißt.«

»Halt den Mund. Wieso hab ich dich überhaupt mitgenommen?«, motzte Katinka. »Es hätte echt gereicht, wenn eine von uns gefahren wäre. Jetzt können wir auf der Landstraße schlafen. Alleine wäre mir das nicht passiert.«

»Das Hotel gehört uns beiden«, rief Dine mit schriller Stimme.

»Aber nur, wenn wir es renovieren und es dann im Laufe eines Jahres auch noch drei Monate am Stück ausgebucht ist. Und das Geld aus dem Erbe gibt's auch erst danach.«

Fanny hatte sich alles gut überlegt. Dine und Katinka winkten je eine Million Euro! Aber so, wie es aussah, würden sie von der Erbschaft nie etwas haben, weil sie sich schon vorher gegenseitig meuchelten. Außerdem hatte keine von beiden je Ambitionen dahin gehend gehabt, ein Hotel zu besitzen, und schon gar nicht in Altkirchtrup, diesem Kaff an der Küste, das nur ganz wenige Einwohner hatte, von denen sieben Achtel sowieso Schwerstalkoholiker waren, weil man in Altkirchtrup nichts machen konnte außer Kühe melken, Mähdrescher warten und saufen.

Katinka fuhr langsam weiter und sah dann verschwommen ein Ortsschild, das aber so verblichen war, dass man nichts darauf erkennen konnte.

»Hm.« Die Frau in den Gummistiefeln, die eine Kittelschürze trug, sagte nun schon zum zwölften Mal »Hm«. Zu mehr war sie anscheinend nicht in der Lage.

Katinka versuchte es nochmal: »Haben Sie nun zwei Zimmer oder nicht?« Sie sah sich in dem Gastraum um, in dem sechs Männer saßen, die Karten spielten. Aus einem uralten Radio dudelten Schlager, und der Raum war vom Nikotin so gelb, dass man das Gefühl hatte, sich in einem Bernsteinmuseum zu befinden. Ganz offensichtlich hatte es das Nichtrauchergesetz bis hierhin noch nicht geschafft. Oder die sechs Typen am Tisch gehörten zur Ortspolizei oder zum Bürgeramt, und ihnen waren Gesetze ganz egal, solange sie nach ihren eigenen leben konnten.

»Und können Sie mir auch sagen, wie weit es noch nach Altkirchtrup ist?«

Während ihrer Worte wurde es still im Raum. Nur der Schlagersänger im Radio war noch zu hören. Er sang etwas von verschmähter Liebe und vom Ertrinken im Glück.

Dine und Katinka waren verwirrt.

»Was ist denn los?«, fragte Dine, während sie beide von den Männern angeglotzt wurden, als hätten sie so etwas gesagt wie: »Die gesuchte Atombombe befindet sich hier bei uns und wird in drei Sekunden hochgehen. Beten Sie. Beten Sie!«

Nun stand der größte der Männer auf und kam langsam auf sie zu. Die Hand, die das Bierglas hielt, zitterte. Das konnte etwas bedeuten, musste es aber nicht. Immerhin bestand ja die Möglichkeit, dass ihm kalt war. Andererseits war es in der Gaststube warm.

»Altkirchtrup ...« Der Mann sagte das Wort mit heiserer Stimme.

»Ja, Altkirchtrup«, nickte Dine und ging automatisch einen Schritt zurück. »Kennen Sie diesen Ort? Es ist nämlich so, dass unser Navigationssystem irgendwie spinnt und ...«

Der Mann hob die freie Hand, als wollte er rufen: »Schweig still!«, aber keine Kraft mehr dazu hatte.

»Also ich verstehe gar nichts«, sagte Katinka und merkte, dass sie anfing, leicht zu schwitzen.

Der Mann kam näher. »Dieser Ort ist wie eine Atombombe. Sekündlich kann er hochgehen. Beten Sie. Beten Sie! Und jetzt gehen Sie! Sofort!«

»Die hier im Norden scheinen alle wahnsinnig zu sein.« Es war mittlerweile 23 Uhr, die Zwillinge saßen im Auto und suchten in ihren Taschen vergeblich nach etwas, mit dem sie sich zudecken konnten.

»Wenigstens haben sie uns gesiezt«, antwortete Dine böse. »Wenn sie einen nicht siezen, komme ich mir so blöd vor.«

»Du bist blöd«, war Katinkas Meinung. »Blöder als blöd. Von wegen: Ja, ich hab alles eingepackt, auch mein Handy.«

»Hast du etwa deins dabei?« Dine suchte in der Reisetasche nach Boxershorts und T-Shirt.

»Aber ich hab nie behauptet, dass ich es habe.« Katinka hatte ihre eigene Logik.

»So ein Mist«, sagte Dine und zog ein Herrenhemd aus der Tasche hervor. »Ich hab aus Versehen Papas Tasche genommen.« Sie sah ihre Schwester an. »Du musst mir was leihen.«

»Das glaubst aber auch nur du.« Katinka grinste und zog ihren Pyjama an. Sie liebte Flanellpyjamas und hatte Dutzende davon. Und es war gut, dass sie einen dabeihatte, denn es war ziemlich kalt.

»Scheiße.« Dine warf die Tasche auf den Rücksitz. »Warum hat er für uns alle die gleichen Taschen gekauft? Jetzt hab ich noch nicht mal eine Zahnbürste.«

»Das nützt bei dir eh nichts. Du stinkst sowieso.« Katinka gluckste. Sie liebte es, ihre Schwester zu provozieren, und weil Dine so leicht an die Decke ging, war es immer sehr einfach.

Oh, wie sie die Schwester hasste! Irgendwo hatte sie mal den Satz »Hass ist wie guter Wein, er wird von Jahr zu Jahr besser« gelesen und fand, dass er voll und ganz auf sie zutraf.

Mit Dine verhielt es sich nicht anders. Die wünschte sich nur manchmal, noch giftiger zu sein; dann würden ihre Hassattacken bei Katinka ganz anders wirken.

Beide waren mit der Schule fertig und überlegten, was sie als Nächstes tun sollten. Aber sie wussten es noch nicht. Und keiner drängte sie. Davon abgesehen, mussten sie sich jetzt erst mal das Horror-Hotel anschauen.

»Was der wohl mit Atombombe gemeint hat?«, dachte Dine laut nach. »Nicht dass da noch Bomben oder Handgranaten vom Krieg rumliegen und explodieren, wenn wir gerade drüberfahren.«

»Quatsch. Damit meinte der die Leute da«, sagte Katinka. »Und jetzt lass mich schlafen. Und komm mir bloß nicht zu nah, sonst knall ich dir eine.«

Am nächsten Morgen waren beide so gerädert, dass sie sich kaum bewegen konnten. Es war noch relativ früh, und sie trauten sich nicht, in diesem Gasthof nach Frühstück zu fragen. Sie fuhren weiter.

»Das gibt es wohl jetzt nicht.« Katinka bremste. »Nach Altkirchtrup sind es gerade mal noch vier Kilometer. Das hätten die uns doch gleich sagen können, diese Deppen.«

»Und wo sind wir jetzt?«

»Steht doch da. In Neukirchtrup.«

»Also im Nachbarort.«

»Ach was? Echt? Wie gut, dass es dich gibt. Darauf wäre ich von alleine nie gekommen.«

Und während sie Neukirchtrup verließen und Richtung Altkirchtrup fuhren, brüllten sie sich so laut an, dass das Radioprogramm – es lief ein Heavy-Metal-Stück – absolut nicht mehr zu hören war.

Und da war das Schild: Altkirchtrup in Nordfriesland. Von hier nach Sankt Peter-Ording waren es zwölf Kilometer, so stand es jedenfalls auf einem weiteren Schild, und das, ließ ja schon mal hoffen. Aber dieses Kaff hier schien zu schlafen. Selbst die Straße schien irgendwie nicht wach zu sein. Alles war blitzsauber, rechts und links standen ganz reizende Reetdachhäuser mit Geranienkästen und gepflegten Vorgärten, hier und da wehte eine Flagge an einem Mast, und Möwen kreisten kreischend herum. Offenbar waren sie nervös, weil sie mit Fremden nicht gerechnet hatten.

»Nicht dass hier Landminen sind und deswegen niemand auf der Straße ist«, sagte Dine und starrte auf das Kopfsteinpflaster, das in der Sonne glitzerte.

»Ich wünsche mir, dass es hier Landminen gibt«, ließ Katinka ihre Schwester wissen. »Eine von ihnen soll jetzt explodieren. Dann kommt vielleicht jemand raus.«

Da das Navigationsgerät noch immer nicht funktionierte, mussten sie jemanden nach dem Friesenzauber fragen. Allerdings erwies sich das als nicht ganz einfach. Fast konnte man annehmen, die Bewohner des kleinen Dorfs wären vor den Zwillingsschwestern geflüchtet.

»Hier gibt es doch Häuser«, stellte Katinka kurze Zeit später fest. »Diese Häuser müssen von Menschen gebaut worden sein. Aber wo sind die Menschen?«

»Es ist aber schon lange her, dass diese Häuser gebaut wurden.« Dine deutete auf einen Balken über einer Haustür. Dort stand die Jahreszahl 1459 und der Spruch: Wenn dieses Haus so lange hält, bis Hass und Neid und Not verfällt, dann hält es bis ans End der Welt.

»Das ist ja wie im Mittelalter«, sagte Dine fassungslos.

»Quatsch!«

»Wieso Quatsch?«

»Das ist das Mittelalter.«

»Und jetzt? Vielleicht sollten wir ...«

»Ach, halt doch einfach deine blöde Klappe. Da vorne fährt eine Kutsche. Das kann ja wohl nicht wahr sein.« Katinka kuppelte wieder ein und fuhr den Pferden langsam hinterher. Diese Tiere und ihr Besitzer hatten doch mit Sicherheit eine Heimat. Und der schlafende Mann auf dem Bock würde ja irgendwann wieder aufwachen, falls er nicht schon lange tot war und das lediglich nur noch nicht bemerkt wurde. Katinka schoss ein tollkühner Gedanke durch den Kopf: Möglicherweise konnte der Mann ja sprechen.

Kapitel 3

Der Mann hieß Bendix Janssen und konnte reden. Er war sogar in der Lage, ganze Sätze von sich zu geben. Kurze zwar, aber immerhin. Und er konnte ihnen sagen, wo sie den Friesenzauber fanden, da sich sein Hof in direkter Nachbarschaft befand.

»Das glaube ich nicht.« Dine sagte das. Sie standen vor dem Hotel, das zugegebenermaßen traumhaft lag, nämlich direkt am Strand auf einer kleinen Anhöhe. Die Nordsee hatte heute einen ruhigen Tag, die Wellen rollten sanft heran und liefen im Sand aus.

Es war wunderschön hier.

Nur das Haus war es nicht.

Es sah ein bisschen aus wie die Villa Kunterbunt von Pippi Langstrumpf, aber nur, wenn man es wirklich gut meinte und ein sehr optimistischer Mensch sowie halb blind war.

Bendix stand neben ihnen. »Jo«, sagte er dauernd. Und: »Nu fött dat, viel un szanszen.«

Dine sah ihn an. »Kann man da überhaupt reingehen?«, fragte sie ängstlich.

Bendix nickte. »Jo.«

»Nicht dass das einkracht«, überlegte Katinka. »Es sieht jedenfalls so aus, als ob das möglich wäre.«

»Jo«, sagte Bendix.

»Was denn nun?«, wollte Katinka wissen.

Bendix zuckte mit den Schultern. Offenbar war er sich auch nicht sicher.

»Jo«, machte er dann. Von irgendwoher kam eins der Pferde und begann, die beiden zu beschnuppern.

»Geh weg«, sagte Katinka zu dem Kaltblut, das daraufhin die Zähne fletschte und ein grimmiges Wiehern von sich gab.

Der Friesenzauber musste mal ein wirklich schönes Hotel gewesen sein. Allerdings war das lange, sehr lange her. Momentan sah das Haus so aus, als wäre es schon längst tot, und man brauchte viel Phantasie, um sich vorstellen zu können, welch ein Schmuckstück es einmal gewesen war. Direkt hinter der breiten Eingangstür kam man in eine große Halle mit Dielenboden, von dem einige Planken so morsch waren, dass sie gar nicht mehr da waren. Es gab eine geschwungene Rezeption, auf deren Tresen eine Klingel stand; dahinter befanden sich Holzfächer, und darin lagen sogar noch Zimmerschlüssel. Ein alter Ohrensessel, der irgendwann mal einen leuchtenden, flaschengrünen Bezug gehabt haben musste, stand neben einem Zeitschriftenständer – und auch darin lagen noch einige vergilbte, wellige Magazine wie Bunte und Quick aus längst vergangenen Tagen.

Katinka und Dine wagten es kaum weiterzugehen.

Links von der Rezeption führte eine doppelte Flügeltür mit bunter Bleiglasverkleidung in den ehemaligen Frühstücksraum. Hier befanden sich mehrere runde, verschnörkelte Tische, die dazugehörigen Stühle hatten ausgeblichene rote Polsterbezüge, die gleichfarbigen Samtvorhänge hingen vor den riesigen Fenstern, waren aber nicht mehr richtig befestigt. Durch die schmutzigen, fast blinden Panoramascheiben konnte man vage erkennen, dass sich davor eine Sonnenveranda befand, ein kleines Treppchen führte Richtung Garten, und dahinter, gleich hinterm Deich, war die See. Von der Decke des Raums baumelte ein Kronleuchter, dessen Prismen längst nicht mehr glänzten und strahlten. Auf dem Dielenboden lag ein orientalischer, abgetretener und spakiger Teppich, der zwar wertvoll aussah, aber den zu restaurieren es sich wohl nicht mehr lohnen würde.

Dine und Katinka gingen weiter, Bendix folgte ihnen. Ein leises Wiehern ließ vermuten, dass auch das Kaltblut neugierig war und gucken wollte, was es hier so alles zu sehen gab. Vom Frühstücksraum aus kam man durch eine Schwingtür aus Holz, in das wunderschöne Intarsien eingearbeitet waren, direkt in die Küche. Ein riesiger Kohleherd mit acht Kochfeldern stand in der Mitte des gekachelten Bodens, darüber hingen übergroße Pfannen und Töpfe, die nicht nur alt aussahen, sondern es auch waren. An den ebenfalls gekachelten Wänden standen viele Schränke mit Geschirr, das sogar den Schriftzug des Hotels trug: Friesenzauber. Es war zwar nicht mehr vollständig, aber wunderschön. Es gab gewaltige Besteckschubladen, eine große Vorratskammer und eine Tür, die wiederum direkt in einen Obst-, Kräuter- und Gemüsegarten führte, der natürlich völlig verwildert war. Das Kaltblut drängelte sich vorbei und wackelte in den Garten, um die letzten Reste wegzufressen. Im Gehen hob es den Schweif und ließ eine Ladung Pferdeäpfel fallen, die direkt auf Katinkas Schuhen landete.

»Jo«, sagte Bendix und nickte. »So'n Schiet.«

Katinka starrte auf ihre neuen Wildlederstiefel, die nicht mehr zu sehen waren. Sie presste die Lippen zusammen und versuchte, nicht auszurasten. Ja, ja, man war hier auf dem Land, keine Frage. Aber das hieß ja nicht automatisch, dass man sich vollscheißen lassen musste.

»Das ist ja wirklich ein süßes kleines Pferd«, schleimte ihre Schwester herum, obwohl das Vieh fast zwei Meter hoch war und an einen deformierten Saurier erinnerte.

Katinka blitzte sie an. Dann versuchte sie, ihre Stiefel auszuziehen, ohne ihre Hände zu benutzen, was aber nicht ging, also ließ sie die vollgeschissenen Stiefel letztlich doch an.

»Es muss mal wunderschön gewesen sein«, sagte Dine, nachdem sie das ganze Hotel besichtigt hatten. Jedes Zimmer war anders eingerichtet, sehr geschmackvoll, mit Möbeln aus der Jahrhundertwende, bemalten Waschtischen und hübschen Bildern. Aber was man letztendlich davon noch benutzen konnte, stand in den Sternen. Hier wurde laut Bendix in den fünfziger Jahren zum letzten Mal ein Zimmer vermietet. Jedenfalls glaubten die beiden, dass er das sagte, sein friesisches Kauderwelsch war kaum zu verstehen. Nur das »Jo« konnten sie zum Teil zuordnen, wobei man auch damit vorsichtig sein musste.

Seit Jahrzehnten stand das Hotel leer und verfiel in seine Einzelteile, aber das musste Bendix ihnen nicht sagen, das sahen sie auch so. Der einstige Prachtbau mit den Erkern und dem Wintergarten und den verwinkelten Fluren und Räumen war inzwischen so heruntergekommen, dass es mit Worten gar nicht zu beschreiben war.

»Wieso hat sie uns das angetan?« Dine stand ratlos an der Rezeption und schaute ihre Schwester an, während das Pferd ihre Haare anknabberte. Da Dine Angst davor hatte, es könnte zubeißen, ließ sie das Vieh gewähren. Es hatte keinen Namen, wie sie irgendwann aus Bendix' Genuschel erfahren hatten, sondern wurde einfach nur »der Alte« genannt, weil er, also der Alte, nicht Bendix, sondern das Pferd, schon sehr alt war, worauf die Zwillinge aber selbst gekommen wären.

»Das weiß ich nicht.« Katinka schlug auf die Rezeptionsklingel, und das ganze Haus schien von dem lauten Gong zu erschrecken. Nur der Alte nicht. Mit stoischer Ruhe kaute er an Dines Haaren herum. Sein Bruder war übrigens »der andere Alte«, er befand sich aber momentan im Stall, weil er nicht so unternehmungslustig war wie der andere Alte, also der Alte hier.

»Möglicherweise wollte sie uns eine Freude machen«, sinnierte Dine weiter. »Dachte, dass wir herumhüpfen und hurra schreien, dass wir die Ärmel hochkrempeln und hundert Container für den Bauschutt bestellen oder so.«

»Oder eine Abrissbirne«, sage Katinka und fuhr mit der Hand über das Holz, woraufhin eine Menge Staub aufwirbelte. »Am schlimmsten finde ich, dass ich jetzt mit dir hier hocke.«

»Ich finde dich auch zum Reihern«, nickte Dine. »Aber irgendwas müssen wir tun, sonst gehen wir leer aus.«

»Auf jeden Fall werden wir eine Staublunge bekommen«, stellte Katinka böse fest. »In meiner haben sich schon Partikel festgesetzt, ich spüre das. Und wenn dieses Pferd nicht bald verschwindet, flippe ich erst recht aus.«

Der Alte ließ sich nicht aus der Ruhe bringen und fing an, mit seinen großen Zähnen den Tresen zu bearbeiten.

»Wo ist eigentlich dieser Bendix Janssen?«

»Wahrscheinlich steht er draußen und sagt ›Jo‹.«

»Warum musst du eigentlich immer so negativ sein?«, fragte Dine. »Alles findest du doof.«

Katinka drehte sich zu ihr um. »Ich finde alles doof? Kannst du mir bitte eine Sache in den vergangenen vierundzwanzig Stunden sagen, die nicht doof war? Also eine, die nur ansatzweise erträglich war? Wir verfahren uns, du hast die falsche Reisetasche dabei, in dieser Dorfspelunke müssen wir uns wie Schwerverbrecher behandeln lassen und die Nacht im Auto verbringen, und jetzt stehen wir in diesem Kaff hier mit diesem Haus, das gern ein Hotel sein möchte, einem schwachsinnigen Typen an der Seite und einem Pferd, das mir auf die Stiefel scheißt. Ich ...«

Irgendwo klingelte ein Telefon. Es war der Ton dieser Apparate, die noch eine Wählscheibe hatten. Dine schrie vor Schreck auf.

»Wie schrecklich!«, brüllte sie. »Wer ruft denn hier an? Und warum gibt es hier überhaupt ein Telefon, ich meine, warum gibt es hier Strom?«

Katinka schaute sich um und folgte dem Klingeln, das nicht aufhören wollte. Schließlich sah sie den Apparat. Er war aus schwarzem Bakelit und stand in einem Fach unter dem Rezeptionstresen.

Aus welchen Gründen auch immer hob sie ab und sagte: »Friesenzauber, guten Tag.«

Dine starrte sie an, als würde Katinka gerade ihr eigenes Todesurteil sprechen.

»Ja ... nein ... ja ... nein«, hörte sie ihre Schwester reden. »Das tut mir natürlich sehr leid, aber es ist vielleicht schon ein wenig zu lange her ... Zimmer elf ... Hm ... Wenn ich Zeit finde, schaue ich nach. Ach ... Sie haben schon öfter angerufen, aber nie jemanden erreicht ... Soso ... Ach, seit fünfzig Jahren rufen Sie an. Ach, seit dreiundfünfzig Jahren, oje. Aha, aha ... Nicht weinen, nicht aufregen ... Ich schaue gleich nach und rufe Sie zurück. Geben Sie mir doch bitte Ihre Nummer ...« Sie legte langsam auf.

»Was ist?« Dine hob die Hände.

»Das war Emilie Knopf aus Braunschweig«, sagte Katinka, als würde das alles erklären.

»Ja und?« Dine runzelte die Stirn.

»Frau Knopf und ihr Mann Fritz waren im Sommer 1958 hier und haben Urlaub gemacht. Es hat ihnen gut gefallen.«

»Was?«

»Es gab jeden Morgen frische Brötchen, das fand Frau Knopf gut. Und den Aufschnitt auch.«

»Katinka, spinnst du?«

»Eier gab es ebenfalls. Auch frisch.«

»Katinka ...«

»Jedenfalls hat Frau Knopf damals ihre Kosmetiktasche vergessen. Seitdem hat sie ungefähr eine Million Mal hier angerufen, aber nie jemanden erreicht ...«

»... was ja auch kein Wunder ist.« Dine machte eine ausschweifende Handbewegung.

Katinka lachte hysterisch auf. »Da ist nämlich ein Lippenstift drin, den sie sehr mag, und er wird nicht mehr hergestellt.« Sie dachte kurz nach. »Zimmer elf.«

»Du glaubst ja wohl nicht im Ernst, dass dieser Beutel da noch ist. Außerdem ist diese Frau Knopf wahnsinnig.«

»Gut möglich«, sagte Katinka und schien sich plötzlich zu freuen. »Übrigens hat das Pferd dir eine schicke Kurzhaarfrisur verpasst.«

Dine fasste sich erschrocken ans Haar. Der Alte hatte es tatsächlich fertiggebracht, ihr einen Teil der Haare abzubeißen. Er stand hinter ihr und glotzte sie kauend an. Und er hatte es geschickt angestellt, denn sie hatte nichts gemerkt.

»Scheiße! Meine schönen Haare!« Ihr schossen die Tränen in die Augen.

»Du siehst aus wie ein dummes Landei, insofern passt es ja«, konstatierte Katinka fröhlich. »Hier finden wir bestimmt auch noch irgendwo eine Mistgabel und eine Latzhose, dann kommt keiner mehr auf die Idee, dass du aus der Stadt bist.«

Dine heulte nun laut. »Du blödes Vieh!« Sie schlug dem Alten in die Seite, woraufhin er wieder den Kopf zurücklegte und die Zähne fletschte.

»Ich nenn dich ab jetzt Dörte, das passt«, grinste Katinka. »Dörte mit den verkrotzten Haaren. Komm, Dörte, Zimmer elf muss noch geputzt werden.«

»Hier ist ja sogar das Bett noch bezogen, wie eklig ist das denn?« Katinka rümpfte die Nase. »Und mit der Durchnummerierung der Räume haben sie es auch nicht ganz hinbekommen. Wieso liegt Nummer elf zwischen Nummer drei und Nummer acht? Na ja.«

Dine heulte schon wieder. »O mein Gott! Ich muss unbedingt zum Friseur!«

»Du glaubst ja wohl nicht, dass es hier einen Friseur gibt.« Katinka schüttelte den Kopf. »Das Wort kennen die hier doch gar nicht. Sag mal, jetzt spinn ich aber. Dieser Gaul ist mir ein bisschen zu anhänglich.«

Der Alte war hinter ihnen die Treppe raufgekommen und lugte interessiert durch die Tür. Er schnaubte.

»Ich will nach Hause«, jammerte Dine. »Mir gefällt es hier nicht. Das ist alles so unheimlich.«

Katinka, die mittlerweile ins Bad gegangen war, kam kurze Zeit später wieder raus und hielt einen alten, verblichenen, einst rosafarbenen Kulturbeutel hoch. »Frau Knopf jedenfalls wird sich freuen«, sagte sie dann trocken und starrte den Beutel an wie ein mumifiziertes Insekt, was er ja ein Stück weit auch war.

Kapitel 4

Eine Viertelstunde später standen sie draußen im Garten und schauten auf die Nordsee. Es war April und schon schön warm für die Jahreszeit, es roch herrlich nach Salz, und Möwen zogen ihre Kreise. Der Alte war ihnen selbstverständlich gefolgt. Wie er die Treppe wieder runtergekommen war, hatten sie nicht mitbekommen.

»Ich möchte mal wissen, wo man hier anfangen soll«, sinnierte Dine vor sich hin und wollte ihre Haare zurückstreichen, was aber nicht mehr nötig war.

»Ich stelle mir eher die Frage, was das überhaupt alles soll und wieso ich es mir freiwillig antun sollte, mit dir hierzubleiben. Dann gehe ich doch lieber ins Gefängnis.«

»Da gehörst du auch hin«, sagte Dine böse. »Du bist eine widerliche Kuh.«

»Vielleicht, Dörte«, konterte Katinka zynisch. »Aber jedenfalls sehe ich besser aus als du, du Magd. Mit deiner neuen Frisur siehst du aus wie diese tumbe Lina aus den Michel-aus-Lönneberga-Filmen, nur dass die intelligenter war als du. Übrigens müsste Klausili gleich hier eintreffen.«

»Was?«

»Nuschle ich oder was? Klausili ist auf dem Weg hierher.« .

Dine wurde blass. »Und was will er hier?«

»Mama hat gesagt, Klausili hätte ihr erzählt, dass er ein guter Heimwerker sei, und er will sich mit seinem reichhaltigen Erfahrungsschatz einbringen und uns helfen.«

»Wir müssen einen Plan machen.« Dine verschränkte die Arme und schaute auf die See. »Mit diesem Bendix, diesem Pferd und diesem Klausili kommen wir auf keinen grünen Zweig. Ich könnte Lars irgendwie versuchen zu erreichen.«

»Wenn du das tust«, sagte Katinka, »werde ich dafür sorgen, dass dieses Pferd da zum Fleischfresser wird, das schwöre ich dir. Wenn ich jemanden, von diesem Klausili abgesehen, nicht hier haben möchte, dann ist es Lars

»Was hast du eigentlich gegen ihn?«

Katinka drehte sich zu ihr um, und ihre Augen funkelten. »Er geht regelmäßig in die Kirche.«

»Na und? Einer muss ja hingehen.«

»Der Typ hat doch einen Vollschaden. Immer dieses Gesülze, dass man nett zueinander sein soll und blablabla. Dann diese ständige Oblatenfresserei und keinen Sonntag ausschlafen. Der ist krank, krank, krank.«

»Ach, aber Julius ist gesund, ja?«

»Julius ist anders. Außerdem bin ich nicht fest mit ihm zusammen, es ist eine lose Beziehung.«

»Sicher ist er anders«, regte Dine sich auf und versuchte zum tausendsten Mal vergeblich, den Alten wegzuscheuchen, der gerade ihren Jackenkragen anfraß. »Er illustriert Groschenromane, die eine extragroße Schrift haben. Wie peinlich ist das denn?«

»Aber er geht nicht in die Kirche.«

»KANNST DU NICHT MAL DAMIT AUFHÖREN?«, brüllte Dine los, und zwar in einer Lautstärke, dass Katinka erschrocken zurückwich und fast den Deich runterstolperte. »ICH ERTRAGE DAS NICHT MEHR!«

»Drehst du jetzt völlig durch?«

»Ich meine nicht dich, ich meine den Alten!« Dine zog ihre Jacke aus und sah sich an, was der Kaltblüter angerichtet hatte. Die Hälfte vom Kragen fehlte. Der Alte wieherte. Es klang hämisch.

»Verdammt nochmal, ich hab keine anderen Klamotten mehr.« Dine heulte fast. »Und das Pferd frisst alles auf. Das sind ja nur Bekloppte hier.«

Eine Viertelstunde später saßen sie in Bendix Janssens Haus in der Küche. Vor ihnen standen Teetassen, die ungefähr hundert Jahre alt zu sein schienen und Sprünge hatten. Aber der Tee, den Bendix' Frau ihnen eingegossen hatte, schmeckte gut.

»Vielen Dank«, sagte Katinka höflich und versuchte, den Kandis in der Tasse klein zu stampfen. Dabei beobachtete sie die Frau. Sie war schätzungsweise eins fünfzig groß und so dick, dass sie nicht mehr gehen, sondern nur noch herumkugeln konnte. Ihr Alter war schwer zu schätzen. Vielleicht hundert? Bendix sah nämlich auch so aus, als hätte er schon zwei Weltkriege hinter sich gebracht.

Der Alte stand vor dem offenen Küchenfenster und fraß Äpfel aus einer Schale.

Wenigstens hatte Katinka ihre Schuhe halbwegs sauber bekommen. Vor dem Haus gab es nämlich einen Wassertrog und eine Bürste.

Diese Küche machte Katinka Angst. Hier war alles so klein. Man musste sich ducken, um überhaupt durch die Tür zu. kommen. Deswegen stand der Alte wahrscheinlich auch nicht am Esstisch, sondern draußen. Der Tisch war winzig, die Fenster auch, fast wie bei den sieben Zwergen. Das einzig Große war der riesige Herd, auf dem diverse Töpfe standen, in denen etwas vor sich hin köchelte.

Eine komplette Wand der Küche wurde von Regalen eingenommen, in denen sich zentnerweise Einmachgläser stapelten. In der Mitte hingen die Regale schon durch. Katinka begann die Gläser zu zählen, gab aber nach ein paar Sekunden auf Es war völlig unübersichtlich. Am meisten beunruhigte sie, dass auf dem Boden neben dem Herd noch einmal ungefähr genauso viele Gläser standen, die allerdings leer waren.

»Jo«, machte Bendix. »So'n Tee is doch gut.«

»Da gibt's ja wohl viel zu tun.« Sie erschraken, weil Merit Janssen bislang noch keinen Ton von sich gegeben hatte.

»Ich guck ja immer aus dem Fenster und denk, seit Jahren denk ich, Gott nochmal, das Haus, das verfällt ja immer mehr, wenn da mal nich jemand kommt und es richten tut, wird's böse enden.« Merit nickte mit Nachdruck und rührte in einem der Töpfe herum. »Wie sieht's da überhaupt drinnen aus? Und gibt's die See noch?«

»Welche See?«, fragte Katinka.

»Na, die Nordsee«, sagte Merit, nahm den Holzlöffel und ließ irgendwas auf einen Teller laufen. »Wird 'n gutes Gelee«, murmelte sie dann.

»Warum sollte es denn die Nordsee nicht mehr geben?« Dine war verwirrt. Die Nordsee gab es doch schon immer. Jedenfalls schon sehr lange.

»Sie war seit 45 nich mehr draußen«, grummelte Bendix und goss sich seine Tasse erneut voll.

»Was?«, fragten die Zwillinge gleichzeitig.

»Seit den Krieg nich, also seit Kriegsende nich«, sagte Bendix, der sich mittlerweile Mühe gab, so zu sprechen, dass man ihn teilweise verstehen konnte.

»Jo«, sagte Merit.

»Was meinen Sie denn genau mit ›nicht mehr draußen‹?« Dine bekam einen Schluckauf.

»Das heißt, dass sie seit fünfundsechzig Jahren das Haus nicht verlassen hat.« Wieder nickte Bendix. Der Alte nickte auch. »Genau gelacht seit dem achten Mai '45 nich.« Er schaute die beiden an. »Is 'ne ganz schön lange Zeit, nich?«

»Ja, aber ... wie kann man denn so lange das Haus nicht verlassen?«

»Indem man es nich verlässt«, lautete Bendix' kluge Antwort, und jetzt nickte Merit, die in ihrer Kittelschürze zu einem der Regale schlurfte und neue Gläser für das Gelee herausholte.

»Sie kocht gern Marmelade und so und macht ein, nich?« Bendix sagte das so, als würde das erklären, warum eine Frau fünfundsechzig Jahre lang das Haus nicht mehr verlassen hatte.

Jemand bummerte an die Tür. Sofort warf Merit sich auf den Boden und wirkte dabei so flink wie eine Katze, die einen aus dem Nest gefallenen Vogel fangen wollte. Sie hielt sich die Ohren zu.

Dine fand das alles angesichts Merits Gewicht wirklich beachtlich.

»Nu reeech dich nich auf«, sagte Bendix, stand auf und schlurfte zur Tür. »Wird schon nich der Russe sein.«

»Der Russe?« Katinka sah sehr verwirrt aus.

»Nich so laut, sie mag das gar nich hör'n. Na, sie hat Angst vor, dass der Russe kommen könnte. Isser aber bis jetzt noch nich, nich. Der kommt wohl auch nich mehr.«

»Wenn's der Russe is, wenn er's is«, wisperte die auf dem Dielenboden kauernde Merit, während Bendix die Tür öffnete. Es war in der Tat nicht der Russe.

Es war Klausili, der hereinstürmte, als sei der Leibhaftige hinter ihm her. Aber es war nur der Alte, der ihn verfolgt hatte, möglicherweise weil er dachte, Klausilis dicker Bauch sei mit Möhren gefüllt, die er fressen konnte.

»Ei, da bin isch«, freute sich Klausili, nachdem er die Tür hinter sich zugeschlagen hatte. »Des ging schnell, oder? Isch bin mittem Zuch gefahre, dann hat misch einer innerer Kutsch mitgenomme.«

»Is das der Russe?«, fragte Merit verstört.

»Nee, isch bin's nur, der Klausili«, freute sich Klausili, der ungefragt seine Jacke auszog und sich zu den Zwillingen an den Tisch setzte. »Isch hab mir gedacht, isch helf hier e bissi, gell, isch bin ja quasi Arschiteckt.«

Weder Dine noch Katinka antworteten ihm; sie starrten ihn nur böse an.

»Keiner hat Sie gebeten, hierherzukommen«, keifte Dine ihn dann an.

»Des kann mer aber jetzt net mehr ändern«, frohlockte Klausili und machte Keckergeräusche wie ein asthmakranker Kakadu. »Jetzt bin isch da, un jetzt bleib isch auch, gell. Scheee habt ers hier, des is ja aach a viel besser Luft als wie in Frankfurt, gell? Da hammer ja dauernd Smog, gell. Un hier riescht's wie am Meer. So salzisch. Gesund halt, gell?«

»Jo«, machte Bendix.

»Inch hab alle Zeit der Weld«, freute sich Klausili und rieb seine Hände. »Da krische mer einisches gestemmt. Isch darf nur net mei Blutdrucktablette vergesse.«

»Irgendwo müssen wir anfangen, es nützt ja alles nichts«, sagte Dine kurze Zeit später zu Katinka, sie hatten Klausili nicht mehr ertragen und waren wieder im Friesenzauber. Der Himmel war bewölkt und relativ dunkel, die Eingangshalle wirkte dadurch ein wenig unheimlich. »Das ist wie in Shining. Gott, wie furchtbar, dieser Film. Diese Szene, wo der kleine Junge mit diesem kleinen Tretauto den Flur entlangfährt und dann ...«

»Ja«, wurde sie von Katinka unterbrochen, deren Laune zunehmend schlechter wurde. »In dem Film kommt aber auch der Satz Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen vor, und daran sollten wir uns vielleicht mal halten.«

»Willst du wirklich hierbleiben und dieses Hotel renovieren?«, fragte Dine. »Das ist eine Lebensaufgabe.«

»Nicht ich bleibe hier«, wurde sie korrigiert. »Wir bleiben. Wenn ich das mit diesem Klausili alleine durchstehen soll, bin ich übermorgen tot.«

»Das wäre nicht das Schlechteste.«

»Klar, dass du das sagst. Davon mal ganz abgesehen, steht in diesem blöden Testament, dass wir das zusammen durchziehen müssen, sonst gibt es kein Geld.«

»Das weiß ich auch. Ich bin ja nicht dement.«

»Nein?«

»Nein.«

»Na dann ...« Katinka zögerte und sah so aus, als würde sie sich am liebsten übergeben. »Dann legen wir morgen los.«

Dine nickte. »Gut. Wir bleiben.«

»Da wäre noch was«, sagte Katinka und schaute ihre Schwester an. »Wo sollen wir schlafen?«

»Das ist ja wohl wirklich einfach«, sagte Dine ironisch. »Immerhin haben wir ein Hotel geerbt. Und Betten gibt es auch genügend.«

»Du willst in dieser Muffelbude pennen?«

»Das ist immer noch besser, als im Auto zu schlafen oder zwischen den Einmachgläsern bei den Janssens. Ich schwöre dir, dass die nicht nur in der Küche stehen, sondern im kompletten Haus. Das tue ich mir nicht an. Außerdem haben die ein Plumpsklo im Garten. So tief sinke ich nicht, dass ich mich auf ein Plumpsklo setze.«

»Das ist ja entsetzlich.«

»Sag ich doch.«

»Trotzdem ... hier riecht's auch nicht gerade toll.«

»Dann lüften wir eben. Es wird schon gehen. Oma Fanny hat immer gesagt: ›Geht nicht gibt's nicht.‹«

»Die hatte aber auch einen kleinen Knall.« Dine zögerte immer noch.

»Hatte sie unbestritten. Aber auch jede Menge Kohle. Stell dich nicht so an. So schlimm wird es schon nicht sein.«

Bendix Janssen war mit Klausili im Schlepptau nochmal vorbeigekommen, der ununterbrochen von Merits eingemachtem Kram schwärmte und permanent sagte: »Ei, so was Gudes hab isch lang net gegesse.« In seinem Gesicht befanden sich die roten Reste von Erdbeermarmelade, und es sah ein wenig so aus, als hätte er eine offene Wunde.

»Jo, Merit hat gesacht, dass ihr inne Scheune schlafen könnt«, sagte Bendix. Merit war natürlich nirgendwo zu sehen. Wahrscheinlich hockte sie in einem selbstgebauten Bunker und lauschte ununterbrochen, ob der Russe nun kommen würde oder nicht.

»Des wird lustisch, isch tu da auch schlafe, dann könne mer uns vorm Eischlaafe noch Geschischte erzähle«, freute sich Klausili. »Kennt ihr die Geschischt vom klaane Hoppediz, des is e klaa Männsche, wo als Korke ufferer Flasch wohnt, des is ...«

»Genau so hab ich mir das vorgestellt«, jammerte Dine herum. Anstatt in der Scheune, befanden sie sich in Zimmer sechs. »Hier stinkt es, als wäre fünfzig Jahre nicht gelüftet worden. Ach Quatsch, hier ist seit fünfzig Jahren nicht gelüftet worden.«

»Aber es gibt frische Bettwäsche.« Katinka hatte einen Schrank geöffnet und Bettzeug herausgeholt. »Rotweiß kariert. Hübsch.«

»Das stinkt aber auch. Ich will gar nicht wissen, wie viele kleine Tiere darin wohnen«, klagte Dine weiter.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Neuausgabe
Jahr
2019
ISBN (eBook)
9783960532521
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Juli)
Schlagworte
Liebesroman Feelgood Komödie Comedy New Adult Young Adult Laura Kneidl Mona Kasten Colleen Hoover eBooks ab 14 Jahren
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Titel: Das kleine Hotel an der Nordsee